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Goethes

naturwissenschaftliche

Schriften

XVI. Goethe als Denker und Forscher

EG, 198-231

 

1. Goethe und die moderne Naturwissenschaft

Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen, wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben. Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung in den Naturwissenschaften von seiten der Fachgelehrten erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein. Man wird in ihnen den dilettantenhaften Versuch eines Menschen sehen, einer Sache das Wort zu reden, die bei allen »Einsichtigen« längst gerichtet ist. Wenn ich mir die Geringschätzung all derer vorhalte, die sich heute allein berufen glauben, über naturwissenschaftliche Fragen zu sprechen, dann muss ich mir gestehen, dass Verlockendes im landläufigen Sinne in diesem Versuche allerdings nicht gelegen ist. Allein ich konnte mich durch diese voraussichtlichen Einwände doch nicht abschrecken lassen. Denn ich kann mir alle diese Einwände ja selbst machen und weiss daher, wie wenig stichhaltig sie sind. »Wissenschaftlich« im Sinne der modernen Naturlehre zu denken, ist nicht eben schwer. Wir haben ja vor nicht zu langer Zeit einen merkwürdigen Fall erlebt. Ed. Von Hartmann trat mit seiner »Philosophie des Unbewussten« auf. Es wird heute am wenigsten dem geistvollen Verfasser dieses Buches selbst beifallen, dessen Unvollkommenheiten zu leugnen. Aber die Denkrichtung, der wir da gegenüberstehen, ist eine eindringende, den Sachen auf den Grund gehende. Sie ergriff daher mächtig alle Geister, die nach tieferer Erkenntnis Bedürfnis hatten. Sie durchkreuzte aber die Bahnen der an der Oberfläche der Dinge tastenden Naturgelehrten. Diese lehnten sich allgemein dagegen auf. Nachdem verschiedene Angriffe von ihrer Seite ziemlich wirkungslos blieben, erschien eine Schrift von einem anonymen Verfasser: »Das Unbewusste vom Standpunkte des Darwinismus | und der Deszendenztheorie«, die mit aller nur denkbaren kritischen Schärfe alles gegen die neubegründete Philosophie vorbrachte, was sich vom Standpunkte moderner Naturwissenschaft gegen dieselbe sagen lässt. Diese Schrift machte Aufsehen. Die Anhänger der gegenwärtigen Richtung waren von ihr im höchsten Maße befriedigt. Sie erkannten es öffentlich an, dass der Verfasser einer der ihrigen sei und proklamierten seine Ausführungen als die ihrigen. Welche Enttäuschung mussten sie erfahren! Als sich der Verfasser wirklich nannte, war es – Ed. V. Hartmann. Damit ist aber eines mit überzeugender Kraft dargetan: es ist nicht Unbekanntschaft mit den Ergebnissen der Naturforschung, nicht Dilettantismus der Grund, der es gewissen, nach tieferer Einsicht strebenden Geistern unmöglich macht, sich der Richtung anzuschliessen, welche heute sich zur herrschenden aufwerfen will. Es ist aber die Erkenntnis, dass die Wege dieser Richtung nicht die rechten sind. Der Philosophie wird es nicht schwer, sich auf den Standpunkt der gegenwärtigen Naturanschauung probeweise zu stellen. Das hat Ed. V. Hartmann durch sein Verhalten für jeden, der sehen will, unwiderleglich gezeigt. Dies zur Bekräftigung meiner oben gemachten Behauptung, dass es auch mir nicht schwer wird, die Einwände, die man wider meine Ausführungen erheben kann, mir selbst zu machen.

Man sieht wohl gegenwärtig jeden für einen Dilettanten an, der überhaupt philosophisches Nachdenken über das Wesen der Dinge ernst nimmt. Eine Weltanschauung haben gilt bei unseren Zeitgenossen von der »mechanischen« oder gar bei jenen von der »positivistischen« Denkart für eine idealistische Schrulle. Begreiflich wird diese Ansicht freilich, wenn man sieht, in welcher hilflosen Unkenntnis sich diese positivistischen Denker befinden, wenn sie sich über das »Wesen der Materie«, über »die Grenzen des Erkennens«, über »die Natur der Atome« oder dergleichen Dinge vernehmen lassen. An diesen Beispielen kann man wahre Studien über dilettantisches Behandeln von einschneidenden Fragen der Wissenschaft machen.

Man muss den Mut haben, sich alles das gegenüber der Naturwissenschaft der Gegenwart zu gestehen, trotz der | gewaltigen, bewunderungswürdigen Errungenschaften, die dieselbe Naturwissenschaft auf technischem Gebiete zu verzeichnen hat. Denn diese Errungenschaften haben mit dem wahrhaften Bedürfnis nach Naturerkenntnis nichts zu tun. Wir haben es ja gerade an Zeitgenossen erlebt, denen wir Erfindungen verdanken, deren Bedeutung für die Zukunft sich noch lange gar nicht einmal ahnen lässt, dass ihnen ein tieferes wissenschaftliches Bedürfnis abgeht. Es ist etwas ganz anderes, die Vorgänge der Natur zu beobachten, um ihre Kräfte in den Dienst der Technik zu stellen, als mit Hilfe dieser Vorgänge tiefer in das Wesen der Naturwissenschaft hineinzublicken suchen. Wahre Wissenschaft ist nur da vorhanden, wo der Geist Befriedigung seiner Bedürfnisse sucht, ohne äusseren Zweck.

Wahre Wissenschaft im höheren Sinne des Wortes hat es nur mit ideellen Objekten zu tun; sie kann nur Idealismus sein. Denn sie hat ihren letzten Grund in Bedürfnissen, die aus dem Geiste stammen. Die Natur erweckt in uns Fragen, Probleme, die der Lösung zustreben. Aber sie kann diese Lösung nicht selbst liefern. Nur der Umstand, dass mit unserem Erkenntnisvermögen eine höhere Welt der Natur gegenübertritt, das schafft auch höhere Forderungen. Einem Wesen, dem diese höhere Natur nicht eigen wäre, gingen diese Probleme einfach nicht auf. Sie können daher ihre Antwort auch von keiner anderen Instanz als nur wieder von dieser höheren Natur erhalten. Wissenschaftliche Fragen sind daher wesentlich eine Angelegenheit, die der Geist mit sich selbst auszumachen hat. Sie führen ihn nicht aus seinem Elemente heraus. Das Gebiet aber, in welchem, als in seinem ureigenen, der Geist lebt und webt, ist die Idee, ist die Gedankenwelt. Gedankliche Fragen durch gedankliche Antworten erledigen, das ist wissenschaftliche Tätigkeit im höchsten Sinne des Wortes. Und alle übrigen wissenschaftlichen Verrichtungen sind zuletzt nur dazu da, diesem höchsten Zwecke zu dienen. Man nehme die wissenschaftliche Beobachtung. Sie soll uns zur Erkenntnis eines Naturgesetzes führen. Das Gesetz selbst ist rein ideell. Schon das Bedürfnis nach einer hinter den Erscheinungen waltenden Gesetzlichkeit entstammt dem Geiste. Ein ungeistiges | Wesen  hätte dieses Bedürfnis nicht. Nun treten wir an die Beobachtung heran! Was wollen wir durch sie denn eigentlich erreichen? Soll uns auf die in unserem Geiste erzeugte Frage von aussen, durch die Sinnenbeobachtung, etwas geliefert werden, das Antwort auf dieselbe sein könnte? Nimmermehr. Denn warum sollten wir bei einer zweiten Beobachtung  uns befriedigter fühlen als bei der ersten? Wäre der Geist überhaupt mit dem beobachteten Objekte zufrieden, so müsste er es gleich mit dem ersten sein. Aber die eigentliche Frage ist gar nicht die nach einer zweiten Beobachtung, sondern nach der ideellen Grundlage der Beobachtungen. Was lässt diese Beobachtung für eine ideelle Erklärung zu, wie muss ich sie denken, damit sie mir möglich erscheint? Das sind die Fragen, die uns der Sinnenwelt gegenüber kommen. Ich muss aus den Tiefen meines Geistes selbst das heraussuchen, was mir der Sinnenwelt gegenüber fehlt. Wenn ich mir die höhere Natur, nach der mein Geist der sinnlichen gegenüber strebt, nicht schaffen kann, dann schafft sie mir keine Macht der äusseren Welt. Die Resultate der Wissenschaft können also nur aus dem Geiste kommen; sie können somit nur Ideen sein. Gegen diese notwendige Ueberlegung kann man nichts einwenden. Mit ihr ist aber der idealistische Charakter aller Wissenschaft gesichert.

Die moderne Naturwissenschaft kann ihrem ganzen Wesen nach nicht an die Idealität der Erkenntnis glauben. Denn ihr gilt die Idee nicht als das Erste, Ursprünglichste, Schöpferische, sondern als das letzte Produkt der materiellen Prozesse. Sie ist sich dabei aber des Umstandes gar nicht bewusst, dass diese ihre materiellen Prozesse nur der sinnenfällig beobachtbaren Welt angehören, die sich aber, tiefer erfasst, ganz in Idee auflöst. Der in Betracht kommende Prozess stellt sich nämlich der Beobachtung folgendermassen dar: Wir nehmen mit unseren Sinnen Tatsachen wahr, Tatsachen, die ganz nach den Gesetzen der Mechanik verlaufen, dann Erscheinungen der Wärme, des Lichtes, des Magnetismus, der Elektrizität, endlich des Lebensprozesses usw. Auf der höchsten Stufe des Lebens finden wir, dass sich dasselbe bis zur Bildung von Begriffen, Ideen erhebt, deren Träger eben das menschliche Gehirn ist. Aus | einer solchen Gedankensphäre erwachsend finden wir unser eigenes »Ich«. Dasselbe scheint das oberste Produkt eines durch eine lange Reihe physikalischer, chemischer und organischer Vorgänge vermittelten komplizierten Prozesses zu sein. Untersuchen wir aber die ideelle Welt, die den Inhalt jenes »Ich« ausmacht, so finden wir in ihr wesentlich mehr als bloss das Endprodukt jenes Prozesses. Wir finden, dass die einzelnen Teile derselben in einer ganz anderen Weise miteinander verknüpft sind, als die Teile jenes bloss beobachteten Prozesses. Indem der eine Gedanke in uns auftaucht, der dann einen zweiten erfordert, finden wir, dass da ein ideeller Zusammenhang zwischen diesen zwei Objekten ist in ganz anderer Art, als wenn ich die Färbung eines Stoffes z. B. als Folge eines chemischen Agens beobachte. Es ist ja ganz selbstverständlich, dass die aufeinanderfolgenden Stadien des Gehirnprozesses im organischen Stoffwechsel ihre Quelle haben, wenngleich der Gehirnprozess selbst der Träger jener Gedankengebilde ist. Aber warum der zweite Gedanke aus dem ersten folgt, dazu finde ich in diesem Stoffwechsel nicht, wohl aber in dem logischen Gedankenzusammenhang den Grund. In der Welt der Gedanken herrscht somit ausser der organischen Notwendigkeit eine höhere ideelle. Diese Notwendigkeit nun aber, die der Geist innerhalb seiner Ideenwelt findet, diese sucht er auch in dem übrigen Universum. Denn diese Notwendigkeit ersteht uns ja nur dadurch, dass wir nicht nur beobachten, sondern auch denken. Oder, mit anderen Worten: die Dinge erscheinen nicht mehr in einem bloss tatsächlichen Zusammenhange, sondern durch eine innere, ideelle Notwendigkeit verknüpft, wenn wir sie nicht bloss durch die Beobachtung, sondern durch den Gedanken erfassen.

