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Vorwort

 

Von Gerhard Wehr

SKA 7 (2015), VII-XVI

 

Die von Rudolf Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete Anthroposophie trat mit dem Anspruch auf, eine am Menschen orientierte und auf dessen ganzheitliche Entwicklung zielende Geisteswissenschaft zu sein. Trotz bis heute anhaltender Kritik und mancher Widerstände wurde ein nicht geringer Teil ihrer kulturellen Impulse auf breiter internationaler Basis aufgenommen. Das geschah, wie bekannt, beispielsweise auf dem Feld von Pädagogik, Medizin, Pharmazie sowie in künstlerischer und gesellschaftlicher Hinsicht, nicht zuletzt auch mit Auswirkungen für eine religiöse Erneuerung durch Gründung der Christengemeinschaft, obwohl religiöse Aktivitäten außerhalb von Steiners Anthroposophie lagen. Es handelt sich um deren Erkenntnisgrundlagen, die dem religiösen Erleben dienen können.

Darüber wird in der Allgemeinheit oft vergessen, dass Steiners Bestreben vom Ansatz her darauf gerichtet war, einen dem heutigen Menschen gemäßen Erkenntnisweg aufzuzeigen. Dessen Ziel sollte darin bestehen, »das Geistige im Menschenwesen« mit dem »Geistigen im Weltall« zu verbinden (GA 26, 46). Mit diesem ersten der Anthroposophischen Leitsätze korrespondiert die frühe, am Anfang seiner anthroposophischen Wirksamkeit geäußerte briefliche Mitteilung: »Ich will auf die Kraft bauen, die es mir ermöglicht, Geistesschüler auf den Weg der Entwicklung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen«.

Diese Absicht hat Steiner im Zeitraum der ihm danach verbliebenen knapp zweieinhalb Jahrzehnte in Wort und Schrift verwirklicht. Ehe er sein in diesen Zusammenhang gehöriges Standardwerk Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910) in Buchform veröffentlichen konnte, gab er von 1904 an eine Folge mehrerer Aufsätze in der von ihm betreuten Zeitschrift Lucifer-Gnosis heraus. Das darin Enthaltene dient seitdem der Grundlegung des anthroposophischen Erkenntniswegs. Die Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1909) und die daran anschließenden, in Buchform erst posthum veröffentlichten Stufen der höheren Erkenntnis (1931) stellen – neben einer Reihe weiterer Veröffentlichungen zu diesem Thema – jeweils einen Wiederabdruck des zuvor in Aufsätzen Dargebotenen dar.

Die vorliegende Kritische Ausgabe (SKA) der Werke Rudolf Steiners bietet nunmehr die Möglichkeit, auch im Hinblick auf die Erarbeitung dieses Erkenntniswegs etwas von dem Werdeprozess sichtbar zu machen, der zwischen der ersten Niederschrift für die Lucifer-Gnosis und der jeweils endgültigen Buchfassung liegt. Von da fällt zugleich ein erhellendes Licht auf Steiners eigene Geistesentwicklung, in der sich bei kritischer Betrachtung seiner Biographie, aufs Ganze gesehen, charakteristische Änderungen feststellen lassen. Schon die allgemeine Erfahrung zeigt, dass ein Lehrender nicht aufhört – nicht aufhören darf – ein Lernender zu bleiben. Das trifft, wie nicht anders zu erwarten, auch auf Rudolf Steiner zu. Diese Einsicht ist wiederum geeignet, auf dem einmal beschrittenen inneren Weg fortzuschreiten, insbesondere dann, wenn sich beim Schüler im Verlauf des Übens irgendwelche Ermüdungserscheinungen einstellen sollten. Außerdem ist es kein Geheimnis, dass Steiner sich in der fraglichen Zeit erst in die von ihm zu vertretende Theosophie einarbeiten musste. Von daher erklären sich mancherlei von ihm nicht eigens angegebene Anleihen aus dem bereits vorhandenen theosophischen Lehrgut, ehe er in der Lage war, das Vorhandene nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen.

