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Sechzehntes Kapitel

Zu den schönsten Stunden meines Lebens muss ich zählen, was ich durch Gabriele Reuter erlebte, der ich durch diesen Kreis nahe treten durfte. Eine Persönlichkeit, die in sich tiefe Menschheitsprobleme trug und diese mit einem gewissen Radikalismus des Herzens und der Empfindung anfasste. Sie stand mit voller Seele in all dem, was ihr im sozialen Leben als Widerspruch erschien zwischen traditionellem Vorurteil und den ursprünglichen Forderungen der Menschennatur. Sie sah hin auf die Frau, die von aussen in diese traditionellen Vorurteile durch Leben und Erziehung eingespannt wird, und die leidvoll erfahren muss, was aus den Tiefen der Seele als »Wahrheit« in das Leben hinein will. Radikalismus des Herzens in ruhig-kluger Art ausgesprochen, von künstlerischem Sinn und eindringlicher Gestaltungskraft durchzogen, das offenbarte sich als Grösse aus Gabriele Reuter . Unermesslich reizvoll konnten die Gespräche sein, die man mit ihr, während sie an ihrem Buche »Aus guter Familie« arbeitete, führen durfte. Ich denke zurück und sehe mich mit ihr an einer Strassenecke stehen, bei glühendster Sonnenhitze diskutierend mehr als eine Stunde über Fragen, die sie bewegten. Gabriele Reuter konnte in würdigster Art, keinen Augenblick die ruhige Haltung verlierend, über Dinge sprechen, bei denen andere sogleich in sichtbare Aufregung geraten. »Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«, das lebte in ihren Gefühlen; doch blieb es in der Seele und zog sich nicht in die Worte hinein. Gabriele Reuter betonte scharf, was sie zu sagen hatte; aber sie tat es nie lautlich, sondern allein seelisch. Ich glaube, dass ihr diese Kunst, bei lautlich gleichmässigem Hinfliessen der Rede die Artikulation ganz im Seelischen zu halten, als Stil besonders eigen ist. Und mir scheint, dass sie im Schreiben diese Eigenart zu ihrem so reizvollen Stil umfassend ausgebildet hat.

Die Bewunderung, die Gabriele Reuter im Olden’schen Kreise fand, hatte etwas unsäglich Schönes. Hans Olden sagte mir öfters ganz elegisch: diese Frau ist gross; könnte ich mich – fügte er hinzu – doch auch so mutvoll dazu  aufschwingen, der äusseren Welt das darzustellen, was mich in der Tiefe der Seele bewegt.

Dieser Kreis machte auf seine besondere Art die weimarischen Goethe-Veranstaltungen mit. Es war ein Ton von Ironie, der aber nie frivol spottete, sondern oft sogar ästhetisch entrüstet war, was hier als »Gegenwart« die »Vergangenheit« beurteilte. Tagelang stand Olden nach Goethe-Versammlungen an der Schreibmaschine, um über das Erlebte Berichte zu schreiben, die nach seiner Meinung das Urteil des »Weltkindes« über die Goethe-Propheten geben sollten.

In diesen Ton fiel bald auch der eines anderen »Weltkindes«, Otto Erich Hartlebens. Der fehlte fast bei keiner Goethe-Versammlung. Doch konnte ich zunächst nicht recht entdecken, warum er kam.

In dem Kreise der Journalisten, Theaterleute und Schriftsteller, die sich an den Abenden der Goethe-Feste, abgesondert von den »gelehrten Zelebritäten«, im Hotel »Chemnitius« zusammenfanden, lernte ich Otto Erich Hartleben kennen. Warum er da sass, das konnte ich sogleich begreifen. Denn sich in Gesprächen, wie sie da gepflogen wurden, auszuleben, das war sein Element. Da blieb er lange. Er konnte gar nicht fortgehen. So war ich einmal mit ihm und andern zusammen. Wir andern waren »pflichtgemäss« am nächsten Morgen in der Goethe-Versammlung. Hartleben war nicht da. Ich hatte ihn aber schon recht lieb gewonnen und war um ihn besorgt. Deshalb suchte ich ihn nach dem Ende der Versammlung in seinem Hotelzimmer auf. Er schlief noch. Ich weckte ihn und sagte, dass die Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft schon zu Ende sei. Ich begriff nicht, warum er auf diese Art das Goethe-Fest habe mitmachen wollen. Er aber erwiderte so, dass ich sah, ihm war es ganz selbstverständlich, nach Weimar zur Goethe-Versammlung zu fahren, um während deren Veranstaltungen zu schlafen. Denn er verschlief das meiste, weshalb die andern gekommen waren.

