top of page

Zum Lesen des gesamten Kapitels in den Text klicken und dann mit Pfeiltasten oder Mausrolle navigieren.

I. Der Charakter der Anthroposophie

Den Menschen zu betrachten, gilt einem seit den ältesten Zeiten vorhandenen Gefühle als der würdigste Zweig des menschlichen Forschens. Wer nun auf sich wirken läßt, was im Laufe der Zeiten als Erkenntnis der menschlichen Wesenheit zutage getreten ist, der kann leicht entmutigt werden. Eine Fülle von Meinungen bietet sich dar als Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch, und welches Verhältnis hat er zum Weltall? Die mannigfaltigsten Unterschiede zwischen diesen Meinungen treten dem Nachsinnen gegenüber. Es kann sich daraus die Empfindung ergeben, daß der Mensch zu solcher Forschung nicht berufen sei, und daß er darauf verzichten müsse, etwas zu erreichen, was dem genannten Gefühle Befriedigung gewähren kann.

Ist solche Empfindung berechtigt? Sie könnte es nur sein, wenn die Wahrnehmung verschiedener Ansichten über einen Gegenstand ein Zeugnis dafür wäre, daß der Mensch unfähig ist, etwas Wahres über den Gegenstand zu erkennen. Wer ein solches Zeugnis annehmen wollte, der müßte glauben, daß sich das ganze Wesen eines Gegenstandes auf einmal dem Menschen erschließen sollte, wenn von Erkenntnis überhaupt die Rede sein könne. Nun aber steht es mit der menschlichen Erkenntnis nicht so, daß sich ihr das Wesen der Dinge auf einmal ergeben kann. Es ist mit ihr vielmehr so, wie mit dem Bilde, das man zum Beispiel von einem Baume von einer gewissen Seite aus malt oder photographisch aufnimmt. Dieses Bild gibt das Aussehen des Baumes, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, in voller Wahrheit. Wählt man einen anderen Gesichtspunkt, so wird das Bild ganz anders. Und erst eine Reihe von Bildern, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus, kann durch das Zusammenwirken eine Gesamtvorstellung des Baumes geben.

So aber kann der Mensch auch nur die Dinge und Wesenheiten der Welt betrachten. Alles, was er über sie sagen kann, muß er als Ansichten sagen, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus gelten. So ist es nicht bloß bei der sinnenfälligen Beobachtung der Dinge, so ist es auch im Geistigen. Man darf sich in bezug auf das letztere nur nicht durch obigen Vergleich beirren lassen und sich etwa für die Verschiedenheit der Gesichtspunkte eine Vorstellung machen, die mit etwas Räumlichem zu tun hat. – Jede Ansicht kann eine wahre sein, wenn sie treu das Beobachtete wiedergibt. Und sie ist erst dann widerlegt, wenn nachgewiesen ist, daß ihr eine andere berechtigterweise widersprechen darf, welche von demselben Gesichtspunkte aus gegeben ist. Ein Unterschied hingegen von einer Ansicht, die von einem anderen Gesichtspunkt aus gegeben ist, besagt in der Regel nichts. Wer diese Sache so faßt, der ist gegen den leichtwiegenden Einwand geschützt, daß jede Meinung bei solcher Auffassung gerechtfertigt erscheinen müsse. So wie das Bild eines Baumes eine ganz bestimmte Gestalt haben muß von Einem Gesichtspunkte aus, so muß auch eine geistige Ansicht von Einem Gesichtspunkte aus eine solche haben. Doch aber ist klar, daß man einen Fehler in der Ansicht erst nachweisen kann, wenn man sich über den Gesichtspunkt klar ist, von welchem aus sie gegeben ist.

Man käme in der Welt menschlicher Meinungen viel besser zurecht, als es vielfach geschieht, wenn man dieses immer berücksichtigen wollte. Man würde dann gewahr werden, wie die Unterschiede der Meinungen in vielen Fällen nur von der Verschiedenheit der Gesichtspunkte herrühren. Und nur durch verschiedene wahre Ansichten kann man sich dem Wesen der Dinge nähern. Die Fehler, die in dieser Richtung gemacht werden, rühren nicht davon her, daß die Menschen verschiedene Ansichten sich bilden, sondern sie ergeben sich, wenn ein jeder seine Ansicht als die alleinberechtigte ansehen möchte.

