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An die Mitglieder.

 

I

Die Weihnachtstagung zur Begründung der allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft kann ihren Inhalt nicht allein in dem haben, was die während ihrer Dauer am Goetheanum versammelten Mitglieder erlebt haben. Nur wenn man überall, wo man Anthroposophie liebt, in der Zukunft empfinden wird: es ist durch die Ausführung dessen, was durch diese Tagung angeregt worden ist, neues anthroposophisches Leben gekommen, wird dieser Inhalt wirklich da sein. Wenn dies nicht sein würde, hätte diese Tagung ihre Aufgabe nicht erfüllt. So sprachen wohl auch die Gefühle derjenigen, die Teilnehmer waren.

Mehr als zwei Jahrzehnte ist das anthroposophische Leben gepflegt worden. Diejenigen Persönlichkeiten, die sich in den bisher bestehenden Formen zu diesem Leben zusammengeschlossen haben, werden, wenn sie ihre Erfahrungen sprechen lassen, verstehen, warum vom Goetheanum aus versucht worden ist, einen neuen Impuls zu geben.

Aus kleinen Anfängen ist das anthroposophische Streben heraus gewachsen. Wenige Menschen haben sich innerhalb des Rahmens der Theosophischen Gesellschaft zur Teilnahme an dem zusammengefunden, was in der besonderen Gestalt der Anthroposophie vor sie hintrat. Kennen lernen wollten sie zunächst diese Anthroposophie und für das Leben fruchtbar sein lassen. In kleinen Kreisen und in kleinen öffentlichen Veranstaltungen wurde über die geistige Welt, über das Wesen des Menschen und über die Art, wie man zur Erkenntnis von beiden kommt, gesprochen. Kaum kümmerte sich jemand, der nicht an den Veranstaltungen teilgenommen hat, um das, was da vorgebracht wurde. Und von denjenigen, die teilnahmen, fanden viele, was ihre Seelen aus tiefster Sehnsucht suchten. Dann wurden sie entweder treue, stille Anteilnehmer oder mehr oder weniger enthusiastische Mitarbeiter. Andere fanden es nicht und blieben, als sie dies bemerkten, weg. Alles ging in Ruhe und ohne Störung von aussen vor sich.

Viele Jahre hindurch ist es so gewesen. Es wurden die grundlegenden Geistes- und Seelen-Einsichten gepflegt. Man konnte in dieser Pflege sehr weit gehen. Für Persönlichkeiten, die längere Zeit mit der Anthroposophie sich beschäftigt hatten, konnte eine Gelegenheit geschaffen werden, durch die sie von den grundlegenden zu den höheren Wahrheiten aufsteigen konnten. Dadurch wurde als Anthroposophie etwas begründet, das nicht nur ein geisteswissenschaftliches Erkenntnissystem, sondern etwas Lebendiges in den Herzen vieler Menschen war.

Doch Anthroposophie geht bis an die Wurzel des Menschendaseins. Und sie findet sich in dieser Wurzel zusammen mit allem, was im Erleben und Schaffen der Menschen erwächst. Deshalb war es naturgemäss, dass sie ihre Betätigung nach und nach über die mannigfaltigsten Gebiete des Erlebens und Schaffens ausdehnte.

Ein Anfang wurde mit dem Künstlerischen gemacht. In Mysterienaufführungen wurde künstlerisch gestaltet, was die geistgemässe Anschauung von Welt und Menschen offenbarte. Zahlreichen Mitgliedern war es befriedigend, im künstlerischen Bilde wieder zu empfangen, was sie vorher ohne äusseres Bild, nur im Gemüte, aufgenommen hatten.

Auch dies konnte geschehen, ohne dass sich andere Menschen als die unmittelbar Beteiligten viel darum kümmerten.

Da wurde von enthusiastischen und opferwilligen Anteilnehmern an der Anthroposophie der Plan gefasst, dieser eine eigene Heimstätte zu schaffen. 1913 konnte der Grundstein zu dieser, die später Goetheanum genannt wurde, gelegt werden. In den darauffolgenden Jahren wurde sie gebaut.

Ein anderes kam hinzu. In der anthroposophischen Gesellschaft hatten sich allmählich Persönlichkeiten eingefunden, deren Lebensaufgabe die Pflege des einen oder des andern wissenschaftlichen Gebietes war. Gewiss, der ursprüngliche Beweggrund ihres Anschlusses an die Gesellschaft war auch für diese Persönlichkeiten das allgemeine menschliche Seelen- und Herzensbedürfnis. Sie wollten in ihrer Seele die Wege finden, die diese an das Licht des Geistes heranführen. ‒ Aber ihr wissenschaftlicher Entwicklungsgang hatte sie auch dazu geführt, einzusehen, dass die herrschenden Anschauungen überall, wo entscheidende Erkenntnisse zu einem brennenden Bedürfnis des Menschen werden, versagen, weil sie an tote Punkte kommen. Sie mussten erfahren, dass man die Wissenschaften überall da fortsetzen könne, wo sie nach den bisherigen Methoden in das Nichtige auslaufen, wenn man sie durch Anthroposophie befruchtet. — Und so entstand anthroposophische Arbeit auf den mannigfaltigsten wissenschaftlichen Gebieten.

