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Einundzwanzigstes Kapitel

 [XXXXIX]

Durch den freisinnigen Politiker, von dem ich gesprochen habe, wurde ich mit dem Inhaber einer Buchhandlung bekannt. Dieses Büchergeschäft hatte einst bessere Tage gesehen, als diejenigen waren, die es in meiner weimarischen Zeit erlebte. Das war noch unter dem Vater des jungen Mannes der Fall, den ich als Inhaber kennen lernte. Für mich war wichtig, dass diese Buchhandlung ein Blatt herausgab, das übersichtliche Artikel über das zeitgenössische Geistesleben und Besprechungen über die erscheinenden dichterischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Erscheinungen brachte. Auch dieses Blatt war im Verfall. Es hatte seine Verbreitung verloren. Mir aber bot es die Gelegenheit, über vieles zu schreiben, was damals in meinem geistigen Horizont lag, oder in diesen eintrat. Obgleich die zahlreichen Aufsätze und Bücherbesprechungen, die ich so schrieb, nur von Wenigen gelesen wurden, war mir die Möglichkeit angenehm, ein Blatt zur Verfügung zu haben, das von mir druckte, was ich wollte. Es lag da eine Anregung, die dann später fruchtbar wurde, als ich das »Magazin für Literatur« herausgab, und ich dadurch verpflichtet war, intensiv mit dem zeitgenössischen Geistesleben mitzudenken und mitzufühlen.

So ward für mich Weimar der Ort, an den ich im späteren Leben oft zurücksinnen musste. Denn die Enge, in der ich in Wien gezwungen war zu leben, erweiterte sich; und es wurde Geistiges und Menschliches erlebt, das in seinen Folgen später sich zeigte.

Von allem das Bedeutsamste waren aber doch die Verhältnisse zu Menschen, die geknüpft wurden.

Da wurde doch immer wieder, wenn ich in späteren Jahren mir Weimar und mein dortiges Leben vor die Seele rückte, der geistige Blick auf ein Haus geworfen, das mir ganz besonders lieb geworden war.

Ich lernte den Schauspieler Neuffer, noch während er am Weimarischen Theater tätig war, kennen. Ich schätzte zunächst an ihm die ernste, strenge Auffassung seines Berufes. Er liess in seinem Urteile über Bühnenkunst nichts Dilettantisches durchgehen. Das war deshalb wohltuend, weil man sich nicht immer bewusst ist, dass die Schauspielkunst in ähnlicher Art sachlichkünstlerische Vorbedingungen erfüllen muss wie z. B. die Musik.

Neuffer verheiratete sich mit der Schwester des Pianisten und Komponisten Bernhard Stavenhagen. Ich wurde in sein Haus eingeführt. Damit war man zugleich in das Haus der Eltern Frau Neuffers und Bernhard Stavenhagens freundschaftlich aufgenommen. Frau Neuffer ist eine Frau, die eine Atmosphäre von Geistigkeit über alles ausstrahlt das in ihrer Umgebung ist Ihre in tiefen Seelengebieten wurzelnden Meinungen leuchteten wunderschön auf alles, was in zwangloser Art gesprochen wurde, wenn man im Hause war. Sie brachte, was sie zu sagen hatte, bedächtig, und doch graziös vor. Und ich hate jeden Augenblick, den ich bei Neuffers zubrachte, das Gefühl: Frau Neuffer strebt nach Wahrheit in allen Lebensbeziehungen in einer seltenen Art.

Dass man mich da gerne hatte, konnte ich aus den verschiedensten Vorkommnissen sehen. Ich möchte Eines herausgreifen.

An einem Weihnachtsabend erschien bei mir Herr Neuffer und liess, da ich nicht zu Hause war, die Aufforderung zurück: ich müsse unbedingt zur Weihnachtsbescherung zu ihm kommen. – Das war nicht leicht, denn ich hatte in Weimar immer mehrere solche Festlichkeiten mitzumachen. Aber ich ermöglichte es. Und so fand ich denn, neben den Geschenken für die Kinder, schön aufgebaut ein besonderes Weihnachtsgeschenk für mich, dessen Wert nur aus seiner Geschichte hervorgehen kann.