Ein Einwand gegen alles dieses bietet sich leicht dar. Man könnte sagen, der Mensch solle, wenn er die Wahrheit darstellen will, nicht eine Ansicht geben, sondern sich über mögliche Ansichten zu einer Gesamtauffassung eines entsprechenden Dinges erheben. Diese Forderung mag annehmbar klingen. Erfüllbar aber ist sie nicht. Denn, was ein Ding ist, muß eben von verschiedenen Gesichtspunkten aus gekennzeichnet werden. Das gewählte Bild von dem Baume, der von verschiedenen Gesichtspunkten aus gemalt wird, scheint zutreffend. Wer es verschmähen wollte, sich an die verschiedenen Bilder zu halten, um ein Gesamtbild zu gewinnen, der könnte ja vielleicht etwas ganz Verschwommenes, Nebelhaftes hinmalen; aber es läge in solch verschwommenem Bilde doch keine Wahrheit. So ist auch keine Wahrheit durch eine Erkenntnis zu gewinnen, welche mit einem Blicke den Gegenstand umspannen will, sondern allein durch die Zusammenfassung der wahren Ansichten, welche von verschiedenen Standpunkten aus gegeben werden. Der menschlichen Ungeduld mag dieses wenig entsprechen; es entspricht aber den Tatsachen, welche man erkennen lernt, wenn man ein inhaltvolles Erkenntnisstreben entwickelt.

Weniges kann so stark zu echter Schätzung der Wahrheit führen als solches Erkenntnisstreben. Und echt darf diese Schätzung deshalb genannt werden, weil sie nicht Kleinmut im Gefolge haben kann. Sie führt nicht zur Verzweiflung an dem Wahrheitsstreben, weil sie die Wahrheit als solche in der Beschränkung anerkennt; sie schützt aber vor dem inhaltlosen Hochmut, welcher in seinem Wahrheitsbesitze das umfassende Wesen der Dinge zu umschließen glaubt.

Wer solches genügend berücksichtigt, der wird begreiflich finden, daß insbesondere Erkenntnis des Menschen so angestrebt werden sollte, daß man sich dessen Wesen von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu nähern versucht. Ein solcher Gesichtspunkt soll für die folgenden Andeutungen gewählt werden. Er soll als ein solcher charakterisiert werden, der zwischen zwei anderen gleichsam in der Mitte liegt. Und es soll nicht etwa behauptet werden, daß es neben den dreien, welche hier berücksichtigt werden, nicht noch – viele – andere Gesichtspunkte gäbe. Doch sollen die drei als besonders charakteristische hier ausgewählt werden.

Der erste Gesichtspunkt, der in solcher Beziehung in Betracht kommt, ist derjenige der Anthropologie. Diese Wissenschaft sammelt, was sich der sinnenfälligen Beobachtung über den Menschen ergibt und sucht aus den Ergebnissen ihrer Beobachtung Aufschlüsse über dessen Wesen zu erhalten. Sie betrachtet z. B. die Einrichtung der Sinnesorgane, die Gestalt des Knochenbaues, die Verhältnisse des Nervensystems, die Vorgänge der Muskelbewegung usw. Sie dringt durch ihre Methoden in den feineren Bau der Organe ein und sucht die Bedingungen kennen zu lernen des Empfindens, des Vorstellens usw. Sie erforscht auch die Ähnlichkeit des Menschenwesens mit dem tierischen und sucht eine Vorstellung des Verhältnisses zu gewinnen, in welchem der Mensch zu anderen Lebewesen steht. Sie geht weiter und untersucht die Lebensverhältnisse der Naturvölker, die gegenüber den zivilisierten Völkern in der Entwickelung zurückgeblieben erscheinen. Von dem, was sie bei solchen Völkern beobachtet, macht sie sich Vorstellungen darüber, wie die entwickelteren Völker einmal waren, welche über den Bildungsgrad hinausgeschritten sind, auf dem jene stehen geblieben sind. Sie erforscht die Reste der Menschen der Vorzeit in den Schichten der Erde und bildet Begriffe darüber, wie die Kulturentwickelung fortgeschritten ist. Sie untersucht den Einfluß des Klimas, der Meere, sonstiger geographischer Verhältnisse auf das menschliche Leben. Sie sucht eine Ansicht zu gewinnen über die Bedingungen der Rassenentwickelung, des Völkerlebens, über die Rechtsverhältnisse, die Gestaltung der Schrift, der Sprachen usw. Es wird der Name Anthropologie hier von der gesamten physischen Menschenkunde gebraucht; es wird zu ihr nicht nur das gerechnet, was man oft in engerem Sinne zu ihr zählt, sondern auch Morphologie, Biologie usw. des Menschen.