Man kann demgegenüber nicht sagen: Was soll alles Erfassen der Erscheinungswelt in Gedanken, wenn die Dinge dieser Welt vielleicht ein solches Erfassen ihrer Natur nach gar nicht zulassen? Diese Frage kann nur der stellen, der die ganze Sache nicht in ihrem Kerne erfasst hat. Die Welt der Gedanken lebt in unserem Inneren auf, sie tritt den sinnlich beobachtbaren Objekten gegenüber und fragt nun, welchen Bezug hat diese mir da gegenübertretende Welt zu mir selbst?  Was ist sie mir gegenüber? | Ich bin da mit meiner über aller Vergänglichkeit schwebenden ideellen Notwendigkeit; ich habe die Kraft in mir, mich selbst zu erklären. Wie aber erkläre ich das, was mir gegenüber auftritt?

Hier ist es, wo sich uns eine bedeutungsvolle Frage beantwortet, die z. B. Friedr. Theod. Vischer wiederholt aufgeworfen und für den Angelpunkt alles philosophischen Nachdenkens erklärt hat: jene nach dem Zusammenhange von Geist und Natur. Was besteht für ein Verhältnis zwischen diesen beiden, uns stets voneinander geschieden erscheinenden Wesenheiten? Wenn man diese Frage recht aufwirft, dann ist ihre Beantwortung nicht so schwierig, wie es scheint. Was kann die Frage denn nur für einen Sinn haben? Dieselbe wird ja nicht von einem Wesen gestellt, das über Natur und Geist als dritter stünde und von diesem seinem Standpunkte aus jenen Zusammenhang untersuchte, sondern von der einen der beiden Wesenheiten, von dem Geiste, selbst. Der letztere fragt: welcher Zusammenhang besteht zwischen mir und der Natur? Das heisst aber wieder nichts anderes als: wie kann ich mich selbst in eine Beziehung zu der mir gegenüberstehenden Natur bringen? Wie kann ich nach den in mir lebenden Bedürfnissen diese Beziehung ausdrücken? Ich lebe in Ideen; was für eine Idee entspricht der Natur, wie kann ich das, was ich als Natur anschaue, als Idee ausdrücken? Es ist, als ob wir uns oftmals durch eine verfehlte Fragestellung selbst den Weg zu einer befriedigenden Antwort verlegten. Eine richtige Frage ist aber schon eine halbe Antwort.

Der Geist  sucht überall, über die Folge der Tatsachen, wie sie ihm die blosse Beobachtung liefert, hinauszukommen und bis zu den Ideen der Dinge zu dringen. Die Wissenschaft fängt eben da an, wo das Denken anfängt. In ihren Ergebnissen liegt das in ideeller Notwendigkeit, was den Sinnen nur als Tatsachenfolge erscheint. Diese Ergebnisse sind nur scheinbar das letzte Produkt des oben geschilderten Prozesses; in Wahrheit sind sie dasjenige, was wir im ganzen | Universum als die Grundlage von allem ansehen müssen. Wo sie dann für die Beobachtung erscheinen, das ist gleichgültig; denn davon hängt ja, wie wir gesehen haben, ihre Bedeutung nicht ab. Sie breiten das Netz ihrer ideellen Notwendigkeit über das ganze Universum aus.

Wir mögen von wo immer ausgehen; wenn wir geistige Kraft genug haben, treffen wir zuletzt auf die Idee.

Indem die moderne Physik dies vollständig verkennt, wird sie zu einer ganzen Reihe von Irrtümern geführt. Ich will hier nur auf einen solchen als Beispiel hinweisen.

Nehmen wir die Definition des in der Physik gewöhnlich unter den »allgemeinen Eigenschaften der Körper« angeführten Beharrungsvermögens. Dies wird gewöhnlich folgendermassen definiert: kein Körper kann ohne äussere Ursache den Zustand der Bewegung, in dem er sich befindet, verändern. Diese Definition erweckt die Vorstellung, als wenn der Begriff des an sich trägen Körpers aus der Erscheinungswelt abstrahiert wäre. Und Mill, der nirgends auf die Sache selbst eingeht, sondern zum Behufe einer erzwungenen Theorie alles auf den Kopf stellt, würde keinen Augenblick anstehen, die Sache auch so zu erklären. Dies ist aber doch ganz unrichtig. Der Begriff des trägen Körpers entsteht rein durch eine begriffliche Konstruktion. Indem ich das im Raume Ausgedehnte »Körper« nenne, kann ich mir solche Körper vorstellen, deren Veränderungen von äusseren Einflüssen herrühren und solche, bei denen sie aus eigenem Antrieb geschehen. Finde ich nun in der Aussenwelt etwas, was meinem gebildeten Begriffe: »Körper, der sich nicht ohne äusseren Antrieb verändern kann« entspricht, so nenne ich diesen träge oder dem Gesetz des Beharrungsvermögens unterworfen. Meine Begriffe sind nicht aus der Sinnenwelt abstrahiert, sondern frei aus der Idee konstruiert, und mit ihrer Hilfe finde ich mich erst in der Sinnenwelt zurecht. Die obige Definition könnte nur lauten: Ein Körper, der nicht aus sich selbst heraus seinen Bewegungszustand ändern kann, heisst ein träger. Und wenn ich ihn als solchen erkannt habe, dann kann ich alles, was mit einem trägen Körper zusammenhängt, auch auf den in Rede stehenden anwenden. |

 

2. Das »Urphänomen«

Könnten wir die ganze Reihe von Vorgängen verfolgen, welche sich bei irgendeiner Sinneswahrnehmung vollziehen, von der peripherischen Endung des Nerven im Sinnesorgane bis in das Gehirn, so würden wir doch nirgends bis zu jenem Punkte gelangen, an dem die mechanischen, chemischen und organischen, kurz die raumzeitlichen Prozesse aufhören, und das auftritt, was wir eigentlich Sinneswahrnehmung nennen, z. B. die Empfindung der Wärme, des Lichtes, des Tones usw. Es ist die Stelle nicht zu finden, wo die verursachende Bewegung in ihre Wirkung, die Wahrnehmung, überginge. Können wir dann aber überhaupt davon sprechen, dass die beiden Dinge in dem Verhältnisse von Ursache und Wirkung stehen?

Wir wollen einmal die Tatsachen ganz objektiv untersuchen. Nehmen wir an, es trete eine bestimmte Empfindung in unserem Bewusstsein auf. Sie tritt dann zugleich so auf, dass sie uns auf irgendeinen Gegenstand verweist, von dem sie herstammt. Wenn ich die Empfindung des Rot habe, so verbinde ich, kraft des Inhaltes dieser Vorstellung, in der Regel damit zugleich ein bestimmtes Ortsdatum, d. i. eine Stelle im Raume, oder die Oberfläche eines Dinges, der ich das, was diese Empfindung ausdrückt, zuschreibe. Nur dann ist das nicht der Fall, wenn durch einen äusseren Einfluss das Sinnesorgan selbst in der ihm eigentümlichen Weise antwortet, wie wenn ich bei einem Schlag aufs Auge eine Lichtempfindung habe. Von diesen Fällen, in denen die Empfindungen übrigens niemals mit ihrer sonstigen Bestimmtheit auftreten, wollen wir absehen. Sie können uns ja, als Ausnahmefälle, über die Natur der Dinge nicht belehren. Habe ich  die Empfindung des Rot mit einem bestimmten Ortsdatum, so werde ich zunächst an irgendein Ding in der Aussenwelt als den Träger dieser Empfindung verwiesen. Ich kann mich nun ja wohl fragen: Welche räumlich-zeitlichen Vorgänge spielen sich in diesem Dinge ab, während es mir als mit der roten Farbe behaftet erscheint? Es wird sich mir dann zeigen, dass mechanische, chemische | oder andere Vorgänge als Antwort auf meine Frage sich darbieten. Nun kann ich weitergehen und die Vorgänge untersuchen, die sich auf dem Wege von jenem Dinge bis zu meinem Sinnesorgane vollzogen haben, um die Empfindung der roten Farbe für mich zu vermitteln. Da können sich mir nun doch auch wieder nichts anderes als Bewegungsvorgänge oder elektrische Ströme oder chemische Veränderungen als solche Vermittler darstellen. Das gleiche Resultat müsste sich mir ergeben, wenn ich die weitere Vermittlung vom Sinnesorgane bis zur Zentralstelle im Gehirne untersuchen könnte. Was auf diesem ganzen Wege vermittelt wird, das ist die in Rede stehende Wahrnehmung des Rot. Wie sich diese Wahrnehmung in einem bestimmten Dinge, das auf dem Wege von der Erregung bis zur Wahrnehmung liegt, darstellt, das hängt lediglich von der Natur dieses Dinges ab. Die Empfindung ist an jedem Orte vorhanden, vom Erreger bis zum Gehirne, aber nicht als solche, nicht expliziert, sondern so, wie es der Natur des Gegenstandes entspricht, der an jenem Orte sich befindet.