Durch das Goetheanum und durch die wissenschaftliche Arbeit war die anthroposophische Gesellschaft so vor die Welt hingestellt, dass deren vorherige ruhige und störungsfreie Entwicklung aufhörte. Man wurde auf Anthroposophie aufmerksam. Man fing ausserhalb ihrer eigenen Kreise an, zu fragen, was an ihr richtig und heilsam ist. Es konnte nicht ausbleiben, dass sich Menschen fanden, welche mit ihrem Urteile an anderem hingen als was Anthroposophie zeigte, oder die ihr Leben mit etwas verbunden hatten, das im Lichte der Anthroposophie nicht so erschien, wie sie es haben wollten. Diese fingen nun an, Anthroposophie von ihren Gesichtspunkten und Lebensinhalten aus zu beurteilen.

Was nun daraus in ganz kurzer Zeit entstand, darauf war die anthroposophische Gesellschaft nicht vorbereitet. In ihr ist ruhig gearbeitet worden. Und in der ruhigen Arbeit fanden weitaus die meisten der Mitglieder ihre volle Befriedigung. Es war alles, was sie glaubten, leisten zu sollen neben den Aufgaben, die ihnen ihr Platz im äusseren Leben zugewiesen hatte.

Und wer könnte diesen Mitgliedern auch nur im geringsten Unrecht geben, wenn sie in dieser Art denken? Menschen, die unbefriedigt sich von anderem abwenden, und zur Anthroposophie kommen, wollen naturgemäss in ihr das Positive der Geisterkenntnis und des geistigen Lebens finden. Sie fühlen sich in ihrem Suchen gestört, wenn sie von allen Seiten von Kämpfen gegen die Anthroposophie berührt werden.

Es ist schon so, dass die ernste Frage für die anthroposophische Gesellschaft entstanden ist: wie ist in der Art, die für wahre Pflege des Geisteslebens notwendig ist, diese Pflege weiterzuführen, trotzdem die Zeit vorüber ist, in der sich um Anthroposophie niemand ausser den Anteilnehmenden kümmerte? Vor der Leitung des Goetheaneums gestaltete sich eine der Fragen, die für sie in Betracht kommen, so: Ist vielleicht nötig sich zu gestehen, dass von der anthroposophischen Gesellschaft noch mehr Anthroposophie erarbeitet werde, als bisher geschehen ist? Und wie kann dies geschehen ?

Von diesen Fragen ausgehend, möchte ich in der folgenden Nummer dieses Nachrichtenblattes meine »Ansprache an die Mitglieder« fortsetzen. (Fortsetzung in nächster Nummer.)

 

 

II

Für Menschen soll Anthroposophie da sein, die in ihrer Seele die Wege zum geistigen Erleben suchen. Und wenn die anthroposophische Gesellschaft ihre Aufgabe erfüllen will, dann muss sie den suchenden Seelen dienen können. Sie muss als Gesellschaft selbst das rechte Verhältnis zur Anthroposophie finden.

Anthroposophie kann nur als etwas Lebendiges gedeihen. Denn der Grundzug ihres Wesens ist Leben. Sie ist aus dem Geiste fliessendes Leben. Deshalb will sie von der lebendigen Seele, von dem warmen Herzen gepflegt sein.

Die Urform, in der sie unter Menschen auftreten kann, ist die Idee; und das erste Tor, an das sie sich bei Menschen wendet, ist die Einsicht. Wäre das nicht so, sie hätte keinen Inhalt. Sie wäre blosse Gefühlsschwärmerei. Aber der wahre Geist schwärmt nicht; er spricht eine deutliche, inhaltvolle Sprache.

Aber diese Sprache ist eine solche, die nicht allein den Verstand sondern den ganzen Menschen ergreift. Wer nur mit dem Verstande Anthroposophie aufnimmt, der tötet sie in seinem Aufnehmen. Er findet dann vielleicht, dass sie »kalte Wissenschaft« sei. Aber er bemerkt nicht, dass sie erst durch den Empfang, den er ihr in seiner Seele bereitet hat, ihr warmes Leben verloren hat.

Anthroposophie muss sich, wenn sie in unserer Gegenwart ein Dasein haben will, der Mittel der gegenwärtigen Zivilisation bedienen. Sie muss in Büchern und im Vortrage ihren Weg zu den Menschen finden. Allein sie ist, ihrem Wesen nach, keine Sache für Bibliotheken. Sie muss jedesmal neu erstehen, wenn das Menschenherz sich an das Buch wendet, um von ihr zu erfahren. Das wird nur sein können, wenn das Buch so geschrieben ist, dass der Mensch beim Schreiben in die Herzen der Mitmenschen geschaut hat, um wissen zu können, was er ihnen zu sagen hat. Das wird aber auch nur sein können, wenn der Mensch beim Schreiben von dem Leben des Geistes berührt ist, und wenn er dadurch in die Lage kommt, dem toten Schreibworte anzuvertrauen, was die nach dem Geistigen suchende Seele des Lesers als ein Wiedererstehen des Geistes aus dem Worte empfinden kann. Nur Bücher, die im lesenden Menschen lebendig werden können, sind anthroposophische Bücher.

Noch weniger als das tote Buch selbst, verträgt die Anthroposophie das in der Menschenrede zum Scheinleben gewordene Buch. Unsere Gegenwartzivilisation ist in vielen Gebieten so, dass Lesen eines Buches oder Aufsatzes und Anhören eines Menschen als etwas Gleichartiges erscheinen. Man lernt, indem man einem Menschen zuhört, nicht den Menschen kennen, sondern das, was er gedacht hat und was ebensogut geschrieben sein kann.

Anthroposophie verträgt nicht, dass sie restlos von dieser Art aufgesogen werde. Wer Anthroposophie von einem Menschen hört, der will den Menschen in all seinem ursprünglichen Wesen vor sich haben, nicht einen gesprochenen Aufsatz.

