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V. Abschluss über Goethes morphologische Anschauungen

EG, 85-88

Wenn ich am Schlusse der Betrachtung über Goethes Metamorphosen-Gedanken auf die Anschauungen zurückblicke, die ich mich auszusprechen gedrungen fühlte, so kann ich mir nicht verhehlen, eine wie grosse Zahl hervorragender Vertreter verschiedener Richtungen der Wissenschaft anderer Ansicht sind. Ihre Stellung zu Goethe steht mir deutlich vor Augen; und das Urteil, das sie über meinen Versuch, den Standpunkt unseres grossen Denkers und Dichters zu vertreten, aussprechen werden, dürfte im voraus zu ermessen sein.

In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über Goethes Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete gegenüber.

Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor Haeckel an der Spitze erkennen in Goethe den Propheten des Darwinismus, der sich das Organische ganz in ihrem Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die auch in der unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte, sei nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst Darwin die monistische Weltanschauung begründet und die Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Ueberzeugung erhoben habe.

Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher annimmt, die Typusidee bei Goethe sei weiter nichts als ein allgemeiner Begriff, eine Idee im Sinne der platonischen Philosophie. Goethe hätte zwar einzelne Behauptungen getan, die an die Entwicklungstheorie erinnern, wozu er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus gekommen sei; bis zum letzten mechanischen Grunde fortzuschreiten hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von Entwicklungstheorie im modernen Sinne des Wortes könne daher bei ihm nicht die Rede sein.

Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung irgendeines positiven Standpunktes, rein  | aus Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären, wurde klar, dass weder die eine noch die andere der erwähnten Richtungen – so ausserordentlich bedeutend auch dasjenige ist, was sie beide zu einer Beurteilung Goethes geliefert haben – seine Naturanschauung vollkommen richtig interpretiert hat.

Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz recht, wenn sie behauptet, Goethe habe dadurch, dass er die Erklärung der organischen Natur anstrebte, den Dualismus bekämpft, der zwischen dieser und der unorganischen Welt unübersteigliche Schranken annimmt. Aber Goethe behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb, weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen Natur in einem mechanischen Zusammenhange dachte, sondern weil er einsah, dass der höhere Zusammenhang, in dem dieselben stehen, unserer Erkenntnis keineswegs verschlossen ist. Er dachte sich das Universum zwar in monistischer Weise als unentzweite Einheit – von der er den Menschen durchaus nicht ausschloss (siehe Briefw. zwischen Goethe und F. H. Jacobi  ) –, aber deshalb erkannte er doch an, dass innerhalb dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen Gesetze haben. Er verhielt sich schon seit seiner Jugend ablehnend gegenüber Bestrebungen, welche sich die Einheit als Einförmigkeit vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt das, was innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint, von den in der unorganischen Welt wirksamen Gesetzen beherrscht denken (siehe »Geschichte meines botanischen Studiums« im 1. Bande der naturw. Schriften in Kürschners Nat.-Lit.). Diese Ablehnung war es auch, welche ihn später zur Annahme einer anschauenden Urteilskraft nötigte, durch welche wir die organische Natur erfassen im Gegensatze zum diskursiven Verstande, durch den wir die unorganische Natur erkennen. Goethe denkt sich die Welt als einen Kreis von Kreisen, von denen jeder einzelne sein eigenes Erklärungsprinzip hat. Die modernen Monisten kennen nur einen einzigen Kreis, den der unorganischen Naturgesetze.

Die zweite der angeführten Meinungen über Goethe sieht ein, dass es sich bei ihm um etwas anderes handelt als beim  | modernen Monismus. Da aber ihre Vertreter es als ein Postulat der Wissenschaft ansehen, dass die organische Natur gerade so wie die unorganische erklärt werde und eine Anschauung wie die Goethes von vornherein perhorreszieren, so sehen sie es überhaupt als nutzlos an, auf seine Bestrebungen näher einzugehen.

So konnten Goethes hohe Prinzipien weder da noch dort zur vollen Geltung kommen. Und gerade diese sind das Hervorragende seiner Bestrebungen, sind das, was für denjenigen, der sich ihre ganze Tiefe vergegenwärtigt hat, auch dann an Bedeutung nicht verliert, wenn er einsieht, dass manches von den Einzelheiten Goethescher Forschung der Berichtigung bedarf.

Hieraus erwächst nun für denjenigen, der Goethes Anschauungen darzulegen versucht, die Forderung, über die kritische Beurteilung des einzelnen, was Goethe in diesem oder jenem Kapitel der Naturwissenschaft gefunden, hinweg den Blick auf das Zentrale Goethescher Naturanschauung zu lenken.  

Indem ich dieser Forderung zu entsprechen suchte, liegt die Möglichkeit nahe, gerade von denjenigen missverstanden zu werden, bei denen es mir am meisten leid tun würde, von den reinen Empirikern. Ich meine jene, welche den als tatsächlich nachzuweisenden Zusammenhängen der Organismen, dem empirisch gebotenen Stoffe nach allen Seiten nachgehen und die Frage nach den ursprünglichen Prinzipien der Organik als eine heute noch offene betrachten. Gegen sie können meine Ausführungen nicht gerichtet sein, denn sie berühren sie nicht. Im Gegenteile: ich baue gerade auf sie einen Teil meiner Hoffnungen, weil sie die Hände nach allen Seiten noch frei haben. Sie sind es auch, die manches von Goethe Behauptete noch zu berichtigen haben werden, denn im Tatsächlichen irrte er zuweilen; hier kann natürlich auch das Genie die Schranken seiner Zeit nicht überwinden.

Im Prinzipiellen kam er aber zu Grundanschauungen, die für die Wissenschaft vom Organischen dieselbe Bedeutung haben wie Galileis Grundgesetze für die Mechanik.

Dies zu begründen, machte ich mir zur Aufgabe. |

Mögen jene, die meine Worte nicht zu überzeugen vermögen, mindestens den redlichen Willen sehen, mit dem ich bemüht war, ohne Rücksicht auf Personen, nur der Sache zugewandt, das angedeutete Problem, Goethes wissenschaftliche Schriften aus dem Ganzen seiner Natur zu erklären, zu lösen und eine für mich erhebende Ueberzeugung auszusprechen.

Hat man in derselben Weise glücklich und erfolgreich begonnen, Goethes Dichtungen zu erklären, so liegt hierin schon die Forderung, alle Werke seines Geistes in diese Art der Betrachtung hereinzuziehen. Es kann nicht für immer ausbleiben und ich werde nicht der letzte sein von denen, die sich herzlich freuen werden, wenn es meinem Nachfolger besser gelingt als mir. Möchten jugendlich strebende Denker und Forscher, namentlich jene, die mit ihren Ansichten nicht bloss in die Breite gehen, sondern direkt dem Zentralen unseres Erkennens ins Auge schauen, meinen Ausführungen einige Aufmerksamkeit schenken und in Scharen nachfolgen, um vollkommener auszuführen, was ich auszuführen bestrebt war. |

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Goethes

naturwissenschaftliche

Schriften

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