Daraus ergibt sich aber eine Wahrheit, die geeignet ist, Licht zu verbreiten über die gesamte theoretische Grundlage der Physik und Physiologie. Was erfahre ich aus der Untersuchung eines Dinges, das von einem Prozesse, der in meinem Bewusstsein als Empfindung auftritt, ergriffen wird? Ich erfahre nicht mehr als die Art und Weise, wie jenes Ding auf die Aktion, die von der Empfindung ausgeht, antwortet, oder mit anderen Worten: wie sich eine Empfindung in irgendeinem Gegenstande der räumlich-zeitlichen Welt auslebt. Weit entfernt, dass ein solcher räumlich-zeitlicher Vorgang die Ursache ist, der in mir die Empfindung auslöst, ist vielmehr das ganz andere richtig: der räumlich-zeitliche Vorgang ist die Wirkung der Empfindung in einem räumlich-zeitlich ausgedehnten Dinge. Ich könnte noch beliebig viele Dinge einschalten auf dem Wege von dem Erreger bis zu dem Wahrnehmungsorgane: in jedem wird hierbei nur dasjenige vorgehen, was in ihm vermöge seiner Natur vorgehen kann. Deshalb bleibt aber doch die Empfindung dasjenige, was sich in allen diesen Vorgängen auslebt. |

Man hat also in den longitudinalen Schwingungen der Luft bei der Schallvermittlung oder in den hypothetischen Oszillationen des Aethers bei der Vermittlung des Lichtes nichts anderes zu sehen als die Art und Weise, wie die betreffenden Empfindungen in einem Medium auftreten können, das seiner Natur nach nur der Verdünnung und Verdichtung beziehungsweise der schwingenden Bewegung fähig ist. Die Empfindung als solche kann ich in dieser Welt nicht finden, weil sie einfach nicht da sein kann. In jenen Vorgängen habe ich aber durchaus nicht das Objektive der Empfindungsvorgänge gegeben, sondern eine Form ihres Auftretens.

Und fragen wir uns nun: Welcher Art sind denn jene vermittelnden Vorgänge selbst? Untersuchen wir sie denn mit anderen Mitteln als mit Hilfe unserer Sinne? Ja, kann ich denn meine Sinne selbst mit anderen Mitteln als nur wieder mit eben diesen Sinnen untersuchen? Ist die peripherische Nervenendung, sind die Windungen des Gehirnes durch etwas anderes gegeben denn durch Sinneswahrnehmung? All das ist gleich subjektiv und gleich objektiv, wenn diese Unterscheidung überhaupt als berechtigt angenommen werden könnte. Jetzt können wir die Sache noch genauer fassen. Indem wir die Wahrnehmung von ihrer Erregung bis zu dem Wahrnehmungsorgane verfolgen, untersuchen wir nichts anderes als den fortwährenden Uebergang von einer Wahrnehmung zur andern. Das »Rot« liegt uns vor als dasjenige, um dessen willen wir überhaupt die ganze Untersuchung anstellen. Es weist uns auf seinen Erreger. In diesem beobachten wir andere Empfindungen als mit jenem Rot zusammenhängend. Es sind Bewegungsvorgänge. Dieselben treten dann als weitere Bewegungsvorgänge zwischen dem Erreger und dem Sinnesorgane auf usw. Alles dieses aber sind gleichfalls wahrgenommene Empfindungen. Und sie stellen nichts weiter dar als eine Metamorphose von Vorgängen, die, soweit sie überhaupt für die sinnliche Beobachtung in Betracht kommen, sich ganz restlos in Wahrnehmungen auflösen.

Die wahrgenommene Welt ist also nichts anderes als eine Summe von metamorphosierten Wahrnehmungen. |

Wir mussten  der Bequemlichkeit halber uns einer Ausdrucksweise bedienen, die mit dem gegenwärtigen Resultate nicht vollständig in Einklang zu bringen ist. Wir sagten, jedes in den Zwischenraum zwischen Erreger und Wahrnehmungsorgan eingeschaltete Ding bringe eine Empfindung in der Weise zum Ausdrucke, wie es seiner Natur gemäss ist. Streng genommen ist ja das Ding nichts weiter als die Summe jener Vorgänge, als welche es auftritt.

Man wird uns nun entgegnen: mit dieser unserer Schlussweise schaffen wir alles Dauernde im fortlaufenden Weltprozesse hinweg, wir machen wie Heraklit den Fluss der Dinge, in dem nichts bestehen bleibt, zum alleinigen Weltprinzipe. Es müsse hinter den Erscheinungen ein »Ding an sich«, hinter der Welt der Veränderungen eine »dauernde Materie« geben. Wir wollen denn doch einmal genauer untersuchen, was es denn eigentlich mit dieser »dauernden Materie«, mit dieser »Dauer im Wechsel« überhaupt für eine Bewandtnis habe.

Wenn ich mein Auge einer roten Fläche gegenüberstelle, so tritt die Empfindung des Rot in meinem Bewusstsein auf. Wir haben nun an dieser Empfindung Anfang, Dauer und Ende zu unterscheiden. Der vorübergehenden Empfindung soll nun ein dauernder objektiver Vorgang gegenüberstehen, der als solcher wieder objektiv in der Zeit begrenzt ist, d. h. Anfang, Dauer und Ende hat. Dieser Vorgang aber soll an einer Materie vor sich gehen, die anfang- und endlos, d. i. unzerstörbar, ewig ist. Diese soll das eigentlich Dauernde im Wechsel der Prozesse sein. Die Schlussfolgerung hätte vielleicht einige Berechtigung, wenn der Zeitbegriff in der obigen Weise richtig auf die Empfindung angewendet wäre. Aber müssen wir denn nicht streng unterscheiden zwischen dem Inhalte der Empfindung und dem Auftreten derselben? In meiner Wahrnehmung sind freilich beide ein und dasselbe; denn es muss doch der Inhalt der Empfindung in derselben anwesend sein, sonst käme sie für mich ja gar nicht in Betracht. Aber ist es für diesen Inhalt, rein als solchen genommen, nicht ganz gleichgültig, dass er jetzt in diesem Zeitmomente gerade in mein Bewusstsein ein- und nach so und so viel Sekunden aus demselben | wieder austritt? Das, was den Inhalt der Empfindung, d. i. dasjenige, was allein objektiv in Betracht kommt, ausmacht, ist davon ganz unabhängig. Nun kann aber das doch nicht für eine wesentliche Bedingung des Bestandes einer Sache angesehen werden, was für deren Inhalt ganz gleichgültig ist.

Aber auch für einen objektiven Prozess, der Anfang und Ende hat, ist unsere Anwendung des Zeitbegriffes nicht richtig. Wenn an einem bestimmten Dinge eine neue Eigenschaft auftaucht, sich während einiger Zeit in verschiedenen Entwicklungszuständen erhält und dann wieder verschwindet, so müssen wir auch hier den Inhalt dieser Eigenschaft als das Wesentliche ansehen. Und dieses hat als solches absolut nichts zu tun mit den Begriffen Anfang, Dauer und Ende. Unter dem Wesentlichen verstehen wir hier das, wodurch ein Ding eigentlich gerade das ist, als was es sich darstellt. Nicht dass etwas in einem bestimmten Zeitmomente auftaucht, sondern was auftaucht, darauf kommt es an. Die Summe aller dieser mit dem »Was« ausgedrückten Bestimmungen macht den Inhalt der Welt aus. Nun lebt sich dieses »Was« aber in den mannigfaltigsten Bestimmungen, in den verschiedenartigsten Gestalten aus. Alle diese Gestalten sind in Beziehung zueinander, sie bedingen sich gegenseitig. Dadurch treten sie in das Verhältnis des Auseinander nach Raum und Zeit. Aber nur einer ganz verfehlten Auffassung des Zeitbegriffes verdankt der Begriff der Materie seine Entstehung. Man glaubt die Welt zum wesenlosen Schein zu verflüchtigen, wenn man der veränderlichen Summe der Geschehnisse nicht ein in der Zeit Beharrendes, ein Unveränderliches untergelegt dächte, das bleibt, während seine Bestimmungen wechseln. Aber die Zeit ist ja nicht ein Gefäss, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und ausserhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander in einer Folge abhängig sind. Nehmen wir an, wir hätten es mit dem wahrzunehmenden Tatsachenkomplex a1 b1 c1 d1 e1 zu tun. Von diesem hängt mit innerer Notwendigkeit der andere Komplex a2 b2 c2 d2 e2 ab; ich sehe den Inhalt dieses letzteren ein, wenn ich ihn ideell aus dem ersteren hervorgehen lasse. Nun nehmen  | wir an, beide Komplexe treten in die Erscheinung. Denn was wir früher besprochen haben, ist das ganz unzeitliche und unräumliche Wesen dieser Komplexe. Wenn a2 b2 c2 d2 e2 in der Erscheinung auftreten soll, dann muss a1 b1 c1 d1 e1 ebenfalls Erscheinung sein, und zwar so, dass nun a2 b2 c2 d2 e2 auch in seiner Abhängigkeit davon erscheint. D. h. die Erscheinung a1 b1 c1 d1 e1 muss da sein, der Erscheinung a2 b2 c2 d2 e2 Platz machen, worauf diese letztere auftritt. Hier sehen wir, dass die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt an. Sie hat mit dem Wesen selbst noch nichts zu tun. Dieses Wesen ist nur ideell zu erfassen. Nur wer diesen Rückgang von der Erscheinung zum Wesen in seinen Gedankengängen nicht vollziehen kann, der hypostasiert die Zeit als ein den Tatsachen Vorhergehendes. Dann braucht er aber ein Dasein, welches die Veränderungen überdauert. Als solches fasst er die unzerstörbare Materie auf. Damit hat er sich ein Ding geschaffen, dem die Zeit nichts anhaben soll, ein in allem Wechsel Beharrendes. Eigentlich aber hat er nur sein Unvermögen gezeigt, von der zeitlichen Erscheinung der Tatsachen zu ihrem Wesen vorzudringen, das mit der Zeit nichts zu tun hat. Kann ich denn von dem Wesen einer Tatsache sagen: es entsteht oder vergeht? Ich kann nur sagen, dass ihr Inhalt einen andern bedingt, und dass dann diese Bedingung als Zeitenfolge erscheint. Das Wesen einer Sache kann nicht zerstört werden; denn es ist ausser aller Zeit und bedingt selbst die Letztere. Damit haben wir zugleich eine Beleuchtung auf zwei Begriffe geworfen, für die noch wenig Verständnis zu finden ist, auf Wesen und Erscheinung. Wer die Sache in unserer Weise richtig auffasst, der kann nach einem Beweis von der Unzerstörbarkeit des Wesens einer Sache nicht suchen, weil die Zerstörung den Zeitbegriff in sich schliesst, der mit dem Wesen nichts zu tun hat.