Die Anthropologie hält sich gegenwärtig in der Regel innerhalb der Grenzen, die man heute als diejenigen der naturwissenschaftlichen Methoden ansieht. Ein gewaltiges Tatsachenmaterial ist durch sie zusammengetragen worden. Trotz der verschiedenen Vorstellungsarten, in welchen dieses Material zusammengefaßt wird, liegt in demselben etwas vor, das in der segensreichsten Art auf die Erkenntnis der menschlichen Wesenheit wirken kann. Und fortwährend mehrt sich dieses Material. Es entspricht den Anschauungen der Gegenwart, große Hoffnungen auf dasjenige zu setzen, was von dieser Seite an Aufhellung der Menschenrätsel gewonnen werden kann. Und es ist ganz selbstverständlich, daß viele den Gesichtspunkt der Anthropologie für ebenso sicher halten, wie sie den nächsten, der hier zu charakterisieren ist, für einen zweifelhaften ansehen müssen.

 Dieser andere Gesichtspunkt ist derjenige der Theosophie. Ob diese Bezeichnung glücklich oder unglücklich gewählt ist, das soll hier nicht untersucht werden. Es soll nur ein zweiter Gesichtspunkt in bezug auf die Menschenbetrachtung dem anthropologischen gegenüber gekennzeichnet werden. Theosophie geht davon aus, daß der Mensch vor allem ein geistiges Wesen ist. Und sie sucht ihn als solches zu erkennen. Sie hat im Auge, daß die menschliche Seele nicht nur wie in einem Spiegel die sinnenfälligen Dinge und Vorgänge zeigt und diese verarbeitet, sondern daß sie ein eigenes Leben zu führen vermag, welches seine Anregungen und seinen Inhalt von einer Seite her erhält, die man geistig nennen kann. Sie beruft sich darauf, daß der Mensch in ein geistiges Gebiet eindringen kann, wie er in ein sinnenfälliges dringt. In dem letzteren erweitert sich die Erkenntnis des Menschen dadurch, daß er seine Sinne auf immer mehr Dinge und Vorgänge richtet, und auf Grund dieser sich seine Vorstellungen bildet. In dem geistigen Gebiet schreitet die Erkenntnis allerdings anders vor. Die Beobachtungen werden da in innerem Erleben gemacht. Ein sinnenfälliger Gegenstand stellt sich vor den Menschen hin; ein geistiges Erlebnis steigt im Innern auf, wie aus dem Mittelpunkte der menschlichen Wesenheit selbst sich erhebend. Solange der Mensch den Glauben hegt, daß solches Aufsteigen nur eine innere Angelegenheit der Seele sein kann, solange muß ihm Theosophie höchst zweifelhaft sein. Denn es liegt solcher Glaube gar nicht ferne jenem andern, der annimmt, daß solche Erlebnisse doch nur weitere innere Verarbeitungen des sinnenfällig Beobachteten seien. Es ist nur möglich, in solchem Glauben zu verharren, solange man sich noch nicht durch zwingende Gründe die Überzeugung verschafft hat, daß von einem gewissen Punkte an die inneren Erlebnisse ebenso wie die sinnenfälligen Tatsachen durch etwas bestimmt werden, was der menschlichen Persönlichkeit gegenüber eine Außenwelt ist. Hat man sich diese Überzeugung verschafft, dann muß man eine geistige Außenwelt ebenso anerkennen, wie man eine physische anerkennt. Und man wird sich dann klar sein können darüber, daß der Mensch in bezug auf sein Geistiges mit einer geistigen Welt zusammenhängt, wie er durch sein Physisches in einer physischen wurzelt. Man wird es dann auch begreiflich finden, daß zur Erkenntnis des Menschen Materialien aus dieser geistigen Welt entnommen werden können, wie die Anthropologie für den physischen Menschen Materialien aus der physischen Beobachtung entnimmt. Man wird dann die Möglichkeit einer Forschung in der geistigen Welt nicht mehr bezweifeln. – Der Geistesforscher bildet sein seelisches Erleben so um, daß die geistige Welt in seine seelischen Erlebnisse eintritt. Er gestaltet gewisse seelische Erlebnisse so, daß in ihnen diese geistige Welt sich offenbart. (Wie das geschieht, hat der Schreiber dieser Skizze in seiner Schrift dargestellt: ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ Berlin, Philosophisch-theosophischer Verlag.) Man kann dieses so gestaltete Seelenleben dasjenige durch ›hellsichtiges Bewußtsein‹ nennen. Nur muß man von diesem Begriffe all den Unfug ferne halten, welcher in der Gegenwart mit dem Worte ›Hellsehen‹ getrieben wird.

