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Haeckel und seine Gegner

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I.

HG, 1-15

 

Der Empfindung, welche der Mensch hat, wenn er seine Stellung innerhalb der Welt betrachtet, hat Goethe einen herrlichen Ausdruck in seinem Buche über Winckelmann gegeben: »Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.« Aus dieser Empfindung heraus entspringt die bedeutungsvollste Frage, die sich der Mensch stellen kann: wie ist sein eigenes Werden und Wesen mit demjenigen des ganzen Weltalls verknüpft? Schiller hat den Weg, durch den Goethe zur Erkenntnis der menschlichen Natur kommen wollte, trefflich in einem Briefe an diesen am 23. August 1794 bezeichnet. »Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen.« Dieser Weg Goethes ist nun auch der, welchen die Naturwissenschaft seit vier Jahrzehnten einschlägt, um die »Frage aller Fragen für die Menschheit« zu lösen. Huxley sieht sie darin, die Stellung zu bestimmen, welche »der Mensch in der Natur einnimmt, und seine | Beziehungen zu der Gesamtheit der Dinge«. Es ist das große Verdienst Charles Darwins, dem Nachdenken über diese Frage einen neuen naturwissenschaftlichen Boden geschaffen zu haben. Die Thatsachen, die er 1859 in seinem Werke »Die Entstehung der Arten« mitteilte und die Grundsätze, die er entwickelte, boten der Naturforschung die Möglichkeit, auf ihre Weise zu zeigen, wie begründet Goethes Überzeugung war, daß die Natur »nach tausendfältigen Tieren ein Wesen bildet, das sie alle enthält: den Menschen«. Heute blicken wir auf vierzig Jahre wissenschaftlicher Entwicklung zurück, die unter dem Einflusse der Ideenrichtung Darwins stehen. Mit Recht konnte Ernst Haeckel in seiner Schrift »Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen«, die einen von ihm auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge am 26. August 1898 gehaltenen Vortrag wiedergiebt, sagen: »Vierzig Jahre Darwinismus! Welcher ungeheure Fortschritt unserer Naturerkenntnis! Und welcher Umschwung unserer wichtigsten Anschauungen, nicht allein auf den nächstbetroffenen Gebieten, sondern auch in demjenigen der Anthropologie und ebenso aller sogenannten Geisteswissenschaften!« Goethe hat, aus seiner tiefen Naturerkenntnis heraus, diesen Umschwung vorausgesehen und seine Bedeutung für den Fortgang der menschlichen Geisteskultur in vollem Umfange erkannt. Wir sehen das besonders deutlich aus einem Gespräche, das er am 2. August 1830 mit Soret gehabt hat. Damals gelangten die Nachrichten von der begonnenen Julirevolution nach Weimar und versetzten alles in Aufregung. Soret wurde, als er Goethe besuchte, mit den Worten empfangen: »Nun, was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Thüren!« Soret konnte natürlich nur glauben, Goethe spreche von der Julirevolution, und erwiderte, daß bei den bekannten Zuständen nichts anderes zu erwarten war, als daß man mit der Vertreibung der königlichen | Familie endigen würde. Goethe aber hatte etwas ganz anderes im Sinne. »Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire.« Der Streit betraf die Frage, ob jede der Spezies, in denen die organische Natur sich auslebt, einen besonderen Bauplan für sich habe, oder ob ihnen allen ein solcher gemeinsam sei. Goethe hatte für sich diese Frage bereits mehr als vierzig Jahre früher entschieden. Sein eifriges Studium der Pflanzen- und Tierwelt hatte ihn zum Gegner der Linné’schen Ansicht gemacht, daß wir »Spezies so viele zählen, als verschiedene Formen im Prinzip geschaffen worden sind«. Wer eine solche Meinung hat, kann sich nur bemühen, zu erforschen, welches die Organisationspläne der einzelnen Spezies sind. Er wird diese einzelnen Formen vor allem sorgfältig zu unterscheiden suchen. Goethe schlug einen anderen Weg ein. »Das, was Linné mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben.« Es bildete sich in ihm die Meinung aus, die er 1796 in den »Vorträgen über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie« in dem Satze zusammengefaßt hat: »Dies also hätten wir gewonnen, ungescheuet behaupten zu dürfen, daß alle vollkommnen organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzteren den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen beständigen Teilen mehr oder weniger hin und herneigt und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.« Das Urbild, auf das sich alle mannigfaltigen Pflanzenformen zurückführen lassen, hat Goethe schon 1790 in seinem »Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären« dargestellt. Diese Betrachtungsweise, durch die Goethe die Gesetze der lebendigen Natur zu |erkennen bestrebt war, ist ganz gleich derjenigen, die er in seinem 1793 geschriebenen Aufsatz »Der Versuch, als Vermittler von Objekt und Subjekt« für die leblose Welt fordert: »In der Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien; es ist nur die Frage: Wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?« Auch die Spezies erscheinen uns nur isoliert. Goethe sucht ihre Verbindung. Daraus geht klar hervor, daß Goethes Streben darauf gerichtet ist, bei Betrachtung der Lebewesen dieselbe Erklärungsart anzuwenden, die bei der leblosen Natur zum Ziele führt. Wie weit er mit solchen Vorstellungen seiner Zeit vorauseilte, wird ersichtlich, wenn man bedenkt, daß zur selben Zeit, als Goethe seine Metamorphosenschrift veröffentlichte, Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« die Unmöglichkeit einer Erklärung des Lebendigen nach denselben Prinzipien, die für das Leblose gelten, wissenschaftlich darthun wollte. Er behauptet: »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für den Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechthin absprechen.« Haeckel weist diesen Gedanken mit den Worten zurück: »Nun ist aber dieser unmögliche Newton siebzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen und hat die Aufgabe thatsächlich gelöst, deren Lösung Kant für absolut undenkbar erklärt hatte!« Daß der durch den Darwinismus bewirkte Umschwung in den |naturwissenschaftlichen Anschauungen eintreten müsse, wußte Goethe, denn er entspricht seiner eigenen Vorstellungsart. In der Ansicht, die Geoffroy de Saint-Hilaire gegen Cuvier verteidigte, daß alle organischen Formen einen »allgemeinen, nur hier und da modifizierten Plan« in sich tragen, erkannte er die eigene wieder. Deshalb konnte er zu Soret sagen: »Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich juble mit Recht über den endlich erlebten, allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.« Von noch viel größerem Werte für Goethes Naturanschauung sind nun die Entdeckungen Darwins. Die Naturanschauung Goethes verhält sich zum Darwinismus in ähnlicher Weise wie die Einsichten Kopernikus’ und Kepplers in den Bau und die Bewegungen des Planetensystems zu der Auffindung des Gesetzes der allgemeinen Anziehung aller Himmelskörper durch Newton. Dieses Gesetz zeigt die naturwissenschaftlichen Ursachen auf, warum sich die Planeten in der Weise bewegen, wie es Kopernikus und Keppler beschrieben haben. Und Darwin hat die natürlichen Ursachen gefunden, warum das von Goethe angenommene, gemeinsame Urbild aller organischen Wesen in den mannigfaltigen Spezies zur Erscheinung kommt.