Nach diesen Ausführungen können wir sagen: das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.

Unsere Bemerkungen haben uns aber noch etwas anderes gezeigt. Wir haben gesehen, dass wir nicht von einem subjektiven | Charakter der Wahrnehmungen sprechen können. Wir können, wenn wir eine Wahrnehmung haben, die Vorgänge von dem Erreger an bis zu unserem Zentralorgan verfolgen: nirgends wird hier ein Punkt zu finden sein, wo der Sprung von der Objektivität des Nicht-Wahrgenommenen zur Subjektivität der Wahrnehmung nachzuweisen wäre. Damit ist der subjektive Charakter der Wahrnehmungswelt widerlegt. Die Welt der Wahrnehmung steht als auf sich begründeter Inhalt da, der mit Subjekt und Objekt vorläufig noch gar nichts zu tun hat.

Mit der obigen Ausführung ist natürlich nur jener Begriff der Materie getroffen, den die Physik ihren Betrachtungen zugrunde legt und den sie mit dem alten, ebenfalls unrichtigen Substanzbegriff der Metaphysik identifiziert. Etwas anderes ist die Materie als das den Erscheinungen zugrunde liegende eigentlich Reale, etwas anderes die Materie als Phänomen, als Erscheinung. Auf den ersteren Begriff allein geht unsere Betrachtung. Der letztere wird durch sie nicht berührt. Denn wenn ich das den Raum Erfüllende »Materie« nenne, so ist das bloss ein Wort für ein Phänomen, dem keine höhere Realität als anderen Phänomenen zugeschrieben wird. Ich muss mir dabei nur diesen Charakter der Materie stets gegenwärtig halten.

Die Welt dessen, was sich uns als Wahrnehmungen darstellt, d. h. Ausgedehntes, Bewegung, Ruhe, Kraft, Licht, Wärme, Farbe, Ton, Elektrizität usw., das ist das Objekt aller Wissenschaft.

Wäre nun das wahrgenommene Weltbild ein solches, dass es so, wie es für unsere Sinne vor uns auftritt, sich ungetrübt seiner Wesenheit nach auslebte, mit anderen Worten, wäre alles, was in der Erscheinung auftritt, ein vollkommener, durch nichts gestörter Abdruck der inneren Wesenheit der Dinge, dann wäre Wissenschaft die unnötigste Sache von der Welt. Denn die Aufgabe der Erkenntnis wäre schon in der Wahrnehmung voll und restlos erfüllt. Ja, wir könnten dann überhaupt gar nicht zwischen Wesen und Erscheinung unterscheiden. Beides fiele als identisch völlig zusammen.

Das ist aber nicht der Fall. Nehmen wir an, das in der Tatsachenwelt enthaltene Element A stehe in einem gewissen | Zusammenhang mit dem Element B. Beide Elemente sind natürlich nach unseren Ausführungen nichts weiter als Phänomene. Der Zusammenhang kommt wieder als Phänomen zur Erscheinung. Dieses Phänomen wollen wir C nennen. Was wir nun innerhalb der Tatsachenwelt feststellen können, ist das Verhältnis von A, B und C. Nun aber bestehen neben A, B und C in der wahrnehmbaren Welt noch unendlich viele solcher Elemente. Nehmen wir ein beliebiges viertes, D; es trete hinzu, und es wird sogleich alles sich als modifiziert darstellen. Statt dass A, im Verein mit B, C im Gefolge hat, wird durch das Hinzutreten von D ein wesentlich anderes Phänomen E auftreten.

Hierauf kommt es an. Wenn wir einem Phänomen gegenübertreten, so sehen wir es mannigfach bedingt. Wir müssen alle Beziehungen suchen, wenn wir das Phänomen verstehen sollen. Nun sind diese Beziehungen aber verschiedene, nähere und fernere. Dass mir ein Phänomen E gegenübertrete, daran sind andere Phänomene in näherer oder fernerer Beziehung die Veranlassung. Einige sind unbedingt notwendig, um überhaupt ein derartiges Phänomen entstehen zu lassen, andere hinderten wohl nicht, wenn sie abwesend wären, dass ein so geartetes Phänomen entstehe; aber sie bedingen, dass es gerade so entstehe. Daraus ersehen wir, dass wir zwischen notwendigen und zufälligen Bedingungen einer Erscheinung unterscheiden müssen. Phänomene nun, die so entstehen, dass dabei nur die notwendigen Bedingungen mitwirken, können wir ursprüngliche, die anderen abgeleitete nennen. Wenn wir die ursprünglichen Phänomene aus ihren Bedingungen verstehen, dann können wir durch Hinzusetzung von neuen Bedingungen die abgeleiteten ebenfalls verstehen.

Hier wird uns die Aufgabe der Wissenschaft klar. Sie hat durch die phänomenale Welt so weit durchzudringen, dass sie Erscheinungen aufsucht, die nur von notwendigen Bedingungen abhängig sind. Und der sprachlich-begriffliche Ausdruck für solche notwendige Zusammenhänge sind die Naturgesetze.

Wenn man einer Sphäre von Erscheinungen gegenübertritt, dann hat man also, sobald man über die blosse Beschreibung | und Registrierung hinaus ist, zunächst diejenigen Elemente festzustellen, die einander notwendig bedingen und sie als Urphänomene hinzustellen. Dazu hat man dann jene Bedingungen zu setzen, welche schon in einem entfernteren Bezug zu jenen Elementen stehen, um zu sehen, wie sie jene ursprünglichen Phänomene modifizieren.

Dies ist das Verhältnis der Wissenschaft zur Erscheinungswelt: in letzterer treten die Phänomene durchaus als abgeleitete auf, sie sind deshalb von vornherein unverständlich; in jener treten die Urphänomene an die Spitze und die abgeleiteten als Folge auf, wodurch der ganze Zusammenhang verständlich wird. Das System der Wissenschaft unterscheidet sich von dem System der Natur dadurch, dass in jenem der Zusammenhang der Erscheinungen vom Verstande hergestellt und dadurch verständlich gemacht wird. Die Wissenschaft hat nie und nimmer etwas zur Erscheinungswelt hinzuzubringen, sondern nur die verhüllten Bezüge derselben blosszulegen. Aller Verstandesgebrauch darf sich nur auf die letztere Arbeit beschränken. Durch Zurückgehen auf ein Nicht-Erscheinendes, um die Erscheinungen zu erklären, überschreitet der Verstand und alles wissenschaftliche Treiben ihre Befugnis.

Nur wer die unbedingte Richtigkeit dieser unserer Ableitungen einsieht, kann Goethes Farbenlehre verstehen. Nachzudenken darüber, was eine Wahrnehmung wie z. B. das Licht, die Farbe sonst noch sei, ausser der Wesenheit, als welche sie auftreten, das lag Goethe ganz fern. Denn er kannte jene Befugnis des verständigen Denkens. Ihm war das Licht als Empfindung gegeben. Wenn er nun den Zusammenhang zwischen Licht und Farbe erklären wollte, so konnte das nicht durch eine Spekulation geschehen, sondern nur durch ein Urphänomen, indem er die notwendige Bedingung aufsuchte, die zum Lichte hinzutreten muss, um die Farbe entstehen zu lassen. Newton sah auch die Farbe in Verbindung mit dem Lichte auftreten, aber er dachte nun spekulativ nach: wie entsteht die Farbe aus dem Lichte. Das lag in seiner spekulativen Denkweise; in Goethes gegenständlicher und richtig sich selbst verstehender Denkweise lag das nicht. Deshalb musste ihm Newtons Annahme: »Das Licht ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt« | als Ergebnis unrichtiger Spekulation erscheinen. Er hielt sich nur berechtigt, über den Zusammenhang von Licht und Farbe unter Hinzutritt einer Bedingung etwas auszusagen, nicht aber über das Licht selbst durch Hinzuziehung eines spekulativen Begriffes. Daher sein Satz: »Das Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt.« Alle Aussagen über Zusammensetzung des Lichtes sind ja nur Aussagen des Verstandes über ein Phänomen. Die Befugnis des Verstandes erstreckt sich aber nur auf Aussagen über den Zusammenhang von Phänomenen.

Hiermit ist der tiefere Grund blossgelegt, warum Goethe, als er durchs Prisma sah, nicht zu der Theorie Newtons sich bekennen konnte. Das Prisma hätte die erste Bedingung sein müssen für das Zustandekommen der Farbe. Es erwies sich aber eine andere Bedingung, die Anwesenheit eines Dunkeln, als ursprünglicher zur Entstehung derselben ; das Prisma erst als zweite Bedingung.

Mit diesen Auseinandersetzungen glaube ich für den Leser der Goetheschen Farbenlehre alle Hindernisse beseitigt zu haben, die den Weg zu diesem Werke verlegen.

 

Hätte man nicht immerfort diese Differenz der beiden Farbentheorien in zwei einander widersprechenden Auslegungsarten gesucht, die man einfach nach ihrer Berechtigung dann untersuchen wollte, so wäre die Goethesche Farbenlehre längst in ihrer hohen wissenschaftlichen Bedeutung gewürdigt. Nur wer ganz erfüllt ist von so grundfalschen Vorstellungen, wie diese ist, dass man von den Wahrnehmungen durch verständiges Nachdenken zurückgehen müsse auf die Ursache der Wahrnehmungen, der kann die Frage noch in der Weise aufwerfen, wie es die heutige Physik tut. Wer sich aber wirklich klar darüber geworden ist, dass Erklären der Erscheinungen nichts anderes heisst, als dieselben in einem von dem Verstande hergestellten Zusammenhange beobachten, der muss die Goethesche Farbenlehre im Prinzipe akzeptieren. Denn  sie ist die Folge einer richtigen Anschauungsweise über das Verhältnis unseres Denkens zur Natur. Newton hatte diese Anschauungsweise nicht. Es fällt mir natürlich nicht ein, alle Einzelheiten der Goetheschen Farbenlehre verteidigen zu wollen. | Was ich aufrecht erhalten wissen will, ist nur das Prinzip. Aber es kann auch hier nicht meine Aufgabe sein, die zu Goethes Zeit noch unbekannten Erscheinungen der Farbenlehre aus seinem Prinzipe abzuleiten. Sollte ich dereinst das Glück haben, Musse und Mittel zu besitzen, um eine Farbenlehre im Goetheschen Sinne ganz auf der Höhe der modernen Errungenschaften der Naturwissenschaft zu schreiben, so wäre in einer solchen allein die angedeutete Aufgabe zu lösen. Ich würde das als zu meinen schönsten Lebensaufgaben gehörig betrachten. Diese Einleitung konnte sich allein auf die wissenschaftlich strenge Rechtfertigung von Goethes Denkweise in der Farbenlehre erstrecken. In dem Folgenden soll nun auch noch ein Licht auf den inneren Bau derselben geworfen werden.

