top of page

Einunddreissigstes Kapitel

 [LXIII]

Ein anderes Sammelwerk, das die Kulturerrungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts darstellte, wurde damals von Hans Kraemer herausgegeben. Es bestand aus längeren Abhandlungen über die einzelnen Zweige des Erkenntnislebens, des technischen Schaffens, der sozialen Entwicklung.

Ich wurde eingeladen, eine Schilderung des literarischen Lebens zu geben. Und so zog denn damals auch die Entwicklung des Phantasielebens im neunzehnten Jahrhundert durch meine Seele hindurch. Ich schilderte nicht wie ein Philologe, der solche Dinge »aus den Quellen heraus« arbeitet; ich schilderte, was ich an der Entfaltung des Phantasielebens innerlich durchgemacht hatte.

Auch diese Darstellung war für mich dadurch von Bedeutung, dass ich über Erscheinungen des geistigen Lebens zu sprechen hatte, ohne dass ich auf das Erleben der Geistwelt eingehen konnte. Das, was an eigentlichen geistigen Impulsen aus dieser Welt sich in den dichterischen Erscheinungen auslebt, blieb unerwähnt.

Auch in diesem Falle stellte sich vor mich hin, was das Seelenleben über eine Daseinserscheinung zu sagen hat, wenn es sich auf den Gesichtspunkt des gewöhnlichen Bewusstseins stellt, ohne den Inhalt dieses Bewusstseins so in Aktivität zu bringen, dass er erlebend in die Geist-Welt aufsteigt.

Noch bedeutungsvoller erlebte ich dieses »Stehen vor dem Tore« der Geistwelt in einer Abhandlung, die ich für ein anderes Werk zu schreiben hatte. Es war dies kein Jahrhundertwerk, sondern eine Sammlung von Aufsätzen, die die verschiedenen Erkenntnis- und Lebensgebiete charakterisieren sollten, insofern in der Entfaltung dieser Gebiete der menschliche »Egoismus« eine treibende Kraft ist. Arthur Dix gab dieses Werk heraus. Es hiess »Der Egoismus« und war  durchaus der Zeit – Wende des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts – entsprechend.

Die Impulse des Intellektualismus, die sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf allen Gebieten des Lebens geltend gemacht hatten, wurzeln im »einzelnen Seelenleben«, wenn sie wirklich echte Äusserungen ihres Wesens sind. Wenn der Mensch intellektuell sich aus dem sozialen Leben heraus offenbart, so ist das eben nicht eine echte intellektuelle Äusserung, sondern die Nachahmung einer solchen.

Es ist einer der Gründe, warum der Ruf nach sozialem Empfinden in diesem Zeitalter so intensiv hervorgetreten ist, der, dass in der Intellektualität dieses Empfinden nicht ursprünglich innerlich erlebt wird. Die Menschheit begehrt auch in diesen Dingen am meisten nach dem, was sie nicht hat.

Mir fiel für dieses Buch die Darstellung des »Egoismus in der Philosophie« zu. Nun trägt mein Aufsatz diese Überschrift nur deshalb, weil der Gesamttitel des Buches das forderte. Diese Überschrift müsste eigentlich sein: »Der Individualismus in der Philosophie«. Ich versuchte, in ganz kurzer Form einen Überblick über die abendländische Philosophie seit Thales zu geben, und zu zeigen, wie deren Entwicklung darauf zielt, die menschliche Individualität zum Erleben der Welt in Ideenbildern zu bringen, so, wie dies versucht ist, in meiner »Philosophie der Freiheit« für die Erkenntnis und das sittliche Leben darzustellen.

Wieder stehe ich mit diesem Aufsatz vor dem »Tore der Geistwelt«. In der menschlichen Individualität werden die Ideenbilder gezeigt, die den Welt-Inhalt offenbaren. Sie treten auf, so dass sie auf das Erleben warten, durch das in ihnen die Seele in die Geistwelt schreiten kann. Ich hielt in der Schilderung an dieser Stelle ein. Es steht eine Innenwelt da, die zeigt, wie weit das blosse Denken im Weltbegreifen kommt.

