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II.

Das Seelenwesen

in der Helligkeit der Geist-Anschauung

Nimmt man zu den Traumerscheinungen seine Zuflucht, um das Seelenwesen kennen zu lernen, so ist man zuletzt zu dem Geständnis gezwungen, dass man das Gesuchte mit einer Maske vor sich hat. Hinter den Verbildlichungen körperlicher Zustände und Vorgänge, hinter den naturwidrig zusammengestellten Erinnerungserlebnissen darf man die Tätigkeit der Seele vermuten. Nicht behaupten aber kann man, dass man der wirklichen Gestalt des Seelischen gegenübergestellt ist.

Nach dem Erwachen wird man gewahr, wie das Tätige des Traumes in die Wirksamkeit des Körpers eingesponnen und durch diesen an die sinnliche Aussenwelt hingegeben ist. Durch den rückwärts gewendeten Blick der Selbstbeobachtung sieht man nur die Bilder der Aussenwelt im seelischen Leben, nicht dieses selbst. Die Seele entschlüpft dem gewöhnlichen Bewusstsein in dem Augenblicke, da man sie erkennend erfassen will.

Mit der Betrachtung des Traumes an die Wirklichkeit des Seelischen heranzukommen, kann man nicht hoffen. Man müsste durch eine starke innere Tätigkeit die Verbildlichungen der Körperzustände und Körpervorgänge, und die Erinnerungserlebnisse austilgen, um die seelische Tätigkeit in ihrer ureigenen Gestalt zurückzubehalten. Und man müsste dann das Zurückbehaltene betrachten können. Das ist unmöglich. Denn der Träumende ist in einem passiven Zustande. Er kann keine Eigentätigkeit entfalten. Mit dem Verschwinden der Seelenmaske verschwindet zugleich die Empfindung des eigenen Selbstes.

Anders steht es für das wache Seelenleben. In diesem kann die Eigentätigkeit nicht nur aufrechterhalten bleiben, wenn man austilgt, was man von der Aussenwelt wahrnimmt; sie kann auch in sich selbst verstärkt werden.

Es geschieht dieses, wenn man wachend im Vorstellen sich so unabhängig von der sinnlichen Aussenwelt macht, wie man im Traume ist. Man wird dann zum vollbesonnenen, wachen Nachahmer des Traumes. Damit aber fällt sogleich alles Illusorische des Traumes weg. Der Träumende hält seine Traumbilder für Wirklichkeiten. Der Wache durchschaut ihre Unwirklichkeit. Der gesunde Wachende als Nachahmer des Traumes kann seine Bilder nicht für Wirklichkeiten halten. Er bleibt sich bewusst, dass er in selbstgeschaffenen Illusionen lebt.

Aber er wird diese Illusionen nicht zustande bringen, wenn er nur bei dem gewöhnlichen Grade des Bewusstseins stehen bleibt. Er muss für eine Erkraftung dieses Bewusstseins sorgen. Man kann dies erreichen durch ein stets vom Neuen von innen sich anfachendes Denken. Die innere seelische Aktivität wächst mit diesem fortgesetzten Anfachen. (Ich habe die entsprechende innere Betätigung in meinem Buche »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« und in meiner »Geheimwissenschaft« in den Einzelheiten beschrieben.)

Man kann auf diese Art das, was durch die Seele im Dämmerdunkel des Traumes geschieht, in das helle Licht des Bewusstseins rücken. Man vollzieht damit das Entgegengesetzte von dem, was durch Fremd- oder Autosuggestion geschieht. Bei diesem wird aus dem Halbdunkel und in diesem Halbdunkel etwas in das Seelenleben gerückt, das man dann für Wirklichkeit ansieht. Bei der gekennzeichneten vollbesonnenen Seelentätigkeit wird mit hellem Bewusstsein etwas vor die innere Anschauung gestellt, das man im vollsten Sinne des Wortes nur als Illusion ansieht.

Man kommt so dazu, den Traum zu zwingen, sich in die Bewusstseinshelle zu stellen. Er stellt sich sonst nur vor das abgeschwächte, halbwache Bewusstsein hin. Er scheut die Bewusstseinshelle. Er verschwindet vor ihr. Das verstärkte Bewusstsein hält ihn fest.

In diesem Festhalten gewinnt er nicht an Kraft. Im Gegenteil: er verliert an Kraft. Dafür aber wird das Bewusstsein veranlasst, sich selbst Kraft zuzuführen. Es ist da im Seelischen, wie es im Körperlichen ist, wenn man einen festen Körper in Dampf verwandelt. Der feste Körper gibt sich seine Grenzen nach allen Seiten. Man kann diese Grenzen betasten. Sie bestehen für sich. Verwandelt man den festen Körper in Dampf, dann muss man ihn, damit er sich nicht nach allen Seiten verflüchtigt, durch feste Wände einschliessen. So muss die Seele, will sie den Traum wachend festhalten, sich gewissermassen zum kräftigen Behälter gestalten. Sie muss sich in sich erkraften.