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EG, 198-204

EG, 205-215

3. Das System der Naturwissenschaft

Es könnte leicht erscheinen, als ob wir mit unseren Untersuchungen, die dem Denken nur eine auf die Zusammenfassung der Wahrnehmungen abzielende Befugnis zugestehen, die selbständige Bedeutung der Begriffe und Ideen, für die wir uns erst so energisch eingesetzt haben, nun selbst in Frage stellen.

Nur eine ungenügende Auslegung dieser Untersuchung kann zu dieser Ansicht führen.

Was erzielt das Denken, wenn es den Zusammenhang der Wahrnehmungen vollzieht?

Betrachten wir zwei Wahrnehmungen A und B. Diese sind uns zunächst als begriffsfreie Entitäten gegeben. Die Qualitäten, die meiner Sinneswahrnehmung gegeben sind, kann ich durch kein begriffliches Nachdenken in etwas anderes verwandeln. Ich kann auch keine gedankliche Qualität finden, durch die ich dasjenige, was in der sinnenfälligen Wirklichkeit gegeben ist, konstruieren könnte, wenn mir die Wahrnehmung mangelte. Ich kann nie einem Rotblinden eine Vorstellung der Qualität »Rot« verschaffen, auch wenn ich ihm dieselbe mit allen nur erdenklichen Mitteln begrifflich umschreibe. Die Sinneswahrnehmung hat somit ein Etwas, das nie in den Begriff eingeht; das wahrgenommen werden muss, wenn es überhaupt | Gegenstand unserer Erkenntnis werden soll. Was für eine Rolle spielt also der Begriff, den wir mit irgendeiner Sinneswahrnehmung verknüpfen? Er muss offenbar ein ganz selbständiges Element, etwas Neues hinzubringen, das wohl zur Sinneswahrnehmung gehört, das aber in der Sinneswahrnehmung nicht zum Vorschein kommt.

Nun ist es aber doch gewiss, dass dieses neue »Etwas«, das der Begriff zur Sinneswahrnehmung hinzubringt, erst das ausspricht, was unserem Erklärungsbedürfnis entgegenkommt. Wir sind erst imstande, irgendein Element in der Sinnenwelt zu verstehen, wenn wir einen Begriff davon haben. Was die sinnenfällige Wirklichkeit uns bietet, darauf können wir ja immer hinweisen; und jeder, der die Möglichkeit hat, gerade dieses in Rede stehende Element wahrzunehmen, weiss, um was es sich handelt. Durch den Begriff sind wir imstande, etwas von der Sinnenwelt zu sagen, was nicht wahrgenommen werden kann.

Daraus erhellt aber unmittelbar das Folgende. Wäre das Wesen der Sinneswahrnehmung in der sinnlichen Qualität erschöpft, dann könnte nicht in Form des Begriffes etwas völlig Neues hinzukommen. Die Sinneswahrnehmung ist also gar keine Totalität, sondern nur eine Seite einer solchen. Und zwar jene, die bloss angeschaut werden kann. Durch den Begriff erst wird uns das klar, was wir anschauen.

Jetzt können wir die inhaltliche Bedeutung dessen, was wir im vorigen Kapitel methodisch entwickelt haben, aussprechen: Durch die begriffliche Erfassung eines in der Sinnenwelt Gegebenen gelangt erst das Was des im Anschauen Gegebenen zur Erscheinung. Wir können den Inhalt des Angeschauten nicht aussprechen, weil dieser Inhalt sich in dem Wie des Angeschauten, d. h. in der Form des Auftretens erschöpft. Somit finden wir im Begriffe das Was, den andern Inhalt des in der Sinnenwelt in Form der Anschauung Gegebenen.

Erst im Begriffe also bekommt die Welt ihren vollen Inhalt. Nun haben wir aber gefunden, dass uns der Begriff über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang der Dinge verweist. Somit stellt sich das, was in der Sinnenwelt getrennt,  | vereinzelt auftritt, für den Begriff als einheitliches Ganzes dar. So entsteht durch unsere naturwissenschaftliche Methodik als Endziel die monistische Naturwissenschaft; aber sie ist nicht abstrakter Monismus, der die Einheit schon vorausnimmt, und dann die einzelnen Tatsachen des konkreten Daseins in gezwungener Weise darunter subsummiert, sondern der konkrete Monismus, der Stück für Stück zeigt, dass die scheinbare Mannigfaltigkeit des Sinnendaseins sich zuletzt nur als eine ideelle Einheit erweist. Die Vielheit ist nur eine Form, in der sich der einheitliche Weltinhalt ausspricht. Die Sinne, die nicht in der Lage sind, diesen einheitlichen Inhalt zu erfassen, halten sich an die Vielheit; sie sind geborene Pluralisten. Das Denken aber überwindet die Vielheit und kommt so durch eine lange Arbeit auf das einheitliche Weltprinzip zurück.

Die Art nun, wie der Begriff (die Idee) in der Sinnenwelt sich auslebt, macht den Unterschied der Naturreiche. Gelangt das sinnenfällig wirkliche Wesen nur zu einem solchen Dasein, dass es völlig ausserhalb des Begriffes steht, nur von ihm als einem Gesetze in seinen Veränderungen beherrscht wird, dann nennen wir dieses Wesen unorganisch. Alles, was mit einem solchen vorgeht, ist auf die Einflüsse eines anderen Wesens zurückzuführen; und wie die beiden aufeinander wirken, das lässt sich durch ein ausser ihnen stehendes Gesetz erklären. In dieser Sphäre haben wir es mit Phänomenen und Gesetzen zu tun, die, wenn sie ursprünglich sind, Urphänomene heissen können. In diesem Falle steht also das wahrzunehmende Begriffliche ausserhalb einer wahrgenommenen Mannigfaltigkeit.

Es kann aber eine sinnenfällige Einheit selbst schon über sich hinausweisen; sie kann, wenn wir sie erfassen wollen, uns nötigen, zu weiteren Bestimmungen als zu den uns wahrnehmbaren fortzugehen. Dann erscheint das begrifflich Erfassbare als sinnenfällige Einheit. Die beiden , Begriff und Wahrnehmung, sind zwar nicht identisch, aber der Begriff erscheint nicht ausser der sinnlichen Mannigfaltigkeit als Gesetz, sondern in derselben als Prinzip. Er liegt ihr als das sie Durchsetzende, nicht mehr sinnlich Wahrnehmbare zugrunde, das wir Typus nennen. Damit hat es die organische Naturwissenschaft zu tun. |

Aber auch hier erscheint der Begriff noch nicht in seiner ihm eigenen Form als Begriff, sondern erst als Typus. Wo nun derselbe nicht mehr bloss als solcher, als durchsetzendes Prinzip, sondern in seiner Begriffsform selbst auftritt, da erscheint er als Bewusstsein, da kommt endlich das zur Erscheinung, was auf den unteren Stufen nur dem Wesen nach vorhanden ist. Der Begriff wird hier selbst zur Wahrnehmung. Wir haben es mit dem selbstbewussten Menschen zu tun.

Naturgesetz, Typus, Begriff sind die drei Formen, in denen sich das Ideelle auslebt. Das Naturgesetz ist abstrakt, über der sinnenfälligen Mannigfaltigkeit stehend, es herrscht die unorganische Naturwissenschaft. Hier fallen Idee und Wirklichkeit ganz auseinander. Der Typus vereinigt schon beide in einem Wesen. Das Geistige wird wirkendes Wesen, aber es wirkt noch nicht als solches, es ist nicht als solches da, sondern muss, wenn es seinem Dasein nach betrachtet werden will, als sinnenfälliges angeschaut werden. So ist es im Reiche der organischen Natur. Der Begriff ist auf wahrnehmbare Weise vorhanden. Im menschlichen Bewusstsein ist der Begriff selbst das Wahrnehmbare. Anschauung und Idee decken sich. Es ist eben das Ideelle, welches angeschaut wird. Deshalb können auf dieser Stufe auch die ideellen Daseinskerne der unteren Naturstufen zur Erscheinung kommen. Mit dem menschlichen Bewusstsein ist die Möglichkeit gegeben, dass das, was auf den unteren Stufen des Daseins bloss ist, aber nicht erscheint, nun auch erscheinende Wirklichkeit wird.  

 

 

4. Das System der Farbenlehre

Goethes Wirken fällt in eine Zeit, in welcher das Streben nach einem absoluten, in sich selber seine Befriedigung findenden Wissen alle Geister mächtig erfüllte. Das Erkennen wagt sich wieder einmal mit heiligem Eifer daran, alle Erkenntnismittel zu untersuchen, um der Lösung der höchsten Fragen näher zu kommen. Die Zeit der morgenländischen Theosophie, Plato und Aristoteles, dann Descartes und Spinoza sind in den vorangehenden Epochen der Weltgeschichte die | Repräsentanten einer gleich innerlichen Vertiefung. Goethe ist ohne Kant, Fichte, Schelling und Hegel nicht denkbar. War diesen Geistern vor allem der Blick in die Tiefe, das Auge für das Höchste eigen, so ruhte sein Anschauen auf den Dingen der unmittelbaren Wirklichkeit. Aber in diesem Anschauen liegt etwas von jener Tiefe selbst. Goethe übte diesen Blick in der Betrachtung der Natur. Der Geist jener Zeit ist wie ein Fluidum über seine Naturbetrachtungen ausgegossen. Daher das Gewaltige derselben, das bei der Betrachtung der Einzelheiten sich stets den grossen Zug bewahrt. Goethes Wissenschaft geht immer auf das Zentrale.

