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Haeckel und seine Gegner

II.

HG, 16-32

 

Auf die Verwandtschaft des Menschen mit den höheren Wirbeltieren wirft die Wahrheit ein helles Licht, die Huxley 1863 in seinen »Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur« ausgesprochen hat: »Die kritische Vergleichung aller Organe und ihrer Modifikationen innerhalb der Affen-Reihe führt uns zu einem und demselben Resultate: Die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpanse scheiden, sind nicht so groß als die Unterschiede, welche diese Menschenaffen von den niedrigeren Affen trennen.« Mit Hilfe dieser Thatsache ist es möglich, die tierische Ahnenreihe des Menschen im Sinne der Darwinschen Abstammungslehre festzustellen. Der Mensch hat mit den Ostaffen zusammen gemeinsame Stammeltern in einer ausgestorbenen Affenart. Durch entsprechende Benutzung der Erkenntnisse, welche vergleichende Anatomie und Physiologie, individuelle Entwickelungsgeschichte und Paläontologie liefern, hat Haeckel die in der Zeit weiter vorausliegenden tierischen Vorfahren des Menschen, über die Halbaffen, Beuteltiere, Urfische bis hinauf zu den Urdarmtieren und den nur aus einer Zelle bestehenden Urtieren verfolgt. Er hat ein volles Recht zu dem Ausspruche: Sind die Erscheinungen der individuellen Entwickelung des Menschen etwa weniger wunderbar als die paläontologische Entwickelung aus niederen Organismen? Warum soll der Mensch sich nicht im Laufe großer Zeiträume aus einzelligen Urformen entwickelt haben, da jedes Individuum dieselbe Entwickelung von der Zelle zum ausgebildeten Organismus durchläuft?

Es wird dem menschlichen Geist aber auch nicht leicht, sich über die Entwickelung des Einzelorganismus vom Keim bis zum ausgebildeten Zustand naturgemäße Vorstellungen zu bilden. Wir sehen das an den Gedanken, die sich ein Naturforscher wie Albrecht von Haller (1708 bis 1777) und ein Philosoph wie Leibniz (1646 bis 1716) über diese Entwickelung gebildet haben. Haller vertrat | die Ansicht, daß der Keim eines Organismus bereits alle Teile, die während der Entwickelung auftreten, im Kleinen, aber vollkommen fertig vorgebildet enthalte. Entwickelung soll also nicht Bildung eines Neuen an dem Vorhandenen sein, sondern Auswickelung eines schon Dagewesenen und wegen seiner Kleinheit nur dem Auge Verborgenen. Wäre diese Ansicht richtig, dann müßten aber auch in dem ersten Keim einer tierischen oder pflanzlichen Form alle folgenden Generationen bereits ineinander eingeschachtelt gelegen haben. Haller hat diese Folgerung auch gezogen. Er nahm an, daß in dem ersten Menschenkeim der Urmutter Eva das ganze Menschengeschlecht im Kleinen bereits vorhanden gewesen ist. Und auch Leibniz kann sich die Entstehung der Menschen nur als Auswickelung von bereits Existierendem denken: »So sollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von anderen Spezies, dagewesen sind, daß sie in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organisierter Körper existiert haben.«

Der menschliche Verstand hat einen Hang, sich vorzustellen, daß etwas Entstehendes schon in irgend einer Form vor der Entstehung vorhanden gewesen ist. Der ganze Organismus soll schon im Keim verborgen sein; die einzelnen organischen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten sollen als Gedanken eines Schöpfers vor ihrer thatsächlichen Entstehung vorhanden sein. Nun fordert aber die Idee der Entwickelung, daß wir uns die Entstehung eines Neuen, Späteren aus einem bereits Vorhandenen, Früheren vorstellen. Wir sollen das Gewordene aus dem Werden begreifen. Das können wir nicht, wenn wir alles Gewordene als ein immer Dagewesenes ansehen.