Ich wurde eines Tages in ein Bildhaueratelier geführt. Ein Bildhauer wollte mir seine Arbeiten zeigen. Mich interessierte im Grunde recht wenig, was ich da sah. Nur eine einzige Büste, die verloren in einer Ecke lag, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine Hegelbüste. In dem Atelier, das zur Wohnung einer älteren, in Weimar sehr angesehenen Dame gehörte, fand sich alles mögliche Bildhauerische. Bildhauer mieteten den Raum immer für kurze Zeit; es blieb in ihm manches liegen, was ein Mieter nicht mitnehmen wollte. Es waren aber auch Dinge darinnen, die seit alter Zeit unbeachtet da lagerten, wie jene Hegelbüste.

Das Interesse, das ich dieser Büste zugewendet hatte, bewirkte immerhin, dass ich da oder dort davon sprach. Und so auch einmal im Hause Neuffer; und ich habe da wohl eine leise Andeutung hinzugefügt, dass ich die Büste gerne in meinem Besitze hätte.

Und am nächsten Weihnachtsabend ward sie mir als Geschenk bei Neuffer gegeben. – Am nächsten Mittag, zu dem ich eingeladen war, erzählte Neuffer, wie er sich die Büste verschafft hatte.

Er ging zunächst zu der Dame, der das Atelier gehörte. Er sprach ihr davon, dass jemand die Büste in ihrem Atelier gesehen habe, und dass es für ihn besonders wertvoll wäre, wenn er sie erwerben könnte. Die Dame sagte: Ja, solche Dinge seien seit alten Zeiten in ihrem Hause; ob aber gerade ein »Hegel« da sei, davon wisse sie nichts. Sie zeigte sich aber ganz bereitwillig, Neuffer herumzuführen, damit er nachsehen könne. – Es wurde alles »durchforscht«, nicht die verborgenste Ecke wurde unberücksichtigt gelassen; die Hegelbüste fand sich nirgends. Neuffer war recht traurig, denn für ihn hatte der Gedanke etwas tief Befriedigendes, mir mit der Hegelbüste eine Freude zu machen. – Da stand er denn schon an der Türe mit der Dame. Das Dienstmädchen kam hinzu. Es hörte gerade noch die Worte Neuffers: »Ja, schade, dass wir die Hegelbüste nicht gefunden haben.« »Hegel«, warf das Mädchen ein, »ist das vielleicht der Kopf mit der abgebrochenen Nasenspitze, der in der Dienstbotenstube unter meinem Bette liegt?« – Sofort wurde der letzte Akt der Expedition arrangiert, Neuffer konnte die Büste wirklich erwerben; bis Weihnachten war gerade noch Zeit, die fehlende Nasenspitze zu ergänzen.

Und so kam ich denn zu der Hegelbüste, die zu dem Wenigen gehört, was mich dann an viele Orte begleitete. Ich sah immer wieder gerne nach diesem Hegelkopfe (von Wichmann aus dem Jahre 1826) hin, wenn ich mich in Hegels Gedankenwelt vertiefte. Und das geschah wirklich recht oft. Die Züge des Antlitzes, die menschlichster Ausdruck des reinsten Denkens sind, bilden einen vielwirkenden Lebensbegleiter.

So war es bei Neuffers. Sie waren unermüdlich, wenn sie es dahin bringen wollten, jemand mit etwas zu erfreuen, das besonders mit seinem Wesen zusammenhing. Die Kinder,  die sich allmählich im Neuffer’schen Hause einfanden, hatten eine musterhafte Mutter. Frau Neuffer erzog weniger durch das, was sie tat, sondern durch das, was sie ist, durch ihr ganzes Wesen. Ich hatte die Freude, Taufpate bei einem der Söhne sein zu dürfen. Jeder Besuch in diesem Hause war mir ein Quell innerer Befriedigung. Ich durfte solche Besuche auch noch in späteren Jahren machen, als ich von Weimar fort war, und ab und zu zu Vorträgen hinkam. Leider ist das nun lange nicht mehr der Fall gewesen. Und so habe ich denn Neuffers nicht sehen können in den Jahren, in denen  schmerzliches Schicksal über sie hereingebrochen ist. Denn diese Familie gehört zu denjenigen, die durch den Weltkrieg am meisten geprüft worden sind.