Der Zweifel an der Anschauung, daß jeder einzelnen organischen Spezies ein besonderer Organisationsplan zu Grunde liege, der für alle Zeiten unveränderlich sei, setzte sich in Darwin fest auf einer Reise, die er im Sommer 1831 als Naturforscher auf dem Schiffe Beagle nach Südamerika und Australien antrat. Wie seine Gedanken reiften, davon erhalten wir eine Vorstellung, wenn wir Mitteilungen von ihm lesen wie diese: »Als ich während der Fahrt des Beagle den Galapagosarchipel, der im Stillen Ozean ungefähr fünfhundert englische Meilen von der Küste von der südamerikanischen Küste entfernt liegt, besuchte, sah ich mich von | eigentümlichen Arten von Vögeln, Reptilien und Pflanzen umgeben, welche sonst nirgends in der Welt existieren. Doch trugen sie fast alle amerikanisches Gepräge an sich. Im Gesang der Spottdrossel, in dem scharfen Geschrei des Aasgeiers, in den großen leuchterähnlichen Opuntien bemerkte ich deutlich die Nachbarschaft mit Amerika; und doch waren diese Inseln durch so viele Meilen vom Festlande getrennt und wichen in ihrer geologischen Konstitution und in ihrem Klima weit von ihm ab. Noch überraschender war die Thatsache, daß die meisten Bewohner jeder einzelnen Insel dieses kleinen Archipels spezifisch verschieden waren, wenn auch untereinander nahe verwandt. Ich habe mich damals oft gefragt, wie diese eigentümlichen Pflanzen und Tiere entstanden seien. Die einfachste Antwort schien zu sein, daß die Bewohner der verschiedenen Inseln voneinander abstammten und im Verlauf ihrer Abstammung Modifikationen erlitten hätten, und daß alle Bewohner des Archipels von denen des nächsten Festlandes, nämlich Amerika, von welchem die Kolonisation natürlich herrühren würde, abstammten. Es blieb mir aber lange ein unerklärliches Problem: wie der notwendige Modifikationsgrad erreicht worden sein könnte.« Über dieses Wie klärten Darwin die zahlreichen Züchtungsversuche auf, die er nach seiner Heimkehr mit Tauben, Hühnern, Hunden, Kaninchen und Kulturgewächsen machte. Aus ihnen ersah er, in welch hohem Grade in den organischen Formen die Möglichkeit liegt, sich im Verlaufe ihrer Fortpflanzung fortwährend zu verändern. Man ist in der Lage, durch Herstellung künstlicher Bedingungen aus einer gewissen Form nach wenigen Generationen neue Arten zu erhalten, die viel mehr von einander abweichen als solche in der freien Natur, deren Verschiedenheit man für so groß hält, daß man jeder einen besonderen Organisationsplan zu Grunde legen möchte. Diese Veränderlichkeit der Arten benutzt bekanntlich der Züchter, um solche Formen von Kulturorganismen zur Entwicklung zu bringen, die gewissen Absichten entsprechen. Er sucht | die Bedingungen herzustellen, welche die Veränderung nach einer Richtung hinlenken, die ihm entspricht. Will er eine Schafsorte mit besonders feiner Wolle züchten, so sucht er innerhalb seiner Schafherde diejenigen Individuen aus, welche die feinste Wolle haben. Diese läßt er sich fortpflanzen. Von ihren Nachkommen wählt er zur weiteren Fortpflanzung wieder diejenigen aus, welche die feinste Wolle haben. Wird das durch eine Reihe von Generationen hindurch fortgesetzt, so erlangt man eine Schafspezies, welche in der Bildung der Wolle erheblich von ihren Vorfahren abweicht. Dasselbe kann man mit andern Eigenschaften der Lebewesen machen. Aus diesen Thatsachen geht zweierlei hervor: daß die organischen Formen die Neigung haben, sich zu verändern, und daß sie die angenommenen Veränderungen auf ihre Nachkommen vererben. Durch die erste Eigenschaft der Lebewesen ist der Züchter im stande, bei seiner Spezies gewisse Merkmale auszubilden, die seinen Zwecken entsprechen; durch die zweite übertragen sich diese neuen Merkmale von einer Generation auf die andere.