Wie groß die Vorurteile sind, die der Entwickelungsidee entgegengebracht werden, das zeigte sich deutlich an der Aufnahme, die Caspar Friedrich Wolffs 1759 erschienene »Theoria generationis« bei den | zu Hallers Ansichten sich bekennenden Naturforschern fand. In dieser Schrift wurde gezeigt, daß im menschlichen Ei noch nicht eine Spur von der Form des ausgebildeten Organismus vorhanden ist, sondern daß dessen Entwickelung in einer Kette von Neubildungen besteht. Wolff verteidigte die Idee einer wirklichen Entwickelung, der Epigenesis, eines Werdens von noch nicht Vorhandenem, gegenüber der Ansicht von der scheinbaren Entwickelung, der Einschachtelung und Auswickelung. Haeckel sagt von Wolffs Schrift, sie »gehört trotz ihres geringen Umfanges und ihrer schwerfälligen Sprache zu den wertvollsten Schriften im ganzen Gebiete der biologischen Literatur. . . .« Trotzdem hatte diese merkwürdige Schrift zunächst gar keinen Erfolg. Obgleich die naturwissenschaftlichen Studien infolge der von Linné gegebenen Anregung zu jener Zeit mächtig emporblühten, obgleich Botaniker und Zoologen bald nicht mehr nach Dutzenden, sondern nach Hunderten zählten, bekümmerte sich doch niemand um Wolffs Theorie der Generation. Die wenigen aber, die sie gelesen hatten, hielten sie für grundfalsch, so besonders Haller. Obgleich Wolff durch die exaktesten Beobachtungen die Wahrheit der Epigenesis bewies und die in der Luft schwebenden Hypothesen der Präformationstheorie widerlegte, blieb dennoch der »exakte« Physiologe Haller der eifrigste Anhänger der letzteren und verwarf die richtige Lehre von Wolff mit seinem diktatorischen Machtspruche: »Es giebt kein Werden« (Nulla est epigenesis!). Mit solcher Macht widersetzte sich das Denken einer Ansicht, von der Haeckel (in seiner Anthropogenie) findet: »Wir können heutzutage diese Theorie der Epigenesis kaum mehr Theorie nennen, weil wir uns von der Richtigkeit der Thatsache völlig überzeugt haben und dieselbe jeden Augenblick mit Hilfe des Mikroskopes demonstrieren können.«