Deshalb kann Anthroposophie, wenn sie auch als Literatur notwendig leben muss, jedesmal wie neu geboren werden, wenn sie in einer Gruppe von Menschen im Worte den Weg zu den Seelen sucht. Aber sie wird da nur neu geboren werden, wenn der Mensch zum Menschen spricht, nicht der aufgenommene Gedanke.

Anthroposophie kann deshalb ihre Wege auch nicht durch ein gewöhnliches Agitieren finden, wenn dieses auch mit gutem Willen getrieben wird. Agitation tötet die wahre Anthroposophie. Diese muss auftreten, weil sie vom Geiste zu ihrem Auftreten geführt wird. Sie muss ihr Leben erweisen, weil alles Leben nur im Dasein sich offenbaren kann. Aber sie darf mit ihrem Dasein niemanden bedrängen. Sie muss warten, ob jemand kommt, der sie aufnehmen will. Einen Zwang auch nur durch Überredung gegenüber den Menschen darf sie nicht kennen.

Solche Gesinnung, das möchte ich als etwas, das aus der Weihnachtstagung hervorgehen muss, den Mitgliedern als etwas besonders Notwendiges hinstellen. Wir sind mit vielem auf Widerstand gestossen, weil solche Gesinnung nicht immer rein in den Herzen gelebt hat. Oft, auch wenn wir uns solcher Gesinnung befleissigten, konnten wir sie in der Prägung der Worte nicht festhalten. Und schon in unseren Worten muss tönen, was nicht agitatorischüberreden, sondern was allein dem Geiste Ausdruck verleihen will.

Von solcher Gesinnung getragene Anthroposophie wird mehr sein, als was bisher in unseren Gruppen oft von Anthroposophie gelebt hat. Das Goetheanum möchte allein aus dieser Gesinnung heraus wirken. Es hat sich den uns entrissenen Bau in solchen künstlerischen Formen errichtet, die schon für sich diese Gesinnung offenbarten. Wenn sich in das untergegangene Goetheanum ein Wort verirrte, das agitatorisch tönte, so gab es einen schrillen Missklang zwischen ihm und den Bauformen. Wenn das Goetheanum neu ersteht, so wird es nur dann eine Wahrheit sein, wenn die anthroposophische Gesellschaft überall ein lebendiger Zeuge seiner Wahrheit wird sein wollen.

Man darf gerade auf dem Boden der Anthroposophie nicht glauben, dass wirksam nur das sein kann, dem man die Wirksamkeit künstlich aufprägt. Was aus dem Wesen seines eigenen Geistes heraus lebt, das kann warten, bis die Welt seine Wirksamkeit aufnehmen will.

Wenn in jeder Gruppe der Anthroposophischen Gesellschaft diese Gesinnung lebt, dann wird der Geist der Anthroposophie auch hinauswirken dahin, wo es unsere Pflicht ist, vor die Welt Anthroposophie hinzutragen. Wir dürfen nicht uns mit dem Flitter der Geheimnistuerei umgeben. Die Gegenwart verträgt solchen Flitter nicht. Sie will wirken in voller Öffentlichkeit. Das »Geheimnis« liegt nicht in der Geheimnistuerei, sondern in dem innerlichen Ernste, mit dem in jedem Herzen Anthroposophie neu erlebt werden muss. Sie kann nicht auf äusserliche Art übertragen werden. Sie kann nur in innerem Erleben von der Seele erfasst werden. Dadurch wird sie zum »Geheimnis«, das jedesmal im Verständnis neu entsiegelt werden muss. Begreift man diese Art von »Geheimnis«, so wird man auch die rechte »esoterische« Gesinnung in seiner Seele tragen. (Fortsetzung in nächster Nummer.)

 

III

Es ist in nicht wenigen Fällen vorgekommen, dass Persönlichkeiten die Mitgliedschaft der anthroposophischen Gesellschaft nur aus dem Grunde erworben haben, weil sie dadurch die Schriften kaufen konnten, die ausserhalb der Gesellschaft bisher unverkäuflich waren. Um das Leben in den Gruppen der Gesellschaft haben sich diese Mitglieder dann wenig gekümmert. Sie gingen ja wohl zunächst zu Mitgliederzusammenkünften; blieben aber nach kurzer Zeit weg und sagten: was da getrieben wird, fördert mich nicht. Ich komme besser zur Anthroposophie, wenn ich mich für mich allein mit ihr beschäftige.

Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass die Vorwürfe, die solche Persönlichkeiten den Mitgliederversammlungen machten, nicht immer begründet waren. Es lag nicht immer an diesen Versammlungen, sondern oft an den unmöglich zu befriedigenden Ansprüchen derer, die kein Verhältnis zu ihnen finden konnten.

Es ist eben leicht, zu sagen: dies oder jenes befriedigt mich nicht. Schwieriger ist es, dieses Nicht-Befriedigende in Ruhe zu bemerken und dann die nötigen Anstrengungen machen, um von sich aus zur Besserung beizutragen.

Aber andererseits ist kein Grund dazu vorhanden, die Tatsache zu verbergen, dass in den Mitgliederzusammenkünften manches anders sein sollte, als es ist.

Gerade bei solchen Zusammenkünften könnte sich eine bedeutsame Wahrheit bewähren. Wenn Menschen zusammen das Geistige in innerer Ehrlichkeit suchen, dann finden sie auch die Wege zueinander, von Seele zu Seele.

Diese Wege zu finden, ist gegenwärtig einer unbegrenzt grossen Anzahl von Menschen ein tiefes Herzensbedürfnis. Sie sagen: wenn die Anthroposophie die rechte Lebensanschauung ist, dann muss bei denen, die sich Anthroposophen nennen, dieses Herzensbedürfnis vorhanden sein. Dann aber müssen sie sehen, wie viele, die in den Mitgliedergruppen Anthroposophie als ihre theoretische Überzeugung vertreten, dieses Herzensbedürfnis nicht zeigen.