Der Gedanke liegt nun nahe, daß sich die Formen auch in der freien Natur fortwährend ändern. Und die große Veränderungsfähigkeit der Kulturorganismen zwingt nicht dazu, anzunehmen, daß diese Eigenschaft der organischen Formen innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen ist. Wir können vielmehr voraussetzen, daß sich im Laufe großer Zeiträume eine gewisse Form in eine ganz andere verwandelt, die in ihrer Bildung in der denkbar größten Weise von der ersten abweicht. Die natürlichste Folgerung ist dann die, daß die organischen Spezies nicht unabhängig, jede nach einem besonderen Bauplan, nebeneinander entstanden sind, sondern daß sich im Laufe der Zeit die einen aus den andern entwickeln. Eine Unterstützung erfährt dieser Gedanke durch die Erkenntnisse, zu denen Lyell in der Entwickelungsgeschichte der Erde gelangt ist, und die er zuerst 1830 in seinen »Grundsätzen der Geologie« (Principles of geology) veröffentlicht hat. Durch sie wurden | jene älteren geologischen Ansichten, wonach sich die Bildung der Erde in einer Reihe gewaltsamer Katastrophen vollzogen haben soll, beseitigt. Durch diese Katastrophenlehre sollten die Ergebnisse erklärt werden, zu denen die Untersuchung der festen Erdkruste geführt hat. Die verschiedenen Schichten der Erdrinde und die in ihnen enthaltenen, versteinerten organischen Wesen sind ja die Überbleibsel dessen, was sich im Zeitenlaufe auf der Erdoberfläche zugetragen hat. Die Anhänger der gewaltsamen Umwälzungslehre glaubten, daß sich die Entwicklung der Erde in aufeinanderfolgenden, genau voneinander unterschiedenen Perioden vollzogen habe. Am Ende einer solchen Periode trat eine Katastrophe ein. Alles Lebendige wurde zerstört und seine Reste in einer Erdschicht aufbewahrt. Über dem Zerstörten erhob sich eine vollständig neue Welt, die wieder geschaffen werden mußte. An die Stelle dieser Katastrophenlehre setzte Lyell die Ansicht, daß sich die Erdrinde im Laufe sehr langer Zeiträume allmählich durch dieselben Vorgänge gebildet habe, die sich noch heute jeden Tag auf der Oberfläche der Erde abspielen. Die Thätigkeit der Flüsse, welche Schlamm von einer Stelle ab- und der anderen zuführen, die Wirkungen der Gletscher, die das Gestein abschleifen und Blöcke fortschieben, und ähnliche Vorgänge sind es gewesen, die in ihrer stetigen, langsamen Wirksamkeit der Erdoberfläche die heutige Gestalt gegeben haben. Diese Anschauung zieht die andere notwendig nach sich, daß auch die heutigen Tier- und Pflanzenformen sich allmählich aus denjenigen entwickelt haben, deren Reste uns in den Versteinerungen erhalten sind. Nun ergiebt sich aus den Vorgängen der künstlichen Züchtung, daß wirklich eine Form in eine andere sich verwandeln kann. Es entsteht nur die Frage, wodurch werden in der Natur selbst die Bedingungen zu dieser Umwandlung geschaffen, die der Züchter auf künstlichem Wege herbeiführt?