Wie tief eingewurzelt das Vorurteil gegen die Idee der Entwickelung ist, darüber können uns die Einwände, die unsere philosophischen Zeitgenossen gegen sie machen, jeden Augenblick belehren. | Otto Liebmann, der wiederholt, in seiner »Analysis der Wirklichkeit« und in »Gedanken und Thatsachen«, die naturwissenschaftlichen Grundansichten einer Kritik unterworfen hat, äußert sich über den Entwicklungsgedanken in einer merkwürdigen Weise. Er kann die Berechtigung der Vorstellung, daß höhere Organismen aus niederen hervorgehen, angesichts der Thatsachen nicht leugnen. Deshalb versucht er die Tragweite dieser Vorstellung als eine für das höhere Erklärungsbedürfnis möglichst geringe hinzustellen. »Angenommen, Deszendenztheorie ... wäre fertig, der große Stammbaum der organischen Naturwesen läge offen vor uns aufgerollt; und zwar nicht als Hypothese, sondern als historisch-konstatiertes Faktum, was hätten wir dann? Eine Ahnen-Gallerie, wie man sie auf fürstlichen Schlössern auch findet; nur nicht als Fragment, sondern als abgeschlossene Totalität.« Es soll also für die wirkliche Erklärung nichts Erhebliches gethan sein, wenn man zeigt, wie das Spätere als Neubildung aus dem Früheren hervorgeht. Es ist nun interessant, zu sehen, wie Liebmanns Voraussetzungen ihn doch wieder zu der Annahme hinführen, das auf dem Wege der Entwickelung Entstehende sei schon vor seiner Entstehung vorhanden. In dem vor kurzem erschienenen zweiten Heft seiner »Gedanken und Thatsachen« behauptet er: »Für uns freilich, denen die Welt in der Anschauungsform der Zeit erscheint, ist der Same früher da als die Pflanze, Erzeugung und Empfängnis früher da als das daraus entspringende Tier, und die Entwicklung des Embryo zum erwachsenen Geschöpf ein in der Zeit ablaufender, zeitlich in die Länge gezogener Prozeß. In dem zeitlosen Weltwesen hingegen, welches nicht entsteht und nicht vergeht, sondern ein für alle Mal ist, sich im Strom des Geschehens unabänderlich erhält, und für welches keine Zukunft, keine Vergangenheit, sondern nur eine ewige Gegenwart existiert, fällt dieses Vorher und Nachher, dieses Früher und Später gänzlich hinweg. . . . Das, was sich für uns in der Linie der Zeit als | langsamer oder schneller ablaufende Succession einer Reihe von Entwicklungsphasen entrollt, ist im allgegenwärtigen, permanenten Weltwesen ein feststehendes, unentstandenes und unvergängliches Gesetz.« Der Zusammenhang solcher philosophischen Vorstellungen mit den Auffassungen der verschiedenen Religionslehren über die Schöpfung ist leicht einzusehen. Daß in der Natur zweckmäßig eingerichtete Wesen entstehen, ohne eine zu Grunde liegende Thätigkeit oder Kraft, welche die Zweckmäßigkeit in die Wesen hineinlegt, wollen weder die Religionslehren, noch solche philosophische Denker wie Liebmann zugeben. Die naturgemäße Anschauung verfolgt den Gang des Geschehens und sieht Wesen entstehen, welche die Eigenschaft der Zweckmäßigkeit haben, ohne daß der Zweck selbst mitbestimmend bei ihrer Entstehung gewesen ist. Die Zweckmäßigkeit ist mit ihnen geworden; aber der Zweck hat bei diesem Werden nicht mitgewirkt. Die religiöse Vorstellungsart greift zu dem Schöpfer, der nach dem vorgefaßten Plane die Geschöpfe zweckmäßig geschaffen hat; Liebmann wendet sich an ein zeitloses Weltwesen, aber er läßt das Zweckmäßige doch durch den Zweck hervorgebracht sein. »Das Ziel oder der Zweck ist hier nicht später und auch nicht früher als das Mittel, sondern er fordert es vermöge einer zeitlosen Notwendigkeit« (Gedanken und Thatsachen, 2. Heft, S. 268). Liebmann ist ein gutes Beispiel für die Philosophen, die sich scheinbar von Glaubensvorstellungen freigemacht haben, die aber doch ganz im Sinne solcher Vorstellungen denken. Sie wollen ihre Gedanken rein aus vernünftigen Erwägungen heraus bestimmen lassen; die Richtung giebt ihnen aber doch ein eingeimpftes theologisches Vorurteil.

Ein vernunftgemäßes Nachdenken muß daher Haeckel beipflichten, wenn er sagt: »Entweder haben sich die Organismen natürlich entwickelt und dann müssen sie alle von einfachsten, gemeinsamen Stammformen abstammen – oder das ist nicht der Fall, die einzelnen | Arten der Organismen sind unabhängig voneinander entstanden, und dann können sie nur auf übernatürlichem Wege, durch ein Wunder, erschaffen sein. Natürliche Entwickelung oder übernatürliche Schöpfung der Arten – zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist zu wählen, ein Drittes giebt es nicht!« (Freie Wissenschaft und freie Lehre, S. 9). Was von Philosophen oder Naturforschern gegenüber der natürlichen Entwickelungslehre als solches Drittes vorgebracht wird, erweist sich, bei genauerer Betrachtung, nur als ein seinen Ursprung mehr oder weniger verschleiernder oder verleugnender Schöpfungsglaube.