Anthroposophische Mitgliederversammlungen müssen es sich natürlich zur Aufgabe machen, den Inhalt der anthroposophischen Weltanschauung zu pflegen. Man liest und hört an dasjenige, was durch Anthroposophie an Erkenntnissen gewonnen ist. Wer das nicht einsieht, hat gewiss Unrecht. Denn um bloss über allerlei Meinungen zu debattieren, die man auch ohne Anthroposophie hat, dazu braucht man eben keine anthroposophische Gesellschaft. Aber wenn es beim blossen Vorlesen der anthroposophischen Schriften bleibt, oder auch, wenn Anthroposophie als blosse Lehre vorgetragen wird, dann ist es richtig, dass man dasselbe, was die Zusammenkünfte bringen, auch in aller Einsamkeit durch die Lektüre erreichen kann.

Jeder, der zu anthroposophischen Zusammenkünften geht, sollte das Gefühl haben, er finde da mehr, als wenn er bloss in Einsamkeit Anthroposophie treibt. Er sollte dahin gehen können, weil er da Menschen findet, mit denen zusammen er gerne Anthroposophie treiben will. In den Schriften über Anthroposophie findet man eine Weltanschauung. In den anthroposophischen Zusammenkünften sollte der Mensch den Menschen finden.

Auch wer noch so eifrig Anthroposophisches liest, der sollte ein freudiges, gehobenes Gefühl haben können, in eine Zusammenkunft von Anthroposophen zu gehen, weil er sich auf die Menschen freut, die er da findet. Er sollte sich auch dann freuen können, wenn er voraussetzen muss, dass er nichts anderes hört, als was er längst schon in sich aufgenommen hat.

Findet man in einer anthroposophischen Gruppe ein neu eingetretenes Mitglied, so sollte man es als altes Mitglied nicht bei der Befriedigung bewenden lassen, dass die Anthroposophie wieder einen neuen »Anhänger« gewonnen habe. Man sollte nicht bloss den Gedanken haben: jetzt ist wieder einer da, in den man Anthroposophie hineingiessen kann; sondern man sollte eine Empfindung für das Menschliche haben, das mit dem neuen Mitgliede in die anthroposophische Gruppe hereinkommt.

In der Anthroposophie kommt es auf die Wahrheiten an, die durch sie offenbar werden können; in der anthroposophischen Gesellschaft kommt es auf das Leben an, das in ihr gepflegt wird.

Es wäre von grösstem Übel, wenn in berechtigter Art die Meinung aufkommen könnte: Anthroposophie mag noch so wertvoll sein, wenn ich aber Menschen näherkommen will, dann gehe ich lieber anderswo hin, als wo Anthroposophen in Selbstzufriedenheit fanatisch mir nur ihre theoretischen Gedanken an den Kopf werfen wollen und sagen: wenn du nicht denkst wie ich, so bist du höchstens ein halber Mensch.

Viel aber kann zum berechtigten Aufkommen einer solchen Meinung beitragen auf der einen Seite das kalte, nüchterne Belehrenwollen, in das man leicht verfällt, wenn man die Wahrheit der Anthroposophie eingesehen hat. Auf der andern Seite aber steht das Esoterik-spielen, das manchen neu Eintretenden so stark abstösst, wenn er an die anthroposophischen Zusammenkünfte herantritt. Ein solcher findet Menschen, die geheimnisvoll damit tun, dass sie vieles wissen, was man denen, die »dazu noch nicht reif sind, nicht sagen kann«. Aber über der ganzen Rederei schwebt etwas Spielerisches. Esoterisches verträgt eben nur Lebensernst, nicht die eitle Befriedigung, die man an dem Beschwätzen hoher Wahrheiten haben kann. Deshalb muss noch lange nicht die Sentimentalität, die sich vor der Freude und der Begeisterung fürchtet, das Lebenselement im Zusammenleben der Anthroposophen sein. Aber das spielerische Sich-Zurückziehen vor dem »profanen Leben«, um »wahre Esoterik« zu treiben, das verträgt die anthroposophische Gesellschaft nicht. Das Leben enthält an allen Orten viel mehr Esoterisches, als sich oft diejenigen träumen lassen, die da sagen: da oder dort kann man nicht Esoterik treiben; man muss das in diesem oder jenem abgesonderten Zirkel tun. Gewiss sind solche Zirkel oft notwendig. Aber sie können spielerisches Wesen nicht vertragen. Sie müssen Stätten sein, von denen aus das Leben wirklich befruchtet werden kann. »Esoterische« Zirkel, die nur entstehen, um durch den mangelnden Ernst bald wieder zu verschwinden, können nur zerstörende Kräfte in die anthroposophische Gesellschaft tragen. Sie gehen nur allzu oft aus Cliquenbedürfnis hervor; und dieses bewirkt nicht, dass viel, sondern dass wenig anthroposophisches Leben in der Gesellschaft ist. Wenn es gelingt, dem innerlich Unwahren, das in vielem Reden über »Esoterik« bisher vorhanden war, entgegenzuwirken, so wird die wahre Esoterik in der anthroposophischen Gesellschaft eine rechte Stätte finden können. (Fortsetzung in nächster Nummer.)