Beim Vergleich der verschiedenen Stadien der erkenntnisschulischen Schriften Rudolf Steiners wird deutlich, dass der Autor Anlass hatte, im Laufe seiner Schulungsarbeit innerhalb der Theosophischen bzw. Anthroposophischen Gesellschaft und deren Esoterischer Schule (bis 1914) die eine oder andere veränderte Akzentsetzung vorzunehmen. Darauf hat er beispielsweise in der Vorrede zur fünften bis siebenten Auflage selbst aufmerksam gemacht. Verwies Steiner im Text der ersten Auflage beispielsweise auf weiterführende Erläuterungen, die gegebenenfalls der mündlichen Kundgabe durch den »Geheimlehrer« vorbehalten bleiben müsse, so konnte dergleichen später entfallen. Er begründete das damit, dass inzwischen die eine oder andere ergänzende Veröffentlichung oder auch eine Bearbeitung des bisherigen Textes einen Ausgleich geschaffen hätten. Das Buch sollte schließlich etwaige mündliche Unterweisungen eines wegekundigen Lehrers überflüssig machen.

Diese Tendenz in der esoterischen Unterweisung entsprach durchaus der ursprünglichen Intention Rudolf Steiners. Ihm ging es offensichtlich darum, seine »Geistesschüler« zu einer weitgehenden geistigen Eigenständigkeit zu führen, um irgendwelche Gurus oder äußere Meister erst gar nicht nötig zu haben. Dass der Anfänger durch die Einsichten eines Erfahrenen von Fall zu Fall dennoch gefördert werden kann, soll dadurch nicht in Abrede gestellt sein. Je nach der schicksalsbedingten Situation und der charakterlichen Eigenart eines Menschen, werden darauf bezogene Ratschläge, auf die Steiner freilich nicht näher eingeht, hilfreich sein. Generell besteht die Aufgabe des Lehrers oder Weg-Führers darin, die anzustrebende Richtung zu weisen und gegebenenfalls auf etwaige Besonderheiten oder kritische Momente aufmerksam zu machen; doch den Weg müsse jeder und jede in voller Selbstverantwortung selbst gehen.

Nicht zu übersehen sind die in den frühen Texten bisweilen auftauchenden zeitbedingten Formulierungen. Das geht bisweilen auf die Tatsache zurück, dass die geschichtlichen Anfänge der Anthroposophie zumindest in formaler Hinsicht bei der anglo-indischen oder Adyar-Theosophie (Theosophical Society) liegen, als dessen Leiter der deutschen Sektion Steiner von 1902 bis 1913 beauftragt war. Auch Wendungen wie »höhere Welten« oder »höhere Erkenntnis« rühren von daher. Die Metapher der Höhe wurde bewusst gewählt, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich auf diesem Weg um eine Bewusstseinsebene handelt, die dem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein qualitativ übergeordnet ist, das heißt über die Bereiche der gewohnten Sinneswahrnehmung hinausgeht. Darunter liegt naturgemäß die seelische Verfasstheit, wie sie im Traum und im Zustand des völlig unbewussten Tiefschlafs besteht. In Die Stufen der höheren Erkenntnis sind die verschiedenen Weisen eines solchen höheren Wahrnehmens und Erkennens näher beschrieben.

Insbesondere will die häufige Verwendung der Metapher der Höhe darauf verweisen, dass sie eine andere, eine entgegengesetzte Richtung als jene ins Auge fasst, die einem Unterbewusstsein entstammt, bei dem die Ich-Wachheit gedämpft oder ganz ausgeschaltet erscheint. Das ist nach Steiner etwa bei spiritistischen oder auch mediumistischen Aktivitäten der Fall. Und derlei Manifestationen spielten in der Gründergeneration der Theosophischen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert (z. B. bei Helena Petrovna Blavatsky und Henry Steel Olcott) eine nicht geringe Rolle. Obwohl Steiner insbesondere während seiner Mitarbeit als Generalsekretär der deutschen Theosophen an Madame Blavatsky in mancher Hinsicht anknüpfte, hatte er sich um eine Differenzierung der jeweils angewendeten Lehrarten zu bemühen. Er rühmte sie als »die große Anregerin und Begründerin«, die aus den geistigen Welten heraus bis in die Zukunft hinein »fortwirken könne«. Darüber hat sich Steiner unter anderem in seinen historischen Rückblicken von 1923 geäußert.