Man sieht, ich habe das voranthroposophische Seelenleben vor meiner Hingabe an die öffentliche anthroposophische Darstellung der Geistwelt von den verschiedensten Gesichtspunkten aus geschildert. Darinnen kann kein Widerspruch mit dem Auftreten für die Anthroposophie gefunden werden. Denn das Weltbild, das entsteht, wird durch die Anthroposophie nicht widerlegt, sondern erweitert und fortgeführt.

Beginnt man die Geist-Welt als Mystiker darzustellen, so ist jedermann voll berechtigt, zu sagen: du sprichst von deinen persönlichen Erlebnissen. Es ist subjektiv, was du schilderst. Einen solchen Geistesweg zu gehen, ergab sich mir aus der geistigen Welt heraus nicht als meine Aufgabe.

Diese Aufgabe bestand darin, eine Grundlage für die Anthroposophie zu schaffen, die so objektiv war wie das wissenschaftliche Denken, wenn dieses nicht beim Verzeichnen sinnenfälliger Tatsachen stehen bleibt, sondern zum zusammenfassenden Begreifen vorrückt. Was ich wissenschaftlich-philosophisch, was ich in Anknüpfung an Goethes Ideen naturwissenschaftlich darstellte, darüber liess sich diskutieren. Man konnte es für mehr oder weniger richtig oder unrichtig halten; es strebte aber den Charakter des Objektiv-Wissenschaftlichen in vollstem Sinne an.

Und aus diesem von Gefühlsmässig-Mystischem freien Erkennen heraus hole ich dann das Erleben der Geistwelt. Man sehe, wie in meiner »Mystik«, im »Christentum als mystische Tatsache« der Begriff der Mystik nach der Richtung dieses objektiven Erkennens geführt ist. Und man sehe insbesondere, wie meine »Theosophie« aufgebaut ist. Bei jedem Schritte, der in diesem Buche gemacht wird, steht das geistige Schauen im Hintergrunde. Es wird nichts gesagt, das nicht aus diesem geistigen Schauen stammt. Aber indem die Schritte getan werden, sind es zunächst im Anfange des Buches naturwissenschaftliche Ideen, in die das Schauen sich hüllt, bis es sich in dem Aufsteigen in die höheren Welten immer mehr im freien Erbilden der geistigen Welt betätigen muss. Aber dieses Erbilden wächst aus dem Naturwissenschaftlichen wie die Blüte einer Pflanze aus dem Stengel und den Blättern. – Wie die Pflanze nicht in ihrer Vollständigkeit angeschaut wird, wenn man sie nur bis zur Blüte ins Auge fasst, so wird die Natur nicht in ihrer Vollständigkeit erlebt, wenn man von dem Sinnenfälligen nicht zum Geiste aufsteigt.

So strebte ich darnach, in der Anthroposophie die objektive Fortsetzung der Wissenschaft zur Darstellung zu bringen, nicht etwas Subjektives neben diese Wissenschaft hinzustellen. – Dass gerade dieses Streben zunächst nicht verstanden wurde, ist ganz selbstverständlich. Man hielt eben Wissenschaft mit dem abgeschlossen, was vor der Anthroposophie liegt, und hatte gar keine Neigung dazu, die Ideen der Wissenschaft so  zu beleben, dass das zur Erfassung des Geistigen führt. Man stand im Banne der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausgebildeten Denkgewohnheiten. Man fand nicht den Mut, die Fesseln der bloss sinnenfälligen Beobachtung zu durchbrechen; man fürchtete, in Gebiete zu kommen, wo jeder seine Phantasie geltend macht.