Eine reizvolle Persönlichkeit war der Vater der Frau Neuffer, der alte Stavenhagen. Er hatte sich wohl vorher in einem praktischen Berufe betätigt, dann aber zur Ruhe gesetzt. Nun lebte er ganz in dem Inhalte einer Bibliothek, die er sich angeschafft hatte. Und es stellte sich vor Anderen in durchaus sympathischer Art dar, wie er darin lebte. Es war nichts Selbstgefälliges oder Erkenntnis-Hochmütiges in den lieben alten Herrn eingezogen, sondern etwas, das eher in jedem Worte den ehrlichen Wissensdurst erkennen liess.

So waren damals wirklich die Verhältnisse in Weimar noch in der Art, dass die Seelen, die an andern Orten sich wenig befriedigt fühlten, sich da einfanden. So war es mit denen, die dauernd da ein Heim bauten, so aber auch mit solchen, die immer wieder gerne zum Besuch kamen. Man fühlte Vielen an: Weimarische Besuche sind ihnen etwas anderes als solche an andern Orten.

Ich habe das ganz besonders empfunden bei dem dänischen Dichter Rudolf Schmidt. Er kam zuerst zu der Aufführung seines Dramas »Der verwandelte König«. Schon bei diesem Besuche wurde ich mit ihm bekannt. Dann aber stellte er sich bei vielen Gelegenheiten ein, bei denen Weimar auswärtige Besucher sah. Der schöngebaute Mann mit dem wallenden Lockenkopf war oft unter diesen Besuchern. Die Art, wie man in Weimar »ist«, hatte etwas Anziehendes für seine Seele. Er war eine Persönlichkeit von schärfster Prägung. In der Philosophie war er ein Anhänger Rasmus Nielsens. Durch diesen, der von Hegel ausgegangen war, hatte Rudolf Schmidt das schönste Verständnis für die deutsche idealistische Philosophie. Und waren so Schmidts Urteile nach dem Positiven hin deutlich geprägt, sie waren es nicht minder nach dem Negativen. So wurde er beissend, satirisch, ganz vernichtend, wenn er auf Georg Brandes zu sprechen kam. Es hatte etwas Künstlerisches, wie da jemand ein ganzes, breites, in Antipathie ergossenes Empfindungsgebiet offenbarte. Auf mich konnten diese Offenbarungen keinen anderen als einen künstlerischen Eindruck machen. Denn ich hatte vieles von Georg Brandes gelesen. Mich hatte besonders interessiert, was er aus einem immerhin weiten Umkreis der Beobachtung und des Wissens über die Geistesströmungen der europäischen Völker in geistreicher Art geschildert hat. – Aber, was Rudolf Schmidt vorbrachte, war subjektiv ehrlich, und wegen des Charakters dieses Dichters wirklich fesselnd. – Ich gewann schliesslich Rudolf Schmidt im tiefsten Herzen lieb; ich freute mich der Tage, an denen er nach Weimar kam. Es war  interessant, ihn reden zu hören von seiner nordischen Heimat, und zu sehen, welch bedeutende Fähigkeiten in ihm gerade aus dem Grundquell nordischen Empfindens erwachsen waren. Es war nicht minder interessant, mit ihm über Goethe, Schiller, Byron zu sprechen. Da sprach er wirklich anders als Georg Brandes. Dieser ist überall in seinem Urteil die internationale Persönlichkeit; in Rudolf Schmidt sprach über alles der Däne. Aber eben deshalb sprach er über vieles und in vieler Beziehung doch interessanter als Georg Brandes.

 

 [L]

In meiner letzten Weimarer Zeit wurde ich nahe befreundet mit Conrad Ansorge und seinem Schwager von Crompton. Conrad Ansorge hat später in einer glänzenden Art seine grosse Künstlerschaft entfaltet Ich habe hier nur von dem zu sprechen, was er mir in einer schönen Freundschaft Ende der neunziger Jahre war, und wie er damals vor mir stand.

Die Frauen Ansorges und von Cromptons waren Schwestern. Die Verhältnisse brachten es mit sich, dass unser Zusammensein entweder im Hause von Cromptons oder im Hotel »Russischer Hof« sich abspielte.