Wenn wir die Frage nach der Entstehung der Arten in ihrer wichtigsten Form aufwerfen, in der nach dem Ursprung des Menschen, so giebt es nur zwei Antworten. Entweder ist ein vernunftbegabtes Bewußtsein vor seinem thatsächlichen Auftreten in der Welt in keiner Weise vorhanden, sondern es entsteht als Ergebnis des im Gehirn konzentrierten Nervensystems; oder eine alles beherrschende Weltvernunft existiert vor allen übrigen Wesen und gestaltet den Stoff so, daß im Menschen ihr Abbild zur Erscheinung kommt. Haeckel stellt (in »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft«, S. 21) das Werden des Menschengeistes in folgender Weise dar: »Wie unser menschlicher Körper sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbeltierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als Funktion unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg ›menschliche Seele‹ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. Wie der bewunderungswürdige Bau dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans, sich im Laufe von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und niederer Wirbeltiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende | Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele selbst – als Funktion des Gehirns – sich entwickelt hat, das lehrt uns die vergleichende Psychologie. Die letztere zeigt uns auch, wie eine niedere Form der Seelenthätigkeit schon bei den niedersten Tieren vorhanden ist, bei den einzelligen Urtieren, Infusorien und Rhizopoden. Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre hindurch die Lebensthätigkeit dieser einzelligen Protisten beobachtet hat, ist positiv überzeugt, daß auch sie eine Seele besitzen; auch diese ›Zellseele‹ besteht aus einer Summe von Empfindungen, Vorstellungen und Willensthätigkeiten; das Empfinden, Denken und Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise davon verschieden.« Die Gesamtheit menschlicher Seelenthätigkeiten, die in dem einheitlichen Selbstbewußtsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres. Die Fortschritte der Physiologie, die wir Forschern wie Goltz, Munk, Wernicke, Edinger, Paul Flechsig u. a. verdanken, geben uns heute die Möglichkeit, einzelne Seelenäußerungen bestimmten Teilen des Gehirnes, als deren besondere Funktionen, zuzuweisen. Wir sehen in vier Gebieten der grauen Rindenzone des Hirnmantels die Vermittler von vier Arten des Empfindens; die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptlappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Das die Empfindungen verbindende und ordnende Denken hat seine Werkzeuge zwischen diesen vier »Sinnesherden«. Haeckel knüpft an die Erörterung dieser neueren physiologischen Ergebnisse die Bemerkung: »Die vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren Denkorgane, die einzigen realen Werkzeuge unseres Geisteslebens.« (Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen, S. 15.) |

 

Haeckel fordert von den Psychologen, daß sie solche Ergebnisse bei ihren Ausführungen über das Wesen der Seele berücksichtigen und nicht eine Scheinwissenschaft aufbauen, die sich zusammensetzt aus phantastischer Metaphysik, einseitiger, sogenannter innerer Beobachtung der Seelenvorgänge, unkritischer Vergleichung, mißverstandenen Wahrnehmungen und unvollständigen Erfahrungen aus spekulativen Verirrungen und religiösen Dogmen. Man findet dem Vorwurf gegenüber, der durch diese Ansicht der veralteten Seelenkunde gemacht wird, bei Philosophen und auch bei einzelnen Naturforschern die Behauptung, daß in den materiellen Vorgängen des Gehirnes doch nicht das eingeschlossen sein könne, was wir als Geist zusammenfassen; die stofflichen Vorgänge in den Sinnes- und Denksphären seien doch keine Vorstellungen, Empfindungen und Gedanken, sondern nur materielle Erscheinungen. Das Wesen der Gedanken und Empfindungen könnten wir nicht durch äußere Beobachtung, sondern nur durch innere Erfahrung, durch rein geistige Selbstbeobachtung kennenlernen. Gustav Bunge z. B. führt in einem Vortrage »Vitalismus und Mechanismus« (Seite 12) aus: »In der Aktivität – da steckt das Rätsel des Lebens darin. Den Begriff der Aktivität aber haben wir nicht aus der Sinneswahrnehmung geschöpft, sondern aus der Selbstbeobachtung, aus der Beobachtung des Willens, wie er in unser Bewußtsein tritt, wie er dem innern Sinn sich offenbart.« Manche Denker sehen das Kennzeichen eines philosophischen Kopfes in der Fähigkeit, sich zu der Einsicht zu erheben, daß es eine Umkehrung des richtigen Verhältnisses der Dinge ist, die geistigen Vorgänge aus materiellen begreifen zu wollen.