Insofern war Steiners sachlich bedingte Distanzierung gegenüber der anglo-indischen Theosophie angezeigt, speziell was die von ihm zu verantwortende, in den genannten Darstellungen entfaltete Erkenntnismethodik betrifft. In den beiden Schriften des vorliegenden Bandes vermied es der Autor, sich in einseitiger Weise etwa nur der Metapher der Höhe zu bedienen. Bereits am Eingang von Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? spricht er wiederholt aus, wie unerlässlich es sei, dass »Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis [...] aus den Tiefen des Herzens« entspringen müsse (WE, 6). Man müsse sein Herz »in die Tiefen der Ehrfurcht (und) der Devotion« führen, denn: »Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird« (ebd.). Äußerungen dieser Art lassen sich vermehren; sie stehen also nicht im Widerspruch zum generellen Gebrauch des Begriffs der höheren Welten.

Doch bereits an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die von ihm in diesem Zusammenhang gelegentlich verwendete Bezeichnung »Unterbewusstsein« nicht mit dem im strengen Sinn des psychoanalytischen Terminus Unbewussten gleichzusetzen ist. Das ist für das Gespräch mit der Tiefenpsychologie – anthroposophischerseits – zur Kenntnis zu nehmen. Streng genommen darf das Unbewusste im Sinne der tiefenpsychologischen Begriffsbildung nicht mit einem sogenannten Unterbewussten gleichgesetzt werden. Das wird spätestens im Gegenüber von C.G. Jung und Rudolf Steiner ebenfalls differenzierend zu beachten sein.

Abgesehen von den Anfängen der Anthroposophie und ihrer zeitlich begrenzten gesellschaftlichen Verbindung mit der anglo-indischen Theosophie, ist hinsichtlich Steiners Bemühungen um die Ausgestaltung eines spirituellen Erkenntniswegs auf weitere geistesgeschichtliche Parallelen hinzuweisen. Historisch betrachtet stehen Steiners Ausführungen zum anthroposophischen Erkenntnisweg, bei allen entwicklungsbedingten Unterschieden, in einem großen historisch-weltanschaulichen Zusammenhang. Da sind einerseits die Yoga-Wege des Ostens, andererseits die abendländischen, auf christlichem Boden entstandenen religiösen Übungswege von Gebet, Meditation und Kontemplation des Westens. Eigengeprägte Methoden mit psychotherapeutischer Zielsetzung wurden im Rahmen der Psychoanalyse nach Sigmund Freud (1856–1939) bzw. der Analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung (1875–1961) sowie der Psychosynthese Roberto Assagiolis (1888–1974) entwickelt, um nur diese klassischen Ausprägungen der modernen Tiefenpsychologie zu nennen.

In den beiden hier zu besprechenden Schriften unterlässt Steiner konkrete Bezugnahmen auf die westlichen und östlichen Ausformungen spiritueller Schulung, grenzt jedoch prinzipiell seine als »rosenkreuzerisch« bezeichnete Meditationspraxis von der »sogenannten christlichen Einweihung« ebenso ab wie von denjenigen Methoden, die »von den Okkultisten des Orients« entwickelt worden seien (SE, 254). Was den Yoga-Weg in seinen vielfältigen Richtungen anlangt, so äußerte er sich an anderer Stelle hierüber mehrfach, beispielsweise als er Ende Dezember 1912 im Begriff war, die Anthroposophische Gesellschaft gegenüber der orientalisierenden Theosophie zu profilieren. Auf die Zeitbedingtheit dieser Strömung eingehend sagt Steiner: »Der Yoga mußte angewendet werden von denjenigen Seelen, die, einer späteren Menschheitsepoche angehörig, nichts mehr von selbst geoffenbart erhielten, sondern die sich hinaufarbeiten mußten zu den Höhen des geistigen Seins von den unteren Stufen her«. Wir seien, als Menschen der Gegenwart, heute dazu aufgerufen,

diese geistigen Strömungen sozusagen wiederum miteinander zu verbinden, indem wir sie für unser Zeitalter in der richtigen Weise heraufholen aus den Untergründen der Seelen- und Weltentiefen [...] Und wir müssen etwas suchen wie eine Kongenialität unseres eigenen Geistesstrebens zu dem tieferen Gehalt der Bhagavad Gita. (GA 142, 22)