So war meine innere Orientierung, als 1902 Marie von Sivers und ich an die Führung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft herantraten. Marie von Sivers war die Persönlichkeit, die durch ihr ganzes Wesen die Möglichkeit brachte, dem, was durch uns entstand, jeden sektiererischen Charakter fernzuhalten und der Sache einen Charakter zu geben, der sie in das allgemeine Geistes- und Bildungsleben hineinstellt. Sie war tief interessiert für dramatische und deklamatorisch-rezitatorische Kunst und hatte nach dieser Richtung eine Schulung, namentlich an den besten Lehrstätten in Paris, durchgemacht, die ihrem Können eine schöne Vollendung gegeben hatte. Sie setzte die Schulung noch zu der Zeit fort, als ich sie in Berlin kennen lernte, um die verschiedenen Methoden des künstlerischen Sprechens kennen zu lernen.

Marie von Sivers und ich wurden bald tief befreundet. Und auf der Grundlage dieser Freundschaft entfaltete sich ein Zusammenarbeiten auf den verschiedensten geistigen Gebieten im weitesten Umkreis. Anthroposophie, aber auch dichterische und rezitatorische Kunst gemeinsam zu pflegen, war uns bald Lebensinhalt geworden.

In diesem gemeinsam gepflegten geistigen Leben konnte allein der Mittelpunkt liegen, von dem aus Anthroposophie zunächst im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft in die Welt getragen wurde.

Marie von Sivers hatte bei unserem ersten gemeinsamen Londoner Besuche durch Gräfin Wachtmeister, die intime Freundin H. P. Blavatskys, viel über diese und über die Einrichtungen und die Entwicklung der Theosophischen Gesellschaft gehört. Sie war in hohem Grade mit dem vertraut, was als geistiger Inhalt einstmals der Gesellschaft geoffenbart worden ist und wie dieser Inhalt weiter gepflegt worden war.

Wenn ich davon gesprochen habe, dass es möglich war, im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft die Menschen zu finden, die auf Mitteilungen aus der Geist-Welt hören wollten, so ist damit nicht gemeint, dass als solche Persönlichkeiten vor allem in Betracht kamen die damals als Mitglieder in der Theosophischen Gesellschaft eingeschriebenen. Viele von diesen erwiesen sich allerdings bald als verständnisvoll gegenüber meiner Art der Geist-Erkenntnis.

Aber ein grosser Teil der Mitglieder waren fanatische Anhänger einzelner Häupter der Theosophischen Gesellschaft. Sie schworen auf die Dogmen, die von diesen stark im sektiererischen Sinn wirkenden Häuptern ausgegeben waren.

Mich stiess dieses Wirken der Theosophischen Gesellschaft durch die Trivialität und den Dilettantismus, die darinnen steckten, ab. Nur innerhalb der englischen Theosophen fand ich inneren Gehalt, der noch von Blavatsky herrührte und der damals von Annie Besant und anderen sachgemäss gepflegt wurde. Ich hätte nie in dem Stile, in dem diese Theosophen wirkten, selber wirken können. Aber ich betrachtete, was unter ihnen lebte, als ein geistiges Zentrum, an das man würdig anknüpfen durfte, wenn man die Verbreitung der Geist-Erkenntnis im tiefsten Sinne ernst nahm.

So war es nicht etwa die in der Theosophischen Gesellschaft vereinigte Mitgliederschaft, auf die Marie von Sivers und ich zählten, sondern diejenigen Menschen überhaupt, die sich mit Herz und Sinn einfanden, wenn ernst zu nehmende Geist-Erkenntnis gepflegt wurde.

Das Wirken innerhalb der damals bestehenden Zweige der Theosophischen Gesellschaft, das notwendig als Ausgangspunkt war, bildete daher nur einen Teil unserer Tätigkeit. Die Hauptsache war die Einrichtung von öffentlichen Vorträgen, in denen ich zu einem Publikum sprach, das ausserhalb der Theosophischen Gesellschaft stand und das zu meinen Vorträgen nur wegen deren Inhalt kam.