Bei der künstlichen Züchtung wählt die menschliche Intelligenz die Bedingungen so, daß die neuentstehenden Formen dem Zwecke | angepaßt sind, den der Züchter verfolgt. Nun sind aber auch die in der Natur lebenden organischen Formen im allgemeinen den Bedingungen zweckmäßig angepaßt, unter denen sie leben. Jeder Blick in die Natur kann über die Wahrheit dieser Thatsache belehren. Die Tier- und Pflanzenspezies sind so eingerichtet, daß sie in den Verhältnissen, in denen sie leben, sich erhalten und fortpflanzen können.

Diese zweckmäßige Einrichtung ist es eben, welche das Vorurteil hervorgerufen hat, daß die organischen Formen sich nicht auf dieselbe Weise erklären lassen, wie die Thatsachen der leblosen Natur. Kant führt in der Kritik der Urteilskraft aus: »Die Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch stufenweise Annäherung einer Tiergattung zur andern. . . . Hier steht nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allen ihm bekannten und gemutmaßten Mechanismen derselben, jene große Familie von Geschöpfen (denn so müßte man sie sich vorstellen, wenn die genannte, durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) entspringen zu lassen. Allein er muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreiches ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.«

Will man die organischen Formen in derselben Art erklären, wie die Naturwissenschaft es mit den unorganischen Erscheinungen macht, so muß gezeigt werden, daß die zweckmäßige Einrichtung der Organismen ohne einen absichtlich in sie gelegten Zweck gerade so naturnotwendig entsteht, wie eine elastische Kugel gesetzmäßig dahinrollt, wenn sie von einer | andern gestoßen wird. Diese Forderung hat Darwin durch seine Lehre von der natürlichen Zuchtwahl erfüllt. Gemäß ihrer durch die künstliche Züchtung erwiesenen Verwandlungsfähigkeit müssen sich die organischen Formen auch in der Natur umbilden. Ist nichts vorhanden, was von vorneherein die Verwandlung so einrichtet, daß nur zweckmäßige Formen entstehen, so werden wahllos unzweckmäßige oder mehr oder weniger zweckmäßige entstehen. Nun ist die Natur ungeheuer verschwenderisch in der Hervorbringung ihrer Keime. Auf unserer Erde werden soviele Keime erzeugt, daß sich in kurzer Zeit eine große Anzahl Welten füllen könnten, wenn sie alle zur Entwickelung kämen. Dieser großen Zahl von Keimen steht nur ein verhältnismäßig geringes Maß von Nahrung und Raum gegenüber. Die Folge davon ist ein allgemeiner Kampf ums Dasein unter den organischen Wesen. Nur die Tüchtigen werden sich erhalten und fortpflanzen können; die Untüchtigen müssen zu Grunde gehen. Die Tüchtigsten werden aber eben die sein, die den Lebensbedingungen am zweckmäßigsten angepaßt sind. Der durchaus absichtslose und naturnotwendige Kampf ums Dasein bewirkt somit dasselbe, was die Intelligenz des Züchters mit den Kulturorganismen vollbringt: er schafft zweckmäßige organische Formen. Dies ist in großen Umrissen der Sinn der von Darwin aufgestellten Lehre von der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein oder der Selektionstheorie. Durch sie war erreicht, was Kant für unmöglich gehalten hat: die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach zu denken, ohne der allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beizulegen.

Wie Newton durch seine Lehre von der allgemeinen Anziehung der Himmelskörper zeigte, warum diese in den von Kopernikus und Keppler festgestellten Bahnen sich bewegen, so konnte man nunmehr mit Hilfe der Selektionstheorie erklären, wie sich in der Natur die | Entwicklung des Lebendigen vollzieht, deren Gang Goethe in der »Metamorphose der Pflanzen« mit den Worten bezeichnet hat: »Soviel aber können wir sagen, daß die aus einer kaum zu sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Tiere nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, sodaß die Pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht.« Goethe hat von seinem Verfahren gesagt: »Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr der vieles freiwillig aus sich hervorbringt und mir entgegenträgt.« Für Ernst Haeckel wurde die Selektionstheorie der Punkt, aus dem er eine ganze naturwissenschaftliche Weltanschauung ableitete.

Auch Jean Lamarck hat bereits im Anfange unseres Jahrhunderts die Ansicht vertreten, daß zu einer gewissen Zeit in der Erdentwickelung sich aus den mechanischen, physikalischen und chemischen Prozessen heraus, durch Urzeugung, ein einfachstes Organisches entwickelt habe. Diese einfachsten Organismen haben dann vollkommenere erzeugt, und diese wieder höher organisierte, bis herauf zum Menschen. »Man könnte daher diesen Teil der Entwicklungstheorie, welcher die gemeinsame Abstammung aller Tier- und Pflanzenarten von einfachsten, gemeinsamen Stammformen behauptet, seinem verdientesten Begründer zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen« (Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte). Haeckel hat im großen Stile eine Erklärung des Lamarckismus durch den Darwinismus gegeben.