Diese Erkraftung braucht sich die Seele nicht zu leisten, wenn sie in sich Bilder der äusseren Sinneswelt wahrnimmt. Da sorgt das Verhältnis des Körpers zur Aussenwelt dafür, dass die Seele erregt ist, diese Bilder zu halten. Träumt die Seele wachend im sinnlich Unwirklichen, dann muss sie durch ihre eigene Kraft dieses sinnlich Unwirkliche halten.

An dem vollbewussten Vorstellen des sinnlich Unwirklichen bildet man die Kraft heran, das geistig Wirkliche zu schauen.

Im Traum ist die Eigentätigkeit des Seelenwesens schwach. Der flüchtige Trauminhalt überwältigt diese Eigentätigkeit. Diese Übermacht des Traumes bewirkt, dass die Seele ihn für Wirklichkeit hält. Im gewöhnlichen sinnlichen Bewusstsein fühlt sich die Eigentätigkeit als Wirklichkeit neben der Wirklichkeit der Sinnenwelt. Aber die Eigentätigkeit kann sich nicht anschauen; alle Anschauung wird von den Bildern der Sinneswirklichkeit in Anspruch genommen. Lernt die Eigentätigkeit sich aufrechterhalten, indem sie sich bewusst mit sinnlich unwirklichem Inhalt erfüllt, so belebt sie nach und nach auch die Eigenanschauung in sich selbst. Sie lenkt nun nicht mehr bloss den Blick von der Aussenanschauung in sich zurück; sie schreitet als Seelentätigkeit zurück und findet sich in ihrer geistigen Wesenheit; diese wird nun Inhalt ihrer Anschauung.

Während die Seele sich so in sich selber findet, wird ihr auch das Wesen des Träumens noch weiter beleuchtet. Sie wird deutlich gewahr, was sie vorher nur ahnen konnte, dass das Träumen im Wachen nicht aufhört. Es setzt sich fort. Aber der schwach wirkende Traum wird von dem sinnlichen Wahrnehmungsinhalt übertönt. Hinter der Bewusstseinshelle, die mit den Bildern der Sinneswirklichkeit erfüllt ist, dämmert eine Traumeswelt. Und diese ist, während die Seele wacht, nicht illusorisch wie die Traumwelt des Halbwachen. Im Wachen träumt der Mensch ‒ unter der Bewusstseinsschwelle ‒ von den inneren Vorgängen seines Körpers. Während durch das Auge die Aussenwelt gesehen und durch die Seele vorgestellt wird, lebt im Hintergrunde der schwache Traum des Innengeschehens. Durch die Erstarkung der Eigentätigkeit der Seele wird allmählich die Anschauung der Aussenwelt zur Traumschwäche herabgedämpft; und die Anschauung der Innenwelt in ihrer Wirklichkeit erhellt.

Im Anschauen der Aussenwelt ist die Seele empfangend; sie erlebt die Aussenwelt als das Schaffende und ihren eigenen Inhalt als das Nach-geschaffene. Für die Innenanschauung erkennt sich die Seele als das Schaffende. Und der eigene Körper enthüllt sich als das Nachgeschaffene. Der Gedanke der Aussenwelt muss als Bild der Wesen und Vorgänge der Aussenwelt empfunden werden. Der Menschenkörper kann vor der wirklichen Anschauung der Seele, die auf die geschilderte Art gewonnen wird, nur als Bild des geistigen Seelenwesens empfunden werden.

Im Traume löst sich die seelische Tätigkeit aus dem festen Verbande mit dem Körper, in dem sie im gewöhnlichen Wachsein ist; aber sie hält noch das lose Verhältnis fest, das sie erfüllt mit den Sinnbildern des Körperlichen und mit den Erinnerungserlebnissen, die auch durch den Körper gewonnen sind. Im geistigen Anschauen seiner selbst erkraftet sich das Seelenwesen so, dass ihm seine eigene höhere Wirklichkeit empfindbar und der Körper in seinem Charakter als Nach-Bild dieser Wirklichkeit erkennbar wird.

   

Siglen sämtlicher Schriften Rudolf Steiners innerhalb der SKA:

Bd. 1: EG, GE Bd. 2: WW, PF Bd. 3: FN, GW, HG Bd. 4: RP Bd. 5: MA, CM Bd. 6: TH, AN Bd. 7: WE, SE Bd. 8: FK, AC, GU Bd. 9: PdE, PdS, HdS, DSE Bd. 10: WS, SW Bd. 11: GF, GK Bd. 12: VM, VS, GG  Bd. 13: KS, AD Bd. 14: DS, SL, AL Bd. 15: EH Bd. 16: ML

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