Mehr als anderswo können wir diese Wahrnehmung an Goethes Farbenlehre machen. Sie ist ja neben dem Versuche über die Metamorphose der Pflanze allein zu einem abgeschlossenen Ganzen geworden. Und was für ein streng geschlossenes, von der Natur der Sache selbst gefordertes System stellt sie dar!

Wir wollen diesen Bau einmal, seinem inneren Gefüge nach, betrachten.

Dass irgend etwas, was im Wesen der Natur begründet ist, zur Erscheinung komme, dazu ist die notwendige Voraussetzung, dass eine Gelegenheitsursache, ein Organ da sei, in dem das eben Besagte sich darstelle. Die ewigen, ehernen Gesetze der Natur würden zwar herrschen, auch wenn sie nie in einem Menschengeiste sich darstellten, allein ihre Erscheinung als solche wäre nicht möglich. Sie wären bloss dem Wesen, nicht der Erscheinung nach da. So auch wäre es mit der Welt des Lichtes und der Farbe, wenn kein wahrnehmendes Auge sich ihnen entgegenstellte. Die Farbe darf nicht in Schopenhauerscher Manier von dem Auge ihrem Wesen nach abgeleitet werden, wohl aber muss in dem Auge die Möglichkeit nachgewiesen werden, dass die Farbe erscheine. Das Auge bedingt nicht die Farbe, aber es ist die Ursache ihrer Erscheinung.

Hier muss also die Farbenlehre einsetzen. Sie muss das Auge untersuchen, dessen Natur blosslegen. Deshalb stellt Goethe die physiologische Farbenlehre an den Anfang. Aber seine Auffassung ist auch da von dem, was man gewöhnlich unter diesem Teile der Optik versteht, wesentlich verschieden. Er will nicht aus dem Baue des Auges dessen | Funktionen erklären, sondern er will das Auge unter verschiedenen Bedingungen betrachten, um zur Erkenntnis seiner Fähigkeiten und Vermögen zu kommen. Sein Vorgang ist auch hier ein wesentlich beobachtender. Was stellt sich ein, wenn Licht und Finsternis auf das Auge wirken; was, wenn begrenzte Bilder in Beziehung zu demselben treten usw.? Er fragt zunächst nicht, welche Prozesse spielen sich im Auge ab, wenn diese oder jene Wahrnehmung zustande kommt, sondern er sucht zu ergründen, was durch das Auge im lebendigen Sehakt zustande kommen kann. Für seinen Zweck ist das zunächst die allein wichtige Frage. Die andere gehört streng genommen nicht in das Gebiet der physiologischen Farbenlehre, sondern in die Lehre von dem menschlichen Organismus, d. h. in die allgemeine Physiologie. Goethe hat es nur zu tun mit dem Auge, sofern es sieht und nicht mit der Erklärung des Sehens aus jenen Wahrnehmungen, die wir an dem toten Auge machen können.

Von da aus geht er dann über zu den objektiven Vorgängen, welche die Farbenerscheinungen veranlassen. Und hier ist wichtig festzuhalten, dass Goethe unter diesen objektiven Vorgängen keineswegs die nicht mehr wahrnehmbaren hypothetischen stofflichen oder Bewegungsvorgänge im Sinne hat, sondern dass er durchaus innerhalb der wahrnehmbaren Welt stehen bleibt. Seine physische Farbenlehre, welche den zweiten Teil bildet, sucht die Bedingungen, die vom Auge unabhängig sind und mit der Entstehung der Farben zusammenhängen. Dabei sind aber diese Bedingungen doch immer noch Wahrnehmungen. Wie mit Hilfe des Prismas, der Linse usw. an dem Lichte die Farben entstehen, das untersucht er hier. Er bleibt aber vorläufig dabei stehen, die Farbe als solche in ihrem Werden zu verfolgen, zu beobachten, wie sie an sich, abgesondert von Körpern entsteht.

Erst in einem eigenen Kapitel, der chemischen Farbenlehre, geht er über zu den fixierten, an den Körpern haftenden Farben. Ist in der physiologischen Farbenlehre die Frage beantwortet, wie können Farben überhaupt zur Erscheinung kommen, in der physischen jene, wie kommen die Farben unter äusseren Bedingungen zustande, so beantwortet er hier das Problem, wie erscheint die Körperwelt als farbige? |

So schreitet Goethe von der Betrachtung der Farbe, als eines Attributes der Erscheinungswelt, zu dieser selbst als in jenem Attribute erscheinend vorwärts. Hier bleibt er nicht stehen, sondern er betrachtet zuletzt die höhere Beziehung der farbigen Körperwelt auf die Seele in dem Kapitel: sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe.

Dies ist der strenge, geschlossene Weg einer Wissenschaft: von dem Subjekte als der Bedingung wieder zurück zu dem Subjekte als dem sich in und mit seiner Welt befriedigenden Wesen.

Wer wird hier nicht den Drang der Zeit wiedererkennen: vom Subjekte zum Objekte und wieder in das Subjekt zurück, der Hegel zur Architektonik seines ganzen Systems geführt hat.

In diesem Sinne erscheint denn als das eigentlich optische Hauptwerk Goethes der »Entwurf einer Farbenlehre«. Die beiden Stücke »Beiträge zur Optik« und die »Elemente der Farbenlehre« müssen als Vorstudien gelten. Die »Enthüllungen der Theorie Newtons« sind nur eine polemische Beigabe seiner Arbeit.

 

5. Der Goethesche Raumbegriff

Da nur bei einer mit der Goetheschen ganz zusammenfallenden Anschauung vom Raume ein volles Verständnis seiner physikalischen Arbeiten möglich ist, so wollen wir hier dieselbe entwickeln. Wer zu dieser Anschauung kommen will, der muss aus unseren bisherigen Ausführungen folgende Ueberzeugung gewonnen haben: 1. Die Dinge, die uns in der Erfahrung als einzelne gegenübertreten, haben einen inneren Bezug aufeinander. Sie sind in Wahrheit durch ein einheitliches Weltenband zusammengehalten. Es lebt in ihnen allen ein gemeinsames Prinzip. 2. Wenn unser Geist an die Dinge herantritt und das Getrennte durch ein geistiges Band zu umfassen strebt, so ist die begriffliche Einheit, die er herstellt, den Objekten nicht äusserlich, sondern sie ist herausgeholt aus der inneren Wesenheit der Natur selbst. Die menschliche Erkenntnis ist kein ausser den Dingen sich abspielender, aus blosser subjektiver Willkür entspringender Prozess, sondern, was da in unserem Geist als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt, das ist der Herzschlag des Universums selbst. |

Zu unserem jetzigen Zwecke wollen wir die alleräusserlichste Beziehung, die unser Geist zwischen den Objekten der Erfahrung herstellt, einer Betrachtung unterziehen. Wir betrachten den einfachsten Fall, in dem uns die Erfahrung zu einer geistigen Arbeit auffordert. Es seien zwei einfache Elemente der Erscheinungswelt gegeben. Um unsere Untersuchung nicht zu komplizieren, nehmen wir möglichst Einfaches, z. B. zwei leuchtende Punkte. Wir wollen ganz davon absehen, dass wir vielleicht in jedem dieser leuchtenden Punkte selbst schon etwas ungeheuer Kompliziertes vor uns haben, das unserem Geiste eine Aufgabe stellt. Wir wollen auch von der Qualität der konkreten Elemente der Sinnenwelt, die wir vor uns haben, absehen und ganz allein den Umstand in Betracht ziehen, dass wir zwei voneinander abgesonderte, d. h. für die Sinne abgesondert erscheinende Elemente vor uns haben. Zwei Faktoren, die jeder für sich geeignet sind, auf unsere Sinne einen Eindruck zu machen: das ist alles, was wir voraussetzen. Wir wollen ferner annehmen, dass das Dasein des einen dieser Faktoren jenes des anderen nicht ausschliesst. Ein Wahrnehmungsorgan kann beide wahrnehmen.

Wenn wir nämlich annehmen, dass das Dasein des einen Elementes in irgendeiner Weise abhängig von dem des anderen ist, so stehen wir vor einem von unserem jetzigen verschiedenen Problem. Ist das Dasein von B ein solches, dass es das Dasein von A ausschliesst und doch von ihm seinem Wesen nach abhängig ist, dann müssen A und B in einem Zeitverhältnis stehen. Denn die Abhängigkeit des B von A bedingt, wenn man sich gleichzeitig vorstellt, dass das Dasein von B jenes von A ausschliesst, dass dies letztere dem ersteren vorangeht. Doch das gehört auf ein anderes Blatt.

Für unseren jetzigen Zweck wollen wir ein solches Verhältnis nicht annehmen. Wir setzen voraus, dass die Dinge, mit denen wir es zu tun haben, sich hinsichtlich ihres Daseins nicht ausschliessen, sondern vielmehr miteinander bestehende Wesenheiten sind. Wenn von jeder durch die innere Natur geforderten Beziehung abgesehen wird, so bleibt nur dies übrig, dass überhaupt ein Bezug der Sonderqualitäten besteht, dass ich von der einen auf die andere übergehen kann. Ich | kann von dem einen Erfahrungselement zum zweiten gelangen. Für niemanden kann ein Zweifel darüber bestehen, was das für ein Verhältnis sein kann, das ich zwischen Dingen herstelle, ohne auf ihre Beschaffenheit, auf ihr Wesen selbst einzugehen. Wer sich fragt, welcher Uebergang von einem Dinge zum anderen gefunden werden kann, wenn dabei das Ding selbst gleichgültig bleibt, der muss sich darauf unbedingt die Antwort geben: der Raum. Jedes andere Verhältnis muss sich auf die qualitative Beschaffenheit dessen gründen, was gesondert im Weltendasein auftritt. Nur der Raum nimmt auf gar nichts anderes Rücksicht als darauf, dass die Dinge eben gesonderte sind. Wenn ich überlege: A ist oben, B unten, so bleibt mir völlig gleichgültig, was A und B sind. Ich verbinde mit ihnen gar keine andere Vorstellung, als dass sie eben getrennte Faktoren der von mir mit den Sinnen aufgefassten Welt sind.