Solche Einwände deuten auf ein Mißverständnis der von Haeckel vertretenen Weltanschauung hin. Wer wirklich von dem Sinn dieser Weltanschauung durchdrungen ist, wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege, als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen. Die Gegner der | naturwissenschaftlichen Denkungsart reden gerade so, als wenn deren Anhänger die Wahrheiten der Logik, Ethik, Ästhetik u. s. w. nicht durch Beobachtung der Geisteserscheinungen als solcher, sondern aus den Ergebnissen der Gehirnanatomie gewinnen wollten. Das von solchen Gegnern selbstgeschaffene Zerrbild naturwissenschaftlicher Weltanschauung nennen sie dann Materialismus und werden nicht müde, immer von neuem zu wiederholen, daß diese Ansicht unfruchtbar sein muß, weil sie die geistige Seite des Daseins ignoriere oder wenigstens auf Kosten der materiellen herabsetze. Otto Liebmann, der hier noch einmal angeführt werden mag, weil seine antinaturwissenschaftlichen Vorstellungen typisch für die Denkweise gewisser Philosophen und Laien sind, bemerkt: »Gesetzt nun aber, die Naturerkenntnis wäre ans Ziel gelangt, so würde sie in der Lage sein, mir genau die körperlich-organischen Gründe anzugeben, weshalb ich den Satz ›zweimal zwei ist vier‹ für wahr halte und behaupte, den anderen Satz ›zweimal zwei ist fünf‹ für falsch halte und bestreite, oder weshalb ich diese Zeilen hier gerade jetzt aufs Papier schreiben muß, während ich in dem subjektiven Glauben befangen bin, es geschehe dies deshalb, weil ich sie wegen ihrer von mir angenommenen Wahrheit niederschreiben will.« (Gedanken und Thatsachen. 2. Heft S. 294 f.) Kein naturwissenschaftlicher Denker wird je der Meinung sein, daß darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluß geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden. Ein anderes aber ist die Frage: wie entsteht das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, daß das vernünftige Bewußtsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche | Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern daß unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie »jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist«. (Haeckel, Anthropogenie. 2. Teil. S. 853.)

Das Wesen des Monismus besteht in der Annahme, daß alle Weltvorgänge, von den einfachsten mechanischen an bis herauf zu den höchsten menschlichen Geistesschöpfungen, in gleichem Sinne sich naturgemäß entwickeln, und daß alles, was zur Erklärung der Erscheinungen herangezogen wird, innerhalb der Welt selbst zu suchen ist. Dieser Anschauung steht der Dualismus gegenüber, der die reine Naturgesetzlichkeit nicht für ausreichend hält, um die Erscheinungen zu erklären, sondern zu einer über den Erscheinungen waltenden, vernünftigen Wesenheit seine Zuflucht nimmt. Diesen Dualismus muß die Naturwissenschaft, wie gezeigt worden ist, verwerfen.

Es wird nun von Seite der Philosophie geltend gemacht, daß die Mittel der Naturwissenschaft nicht ausreichen, um eine Weltanschauung zu begründen. Von ihrem Standpunkte aus hätte die Naturwissenschaft ganz recht, wenn sie den ganzen Weltprozeß als eine Kette von Ursachen und Wirkungen im Sinne einer rein mechanischen Gesetzmäßigkeit erklärt; aber hinter dieser Gesetzmäßigkeit stecke doch die eigentliche Ursache, die allgemeine Weltvernunft, die sich der mechanischen Mittel nur bedient, um höhere, zweckmäßige Zusammenhänge zu verwirklichen. So sagt z. B. der in den Bahnen Eduard von Hartmanns wandelnde Arthur Drews: »Auch das menschliche Kunstwerk kommt auf mechanische Weise zu stande, wenn man nämlich nur die äußerliche Aufeinanderfolge der einzelnen Momente dabei im Auge hat, ohne darauf zu reflektieren, daß hinter diesem allen doch nur der Gedanke des Künstlers steckt; dennoch würde man denjenigen mit Recht für einen Narren halten, der etwa behaupten wollte, das Kunstwerk | sei rein mechanisch entstanden . . . was sich auf jenem niedrigeren, mit der bloßen Anschauung der Wirkung sich begnügenden Standpunkte, der also den ganzen Prozeß gleichsam nur von hinten betrachtet, als gesetzmäßige Wirkung einer Ursache darstellt, dasselbe erweist sich, von vorne gesehen, allemal als beabsichtigter Zweck des angewandten Mittels« (Die deutsche Spekulation seit Kant. 2. Band. S. 287 f.) Und Eduard von Hartmann selbst sagt von dem Kampf ums Dasein, der es ermöglicht, die Lebewesen naturgemäß zu erklären: »Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste bei der Verwirklichung, nämlich das Behauen und Anpassen der vom Baumeister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vorherbestimmten Steine, verrichten muß. Diese Auslese im Kampf ums Dasein für das im wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwickelung des organischen Reiches ausgeben, wäre nicht anders, als wenn ein Tagelöhner, der beim Zurichten der Steine beim Kölner Dombau mitgewirkt, sich für den Baumeister dieses Kunstwerkes erklären wollte.« (Philosophie des Unbewußten. 10. Aufl. Band III. S. 403.)