IV

Es ist begreiflich, dass unter den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft eine verschiedene Auffassung herrscht über ihre Stellung zu dieser Gesellschaft. Wer in diese eintritt, kann die Auffassung haben, in ihr zu finden, was er aus den innersten Bedürfnissen seiner Seele heraus sucht. Und in diesem Suchen und dem Finden dessen, was ihm die Gesellschaft geben kann, findet dann ein solches Mitglied den Sinn seiner Mitgliedschaft. Ich habe schon angedeutet, dass gegen eine solche Auffassung im Grunde nichts eingewendet werden kann.

Denn die Gesellschaft kann wegen des Wesens der Anthroposophie nicht die Aufgabe haben, einen Kreis von Menschen zu vereinigen, denen sie bei ihrem Eintritte Pflichten auferlegt, die sie nicht schon vorher anerkannt haben, sondern nur um der Gesellschaft willen ausüben sollen. Pflichten kann im eigentlichen Sinne nur die Gesellschaft gegenüber den Mitgliedern haben.

Aber gerade dieses Selbstverständliche bewirkt ein anderes, das nicht immer in der richtigen Art angesehen, oft überhaupt nicht einmal bedacht wird.

Es erwächst nämlich sogleich für dasjenige Mitglied, das in irgendeiner Art tätig in der Gesellschaft für diese wird, eine grosse Verantwortlichkeit und ein ernster Pflichtenkreis. Wer zu einer solchen Tätigkeit nicht überzugehen die Absicht hat, dem sollte man seine stillen Kreise nicht stören. Wer aber in der Gesellschaft irgend etwas tun will, der darf nicht ausser acht lassen, dass er die Angelegenheiten der Gesellschaft zu seinen eigenen machen muss.

Will jemand ein stilles Mitglied sein, dann muss es an ihm begreiflich sein, wenn er z. B. sagt: ich kann mich nicht darum bekümmern, was die Gegner der Gesellschaft über diese sagen. Das hört sogleich auf, wenn er über den Kreis der stillen Anteilnahme hinaus geht. Dann erwächst ihm sogleich die Aufgabe, auf die Gegnerschaft hinzusehen und an der Anthroposophie und Gesellschaft das zu verteidigen, was an ihr in berechtigter Art zu verteidigen ist.

Dass dieser ganz notwendigen Tatsache nicht immer Rechnung getragen worden ist, war der Gesellschaft nicht förderlich. Es muss die Mitglieder, die von der Gesellschaft mit allem guten Recht fordern können, dass sie ihnen zunächst gibt, was sie ihnen verspricht, sonderbar berühren, wenn man sogleich von ihnen denselben Pflichtenkreis verlangt, den diejenigen sich auferlegen müssen, welche diese Versprechungen machen.

Wenn man von Pflichten der Mitglieder im Hinblick auf die Gesellschaft redet, so kann sich dieses also nur auf die tätig sein wollenden Mitglieder beziehen. Das soll natürlich nicht verwechselt werden mit dem Sprechen von Verpflichtungen der Menschen als solchen, das aus der Anthroposophie selbst heraus sich ergibt. Diese Dinge werden aber immer den ganz allgemeinen menschlichen Charakter tragen und nur den Anschauungskreis darüber so erweitern, wie sich das aus der Einsicht in die geistige Welt ergibt. Redet die Anthroposophie von solchen Verpflichtungen, so kann sie damit nie meinen, dass man damit etwas nur für die Anthroposophische Gesellschaft Verbindliches sagt, sondern etwas, das sich aus der recht verstandenen Menschenwesenheit als solcher ergibt.

Aber gerade deswegen, weil aus dem Wesen der Anthroposophischen Gesellschaft für die in ihr tätigen Mitglieder der Pflichtenkreis erwächst, sollte dieser so ernst wie möglich genommen werden. Wer zum Beispiele als Mitglied der Gesellschaft anderen die Einsichten der Anthroposophie überliefern will, dem erwachsen sogleich diese Pflichten, wenn er über den allerengsten stillen Kreis einer solchen Belehrung hinausgeht. Ein solcher wird sich klar sein müssen über die allgemeine geistige Lage der Menschen in der gegenwärtigen Zeit. Er wird von der Aufgabe der Anthroposophie eine deutliche Vorstellung haben müssen. Er wird, so viel ihm dies auch nur möglich ist, sich in Zusammenhang halten müssen mit den andern tätigen Mitgliedern der Gesellschaft. Eine solche Persönlichkeit wird weit davon entfernt sein müssen, zu sagen: es erregt mein Interesse nicht, wenn die Anthroposophie und ihre Träger von Gegnern in einem falschen Lichte dargestellt, oder sogar verleumdet werden.

Der Vorstand, der bei der Weihnachtstagung gebildet worden ist, fasst seine Aufgabe so auf, dass er dem hier Ausgesprochenen innerhalb der Gesellschaft zur Verwirklichung verhelfen will. Und er kann nicht anders als alle tätig sein wollenden Mitglieder darum zu bitten, sich zu Mithelfern dieser seiner Absichten zu machen.

Nur dadurch kann erreicht werden, dass die Gesellschaft ihrer gesamten Mitgliedschaft und damit auch der Welt das halten kann, was sie verspricht.

Es ist z.B. wirklich betrüblich, wenn man die folgende Erfahrung macht: Es kommt innerhalb der Gesellschaft vor, dass sich an einem Orte tätig sein wollende Mitglieder von Zeit zu Zeit über die Angelegenheiten der Gesellschaft besprechen. Sie halten zu diesem Zwecke Versammlungen ab. Wenn man dann mit den einzelnen Persönlichkeiten, die bei diesen Versammlungen sitzen, spricht, so bemerkt man, dass sie in Wirklichkeit übereinander, über ihre Tätigkeiten für die Gesellschaft usw. Ansichten haben, die bei den Versammlungen gar nicht zur Sprache kommen. Man kann erfahren, dass irgend jemand gar keine Ahnung hat, wie die oft mit ihm Vereinten über seine Tätigkeit denken. Dergleichen in bessere Bahnen zu bringen, müsste ganz unbedingt aus dem Impuls folgen, den die Weihnachtstagung gegeben hat. Die tätig sein wollenden Mitglieder vor allen müssten diesen Impuls zu verstehen suchen.