Den Schlüssel zu dieser Erklärung fand Haeckel dadurch, daß er in der individuellen Entwickelung der höheren Organismen – in ihrer Ontogenie – die Zeugnisse dafür suchte, daß sie wirklich von niederen Lebewesen abstammen. Wenn man die Formentwickelung eines höheren Organismus vom ersten Keime bis zum ausgebildeten Zustande | verfolgt, so stellen die verschiedenen Stufen Gestalten dar, welche den Formen niederer Organismen entsprechen. Im Beginne seiner individuellen Existenz ist der Mensch und jedes andere Tier eine einfache Zeile. Diese teilt sich, und aus ihr entsteht eine aus vielen Zellen bestehende Keimblase. Aus ihr entwickelt sich der sogenannte Becherkeim, die zweischichtige Gastrula, die die Gestalt eines becherförmigen oder krugförmigen Körpers hat. Nun bleiben die niederen Pflanzentiere (Spongien, Polypen u. s. w.) während ihres ganzen Lebens auf einer Entwickelungsstufe stehen, welche diesem Becherkeim gleicht. Haeckel sagt darüber: »Diese Thatsache ist von außerordentlicher Wichtigkeit. Denn wir sehen, daß der Mensch, und überhaupt jedes Wirbeltier, rasch vorübergehend ein zweiblättriges Bildungsstadium durchläuft, welches bei jenen niedersten Pflanzentieren zeitlebens erhalten bleibt« (Anthropogenie S. 175). Ein solcher Parallelismus zwischen den Entwicklungsstadien der höheren Organismen und den ausgebildeten niederen Formen läßt sich durch die ganze individuelle Entwicklungsgeschichte hindurch verfolgen. Haeckel kleidet diese Thatsache in die Worte: »Die kurze Ontogenese oder die Entwickelung des Individuums ist eine schnelle und zusammengezogene Wiederholung, eine gedrängte Rekapitulation der langen Phylogenese oder Entwicklung der Art.« Dieser Satz drückt das sogenannte biogenetische Grundgesetz aus. Wodurch kommen nun die höheren Organismen im Lauf ihrer Entwickelung zu Formen, die den niederen gleichen? Die naturgemäße Erklärung ist die, daß sich jene aus diesen entwickelt haben, daß also jeder Organismus in seiner individuellen Entwickelung uns die Gestalten aufeinanderfolgend zeigt, die ihm als Erbstück von seinen niederen Vorfahren geblieben sind.

Der einfachste Organismus, der sich dereinst auf der Erde gebildet hat, verwandelt sich im Laufe der Fortpflanzung in neue Formen. Von diesen bleiben die bestangepaßten im Kampf ums Dasein übrig und vererben ihre Eigenschaften auf ihre Nachkommen. Alle Gestaltungen und | Eigenschaften, die ein Organismus gegenwärtig zeigt, sind in großen Zeiträumen durch Anpassung und Vererbung entstanden. Die Vererbung und die Anpassung sind also die Ursachen der organischen Formenwelt.

Haeckel hat also dadurch, daß er das Verhältnis der individuellen Entwickelungsgeschichte (Ontogenie) zur Stammesgeschichte (Phylogenie) suchte, die naturwissenschaftliche Erklärung der mannigfaltigen organischen Formen gegeben. Er hat als Naturphilosoph die menschliche Erkenntnisforderung erfüllt, die Schiller aus der Beobachtung des Goetheschen Geistes gewonnen hat: er ist aufgestiegen von der einfachen Organisation, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Seine Ansicht hat er in mehreren großangelegten Werken niedergelegt, in seiner »Generellen Morphologie« (1866), in der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« (1868), in der »Anthropogenie« (1874), in der er »den ersten und bis jetzt einzigen Versuch unternommen hat, den zoologischen Stammbaum des Menschen im einzelnen kritisch zu begründen und die ganze tierische Ahnenreihe unseres Geschlechts . . . eingehend zu erörtern«. Zu diesen Werken ist in den letzten Jahren (1894–1896) noch seine dreibändige »Systematische Phylogenie« getreten.