Wären diese Vorstellungen berechtigt, so käme es der Philosophie zu, den Künstler hinter dem Kunstwerke zu suchen. Philosophen haben in der That die verschiedensten dualistischen Erklärungsweisen der Welterscheinungen versucht. Sie haben in Gedanken gewisse Wesenheiten konstruiert, die hinter den Erscheinungen schweben sollen, wie der Künstlergeist hinter dem Kunstwerke waltet.

Alle naturwissenschaftlichen Betrachtungen könnten dem Menschen die Überzeugung nicht nehmen, daß die wahrnehmbaren Erscheinungen von außerweltlichen Wesen gelenkt werden, wenn er innerhalb seines Geistes selbst etwas fände, was auf solche Wesen hindeutet. Was vermöchten Anatomie und Physiologie mit ihrer Erklärung, daß die Seelenthätigkeiten Funktionen des Gehirnes sind, wenn die Beobachtung | dieser Thätigkeiten etwas lieferte, was als höherer Erklärungsgrund anzusehen ist? Wenn der Philosoph uns zu zeigen vermöchte, daß sich in der menschlichen Vernunft eine allgemeine Weltvernunft offenbart, dann könnten eine solche Erkenntnis alle naturwissenschaftlichen Ergebnisse nicht widerlegen.

Nun wird aber die dualistische Weltanschauung durch nichts besser widerlegt, als durch die Betrachtung des menschlichen Geistes. Wenn ich einen äußeren Vorgang, z. B. die Bewegung einer elastischen Kugel, die durch eine andere gestoßen worden ist, erklären will, so kann ich nicht bei der bloßen Beobachtung stehen bleiben, sondern ich muß das Gesetz suchen, das Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der einen Kugel durch Richtung und Schnelligkeit der anderen bestimmt. Ein solches Gesetz kann mir nicht die bloße Beobachtung, sondern nur die gedankliche Verknüpfung der Vorgänge liefern. Der Mensch entnimmt also aus seinem Geiste die Mittel, um das zu erklären, was sich ihm durch die Beobachtung darbietet. Er muß über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Beobachtung und Denken sind die beiden Quellen unserer Erkenntnisse über die Dinge. Das gilt für alle Dinge und Vorgänge, nur nicht für das denkende Bewußtsein selbst. Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt. Es liefert uns die Gesetze für alles andere; es liefert uns zugleich auch seine eigenen. Wenn wir die Richtigkeit eines Naturgesetzes darthun wollen, so vollbringen wir dies dadurch, daß wir Beobachtungen, Wahrnehmungen unterscheiden, ordnen, Schlüsse ziehen, also uns Begriffe und Ideen über die Erfahrungen mit Hülfe des Denkens bilden. Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.