Ansorge war ein energisch künstlerischer Mensch. Er wirkte als Pianist und Komponist. In der Zeit unserer weimarischen Bekanntschaft komponierte er Nietzsche’sche und Dehmel’sche Dichtungen. Es war immer ein Festereignis, wenn die Freunde, die allmählich in den Ansorge-Crompton-Kreis hereingezogen wurden, eine neue Komposition hören durften.

Zu diesem Kreise gehörte auch ein weimarischer Redakteur, Paul Böhler. Er redigierte die Zeitung »Deutschland«, die neben der  amtlichen »Weimarischen Zeitung« ein mehr unabhängiges Dasein führte. Es erschienen manche andere weimarische Freunde auch in diesem Kreise: Fresenius, Heitmüller, auch Fritz Koegel u. a. Wenn Otto Erich Hartleben in Weimar auftauchte, so erschien er stets auch, als dieser Kreis gebildet war, in ihm.

Conrad Ansorge ist aus dem Liszt-Kreise herausgewachsen. Ja, ich sage wohl nichts, was neben der Wirklichkeit einhergeht, wenn ich behaupte: er bekannte sich als einen der Liszt-Schüler, die dem Meister künstlerisch am treuesten anhingen. Aber man bekam gerade durch Conrad Ansorge das, was von Liszt fortlebte, in der allerschönsten Art vor die Seele gestellt. Denn bei Ansorge war alles Musikalische, das von ihm kam, aus dem Quell einer ganz ursprünglichen, individuellen Menschlichkeit herausstammend. Diese Menschlichkeit mochte von Liszt angeregt worden sein; das Reizvolle an ihr war aber ihre Ursprünglichkeit. Ich spreche diese Dinge so aus, wie ich sie damals erlebte; wie ich später zu ihnen stand oder heute zu ihnen stehe, kommt hier nicht in Betracht.

Durch Liszt hing Ansorge einmal in früherer Zeit mit Weimar zusammen; in der Zeit, von der ich hier spreche, war er seelisch aus dieser Zusammengehörigkeit herausgelöst. Und das war das Eigentümliche dieses Ansorge-Crompton-Kreises, dass er zu Weimar ganz anders stand als weitaus die meisten Persönlichkeiten, von denen ich bisher schildern konnte, dass sie mir nahetraten.

Diese Persönlichkeiten waren in Weimar auf die Art, wie ich dies im vorigen Abschnitt beschrieben habe. Dieser Kreis strebte mit seinen Interessen aus Weimar hinaus. Und so ist es gekommen, dass ich in der Zeit, als meine Weimarer Arbeit beendet war und ich daran denken musste, die Goethestadt zu verlassen, befreundet wurde mit Menschen, für die das Leben in Weimar nichts besonders Charakteristisches war. Man lebte sich in einem gewissen Sinne mit diesen Freunden aus Weimar heraus.

Ansorge, der Weimar als eine Fessel für seine künstlerische Entfaltung fühlte, übersiedelte ja ungefähr gleichzeitig mit mir nach Berlin. Paul Böhler, obwohl Redakteur der gelesensten weimarischen Zeitung, schrieb nicht aus dem damaligen »Weimarischen Geist« heraus, sondern übte von weiterem Gesichtskreise manche herbe Kritik an diesem Geiste. Er war derjenige, der auch immer seine Stimme erhob, wenn es sich darum handelte, das ins rechte Licht zu rücken, was von Opportunität und Kleingeisterei eingegeben war. Und so kam es denn, dass er gerade in der Zeit, als er in dem geschilderten Kreis war, seine Stelle verlor.

Von Crompton lebte sich als die denkbar liebenswürdigste Persönlichkeit aus. In seinem Hause konnte der Kreis die schönsten Stunden verleben. Da war dann im Mittelpunkte Frau von Crompton, eine geistvoll-graziöse Persönlichkeit, die sonnenhaft auf diejenigen wirkte, die in ihrer Umgebung sein durften.