Aus denjenigen Persönlichkeiten, die auf diese Art kennen lernten, was ich über die Geist-Welt zu sagen hatte, und aus denen, die aus der Betätigung mit irgend einer »theosophischen Richtung« den Weg zu dieser Art fanden, bildete sich im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft dasjenige heraus, was später Anthroposophische Gesellschaft wurde.

Man hat unter den mancherlei Anklagen, die man wegen meines Wirkens in der Theosophischen Gesellschaft gegen mich gerichtet hat – auch von seiten dieser Gesellschaft selbst – auch die erhoben, dass ich gewissermassen diese  Gesellschaft, die Geltung hatte in der Welt, als Sprungbrett benutzt hätte, um der eigenen Geist-Erkenntnis die Wege zu ebnen.

Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein. Als ich der Einladung in die Gesellschaft folgte, war diese die einzige ernst zu nehmende Institution, in der reales Geistesleben vorhanden war. Und wäre Gesinnung, Haltung und Wirken der Gesellschaft so geblieben, wie sie damals waren, mein und meiner Freunde Austritt hätte nie zu erfolgen gebraucht. Es hätte nur innerhalb der Theosophischen Gesellschaft die besondere Abteilung »Anthroposophische Gesellschaft« offiziell gebildet werden können.

Aber schon von 1906 ab machten sich in der Theosophischen Gesellschaft Erscheinungen geltend, die deren Verfall in erschreckendem Masse zeigten.

Wenn auch schon früher, zur Zeit von H. P. Blavatsky, solche Erscheinungen von der Aussenwelt behauptet wurden, so lag dafür im Beginne des Jahrhunderts die Tatsache vor, dass im Ernst der geistigen Arbeit von seiten der Gesellschaft gut gemacht war, was an Unrichtigkeiten vorgekommen ist. Diese Vorkommnisse waren ja auch umstritten.

Aber seit 1906 kamen in der Gesellschaft, auf deren Führung ich nicht den geringsten Einfluss hatte, Betätigungen vor, die an die Auswüchse des Spiritismus erinnerten und die nötig machten, dass ich immer mehr betonte, dass der Teil dieser Gesellschaft, der unter meiner Führung stand, mit diesen Dingen absolut nichts zu tun habe. Den Gipfel erreichten diese Betätigungen, als dann von einem Hinduknaben behauptet wurde, er sei die Persönlichkeit, in der Christus in neuem Erdenleben auftreten werde. Für die Verbreitung dieser Absurdität wurde eine besondere Gesellschaft in der Theosophischen gebildet, diejenige vom »Stern des Ostens«. Es war für mich und meine Freunde ganz unmöglich, die Mitglieder dieses »Sternes des Ostens« so als Glied in die deutsche Sektion hereinzunehmen, wie diese es wollten und wie vor allem Annie Besant als Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft das beabsichtigte. Und weil wir das nicht tun konnten, schloss man uns 1913 von der Theosophischen Gesellschaft aus. Wir waren genötigt, die Anthroposophische Gesellschaft als selbständige zu begründen.

Ich bin damit der Schilderung der Ereignisse in meinem Lebensgang weit vorausgeeilt; allein das war notwendig, weil nur diese späteren Tatsachen das richtige Licht werfen können auf die Absichten, die ich mit dem Eintritte in die Gesellschaft im Beginne des Jahrhunderts verband.

Ich habe, als ich 1902 zum ersten Male in London auf dem Kongresse der Theosophischen Gesellschaft sprach, gesagt: die Vereinigung, die die einzelnen Sektionen bilden, soll darin bestehen, dass eine jede nach dem Zentrum bringt, was sie in sich birgt; und ich betonte scharf, dass ich für die deutsche Sektion dies vor allem beabsichtige. Ich machte deutlich, dass diese Sektion niemals sich als Trägerin festgesetzter Dogmen, sondern als Stätte selbständiger geistiger Forschung betätigen werde, die sich bei den gemeinsamen Zusammenkünften der ganzen Gesellschaft über die Pflege echten Geisteslebens verständigen möchte.   

bottom of page