Diese Thatsache ist unvereinbar mit der dualistischen | Weltanschauung. Was die Anhänger dieser Weltanschauung so oft betonen, daß die Äußerungen des denkenden Bewußtseins uns durch den inneren Sinn der Selbstbeobachtung zugänglich sind, während wir das physische, das chemische Geschehen nur begreifen, wenn wir die Thatsachen der Beobachtung durch logische, mathematische Kombination u. s. w., also durch die Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Gebiete in die entsprechenden Zusammenhänge bringen: das dürften sie vielmehr niemals zugeben. Denn man ziehe nur einmal die richtige Folgerung aus der Erkenntnis, daß Beobachtung in Selbstbeobachtung umschlägt, wenn wir aus naturwissenschaftlichem in geisteswissenschaftliches Gebiet heraufgehen. Läge den Naturerscheinungen eine allgemeine Weltvernunft oder ein anderes geistiges Urwesen zu Grunde (z. B. Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewußter Geist), so müßte auch der denkende Menschengeist von diesem Weltwesen geschaffen sein. Eine Übereinstimmung der Begriffe und Ideen, die sich dieser Geist von den Erscheinungen bildet, mit der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen wäre nur möglich, wenn der ideelle Weltkünstler in der menschlichen Seele die Gesetze erzeugte, nach denen er vorher die ganze Welt geschaffen hat. Dann aber könnte der Mensch seine eigene geistige Thätigkeit nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Beobachtung des Urwesens erkennen, von dem er gebildet ist. Es gäbe eben keine Selbstbeobachtung, sondern nur Beobachtung der Absichten und Zwecke des Urwesens. Mathematik und Logik z. B. dürften nicht dadurch ausgebildet werden, daß der Mensch die innere, eigene Natur geistiger Zusammenhänge sucht, sondern daß er diese geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aus den Absichten und Zwecken der ewigen Weltvernunft ableitet. Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müßte sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht | worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht; und wenn Eduard von Hartmann von Ideen spricht, die sich der Naturgesetze als Handlanger bedienen, um den Weltenbau zu bilden, so sind diese Ideen nur seine eigenen, durch die er sich die Welt erklärt. Weil Beobachtung der Geistesäußerungen Selbstbeobachtung ist, deshalb spricht sich im Geiste das eigene Selbst und nicht eine äußere Vernunft aus.

Im vollen Einklange mit der Thatsache der Selbstbeobachtung steht aber die monistische Entwickelungslehre. Hat sich die menschliche Seele langsam und stufenweise mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt, so ist es selbstverständlich, daß wir ihr Entstehen von unten her naturwissenschaftlich erklären, daß wir aber die innere Wesenheit dessen, was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergiebt, nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst gewinnen können. Wäre Geist in einer der menschlichen Form ähnlichen immer vorhanden gewesen und hätte sich zuletzt nur im Menschen sein Gegenbild geschaffen, so müßten wir den Menschengeist aus dem Allgeist ableiten können; ist aber der Menschengeist im Laufe der natürlichen Entwickelung als Neubildung entstanden, dann begreifen wir sein Herkommen, wenn wir seine Ahnenreihe verfolgen; wir lernen die Stufe, zu der er zuletzt gekommen ist, kennen, wenn wir ihn selbst betrachten.

Eine sich selbst verstehende und auf unbefangene Betrachtung des menschlichen Geistes gerichtete Philosophie liefert also einen weiteren Beweis für die Richtigkeit der monistischen Weltanschauung. Sie ist dagegen ganz unverträglich mit einer dualistischen Naturwissenschaft. (Die weitere Ausführung und ausführliche Begründung einer | monistischen Philosophie, deren Grundgedanken ich hier nur andeuten konnte, habe ich in meiner »Philosophie der Freiheit«, Berlin 1894, Verlag Emil Felber, gegeben.)

Wer die monistische Weltanschauung recht versteht, für den verlieren auch alle Einwendungen, die ihr von der Ethik gemacht werden, alle Bedeutung. Haeckel hat wiederholt auf das Unberechtigte solcher Einwendungen hingewiesen und auch darauf aufmerksam gemacht, wie die Behauptung, daß der naturwissenschaftliche Monismus zum sittlichen Materialismus führen müsse, entweder auf einer vollkommenen Verkennung des ersteren beruht, oder aber auf eine bloße Verdächtigung desselben hinausläuft.