Nahe trat ich Otto Erich Hartleben auf eine besondere Art. An einem der angedeuteten Abendtische entspann sich einmal ein Gespräch über Schopenhauer. Es waren schon viele bewundernde und ablehnende Worte über den Philosophen gefallen. Hartleben hatte lange geschwiegen. Dann sagte er in wildwogende Gesprächsoffenbarungen hinein:  »Man wird bei ihm aufgeregt; aber er ist doch nichts für das Leben.« Mich schaute er dabei fragend an, mit kindlich-hilflosem Blicke; er wollte, dass ich etwas sagen sollte, weil er gehört hatte, dass ich mich doch mit Schopenhauer beschäftige. Und ich sagte: »Schopenhauer muss ich für ein borniertes Genie halten.« Hartlebens Augen funkelten, er wurde unruhig, er trank aus und bestellte sich ein frisches Glas, er hatte mich in diesem Augenblicke in sein Herz geschlossen; seine Freundschaft zu mir war begründet. »Borniertes Genie!« Das gefiel ihm. Ich hätte es ebenso gut von einer ganz anderen Persönlichkeit gebrauchen können, es wäre ihm gleichgültig gewesen. Ihn interessierte tief, dass man die Ansicht haben könne, auch ein Genie könne borniert sein.

Für mich waren die Goethe-Versammlungen anstrengend. Denn die meisten Menschen in Weimar waren während derselben mit ihren Interessen entweder in dem einen oder dem andern Kreise, in dem der redenden oder tafelnden Philologen, oder in dem der Olden-Hartleben’schen Färbung. Ich musste an beiden teilnehmen. Meine Interessen trieben mich eben nach beiden Seiten hin. Das ging, weil die einen ihre Sitzungen bei Tag, die andern bei Nacht hielten. Aber mir war es nicht erlaubt, die Lebensart Otto Erichs einzuhalten. Ich konnte während der Tag-Versammlungen nicht schlafen. Ich liebte die Vielseitigkeit des Lebens, und war wirklich gerade so gerne mittags im Archivkreise bei Suphan, der Hartleben nie kennen gelernt hat – weil sich das für ihn nicht schickte –, wie abends mit Hartleben und seinen Gesinnungsgenossen zusammen.

 

 [XXXVII]

Die Weltanschauungsrichtungen einer Reihe von Menschen stellten sich mir während meiner Weimarischen Zeit vor die Seele. Denn mit jedem, mit dem Gespräche über Welt- und Lebensfragen möglich waren, entwickelten sich solche im damaligen unmittelbaren Verkehre. Und durch Weimar kamen eben viele an derartigen Gesprächen interessierte Persönlichkeiten durch.

Ich verlebte diese Zeit in dem Lebensalter, in dem die Seele sich, ihrer Neigung nach, intensiv dem äusseren Leben zuwendet, in dem sie ihren festen Zusammenschluss mit diesem Leben finden möchte. Mir wurden die sich darlebenden Weltanschauungen ein Stück Aussenwelt. Und ich musste empfinden, wie wenig ich im Grunde bis dahin mit einer Aussenwelt gelebt hatte. Wenn ich mich von dem lebhaften Verkehre zurückzog, dann wurde ich gerade damals immer wieder gewahr, dass mir eine vertraute Welt bis dahin nur die geistige, die ich im Innern anschaute, gewesen ist. Mit dieser Welt konnte ich mich leicht verbinden. Und meine Gedanken gingen damals oft nach der Richtung, mir selbst zu sagen, wie schwer mir der Weg durch die Sinne zur Aussenwelt während meiner ganzen Kindheit und Jugendzeit geworden ist. Ich habe immer Mühe gehabt, dem Gedächtnisse die äusseren Daten einzuverleiben, die sich anzueignen z. B. auf dem Gebiete der Wissenschaft notwendig ist. Ich musste oft und oft ein Naturobjekt sehen, wenn ich wissen sollte, wie man es nennt, in welche Klasse es wissenschaftlich eingereiht ist usw. Ich darf schon sagen: die Sinneswelt hatte für mich etwas Schattenhaftes, Bildhaftes. Sie zog in Bildern vor meiner Seele vorbei, während der Zusammenhalt mit dem Geistigen durchaus den echten Charakter des Wirklichen trug.