So zu innerem Erleben zu kommen, daß sich der Seele diese oder jene Tatsachen der geistigen Welt unmittelbar offenbaren, erfordert lange, entsagungsvolle, mühsame Seelenverrichtungen. Es wäre aber ein verhängnisvolles Vorurteil, wenn man glauben wollte, daß nur für denjenigen die seelischen Erlebnisse Früchte tragen können, der sie durch solche Seelenverrichtungen unmittelbar erlebt. Es verhält sich damit ganz anders. Wenn durch die entsprechenden Seelenverrichtungen die geistigen Tatsachen zur Offenbarung gekommen sind, dann sind sie für die Menschenseele gleichsam erobert. Teilt sie der Geistesforscher mit, nachdem er sie gefunden, dann können sie jedem Menschen einleuchten, der mit gesundem Wahrheitssinn und unbefangener Logik auf sie hinhört. Man sollte nicht glauben, daß nur ein hellsichtiges Bewußtsein eine begründete Überzeugung von den Tatsachen der geistigen Welt haben kann. Jede Seele ist darauf gestimmt, die Wahrheit des von dem Geistesforscher Gefundenen anzuerkennen. Will der Geistesforscher etwas behaupten, was unwahr ist, dann wird dies durch die Ablehnung des gesunden Wahrheitssinnes und der unbefangenen Logik immer festzustellen sein.

Das unmittelbare Erleben der geistigen Erkenntnisse erfordert komplizierte Seelenwege und Seelenverrichtungen; der Besitz solcher Erkenntnisse ist für jede Seele notwendig, welche ein volles Bewußtsein ihrer Menschlichkeit haben will. Und ohne ein solches Bewußtsein ist ein menschliches Leben von einem bestimmten Punkte des Daseins an nicht mehr möglich.

Wenn nun auch die Theosophie Erkenntnisse zu liefern vermag, welche den wichtigsten Bedürfnissen der Menschenseele Befriedigung gewähren, und welche durch den natürlichen Wahrheitssinn und durch die gesunde Logik anerkannt werden können: so wird doch immer eine gewisse Kluft bleiben zwischen ihr und der Anthropologie. Es wird zwar immer folgendes möglich sein. Man wird die Ergebnisse der Theosophie über die geistige Wesenheit des Menschen aufzeigen können und dann in der Lage sein, darauf hinzuweisen, wie die Anthropologie alles bestätigt, was die Theosophie sagt. Doch wird von dem einen zu dem anderen Erkenntnisgebiete ein weiter Weg sein.

Es ist aber möglich, die Kluft auszufüllen. In einer gewissen Beziehung soll dies hier durch die Skizzierung einer Anthroposophie geschehen. Wenn Anthropologie sich vergleichen läßt mit den Beobachtungen eines Wanderers, welcher in der Ebene von Ort zu Ort, von Haus zu Haus geht, um eine Vorstellung von dem Wesen eines Landstriches zu gewinnen; wenn Theosophie dem Überblick gleicht, den man von dem Gipfel einer Anhöhe über denselben Landstrich gewinnt: so soll Anthroposophie verglichen werden dem Anblick, den man haben kann von dem Abhange der Anhöhe, wo das Einzelne noch vor Augen steht, doch sich aber das Mannigfaltige schon zu einem Ganzen zusammenzuschließen beginnt.

Anthroposophie wird den Menschen betrachten, wie er sich vor die physische Beobachtung hinstellt. Doch wird sie die Beobachtung so pflegen, daß aus der physischen Tatsache der Hinweis auf einen geistigen Hintergrund gesucht wird. So kann Anthroposophie aus der Anthropologie in die Theosophie hinüberleiten.

Ausdrücklich soll bemerkt werden, daß hier nur eine ganz kurze Skizze der Anthroposophie gezeichnet werden soll. Eine ausführliche Darstellung nähme vieles in Anspruch. Die Skizze ist so gedacht, daß sie nur das Leibliche des Menschen berücksichtigt, insofern dieses Offenbarung des Geistigen ist. Und in diesen Grenzen ist die Anthroposophie im engeren Sinne gemeint. An sie muß sich dann reihen eine Psychosophie, welche das Seelische betrachtet, und eine Pneumatosophie, die sich mit dem Geist beschäftigt. Damit mündet dann Anthroposophie in die Theosophie selbst ein.

   

AN, 1-16

anhören

bottom of page