Man hört von solchen tätig sein wollenden Mitgliedern gar oft sagen: ich habe ja den guten Willen; aber ich weiss eben nicht, was das Richtige ist. Man sollte über diesen »guten Willen« doch nicht eine allzu bequeme Ansicht haben. Man sollte sich doch immer wieder fragen: habe ich denn auch wirklich alle Wege gesucht, die sich in der Gesellschaft bieten, um das »Richtige« in der gutwilligen Zusammenarbeit mit andern zu finden? (Fortsetzung in nächster Nummer.)

V

Die anthroposophischen Leitsätzesind so aufzufassen, dass sie Ratschläge enthalten über die Richtung, welche die Vorträge und Besprechungen in den einzelnen Gruppen der Gesellschaft durch die führenden Mitglieder nehmen können. Es wird dabei nur an eine Anregung gedacht, die vom Goetheanum aus der gesamten Gesellschaft gegeben werden möchte. Die Selbständigkeit im Wirken der einzelnen führenden Mitglieder soll damit nicht angetastet werden. Es ist gut, wenn die Gesellschaft sich so entfaltet, dass in völlig freier Art in den einzelnen Gruppen zur Geltung kommt, was die führenden Mitglieder zu sagen haben. Dadurch wird das Leben der Gesellschaft bereichert und in sich mannigfaltig gestaltet werden.

Aber es sollte ein einheitliches Bewusstsein in der Gesellschaft entstehen können. Das kann geschehen, wenn man von den Anregungen, die an den einzelnen Orten gegeben werden, überall weiss. Deshalb werden hier in kurzen Sätzen solche Darstellungen zusammengefasst werden, die von mir am Goetheanum für die Gesellschaft in Vorträgen gegeben werden. Ich denke mir, dass dann von denjenigen Persönlichkeiten, die in den Gruppen (Zweigen) Vorträge halten oder die Besprechungen leiten, dabei das Gegebene als Richtlinien genommen werde, um in freier Art daran anzuknüpfen. Es kann dadurch zu einer einheitlichen Gestaltung im Wirken der Gesellschaft etwas beigetragen werden, ohne dass an einen Zwang in irgend einer Art gedacht wird.

Fruchtbar für die ganze Gesellschaft kann die Sache werden, wenn der Vorgang auch die entsprechende Gegenliebe findet. Wenn die führenden Mitglieder über Inhalt und Art ihrer Vorträge und Anregungen auch den Vorstand am Goetheanum unterrichten. Wir werden dadurch erst aus einem Chaos verschiedener Gruppen zu einer Gesellschaft mit einem geistigen Inhalt.

Die Leitlinien, die hier gegeben werden, sollen gewissermassen Themen anschlagen. Man wird dann in der anthroposophischen Bücher- und Zyklenliteratur an den verschiedensten Stellen die Anhaltspunkte finden, um das im Thema Angeschlagene so auszugestalten, dass es den Inhalt der Gruppenbesprechungen bilden kann.

Auch dann, wenn neue Ideen von den leitenden Mitgliedern in den einzelnen Gruppen zutage treten, können sie ja an dasjenige angeknüpft werden, was in der geschilderten Art vom Goetheanum aus als ein Rahmen für das geistige Wirken der Gesellschaft angeregt werden soll.

Es ist ganz gewiss eine Wahrheit, gegen die nicht gesündigt werden darf, dass geistiges Wirken nur aus der freien Entfaltung der wirkenden Persönlichkeiten hervorgehen kann. Allein, es braucht dagegen nicht gesündigt zu werden, wenn in rechter Art innerhalb der Gesellschaft der Eine mit dem Andern im Einklange handelt. Wenn das nicht sein könnte, so müsste die Zugehörigkeit des Einzelnen oder der Gruppen zur Gesellschaft immer etwas Aeusserliches bleiben. Diese Zugehörigkeit soll aber etwas sein, das man als Innerliches empfindet.

Es kann doch eben nicht sosein, dass das Vorhandensein der Anthroposophischen Gesellschaft von dieser oder jener Persönlichkeit nur als Gelegenheit benützt wird, um das zu sagen, was man aus dieser oder jener Absicht heraus persönlich sagen will, sondern die Gesellschaft muss die Pflegestätte dessen sein, was Anthroposophie ist. Alles andere kann ja auch ausserhalb ihres Rahmens gepflegt werden. Sie kann nicht dafür da sein.

Es ist in den letzten Jahren nicht zum Vorteil der Gesellschaft gewesen, dass in sie einzelne Mitglieder ihre Eigenwünsche hineingetragen haben, bloss weil sie mit deren Vergrösserung für diese Eigenwünsche ein Wirkungsfeld zu finden glaubten. Man kann sagen: warum ist dem nicht in der gebührenden Art entgegengetreten worden? ‒ Wäre das geschehen, so würde heute überall die Meinung zu hören sein: ja, wenn man damals die Anregungen von dieser oder jener Seite aufgenommen hätte, wo wären wir gegenwärtig? Nun, man hat vieles aufgenommen, was kläglich gescheitert ist, was uns zurückgeworfen hat.