Was unser Geist will, wenn er an die Erfahrung herantritt, das ist: er will die Sonderheit überwinden, er will aufzeigen, dass in dem Einzelnen die Kraft des Ganzen zu sehen ist. Bei der räumlichen Anschauung will er sonst gar nichts überwinden, als die Besonderheit als solche. Er will die allerallgemeinste Beziehung herstellen. Dass A und B jedes nicht eine Welt für sich sind, sondern einer Gemeinsamkeit angehören, das sagt die räumliche Betrachtung. Dies ist der Sinn des Nebeneinander. Wäre ein jedes Ding ein Wesen für sich, dann gebe es kein Nebeneinander. Ich könnte überhaupt einen Bezug der Wesen aufeinander nicht herstellen.

Wir wollen nun untersuchen, was weiteres aus dieser Herstellung einer äusseren Beziehung zweier Besonderheiten folgt. Zwei Elemente kann ich nur auf eine Art in solcher Beziehung denken. Ich denke A neben B. Dasselbe kann ich nun mit zwei anderen Elementen der Sinnenwelt C und D machen. Ich habe dadurch einen konkreten Bezug zwischen A und B und einen solchen zwischen C und D festgesetzt. Ich will nun von den Elementen A, B, C und D ganz absehen und nur die konkreten zwei Bezüge wieder aufeinander beziehen. Es ist klar, dass ich diese als zwei besondere Entitäten geradeso aufeinander beziehen kann, wie A und B selbst. Was ich hier aufeinander beziehe, sind konkrete Beziehungen. Ich kann sie | a und b nennen. Wenn ich nun noch um einen Schritt weiter gehe, so kann ich a wieder auf b beziehen. Aber jetzt habe ich alle Besonderheit bereits verloren. Ich finde, wenn ich a betrachte, kein besonderes A und B mehr, welche aufeinander bezogen werden; ebenso wenig bei b. Ich finde in beiden nichts anderes, als dass überhaupt bezogen wurde. Diese Bestimmung ist aber in a und b ganz die gleiche. Was es mir möglich machte, a und b noch auseinander zu halten, das war, dass sie auf A, B, C und D hinwiesen. Lasse ich diesen Rest von Besonderheiten weg und beziehe ich nur a und b noch aufeinander, d. h. den Umstand, dass überhaupt bezogen wurde (nicht dass etwas Bestimmtes bezogen wurde), dann bin ich wieder ganz allgemein bei der räumlichen Beziehung angekommen, von der ich ausgegangen bin. Weiter kann ich nicht mehr gehen. Ich habe das erreicht, was ich vorher angestrebt habe: der Raum selbst steht vor meiner Seele.

Hierin liegt das Geheimnis der drei Dimensionen. In der ersten Dimension beziehe ich zwei konkrete Erscheinungselemente der Sinnenwelt aufeinander; in der zweiten Dimension beziehe ich diese räumlichen Bezüge selbst aufeinander. Ich habe eine Beziehung zwischen Beziehungen hergestellt. Die konkreten Erscheinungen habe ich abgestreift, die konkreten Beziehungen sind mir geblieben. Nun beziehe ich diese selbst räumlich aufeinander. Das heisst ich sehe ganz davon ab, dass es konkrete Beziehungen sind; dann aber muss ich ganz dasselbe, was ich in der einen finde, in der zweiten wiederfinden. Ich stelle Beziehungen zwischen Gleichem her. Jetzt hört die Möglichkeit des Beziehens auf, weil der Unterschied aufhört.

Das, was ich vorher als Gesichtspunkt meiner Betrachtung angenommen habe, die ganz äusserliche Beziehung, habe ich jetzt selbst als Sinnenvorstellung wieder erreicht; von der räumlichen Betrachtung bin ich, nachdem ich dreimal die Operation durchgeführt habe, zum Raum, d. i. zu meinem Ausgangspunkte gekommen.

Daher kann der Raum nur drei Dimensionen haben. Was wir hier mit der Raumvorstellung unternommen haben, ist eigentlich nur ein spezieller Fall der von uns immer angewendeten Methode, wenn wir an die Dinge betrachtend |herantreten. Wir stellen konkrete Objekte unter einen allgemeinen Gesichtspunkt. Dadurch gewinnen wir Begriffe von den Einzelheiten; diese Begriffe betrachten wir dann selbst wieder unter den gleichen Gesichtspunkten, so dass wir dann nur mehr die Begriffe der Begriffe vor uns haben; verbinden wir auch diese noch, dann verschmelzen sie in jene ideelle Einheit, die mit nichts anderem mehr als mit sich selbst unter einen Gesichtspunkt gebracht werden könnte. Nehmen wir ein besonderes Beispiel. Ich lerne zwei Menschen kennen: A und B. Ich betrachte sie unter dem Gesichtspunkte der Freundschaft. In diesem Falle werde ich einen ganz bestimmten Begriff a von der Freundschaft der beiden Leute bekommen. Ich betrachte nun zwei andere Menschen , C und D, unter dem gleichen Gesichtspunkte  . Ich bekomme einen anderen Begriff b von dieser Freundschaft. Nun kann ich weiter gehen und diese beiden Freundschaftsbegriffe aufeinander beziehen. Was mir da übrig bleibt, wenn ich von dem Konkreten, das ich gewonnen habe, absehe, ist der Begriff der Freundschaft überhaupt. Diesen kann ich aber realiter auch erhalten, wenn ich die Menschen E und F unter dem gleichen Gesichtspunkte und ebenso G und H betrachte. In diesem wie in unzähligen anderen Fällen kann ich den Begriff der Freundschaft überhaupt erhalten. Alle diese Begriffe sind aber dem Wesen nach miteinander identisch; und wenn ich sie unter dem gleichen Gesichtspunkte betrachte, dann stellt sich heraus, dass ich eine Einheit gefunden habe. Ich bin wieder zu dem zurückgekehrt, wovon ich ausgegangen bin.

Der Raum ist also die Ansicht von Dingen, eine Art, wie unser Geist sie in eine Einheit zusammenfasst. Die drei Dimensionen verhalten sich dabei in folgender Weise. Die erste Dimension stellt einen Bezug zwischen zwei Sinneswahrnehmungen her. Sie ist also eine konkrete Vorstellung. Die zweite Dimension bezieht zwei konkrete Vorstellungen aufeinander und geht dadurch in das Gebiet der Abstraktion über.

Die dritte Dimension endlich stellt nur noch die ideelle Einheit zwischen den Abstraktionen her. Es ist also ganz  | unrichtig, die drei Dimensionen des Raumes als völlig gleichbedeutend zu nehmen. Welche die erste ist, hängt natürlich von den wahrgenommenen Elementen ab. Dann aber haben die anderen eine ganz bestimmte und andere Bedeutung als diese erste. Es war von Kant ganz irrtümlich angenommen, dass er den Raum als totum auffasste, statt als eine begrifflich in sich bestimmbare Wesenheit.

Wir haben nun bisher vom Raume als von einem Verhältnis, einer Beziehung, gesprochen. Es fragt sich nun aber: gibt es denn nur dieses Verhältnis des Nebeneinander? Oder ist eine absolute Ortsbestimmung für ein jedes Ding vorhanden? Dieses letztere ist natürlich durch unsere obigen Erklärungen gar nicht berührt. Untersuchen wir aber einmal, ob es ein solches Ortsverhältnis, ein ganz bestimmtes »Da« auch gibt. Was bezeichne ich in Wirklichkeit, wenn ich von einem solchen »Da« spreche? Doch nichts anderes, als dass ich einen Gegenstand angebe, dem der eigentlich in Frage kommende unmittelbar benachbart ist. »Da« heisst in Nachbarschaft von einem durch mich bezeichneten Objekte. Damit ist aber die absolute Ortsangabe auf ein Raumverhältnis zurückgeführt. Die angedeutete Untersuchung entfällt somit.

Werfen wir nun noch ganz bestimmt die Frage auf: Was ist nach den vorausgegangenen Untersuchungen der Raum? Nichts anderes als eine in den Dingen liegende Notwendigkeit, ihre Besonderheit in ganz äusserlicher Weise, ohne auf ihre Wesenheit einzugehen, zu überwinden und sie in eine Einheit, schon als solche äusserliche, zu vereinigen. Der Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen. Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine Anschauung.

 

6. Goethe, Newton und die Physiker

Als Goethe an die Betrachtung des Wesens der Farben herantrat, war es wesentlich ein Kunstinteresse, das ihn auf diesen Gegenstand brachte. Sein intuitiver Geist erkannte bald, dass die Farbengebung in der Malerei einer tiefen Gesetzlichkeit unterliege. Worinnen diese Gesetzlichkeit besteht, das konnte weder er selbst entdecken, solange er sich nur im | Gebiete der Malerei theoretisierend bewegte, noch vermochten ihm unterrichtete Maler darüber eine befriedigende Auskunft zu geben. Diese wussten wohl praktisch, wie sie die Farben zu mischen und anzuwenden hatten, konnten sich aber darüber nicht in Begriffen aussprechen. Als Goethe nun in Italien nicht nur den erhabensten Kunstwerken dieser Art, sondern auch der farbenprächtigsten Natur gegenübertrat, da erwachte in ihm besonders mächtig der Drang, die Naturgesetze des Farbenwesens zu erkennen. Ueber das Geschichtliche legt Goethe selbst in der »Geschichte der Farbenlehre« ein ausführliches Bekenntnis ab. Hier wollen wir nur das Psychologische und Sachliche auseinandersetzen.

Gleich nach seiner Rückkehr aus Italien begannen Goethes Farbenstudien. Dieselben wurden besonders intensiv in den Jahren 1790 und 91, um dann den Dichter fortdauernd bis an sein Lebensende zu beschäftigen.

Wir müssen uns  den Stand der Goetheschen Weltanschauung in dieser Zeit, am Beginne seiner Farbenstudien, vergegenwärtigen. Damals hatte er bereits seinen grossartigen Gedanken von der Metamorphose der organischen Wesen gefasst. Es war ihm schon durch seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens die Anschauung der Einheit alles Naturdaseins aufgegangen. Das Einzelne erschien ihm als besondere Modifikation des idealen Prinzips, das im Ganzen der Natur waltet. Er hatte schon in seinen Briefen aus Italien ausgesprochen, dass eine Pflanze nur dadurch Pflanze ist, dass sie die »Idee der Pflanze« in sich trage. Diese Idee galt ihm als etwas Konkretes, als mit geistigem Inhalte erfüllte Einheit in allen besonderen Pflanzen. Sie war mit den Augen des Leibes nicht, wohl aber mit dem Auge des Geistes zu erfassen. Wer sie sehen kann, sieht sie in jeder Pflanze.