Ausdrücklich fügt Steiner hinzu: »Nirgends ist an ein Historisches angelehnt.« Aus »der Sache selbst« sei das heute Erforderliche »herausgeholt«. In ähnlicher Weise verfuhr der Begründer der Anthroposophie hinsichtlich des Rosenkreuzertums.

Dieses Insistieren auf die Unmittelbarkeit dessen, was aus der jeweils eigenen Seelentiefe heraus gewonnen werden müsse, findet eine bedenkenswerte Parallele in der Analytischen Psychologie C.G. Jungs, obwohl – wie in anderem Zusammenhang dargelegt – zwischen ihm und Rudolf Steiner deutliche weltanschauliche sowie methodische Unterschiede vorliegen. Jung lehnte meditative Übungen immer dann ab, wenn es sich darum handelte, dass der Meditierende mit Inhalten konfrontiert werden sollte, die gleichsam von außen an den Menschen herangetragen wurden. Nicht fremdes Geistesgut, von dem etwaige suggestive Wirkungen ausgehen können, sollte das bewusste seelische Leben und dessen Anreicherung bestimmen, sondern was unbeeinflusst aus der unbewussten Seele selbst hervorkommt, aber dann der innewerdenden Betrachtung des Ich-Bewusstseins prüfend zu unterwerfen sei.

Aus eben diesem Grund äußerte sich der Psychotherapeut skeptisch, selbst gegenüber den bedeutenden traditionellen Meditationsformen der abendländischen Christenheit, handle es sich um die benediktinische Mystik, um das klassische Pilgerbuch der Seele zu Gott (Itinerarium mentis in deum) des Franziskaners Bonaventura oder um das weit verbreitete, usprünglich für den Jesuitenorden entwickelte, aber durch die deutsche Mystik angeregte geistliche Übungsbuch des Ignatius von Loyola (Exercitia spiritualia):

In der Psychotherapie werden die Träume der meditativen Betrachtung unterzogen mit dem Zweck, die abgerissene Verbindung zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten wiederherzustellen oder die Inhalte des Unbewussten dem Bewusstsein zu integrieren. In diesem Fall ist natürlich der bewussten Meditation kein äußerer Gegenstand vorgeschrieben […]. (Jung [1972], 27)

Es ist demnach das eigenständige Produkt des jeweils betreffenden Menschen, das vom wachen Denken her einer meditativen Erhellung bedarf. Das gilt sowohl für die Arbeit am Traumphänomen als auch für die von Jung in zeitlicher Nähe zu Steiners Erkenntnisweg entwickelte »Aktive Imagination«, bei der es ebenfalls ausschließlich um die Bearbeitung der aus den seelischen Untergründen hervortretenden, jedoch bei klarem Bewusstsein zur Kenntnis genommenen Bilder geht. Und – so ist hinzuzufügen – dabei handelt es sich um Bezirke des Seelenlebens, deren Bedeutsamkeit bei unbefangener Betrachtung auch auf dem Erkenntnisweg nicht zu unterschätzen ist, obwohl er einer anderen Vorgehensweise und Zielsetzung folgt. Dies korrespondiert mit Steiners Forderung einer spirituellen Psychologie, wenn er in den für diesen Fragenkomplex wichtigen Vorträgen Die Sendung Michaels hervorhebt: »Aus den Tiefen der Seelen müssen die neuen Kräfte heraufgeholt werden. Und einsehen muss der Mensch, wie er in den Tiefen seiner Seele zusammenhängt mit den Wurzeln des geistigen Lebens«.