Der Monismus sieht natürlich das menschliche Handeln nur als einen Teil des allgemeinen Weltgeschehens an. Er macht es ebenso wenig abhängig von einer sogenannten höheren moralischen Weltordnung, wie er das Naturgeschehen von einer übernatürlichen Ordnung abhängig sein läßt. »Die mechanische oder monistische Philosophie behauptet, daß überall in den Erscheinungen des menschlichen Lebens, wie in denen der übrigen Natur, feste und unabänderliche Gesetze walten, daß überall ein notwendiger, ursächlicher Zusammenhang, ein Kausalnexus der Erscheinungen besteht, und daß demgemäß die ganze uns erkennbare Welt ein einheitliches Ganzes, ein ›Monon‹, bildet. Sie behauptet ferner, daß alle Erscheinungen nur durch mechanische Ursachen, nicht durch vorbedachte zweckthätige Ursachen hervorgebracht werden. Einen ›freien Willen‹ im gewöhnlichen Sinne giebt es nicht. Vielmehr erscheinen im Lichte der monistischen Weltanschauung auch diejenigen Erscheinungen, die wir als die freiesten und unabhängigsten zu betrachten uns gewöhnt haben, die Äußerungen des menschlichen Willens, gerade so festen Gesetzen unterworfen wie jede andere Naturerscheinung.« (Haeckel, Anthropogenie, S. 851 f.). Die monistische Philosophie zeigt die Erscheinung des freien Willens erst | im rechten Lichte. Als Ausschnitt des allgemeinen Weltgeschehens steht der menschliche Wille unter denselben Gesetzen wie alle anderen natürlichen Dinge und Vorgänge. Er ist naturgesetzlich bedingt. Indem aber die monistische Ansicht leugnet, daß in dem Naturgeschehen höhere, zweckthätige Ursachen vorhanden sind, erklärt sie zugleich auch den Willen unabhängig von einer solchen höheren Weltordnung. Der natürliche Entwicklungsprozeß führt die Naturvorgänge herauf bis zum menschlichen Selbstbewußtsein. Auf dieser Stufe überläßt er den Menschen sich selbst; dieser kann nunmehr die Antriebe seiner Handlungen aus seinem eigenen Geiste holen. Waltete eine allgemeine Weltvernunft, so könnte der Mensch auch seine Ziele nicht aus sich, sondern nur aus dieser ewigen Vernunft holen. Im Sinne des Monismus ist hiernach das Handeln des Menschen durch ursächliche Momente bestimmt; im ethischen Sinne ist es nicht bestimmt, weil die ganze Natur nicht ethisch, sondern naturgesetzlich bestimmt ist. Die Vorstufen des sittlichen Handelns sind bereits bei niederen Organismen vorhanden. »Wenn auch später beim Menschen die moralischen Fundamente sich viel höher entwickelten, so liegt doch ihre älteste, prähistorische Quelle, wie Darwin gezeigt hat, in den sozialen Instinkten der Tiere.« (Haeckel, Monismus, S. 29.) Das sittliche Handeln des Menschen ist ein Entwickelungsprodukt. Der sittliche Instinkt der Tiere vervollkommnet sich, wie alles andere in der Natur, durch Vererbung und Anpassung, bis der Mensch aus seinem eigenen Geiste heraus sich sittliche Zwecke und Ziele setzt. Nicht als vorherbestimmt durch eine übernatürliche Weltordnung, sondern als Neubildung innerhalb des Naturprozesses erscheinen die sittlichen Ziele. In sittlicher Beziehung »zweckvoll ist nur dasjenige, was der Mensch erst dazu gemacht hat, denn nur durch Verwirklichung einer Idee entsteht Zweckmäßiges. Wirksam im realistischen Sinne wird die Idee aber nur im Menschen. Auf die Frage: was hat der Mensch für eine Aufgabe im Leben, kann | der Monismus nur antworten: die, die er sich selbst setzt. Meine Sendung in der Welt ist keine (ethisch) vorherbestimmte, sondern sie ist jeweilig die, die ich mir erwähle. Ich trete nicht mit gebundener Marschroute meinen Lebensweg an« (vergl. meine »Philosophie der Freiheit«, S. 172 f.). Der Dualismus fordert Unterwerfung unter die von irgend woher geholten sittlichen Gebote. Der Monismus weist den Menschen auf sich selbst. Dieser empfängt von keinem äußeren Weltwesen sittliche Maßstäbe, sondern nur aus seiner eigenen Wesenheit heraus. Die Fähigkeit, sich selbst ethische Zwecke zu schaffen, kann man moralische Phantasie nennen. Der Mensch erhebt durch sie die ethischen Instinkte seiner niederen Vorfahren zum moralischen Handeln, wie er durch die künstlerische Phantasie die Gestalten und Vorgänge der Natur in seinen Kunstwerken auf einer höheren Stufe widerspiegelt.

Die philosophischen Erwägungen, die sich aus dem Vorhandensein der Selbstbeobachtung ergeben, sind somit keine Widerlegung, sondern eine wichtige Ergänzung der aus der vergleichenden Anatomie und Physiologie genommenen Beweismittel der monistischen Weltanschauung. –

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