top of page

Zum Lesen des gesamten Kapitels in den Text klicken und dann mit Pfeiltasten oder Mausrolle navigieren.

Vorwort zur ersten Auflage

Was ich in dieser Schrift darstelle, bildete vorher den Inhalt von Vorträgen, die ich im verflossenen Winter in der theosophischen Bibliothek zu Berlin gehalten habe. Ich wurde von Gräfin und Grafen Brockdorff aufgefordert, über die Mystik vor einer Zuhörerschaft zu sprechen, der die Dinge eine wichtige Lebensfrage sind, um die es sich dabei handelt. – Vor zehn Jahren hätte ich es noch nicht wagen dürfen, einen solchen Wunsch zu erfüllen. Nicht als ob damals die Ideenwelt, die ich heute zum Ausdruck bringe, noch nicht in mir gelebt hätte. Diese Ideenwelt ist schon ganz in meiner »Philosophie der Freiheit« (Berlin, 1894, Emil Felber) enthalten. Um aber diese Ideenwelt so auszusprechen, wie ich es heute tue, und sie so zur Grundlage einer Betrachtung zu machen, wie es in dieser Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas ganz anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest überzeugt sein. Dazu gehört ein intimer Umgang mit dieser Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens bringen können. Erst jetzt, nachdem ich diesen Umgang genossen habe, wage ich, so zu sprechen, wie man es in dieser Schrift wahrnehmen wird.

Wer nicht unbefangen auf meine Ideenwelt eingeht, entdeckt in ihr Widerspruch über Widerspruch. Ich habe erst kürzlich ein Buch über die Weltanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts (Berlin 1900) dem grossen Naturforscher Ernst Haeckel gewidmet, und es in eine Rechtfertigung seiner Gedankenwelt ausklingen lassen. Ich spreche in den folgenden Ausführungen voll zustimmender Hingebung über dieMystiker vom Meister Eckhart bis Angelus Silesius. Von anderen »Widersprüchen«, die mir der oder jener noch vorzählt, will ich gar nicht sprechen. – Ich bin nicht verwundert darüber, wenn ich von der einen Seite als »Mystiker«, von der anderen als »Materialist« verurteilt werde. – Wenn ich finde, dass der Jesuitenpater Müller eine schwierige chemische Aufgabe gelöst hat, und ich ihm deshalb rückhaltlos in dieser Sache zustimme, so darf man mich wohl nicht als Anhänger des Jesuitismus verurteilen, ohne bei Einsichtigen als Tor zu gelten.

Wer gleich mir seine eigenen Wege wandelt, muss manches Missverständnis über sich ergehen lassen. Er kann das aber im Grunde leicht ertragen. Sind ihm solche Missverständnisse zumeist doch selbstverständlich, wenn er sich die Geistesart seiner Beurteiler vergegenwärtigt. Ich sehe nicht ohne humoristische Empfindungen auf manche »kritische« Urteile zurück, die ich im Laufe meiner Schriftstellerlaufbahn erfahren habe. Im Anfange ging die Sache. Ich schrieb über Goethe und in Anknüpfung an diesen. Was ich da sagte, klang manchem so, dass er es in seine Denkschablonen unterbringen konnte. Man tat das, indem man sagte: Es »darf eine Arbeit wie Rudolf Steiners Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes geradezu als das beste bezeichnet werden, was in dieser Frage überhaupt geschrieben worden ist.« Als ich später eine selbständige Schrift veröffentlichte, war ich schon um ein gut Teil dümmer geworden. Denn nun gab ein wohlmeinender Kritiker den Rat: »Bevor er weiter fortfährt, zu reformieren und seine ›Philosophie der Freiheit‹ in die Welt setzt, ist ihm dringend anzuraten, sich erst zu einem Verständnisse jener beiden Philosophen (Hume und Kant) hindurchzuarbeiten.« Der Kritiker kennt leider bloss, was er in Kant und Hume zu lesen versteht; er rät mir also im Grunde nur, mir bei diesen Denkern auch nichts weitervorzustellen wie er. Wenn ich das erreicht haben werde, wird er mit mir zufrieden sein. – Als nun meine »Philosophie der Freiheit« erschien, war ich einer Beurteilung wie der unwissendste Anfänger bedürftig. Sie liess mir ein Herr zu teil werden, den wohl kaum etwas anderes zum Bücherschreiben nötigt, als die Tatsache, dass er unzählige fremde – nicht verstanden hat. Er belehrt mich tiefsinnig, dass ich meine Fehler bemerkt hätte, wenn ich »tiefere psychologische, logische und erkenntnistheoretische Studien gemacht hätte«; und er zählt mir gleich die Bücher auf, die ich lesen soll, damit ich so klug werde wie er: »Mill, Sigwart, Wundt, Riehl, Paulsen, B. Erdmann«. – Besonders ergötzlich war mir der Rat eines Mannes, dem es so sehr imponiert, wie er Kant »versteht«, dass er sich gar nicht denken kann, jemand habe Kant gelesen und urteile doch anders als er. Er gibt mir daher gleich die betreffenden Kapitel in Kants Schriften an, aus denen ich ein ebenso tiefgründiges Kantverständnis schöpfen könne, wie er es hat.

Ich habe ein paar typische Beurteilungen meiner Ideenwelt hieher gesetzt. Obwohl sie an sich unbedeutend sind, scheinen sie mir doch geeignet zu sein, als Symptome auf Tatsachen zu weisen, die heute als schwere Hindernisse sich dem in den Weg stellen, der sich in den höheren Erkenntnisfragen schriftstellerisch betätigt. Ich muss schon meinen Weg gehen, gleichgültig, ob der eine mir den guten Rat gibt, Kant zu lesen; oder ob der andere mich verketzert, weil ich Haeckel zustimme. Und so habe ich denn auch über die Mystik geschrieben, gleichgültig darüber, was ein gläubiger Materialist auch urteilen mag. Ich möchte bloss – damit nicht ganz unnötig Druckerschwärze verschwendet werde – denjenigen, die mir vielleicht jetzt raten, Haeckels »Welträtsel« zu lesen, mitteilen, dass ich in den letzten Monaten etwa dreissig Vorträge über dieses Buch gehalten habe.

Ich hoffe in meiner Schrift gezeigt zu haben, dass man ein treuer Bekenner der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sein und doch die Wege nach der Seele aufsuchen kann, welche die richtig verstandene Mystik führt. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Nur wer den Geist im Sinne der wahren Mystik erkennt, kann ein volles Verständnis der Tatsachen in der Natur gewinnen. Man darf wahre Mystik nur nicht verwechseln mit dem »Mystizismus« verworrener Köpfe. Wie die Mystik irren kann, habe ich in meiner »Philosophie der Freiheit« S. 131 f. gezeigt.

Berlin, September 1901

Rudolf Steiner

  

bottom of page