Aber nun ist es genug. Die Probe auf das Exempel, das einzelne Experimentatoren in der Gesellschaft geben wollten, ist gemacht. Man braucht dergleichen nicht ins Endlose zu wiederholen. Der Vorstand am Goetheanum soll ein Körper sein, der Anthroposophie pflegen will, und die Gesellschaft sollte eine Verbindung von Menschen sein, die sich mit ihm über ihre Pflege der Anthroposophie lebendig verständigen wollen.

Man soll nicht denken, dass, was angestrebt werden soll, von heute auf morgen erreicht werden kann. Man wird Zeit brauchen. Und es wird Geduld nötig sein. Wenn geglaubt wird, in ein paar Wochen könne verwirklicht da sein, was in den Absichten der Weihnachtstagung liegt, so wird das wieder von Schaden sein. Anregungen vom Goetheanum ausgegeben.

1. Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Sie tritt im Menschen als Herzens- und Gefühlsbedürfnis auf. Sie muss ihre Rechtfertigung dadurch finden, dass sie diesem Bedürfnisse Befriedigung gewähren kann. Anerkennen kann Anthroposophie nur derjenige, der in ihr findet, was er aus seinem Gemüte heraus suchen muss. Anthroposophen können daher nur Menschen sein, die gewisse Fragen über das Wesen des Menschen und die Welt so als Lebensnotwendigkeit empfinden, wie man Hunger und Durst empfindet.

2. Anthroposophie vermittelt Erkenntnisse, die auf geistige Art gewonnen werden. Sie tut dies aber nur deswegen, weil das tägliche Leben und die auf Sinneswahrnehmung und Verstandestätigkeit gegründete Wissenschaft an eine Grenze des Lebensweges führen, an der das seelische Menschendasein ersterben müsste, wenn es dieGrenze nicht überschreiten könnte. Dieses tägliche Leben und diese Wissenschaft führen nicht so zur Grenze, dass an dieser stehen geblieben werden muss, sondern es eröffnet sich an dieser Grenze der Sinnesanschauung durch die menschliche Seele selbst der Ausblick in die geistige Welt.

3. Es gibt Menschen, die glauben, mit den Grenzen der Sinnesanschauung seien auch die Grenzen aller Einsicht gegeben. Würden diese aufmerksam darauf sein, wie sie sich dieser Grenzen bewusst werden, so würden sie auch in diesem Bewusstsein die Fähigkeiten entdecken, die Grenzen zu überschreiten. Der Fisch schwimmt an die Grenze des Wassers; er muss zurück, weil ihm die physischen Organe fehlen, um ausser dem Wasser zu leben. Der Mensch kommt an die Grenze der Sinnesanschauung; er kann erkennen, dass ihm auf dem Wege dahin die Seelenkräfte geworden sind, um seelisch in dem Elemente zu leben, das nicht von der Sinnesanschauung umspannt wird.

VI

Erkenntniswille und Wille zur Selbstzucht.

In der Anthroposophischen Gesellschaft treten die Menschen einander näher, als sie dies tun würden, wenn sie sich auf einem anderen Lebensfelde begegnen würden. Das gemeinsame Interesse für das geistige Weltwesen schliesst die Seelen auf. Es erscheint für den Einen bedeutsam, was der Andere in seinem Streben nach dem Geistigen innerlich erlebt. Der Mensch wird mitteilsam, wenn er weiss, er steht einem Mitmenschen gegenüber, der für das Innerste, das die Seele bewegt, ein aufmerksames Gehör hat.

Dadurch bildet es sichwie von selbst, dass die Mitglieder der Gesellschaft Anderes und dieses Andere auch anders aneinander beobachten als andere Menschen. Das aber schliesst zugleich eine Gefahr in sich. Man lernt einander schätzen, indem man sich trifft. Man hat die innigste Freude an der Seelenäusserung des Andern. Alle edlen Wirkungen des freundschaftlichen Zusammenseins können sich rasch entfalten. Es liegt nahe, dass diese Wirkungen sich rasch zur Schwärmerei steigern können. Man sollte einer solchen Schwärmerei, trotzdem sie ihre Schattenseiten hat, nicht nur das kalte, nüchterne Philisterherz oder die überlegene Weltmenschenhaltung entgegenbringen. Schwärmerei, die sich zur harmonischen Seelenhaltung durchgerungen hat, ist geist-erschliessender als ein Gleichmass, das an allen bedeutsamen Lebensoffenbarungen mit starrer Haltung vorbeigeht.

Es können aber leicht Menschen, die einander rasch nahe kommen, sich ebenso rasch wieder voneinander entfernen. Hat man den Andern genau kennen gelernt, weil er sich voll aufgeschlossen hat, so bemerkt man auch bald seine Schwächen. Und dann kann die – negative Schwärmerei auftreten. Und diese Gefahr ist in der Anthroposophischen Gesellschaft eine überall herumschleichende. Gegen sie zu wirken, gehört zu den Aufgaben der Gesellschaft. Innere Toleranz gegen den Andern sollte daher jeder im Tiefsten seiner Seele anstreben, der rechtes Mitglied der Gesellschaft sein will. Den Andern verstehen lernen auch da, wo er Dinge denkt und tut, die man nicht selber denken und tun möchte, das sollte ein Ideal darstellen.

Es braucht dies nicht gleichbedeutend zu sein mit der Urteilslosigkeit gegenüber Schwächen und Fehlern. Verstehen ist etwas anderes als Sich-blind-machen. Man kann zu einem Menschen, den man liebt, von dessen Verfehlungen reden: er wird in vielen Fällen darin den schönsten Freundschaftsdienst sehen. Man kann aber auch mit der Empfindung des gleichgültigen Richters den Andern abkanzeln: er prallt zurück vor der Verständnislosigkeit und tröstet sich mit dem Hassgefühle, das in ihm gegenüber dem Kritiker aufdämmert.