Der ganze Kreis stand sozusagen im Zeichen Nietzsches. Man betrachtete die Lebensauffassung Nietzsches als dasjenige, was von allergrösstem Interesse ist; man gab sich der Seelenverfassung, die sich in Nietzsche geoffenbart hatte, als derjenigen hin, die gewissermassen eine Blüte des echten und freien Menschentums darstellte. Nach diesen beiden Richtungen hin war besonders von Crompton ein Repräsentant der Nietzsche-Bekenner der neunziger Jahre. Mein eigenes Verhältnis zu Nietzsche änderte sich innerhalb dieses Kreises nicht. Da ich aber derjenige war, den man fragte, wenn man über Nietzsche etwas wissen wollte, so projizierte man die Art wie man sich selbst an Nietzsche hielt, auch in mein Verhältnis zu ihm hinein.

Aber es muss gesagt werden, dass gerade dieser Kreis in verständnisvoller Art zu dem aufsah, was Nietzsche zu erkennen vermeinte, dass er auch verständnisvoller darzuleben versuchte, was in Nietzsches Lebens-Idealen lag, als dies von manchen andern Seiten geschah, wo das »Übermenschentum« und das »Jenseits von Gut und Böse« nicht immer die erfreulichsten Blüten trieben.

Für mich war der Kreis bedeutsam durch eine starke, mitreissende Energie, die in ihm lebte. Auf der andern Seite aber fand ich das entgegenkommendste Verständnis für alles dasjenige, was ich in dem Kreise glaubte vorbringen zu können.

Die Abende, an denen Ansorges Musikleistungen glänzten und alle Teilnehmer interessierende Gespräche über  Nietzsche Stunden füllten, in denen weittragende, schwerwiegende Fragen über Welt und Leben eine sozusagen angenehme Unterhaltung bildeten, waren schon etwas, an das ich mit Befriedigung als auf etwas zurückblicken kann, das meine letzte weimarische Zeit verschönt hat.

Weil in diesem Kreise alles, was in ihm sich darlebte, aus einem unmittelbaren und ernsten künstlerischen Empfinden stammte und sich durchdringen wollte mit einer Weltanschauung, die sich an den echten Menschen als ihren Mittelpunkt hielt, konnte man keine unangenehmen Gefühle hegen, wenn zum Vorschein kam, was gegen das damalige Weimar einzuwenden war. Der Ton war dabei ein wesentlich anderer als ich ihn früher im Olden’schen Kreise erlebt hatte. Da war viel Ironie im Spiele; man sah auch Weimar als »menschlich-allzumenschlich« an, wie man andere Orte angesehen hätte, wenn man an ihnen gewesen wäre. Im Ansorge-Crompton-Kreise war – ich möchte sagen – mehr die ernste Empfindung vorhanden: wie soll es mit der deutschen Kulturentwicklung weitergehen, wenn ein Ort wie Weimar so wenig seine ihm vorgezeichneten Aufgaben erfüllt?

Auf dem Hintergrunde dieses geselligen Verkehres entstand mein Buch »Goethes Weltanschauung«, mit dem ich meine weimarische Tätigkeit abschloss. Ich fühlte, als ich vor einiger Zeit eine Neuauflage dieses Buches besorgte, an der Art, wie ich damals in Weimar meine Gedanken für das Buch formte, nachklingen die innere Gestaltung der freundschaftlichen Zusammenkünfte des geschilderten Kreises.

Dieses Buch hat etwas weniger Unpersönliches, als es bekommen hätte, wenn nicht bei seinem Niederschreiben in meiner Seele nachvibriert hätte, was in diesem Kreise mit Begeisterung bekenntnismässig und energisch über das »Wesen der Persönlichkeit« immer wieder erklungen hatte. Es ist das einzige meiner Bücher, von dem ich gerade dieses zu sagen habe. Als persönlich im echtesten Sinne des Wortes erlebt, darf ich sie alle bezeichnen; nicht aber auf diese Art, wo die eigene Persönlichkeit so stark das Wesen der Persönlichkeiten der Umgebung miterlebt.

Doch bezieht sich dieses nur auf die allgemeine Haltung des Buches. Die in bezug auf das Gebiet der Natur sich offenbarende »Weltanschauung Goethes« kommt ja doch so zur Darstellung, wie das schon in meinen Goetheschriften der  achtziger Jahre der Fall war. Nur über Einzelnes sind durch die erst im Goethe-Archiv aufgefundenen Handschriften meine Anschauungen erweitert, vertieft, oder befestigt worden.