Es ist bezeichnend für die tiefe philosophische Natur Haeckels, daß er nach dem Erscheinen von Darwins »Entstehung der Arten« (1859) sogleich die volle Tragweite der darin aufgestellten Grundsätze für die gesamte Weltanschauung des Menschen erkannte; und es spricht für seinen philosophischen Enthusiasmus, daß er mit Kühnheit unermüdlich alle die Vorurteile bekämpfte, die sich gegen die Aufnahme der neuen Wahrheit in das Glaubensbekenntnis des modernen Geistes erhoben. Die Notwendigkeit, daß alles moderne wissenschaftliche Denken mit dem Darwinismus zu rechnen hat, setzte Haeckel in der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte am 22. September 1877 in | dem Vortrage über »Die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesamtwissenschaft« auseinander. Ein umfassendes »Glaubensbekenntnis eines Naturforschers« trug er am 9. Oktober 1892 in Altenburg beim 75jährigen Jubiläum der naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes vor. (Gedruckt ist diese Rede unter dem Titel »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft«. Bonn, 1892.) Was sich aus der reformierten Entwickelungslehre und aus unserem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Wissen für die Beantwortung der »Frage aller Fragen« ergiebt, hat er in großen Linien kürzlich in dem oben erwähnten Vortrage »Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen« entwickelt. Hier behandelt Haeckel neuerdings die Konsequenz, die sich für jeden logisch Denkenden ohne weiteres aus dem Darwinismus ergiebt, daß der Mensch sich aus niederen Wirbeltieren, und zwar zunächst aus echten Affen entwickelt hat. Dieser notwendige Folgeschluß ist es aber auch gewesen, welcher alle alten Vorurteile der Theologen, Philosophen und aller, die in deren Bann stehen, zum Kampf gegen die Entwickelungstheorie aufgerufen hat. Zweifelsohne hätte man sich ein Hervorgehen der einzelnen Tier- und Pflanzenformen auseinander gefallen lassen, wenn dessen Annahme nur nicht zugleich auch die Anerkennung der tierischen Abstammung des Menschen nach sich gezogen hätte. »Es bleibt,« wie Haeckel in seiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« betonte, »eine lehrreiche Thatsache, daß diese Anerkennung keineswegs – nach dem Erscheinen des ersten Darwinschen Werkes – allgemein war, daß vielmehr zahlreiche Kritiker des ersten Darwinschen Buches (und darunter sehr berühmte Namen) sich vollkommen mit dem Darwinismus einverstanden erklärten, aber jede Anwendung desselben auf den Menschen gänzlich von der Hand wiesen.« Mit einem gewissen Schein von Recht berief man sich dabei auf Darwins Buch selbst, in dem von dieser Anwendung kein Wort steht. Haeckel wurde deswegen, weil er rücksichtslos diese unabweisliche Konsequenz | zog, der Vorwurf gemacht, daß er »darwinistischer als Darwin selbst sei«. Das ging freilich nur bis zum Jahre 1871, in dem Darwins Werk erschien »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl«. Hier vertritt dieser selbst mit großer Kühnheit und Klarheit diese Folgerung.

Man erkannte richtig, daß mit dieser Folgerung eine Vorstellung fallen muß, die zu den geschätztesten in der Sammlung älterer menschlicher Vorurteile gehört: diejenige, daß die »Seele des Menschen« ein besonderes Wesen für sich sein soll, das einen ganz anderen »höheren Ursprung« habe, als alle anderen Naturdinge. Die Abstammungslehre muß natürlich zu der Ansicht führen, daß die seelischen Thätigkeiten des Menschen nur eine besondere Form derjenigen physiologischen Funktionen sind, die sich bei dessen Wirbeltier-Ahnen finden, und daß diese Thätigkeiten sich mit eben derselben Notwendigkeit aus den Geistesthätigkeiten der Tiere entwickelt haben, wie sich das Gehirn des Menschen, welches die materielle Bedingung des Geistes ist, aus dem Wirbeltiergehirn entwickelt hat.

Nicht nur die Menschen mit alten, durch die verschiedenen Kirchenreligionen großgezogenen Glaubensvorstellungen sträubten sich gegen das neue Bekenntnis, sondern auch alle diejenigen, die sich zwar scheinbar von diesen Glaubensvorstellungen freigemacht haben, deren Geist aber doch noch immer im Sinne dieser Vorstellungen denkt. In dem Folgenden soll der Nachweis geführt werden, daß zu der letzteren Art von Geistern eine Reihe von Philosophen und naturwissenschaftlich hochstehenden Gelehrten gehört, die Haeckel bekämpft haben und noch immer Gegner der von ihm vertretenen Ansichten sind. Zu ihnen gesellen sich dann die, welchen überhaupt die Fähigkeit abgeht, aus einer Reihe vorliegender Thatsachen die notwendigen logischen Folgerungen zu ziehen. Welches die Einwände sind, gegen die Haeckel seinen Kampf zu führen hatte, möchte ich hier zur Darstellung bringen. |

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