Wenn Steiner in seiner Schilderung des anthroposophischen Erkenntniswegs aus den genannten Gründen auf spezielle Bezugnahme historischer Belege verzichtet, wie sie durch die mystische Tradition möglich wären, so fehlt es doch nicht an sachlichen Entsprechungen. Dazu gehört die Gliederung des traditionellen mystischen Wegs in vorbereitende Reinigung (via purgativa), Erleuchtung (via illuminative), schließlich das Hochziel der Mystik (unio mystica). Steiner nennt vergleichsweise 1. die »Vorbereitung«, 2. die »Erleuchtung«, 3. die »Einweihung« als die drei Stufen der geistigen Schulung, wobei freilich Steiners dritte Stufe mit der unio mystica keinesfalls gleichzusetzen ist.

Besondere Aufmerksamkeit lenkt Steiner auf die Pflege des Gefühls- und Gedankenlebens, indem er beispielhaft auf die meditative Vergegenwärtigung von Naturvorgängen, etwa des Wachsens und Reifens, aber auch des Verblühens, Verwelkens und Vergehens einer Pflanze aufmerksam macht. Das erinnert an den Görlitzer Mystiker und Theosophen Jakob Böhme (1575–1624), in dessen Nachfolge er steht. Im Laufe der neuzeitlichen Geistesgeschichte legte Böhme wie kaum ein Zweiter seinen spirituellen Schülern um der Gottes-, Welt- und Menschenerkenntnis willen nahe, »fleißig zu erwägen die Kräfte in der Natur«, und zwar einschließlich ihrer polaren wie ihrer trinitarischen, auf die drei Prinzipien hin ausgerichteten Struktur. Wie Steiner dazu anregt, sich auf ein Samenkorn zu konzentrieren und dessen – im Sinne Goethes – »offenbar-geheime« Wesenheit auf sich wirken zu lassen, so empfiehlt auch Böhme den meditativen Blick auf die Pflanzenwelt:

Du wirst kein Buch finden, da du die göttliche Weisheit könntest mehr inne finden zu forschen, als wenn du auf eine grüne und blühende Wiese gehest. Da wirst du die wunderliche Kraft Gottes sehen, riechen und schmecken, wiewohl es nur ein Gleichnis ist. Und ist die göttliche Kraft im dritten Principio materialisch worden, und hat sich Gott im Gleichnis offenbaret. Aber dem Suchenden ists ein lieber Lehrmeister, er findet sehr viel allda. (De Tribus Principiis 8:12)

Keiner besonderen Rechtfertigung bedürfen kritische Rückfragen, zumal Anthroposophie als »Geisteswissenschaft« ernst genommen werden will und daher nicht ein für alle Mal dekretiert bleiben kann. So ist im Kapitel »Erleuchtung« von »geistigen und seelischen Farben« die Rede, die, wie ausdrücklich vermerkt, natürlich nicht mit Sinneswahrnehmungen zu verwechseln sind. Eine dogmatische Note ist indes nicht zu übersehen, wenn definitiv gesagt wird, welche »Farben geistiger Art« da und dort in differenzierter Weise gesehen werden. So könne etwa ein meditativ zu betrachtendes Samenkorn »auf sinnlich-geistige Weise als eine Art Flamme« empfunden werden. »Gegenüber der Mitte dieser Flamme empfindet man so, wie man beim Eindruck der Farbe lila empfindet; gegenüber dem Rande, wie man der Farbe bläulich gegenüber empfindet«. (WE, 52) Da fragt es sich, welche – vom Autor nicht beabsichtigte – suggestive Wirkungen auf den Übenden übergehen können. Im Zeichen eines »freien Geisteslebens« ist Sorgfalt geboten! Und wenn die bis in die farbliche Abstimmung hinein angegebenen »Empfindungen« sich auch bei sachgemäß ausgeführter, hingebungsvoller Übung nicht einstellen, kann leicht die Befürchtung entstehen, man habe »etwas falsch gemacht«.