In allem, was ich im Zusammenhange mit Goethe gearbeitet habe, kam es mir darauf an, Inhalt und Richtung seiner »Weltanschauung« vor die Welt hinzustellen. Dadurch sollte sich ergeben, wie das Umfassende und geistig in die Dinge Eindringende des Goethe’schen Forschens und Denkens zu Einzelentdeckungen auf den besonderen Naturgebieten gekommen ist. Mir kam es nicht darauf an, auf diese Einzelentdeckungen als solche zu verweisen, sondern darauf, dass sie Blüten waren an der Pflanze einer geistgemässen Naturanschauung.

Diese Naturanschauung zu charakterisieren als einen Teil dessen, was Goethe der Welt gegeben hat, schrieb ich Darstellungen dieses Teiles der Goethe’schen Gedanken- und Forschungsarbeit. Aber nach dem gleichen Ziele strebte ich auch durch die Anordnung der Goethe’schen Aufsätze in den beiden Ausgaben, an denen ich mitgearbeitet habe, derjenigen in »Kürschners Deutscher National-Literatur« und auch der Weimarischen Sophien-Ausgabe. Ich betrachtete es niemals als eine Aufgabe, die für mich aus Goethes ganzem Wirken folgen könnte, anschaulich zu machen, was Goethe als Botaniker, als Zoologe, als Geologe, als Farbentheoretiker in der Art geleistet hat, wie man eine solche Leistung vor dem Forum der geltenden Wissenschaft beurteilt. – Dafür etwas zu tun, schien mir auch unangemessen bei der Anordnung der Aufsätze für die Ausgaben.

Und so ist denn auch der Teil der Goethe-Schriften, den ich für die Weimarische Ausgabe herausgegeben habe, nichts anderes geworden als ein Dokument für Goethes in seiner Naturforschung sich offenbarende Weltanschauung. Wie diese Weltanschauung im Botanischen, Geologischen usw. ihre besonderen Lichter wirft, das sollte zur Geltung kommen. (Man hat z. B. gefunden, dass ich die geologisch-mineralogischen Schriften hätte anders anordnen sollen, damit man »Goethes Verhältnis zur Geologie« aus dem Inhalte ersehen könne. Man brauchte nur zu lesen, was ich über die Anordnung der Goethe’schen Schriften auf diesem Gebiete in den Einleitungen zu meinen Ausgaben in »Kürschners Deutscher National-Literatur« gesagt habe, und man könnte gar nicht daran zweifeln, dass ich mich auf die von meinen Kritikern  geforderten Gesichtspunkte nie eingelassen hätte. In Weimar konnte man das wissen, als man mir die Herausgabe übertrug. Denn in der Kürschnerschen Ausgabe war bereits alles erschienen, was meine Gesichtspunkte festgestellt hatte, bevor man daran dachte, mir in Weimar eine Arbeit zu übertragen. Und man hat sie mir mit vollem Bewusstsein dieser Umstände übertragen. Ich werde nie in Abrede stellen, dass, was ich bei Bearbeitung der Weimarischen Ausgabe in manchem Einzelnen gemacht habe, als Fehler von »Fachleuten« bezeichnet werden kann. Diese mag man richtig stellen. Aber man sollte nicht die Sache so darstellen, als ob die Gestalt der Ausgabe nicht von meinen Grundsätzen, sondern von meinem Können oder Nichtkönnen herrührte. Insbesondere sollte dieses nicht geschehen von einer Seite her, die zugibt, dass sie kein Organ hat für die Auffassung dessen, was ich in bezug auf Goethe dargestellt habe. Wenn es sich um einzelne sachliche Fehler da oder dort handelte, so könnte ich meine diesbezüglichen Kritiker auf noch viel schlimmeres verweisen, auf meine Aufsätze, die ich als Oberrealschüler geschrieben habe. Ich habe es durch diese Darstellung meines Lebenslaufes doch wohl bemerklich gemacht, dass ich schon als Kind in der geistigen Welt als in der mir selbstverständlichen lebte, dass ich mir aber alles schwer erobern musste, was sich auf das Erkennen der Aussenwelt bezieht. Dadurch bin ich für dieses auf allen Gebieten ein spät sich entwickelnder Mensch gewesen. Und die Folgen davon tragen Einzelheiten meiner Goethe-Ausgaben.)  

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