Es kann in vieler Beziehung in der Anthroposophischen Gesellschaft verhängnisvoll werden, wenn die Intoleranz und Verständnislosigkeit gegenüber andern Menschen in sie in der Form hineingetragen werden, in der sie gegenwärtig in weitem Umfange das Leben beherrschen. Denn durch das Nahe-Stehen der Menschen steigern sie sich innerhalb der Gesellschaft.

Das sind Dinge, die stark darauf hinweisen, wie das lebendigere Erkenntnisstreben in der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig begleitet sein muss von dem Ringen nach einer Veredelung des Gefühls- und Empfindungslebens. Das verstärkte Erkenntnisstreben vertieft das Seelenleben nach der Region hin, wo Hochmut, Selbstüberschätzung, Teilnahmslosigkeit mit anderen Menschen und noch vieles andere lauern. Ein minderes Erkenntnisstreben greift auch nur schwach in diese Region ein. Es lässt sie in den Tiefen der Seele schlafen. Ein regsames Erkenntnisleben stört sie aus ihrem Schlafe auf. Gewohnheiten, die sie niedergehalten haben, verlieren ihre Kraft. Das Ideal, das auf Geistiges sich richtet, kann Seeleneigenschaften erwecken, die ohne dieses Ideal nicht offenbar geworden wären. Die Anthroposophische Gesellschaft sollte dazu da sein, durch die Pflege edlen Gefühls- und Empfindungslebens Gefahren entgegenzuwirken, die da lauern. Es gibt Instinkte in der Menschennatur, die zur Furcht vor der Erkenntnis treiben, weil sie solche Zusammenhänge wittern. Wer aber sein Erkenntnisstreben deshalb schlummern lässt, weil durch dessen Pflege seine hässlichen Gefühle aufgerührt werden, der verzichtet auch darauf, den vollen Umfang des wahren Menschen in sich zu entwickeln. Es ist menschen-unwürdig, die Einsicht zu lähmen, weil man sich vor der Charakterschwäche fürchtet. Es kann allein menschenwürdig sein, mit dem Erkenntnisstreben auch das nach dem Willen zur Selbstzucht zu verbinden.

Und durch die Anthroposophie kann man das. Man muss nur auf die Lebendigkeit ihrer Gedanken kommen. Diese Lebendigkeit macht, dass sie auch Kraft im Willen, Wärme in Gefühl und Empfindung erzeugen können. Es liegt durchaus an dem Menschen, ob er die Anthroposophie bloss vorstellt, oder ob er sie erlebt.

Und es wird an den tätig auftretenden Mitgliedern der Gesellschaft liegen, ob durch die Art, wie sie Anthroposophie entwickeln, nur Gedanken angeregt werden können, oder ob Leben entzündet wird.

Weitere Leitsätze, die für die Anthroposophische Gesellschaft vom Goetheanum ausgegebenwerden.

4. Der Mensch braucht zur Sicherheit in seinem Fühlen, zur kraftvollen Entfaltung seines Willens eine Erkenntnis der geistigen Welt. Denn er kann die Grösse, Schönheit, Weisheit der natürlichen Welt im grössten Umfange empfinden: diese gibt ihm keine Antwort auf die Frage nach seinem eigenen Wesen. Dieses eigene Wesen hält die Stoffe und Kräfte der natürlichen Welt so lange in der lebend-regsamenMenschengestalt zusammen, bis der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet. Dann übernimmt die Natur diese Gestalt. Siekann dieselbe nicht zusammenhalten, sondern nur auseinandertreiben. Die grosse, schöne, weisheitsvolle Natur gibt wohl Antwort auf die Frage: wie wird die Menschengestalt aufgelöst, nicht aber, wie wird sie zusammengehalten. Kein theoretischer Einwand kann diese Frage aus der empfindenden Menschenseele, wenn diese sich nicht selbst betäuben will, auslöschen. Ihr Vorhandensein muss die Sehnsucht nach geistigen Wegen der Welterkenntnis unablässig in jeder Menschenseele, die wirklich wach ist, regsam erhalten.

5.Der Mensch braucht zur inneren Ruhe die Selbst-Erkenntnis im Geiste. Er findet sich selbst in seinem Denken, Fühlen und Wollen. Er sieht, wie Denken, Fühlen und Wollen von dem natürlichen Menschenwesen abhängig sind. Sie müssen in ihren Entfaltungen der Gesundheit, Krankheit, Kräftigung und Schädigung des Körpers folgen. Jeder Schlaf löscht sie aus. Die gewöhnliche Lebenserfahrung weist die denkbar grösste Abhängigkeit des menschlichen Geist-Erlebens vom Körper-Dasein auf. Da erwacht in dem Menschen das Bewusstsein, dass in dieser gewöhnlichen Lebenserfahrung die Selbst-Erkenntnis verloren gegangen sein könne. Es entsteht zunächst die bange Frage: ob es eine über die gewöhnliche Lebenserfahrung hinausgehende Selbst-Erkenntnis und damit die Gewissheit über ein wahres Selbst geben könne? Anthroposophie will auf der Grundlage sicherer Geist-Erfahrung die Antwort auf diese Frage geben. Sie stützt sich dabei nicht auf ein Meinen oder Glauben, sondern auf ein Erleben im Geiste, das in seiner Wesenheit so sicher ist wie das Erleben im Körper.

   

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