Das alles empfand ich am meisten in dem Anfang der neunziger Jahre in Weimar. Ich legte damals die letzte Hand an meine »Philosophie der Freiheit«. Ich schrieb, so fühlte ich, die Gedanken nieder, die mir die geistige Welt bis zu der Zeit meines dreissigsten Lebensjahres gegeben hatte. Alles, was mir durch die äussere Welt gekommen war, hatte nur den Charakter einer Anregung.

Ich empfand das besonders, wenn ich in dem lebendigen Verkehre in Weimar mit andern Menschen über Weltanschauungsfragen sprach. Ich musste auf sie, ihre Denkart und Gefühlsrichtung eingehen; sie gingen auf das gar nicht ein, was ich im Innern erlebt hatte und weiter erlebte. Ich lebte ganz intensiv mit dem, was andere sahen und dachten; aber ich konnte in diese erlebte Welt meine innere geistige Wirklichkeit nicht hineinfliessen lassen. Ich musste mit meinem eigenen Wesen immer in mir zurückbleiben. Es war wirklich meine Welt wie durch eine dünne Wand von aller Aussenwelt abgetrennt.

Mit meiner eigenen Seele lebte ich in einer Welt, die an die Aussenwelt angrenzt; aber ich hatte immer nötig, eine Grenze zu überschreiten, wenn ich mit der Aussenwelt  etwas zu tun haben wollte. Ich stand im lebhaftesten Verkehre; aber ich musste in jedem einzelnen Falle aus meiner Welt wie durch eine Türe in diesen Verkehr eintreten. Das liess mir die Sache so erscheinen, als ob ich jedesmal, wenn ich an die Aussenwelt herantrat, einen Besuch machte. Das aber hinderte mich nicht, mich mit lebhaftestem Anteile dem hinzugeben, bei dem ich zu Besuch war; ich fühlte mich sogar ganz heimisch, während ich zu Besuch war.

So war es mit Menschen, so war es mit Weltanschauungen. Ich ging gerne zu Suphan, ich ging gerne zu Hartleben. Suphan ging nie zu Hartleben; Hartleben nie zu Suphan. Keiner konnte in des andern Denk- und Gefühlsrichtung eintreten. Ich war sogleich bei Suphan, sogleich bei Hartleben wie zu Hause. Aber weder Suphan noch Hartleben kamen eigentlich zu mir. Sie blieben auch, wenn sie zu mir kamen, bei sich. In meiner geistigen Welt konnte ich keine Besuche erleben.

Ich sah die verschiedensten Weltanschauungen vor meiner Seele. Die naturwissenschaftliche, die idealistische und viele Nuancen der beiden. Ich fühlte den Drang, auf sie einzugehen, mich in ihnen zu bewegen; in meine geistige Welt warfen sie eigentlich kein Licht. Sie waren mir Erscheinungen, die vor mir standen, nicht Wirklichkeiten, in die ich mich hätte einleben können.

So stand es in meiner Seele, als das Leben mir unmittelbar nahe rückte Weltanschauungen wie diejenige Haeckels und Nietzsches. Ich empfand ihre relative Berechtigung. Ich konnte durch meine Seelenverfassung sie nicht so behandeln, dass ich sagte: das ist richtig, das ist unrichtig. Da hätte ich, was in ihnen lebt, als mir fremd empfinden müssen. Aber ich empfand die eine nicht fremder als die andere; denn heimisch fühlte ich mich nur in der angeschauten geistigen Welt, und »wie zu Hause« konnte ich mich in jeder andern fühlen.