Nicht zu unterdrücken ist schließlich die Frage, die sich auf die Formulierung des Buchtitels als solchen bezieht. Kann es auf einem mit Ernst zu beschreitenden spirituellen Weg eigentlich darum gehen, irgendwelche »Erkenntnisse höherer Welten« überhaupt »erlangen« zu wollen? Wo bleibt die zu fordernde Absichtslosigkeit? Wo das »Ohne Warum« (sunder warumbe), auf das Meister Eckhart, Angelus Silesius und jeder ernst zu nehmende spirituelle Lehrer so großen Wert legen müssen? Wo bleibt die unverzichtbare mystische gelâzenheit? Tragen die nahegelegten Übungen Steiners und anderer Geisteslehrer in West und Ost nicht ihren Wert bereits in sich, und zwar ohne durch bestimmte »sinnlich-geistige« Merkzeichen oder Empfindungen bestätigt werden zu müssen? Man darf – ganz im Sinne Rudolf Steiners! – fordern, dass auf einem disziplinierten Erkenntnisweg damit zusammenhängende Missverständnisse vorweg ausgeschlossen bleiben!

Steiner, der zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser seiner meditativen Unterweisungen in Berlin lebte, rechnete damit, dass es nicht jedem durch die moderne Zivilisation bestimmten Stadtmenschen gegeben ist, »die innere Würde und Anmut der Natur zu seiner Umgebung« zu machen (WE, 94), zumal gerade sie es sei, die bei der Entfaltung der »inneren Organe« mitwirke. Wem diese Chance nicht gegeben sei, der unterstütze seine Bemühungen auf dem inneren Weg durch eine förderliche Lektüre. Er nennt neben der Bhagavad Gita das zur Meditation aufrufende Johannesevangelium, das er seines geistigen Gehaltes wegen auch in einer Reihe von Vortragszyklen behandelte. Bemerkenswerterweise nennt er aus der spätmittelalterlichen Mystik Thomas von Kempen, Mitglied der Gemeinschaft der »Brüder des gemeinsamen Lebens« (gestorben 1471), dem seit alters die Herausgabe des bis heute weit verbreiteten Erbauungsbuches Nachfolge Christi (De imitatione Christi) zugeschrieben wird. Darin findet sich eine Fülle von Hinweisen, die ursprünglich zwar für das mönchische Leben zusammengetragen wurden, aber Steiner fand darin zahlreiche Aphorismen, die als Leitworte auf dem inneren Weg dienen, etwa: »Suche eine geeignete Zeit, mit dir allein zu sein [...] Lass beiseite liegen, was nur die Neugierde verlockt, und durchforsche das, was mehr der Selbstkritik als der Unterhaltung dient«. – »In den heiligen Schriften ist die Wahrheit zu suchen, nicht aber Beredsamkeit. Die ganze Heilige Schrift muss aus dem Geist heraus gelesen werden, aus dem sie entstanden ist«.

Wenn Steiner seinen Leserinnen und Lesern eine rückhaltlose Devotion der Wahrheit und der Weisheit gegenüber nahelegt, so entspricht dies ebenfalls Ratschlägen des Thomas von Kempen: »Ein guter und gottergebener Mensch (devotus homo) erwirkt die äußeren Werke zuvor in seinem Innern. Nicht von abwegigen Neigungen lässt er sich antreiben, sondern von der rechten Vernunft lässt er sich leiten – Ein Großer Kampf ists, sich selbst zu besiegen«.

Aus all dem ergibt sich, dass der von Rudolf Steiner gewiesene innere Weg über weite Strecken nicht allein Menschen anspricht, die eine Einführung in den anthroposophischen Erkenntnisweg suchen, obwohl die in diesem Band vorgestellten Schriften diese Absicht sicher auch verfolgen, sondern einen jeden nach Selbsterkenntnis strebenden Menschen. Was einerseits eine Antwort Steiners auf die Frage nach den höheren Welten darstellt, das entspricht in gleicher Weise dem von ihm empfohlenen geistigen Streben, das »aus den Tiefen des Herzens« (WE, 6) entspringt.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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