Damit erscheint das ganze Reich der Pflanzen und bei weiterer Ausgestaltung dieser Anschauung das ganze Naturreich überhaupt als eine mit dem Geiste zu erfassende Einheit.

Niemand aber vermag aus der blossen Idee heraus die Mannigfaltigkeit, die vor den äusseren Sinnen auftritt, zu konstruieren. Die Idee vermag der intuitive Geist zu erkennen. | Die einzelnen Gestaltungen sind ihm nur zugänglich, wenn er die Sinne nach aussen richtet, wenn er beobachtet, anschaut. Warum eine Modifikation der Idee gerade so und nicht anders als sinnenfällige Wirklichkeit auftritt, dazu muss der Grund nicht ausgeklügelt, sondern im Reich der Wirklichkeit gesucht werden.

Dies ist Goethes eigenartige Anschauungsweise, die sich wohl am besten als empirischer Idealismus kennzeichnen lässt. Sie kann mit den Worten zusammengefasst werden: den Dingen einer sinnlichen Mannigfaltigkeit, soweit sie gleichartig sind, liegt eine geistige Einheit zugrunde, die jene Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit bewirkt.

Von diesem Punkte ausgehend, entstand für Goethe die Frage: welche geistige Einheit liegt der Mannigfaltigkeit der Farbenwahrnehmungen zugrunde? Was nehme ich in jeder Farbenmodifikation wahr? Und da ward ihm bald klar, dass das Licht die notwendige Grundlage jeder Farbe sei. Keine Farbe ohne Licht. Die Farben aber sind die Modifikationen des Lichtes. Und nun musste er jenes Element in der Wirklichkeit suchen, welches das Licht modifiziert, spezifiziert. Er fand, dass dies die lichtlose Materie, die tätige Finsternis, kurz das dem Licht Entgegengesetzte ist. So war ihm jede Farbe durch Finsternis modifiziertes Licht. Es ist vollständig unrichtig, wenn man glaubt, Goethe habe mit dem Lichte etwa das konkrete Sonnenlicht, das gewöhnlich »weisses Licht« genannt wird, gemeint. Nur der Umstand, dass man sich von dieser Vorstellung nicht losmachen kann und das auf so komplizierte Weise zusammengesetzte Sonnenlicht als den Repräsentanten des Lichtes an sich ansieht, verhindert das Verständnis der Goetheschen Farbenlehre. Das Licht, wie es Goethe auffasst, und wie er es der Finsternis als seinem Gegenteil gegenüberstellt, ist eine rein geistige Entität, einfach das allen Farbenempfindungen Gemeinsame. Wenn Goethe das auch nirgends klar ausgesprochen hat, so ist doch seine ganze Farbenlehre so angelegt, dass nur dieses darunter verstanden werden darf. Wenn er mit dem Sonnenlichte experimentiert, um seine Theorie durchzuführen, so ist der Grund davon nur der, dass | das Sonnenlicht, trotzdem es das Resultat so komplizierter Vorgänge ist, wie sie eben im Sonnenkörper auftreten, doch für uns sich als Einheit darstellt, die ihre Teile nur als aufgehobene in sich enthält. Das, was wir mit Hilfe des Sonnenlichtes für die Farbenlehre gewinnen, ist aber doch nur eine Annäherung an die Wirklichkeit. Man darf Goethes Theorie nicht so auffassen, als wenn nach ihr in jeder Farbe Licht und Finsternis real enthalten wären. Nein, sondern das Wirkliche, das unserem Auge gegenübertritt, ist nur eine bestimmte Farbennuance. Nur der Geist vermag diese sinnenfällige Tatsache in zwei geistige Entitäten auseinanderzulegen: Licht und Nicht-Licht.

Die äusseren Veranstaltungen, wodurch dieses geschieht, die materiellen Vorgänge in der Materie, werden davon nicht im mindesten berührt. Das ist eine ganz andere Sache. Dass ein Schwingungsvorgang im Aether vorgeht, während vor mir »Rot« auftritt, das soll nicht bestritten werden. Aber was real eine Wahrnehmung zustande bringt, das hat, wie wir schon gezeigt haben, mit dem Wesen des Inhaltes gar nichts zu tun.

Man wird mir einwenden: es lässt sich aber nachweisen, dass alles an der Empfindung subjektiv ist und nur der Bewegungsvorgang, der ihr zugrunde liegt, das ausser unserem Gehirne real Existierende. Dann könnte man von einer physikalischen Theorie der Wahrnehmungen überhaupt nicht sprechen, sondern nur von einer solchen der zugrunde liegenden Bewegungsvorgänge. Mit diesem Beweise verhält es sich ungefähr so: wenn jemand an einem Orte A. ein Telegramm an mich, der ich mich in B. befinde, aufgibt, dann ist das, was ich von dem Telegramm in die Hände bekomme, restlos in B. entstanden. Es ist der Telegraphist in B.; er schreibt auf Papier, das nie in A. war, mit Tinte, die nie in A. war; er selbst kennt A. gar nicht usw.; kurz es lässt sich beweisen, dass in das, was mir vorliegt, gar nichts von A. eingeflossen ist. Dennoch ist alles, was von B. herrührt, für den Inhalt, das Wesen des Telegrammes ganz gleichgültig; was für mich in Betracht kommt, ist nur durch B. vermittelt. Will ich das Wesen des Inhaltes des Telegrammes erklären, dann muss ich ganz von dem absehen, was von B. herrührt. |

Ebenso verhält es sich mit der Welt des Auges. Die Theorie muss sich auf das dem Auge Wahrnehmbare erstrecken und innerhalb desselben die Zusammenhänge suchen. Die materiellen raum-zeitlichen Vorgänge mögen recht wichtig sein für das Zustandekommen der Wahrnehmungen; mit dem Wesen derselben haben sie nichts zu tun.

Ebenso verhält es sich mit der heute vielfach besprochenen Frage: ob den verschiedenen Naturerscheinungen: Licht, Wärme, Elektrizität usw. nicht ein und dieselbe Bewegungsform im Aether zugrunde liege? Hertz hat nämlich kürzlich gezeigt, dass die Verbreitung der elektrischen Wirkungen im Raume denselben Gesetzen unterliegt wie die Verbreitung der Lichtwirkungen. Daraus kann man schliessen, dass Wellen, wie sie der Träger des Lichtes sind, auch der Elektrizität zugrunde liegen. Man hat ja auch bisher schon angenommen, dass im Sonnenspektrum nur eine Art von Wellenbewegung tätig ist, die sich, je nachdem sie auf wärme-, licht- oder chemisch-empfindende Reagentien fällt, Wärme-, Licht- oder chemische Wirkungen erzeugen.

Dies ist ja aber von vornherein klar. Wenn man untersucht, was in dem Räumlich-Ausgedehnten vorgeht, während die in Rede stehenden Entitäten vermittelt werden, dann muss man auf eine einheitliche Bewegung kommen. Denn ein Medium, in dem nur Bewegung möglich ist,  muss auf alles durch Bewegung reagieren. Es wird auch alle Vermittelungen, die es übernehmen muss, durch Bewegung vollbringen. Wenn ich dann die Formen dieser Bewegung untersuche, dann erfahre ich nicht: was das Vermittelte ist, sondern auf welche Weise es an mich gebracht wird. Es ist einfach ein Unding, zu sagen: Wärme oder Licht seien Bewegung. Bewegung ist nur die Reaktion der bewegungsfähigen Materie auf das Licht.

Goethe selbst hat die Wellentheorie noch erlebt und in ihr nichts gesehen, was mit seiner Ueberzeugung von dem Wesen der Farbe nicht in Einklang zu bringen wäre.

Man muss sich nur von der Vorstellung losmachen, dass Licht und Finsternis bei Goethe reale Wesenheiten sind, sondern sie als blosse Prinzipien, geistige Entitäten ansehen; dann wird man eine ganz andere Ansicht über seine Farbenlehre | gewinnen , als man sie gewöhnlich sich bildet. Wenn man wie Newton unter dem Lichte nur eine Mischung aus allen Farben versteht, dann verschwindet jeglicher Begriff von dem konkreten Wesen »Licht«. Dasselbe verflüchtigt sich vollständig zu einer leeren Allgemeinvorstellung, der in der Wirklichkeit nichts entspricht. Solche Abstraktionen waren der Goetheschen Weltanschauung fremd. Für ihn musste eine jegliche Vorstellung konkreten Inhalt haben. Nur hörte für ihn das »Konkrete« nicht beim »Physischen« auf.

Für »Licht« hat die moderne Physik eigentlich gar keinen Begriff. Sie kennt nur spezifizierte Lichter, Farben, die in bestimmten Mischungen den Eindruck: Weiss hervorrufen. Aber auch dieses »Weiss« darf nicht mit dem Lichte an sich identifiziert werden. Weiss ist eigentlich auch nichts weiter als eine Mischfarbe. Das »Licht« im Goetheschen Sinne kennt die moderne Physik nicht; ebenso wenig die »Finsternis«. Die Farbenlehre Goethes bewegt sich somit in einem Gebiete, welches die Begriffsbestimmungen der Physiker gar nicht berührt. Die Physik kennt einfach alle die Grundbegriffe der Goetheschen Farbenlehre nicht. Sie kann somit von ihrem Standpunkte aus diese Theorie gar nicht beurteilen. Goethe beginnt eben da, wo die Physik aufhört.

Es zeugt von einer ganz oberflächlichen Auffassung der Sache, wenn man fortwährend von dem Verhältnis Goethes zu Newton und zu der modernen Physik spricht und dabei gar nicht daran denkt, dass damit auf zwei ganz verschiedene Arten, die Welt anzusehen, gewiesen ist.

Wir sind der Ueberzeugung, dass derjenige, welcher unsere Erörterungen über die Natur der Sinnesempfindungen im richtigen Sinne erfasst hat, gar keinen andern Eindruck von der Goetheschen Farbenlehre gewinnen kann, als den geschilderten. Wer freilich diese unsere grundlegenden Theorien nicht zugibt, der bleibt auf dem Standpunkt der physikalischen Optik stehen und damit lehnt er auch Goethes Farbenlehre ab. |

 

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