Wenn ich das so schildere, kann es scheinen, als ob mir im Grunde alles gleichgültig gewesen wäre. Das war es aber durchaus nicht. Ich hatte darüber eine ganz andere Empfindung. Ich empfand mich mit vollem Anteil in dem anderen darinnen, weil ich es mir nicht dadurch entfremdete,  dass ich sogleich das Eigene in Urteil und Empfindung hineintrug.

Ich führte z. B. unzählige Gespräche mit Otto Harnack, dem geistvollen Verfasser des Buches »Goethe in der Epoche seiner Vollendung«, der damals viel nach Weimar kam, weil er über Goethes Kunststudien arbeitete. Der Mann, der dann später in eine erschütternde Lebenstragik verfallen ist, war mir lieb. Ich konnte ganz Otto Harnack sein, wenn ich mit ihm sprach. Ich nahm seine Gedanken hin, lebte mich – im gekennzeichneten Sinne – zu Besuch, aber »wie zu Hause« in sie ein. Ich dachte gar nicht daran, ihn zu mir zu Besuch zu bitten. Er konnte nur bei sich leben. Er war so in seine Gedanken eingesponnen, dass er alles als fremd empfand, was nicht das Seinige war. Er hätte von meiner Welt nur so hören können, dass er sie wie das Kant’sche »Ding an sich« behandelt hätte, das »jenseits des Bewusstseins« liegt. Ich fühlte mich geistig verpflichtet, seine Welt als eine solche zu behandeln, zu der ich mich nicht kantisch zu verhalten hatte, sondern in die ich das Bewusstsein hinüberleiten musste.

Ich lebte so nicht ohne geistige Gefahren und Schwierigkeiten. Wer alles ablehnt, was nicht in seiner Denkrichtung liegt, der wird nicht bedrängt von der relativen Berechtigung, die die verschiedenen Weltanschauungen haben. Er kann rückhaltlos das Faszinierende dessen empfinden, was nach einer bestimmten Richtung ausgedacht ist. Dieses Faszinierende des Intellektualismus lebt ja in so vielen Menschen. Sie werden leicht mit dem fertig, was anders gedacht ist als das ihrige. Wer aber eine Welt der Anschauung hat, wie sie die geistige sein muss, der sieht die Berechtigung der verschiedensten »Standpunkte«; und er muss sich fortwährend im Innern seiner Seele wehren, um nicht zu stark zu dem einen oder dem andern hingelenkt zu werden.

Man wird aber schon das »Wesen der Aussenwelt« gewahr, wenn man in Liebe an sie hingegeben sein kann, und doch immer wieder zur Innenwelt des Geistes zurückkehren muss. Man lernt aber dabei auch, wirklich im Geistigen zu leben.

Die verschiedenen intellektuellen »Standpunkte« lehnen einander ab; die geistige Anschauung sieht in ihnen eben  »Standpunkte«. Von jedem derselben aus gesehen, nimmt sich die Welt anders aus. Es ist, wie wenn man ein Haus von verschiedenen Seiten photographiert. Die Bilder sind verschieden; das Haus ist dasselbe. Geht man um das wirkliche Haus herum, so erhält man einen Gesamteindruck. Steht man wirklich in der geistigen Welt darinnen, so lässt man das »Richtige« eines Standpunktes gelten. Man sieht eine photographische Aufnahme von einem »Standpunkte« aus als etwas Berechtigtes an. Man frägt dann nach der Berechtigung und Bedeutung des Standpunktes.

So musste ich z. B. an Nietzsche, so musste ich auch an Haeckel herantreten. Nietzsche, so fühlte ich, photographiert die Welt von einem Standpunkte aus, zu dem eine tiefangelegte Menschenwesenheit in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hingedrängt wurde, wenn sie von dem geistigen Inhalte dieses Zeitalters allein leben konnte, wenn in ihr Bewusstsein die Anschauung des Geistes nicht hereinbrechen wollte, der Wille im Unterbewusstsein mit ungemein starken Kräften aber zum Geist hindrängte. So lebte in meiner Seele das Bild Nietzsches auf; es zeigte mir die Persönlichkeit, die den Geist nicht schaute, in der aber der Geist unbewusst kämpft gegen die ungeistigen Anschauungen der Zeit.

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