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Einleitung

Von Terje Sparby

SKA 10 (2022), XXVII-LXXXIV

 

In den zwei relativ kurzen Texten Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen (1912) und Die Schwelle der geistigen Welt (1913) führt Rudolf Steiner die Darstellung der anthroposophischen Meditationsmethode fort, welche er in den Werken Theosophie (1904) und Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/05) zu entwickeln begonnen hatte. In Ein Weg zur Selbsterkenntnis führt Steiner ausdrücklich an, dass die Schrift als Fortsetzung und Vertiefung von Wie erlangt man Erkenntnisse zu verstehen sei, und das Gleiche wird man wohl auch über Die Schwelle der geistigen Welt sagen können. Beide Texte verfolgen ein gemeinsames Ziel, indem sie den Versuch unternehmen, »geisteswissenschaftliche Erkenntnisse über die Wesenheit des Menschen zu geben« (WS, III) bzw. »Schilderungen derjenigen Teile der Welt und der menschlichen Wesenheit […], die geschaut werden, wenn die geistige Erkenntnis die Grenze überschreitet, welche Sinneswelt von Geisteswelt trennt« (SW, 5).

Steiners Werke und überlieferte Vortragsmitschriften enthalten zahlreiche Schilderungen von sinnlich nicht wahrnehmbaren Realitäten. Es wird dort von den sogenannten ›Wesensgliedern‹ des Menschen berichtet (neben dem ›Ich‹ gehört dazu z.B. der ›Ätherleib‹ oder der ›Astralleib‹). Außerdem finden sich in diesen Texten Beschreibungen geistiger Wesen wie ›Ahriman‹, ›Luzifer‹ und dem ›Hüter der Schwelle‹ und die Leserschaft wird mittels kosmogonischer Imaginationen in undenkliche Vorzeiten der Welt- und Menschheitsentwicklung zurückgeführt. Dabei wird zwar immer deutlich darauf hingewiesen, dass diese Darstellungen Ausdruck geistiger Erfahrungen sind, doch geht Steiner kaum je methodisch auf die phänomenologische Eigenart seiner Schilderungen ein. Auch stellt er nur selten dar, wie er selbst zu diesen von ihm beschriebenen Phänomenen gekommen ist, d.h., welche Form von Meditation er genau angewendet oder welche spirituellen Experimente er durchgeführt hat. Dies versucht Steiner mit den beiden in diesem Band versammelten Texten zu ändern.

Steiner gibt also in diesen Schriften einen unmittelbaren Einblick in sein geistiges Laboratorium. Er beschreibt, was auf dem Weg der anthroposophischen Meditation erfahren werden kann, und bemüht sich, die dabei verwendete Methode offenzulegen. Das Wort ›Methode‹ bedeutet bekanntlich Weg, und Steiners Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen könnte daher durchaus auch als ›Methode zur Selbsterkenntnis des Menschen‹ bezeichnet werden. Wer allerdings aufgrund eines solchen Programms nun erwartet, dass Steiner konkrete persönliche Erlebnisse schildert, wird von den Texten enttäuscht werden. Tatsächlich lässt Steiner offen, ob und in welchem Maße es sich um eigene geistige Erlebnisse handelt. Zwar könnte man argumentieren, wie wir im Folgenden noch diskutieren werden, dass Steiner zumindest in Ein Weg zur Selbsterkenntnis beabsichtigte, seine eigenen geistigen Erlebnisse zu schildern; exakt nachweisen lässt sich dies anhand der Texte allerdings nicht. Die beiden Texte bleiben in jedem Fall methodische Grundlage für das Verständnis des anthroposophischen Erkenntnisweges.

 

Zum Werkkontext

Betrachten wir zunächst den allgemeinen Kontext, in dem diese beiden Texte innerhalb des steinerschen Gesamtwerks stehen und inwiefern sie sich voneinander unterscheiden. Der spezielle Kontext beider wird im Folgenden noch genauer behandelt werden.

Wie bereits angedeutet, geht es in beiden Schriften um geistige Erfahrungen. Detaillierte Beschreibungen dieser Art finden sich selbst in religiös-spirituellen Werken nur selten. Dies mag daran liegen, dass der über die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinausgehende Umgang mit diesen Texten weithin als rein persönliche Angelegenheit gilt und ihre Inhalte oft eine Herausforderung für die Autoritäten etablierter Lehr- und Glaubensmeinungen darstellen. Zu Steiners Lebzeiten nahmen individualistische und atheistische Tendenzen in der Gesellschaft stark zu, nicht zuletzt durch den stets wachsenden Einfluss der empirischen Wissenschaften, welche ihre Wirklichkeitswahrnehmung auf unmittelbare Erfahrung gründen. In dieser Hinsicht könnte man die beiden Texte mit Charles Darwins Voyage of the Beagle von 1839 vergleichen. In diesem Werk erzählt Darwin von seinen Reisen und berichtet in diesem Zusammenhang auch von seinen Beobachtungen, welche 1859 dann zu der in On the Origin of Species formulierten Evolutionstheorie führten. Diese Evolutionstheorie ist ein Meilenstein der modernen Naturwissenschaft und stellt ein herausragendes Beispiel für die Haltung des empirisch vorgehenden Naturwissenschaftlers dar. Ein Weg zur Selbsterkenntnis und Die Schwelle der geistigen Welt könnten in ähnlicher Weise verstanden werden, nämlich als empirisch vorgehende Beschreibung derjenigen inneren Wege, auf denen Steiner unterwegs war, und als Schilderung der dabei von ihm gemachten Beobachtungen, welche die Basis jener spirituellen Evolutionstheorie darstellen, die Steiner in seiner Geheimwissenschaft formuliert hat. Tatsächlich besteht das erste Kapitel dieser Geheimwissenschaft aus einer Darstellung und Rechtfertigung des empirischen und daher seiner Auffassung nach wissenschaftlichen Charakters geistiger Forschung im anthroposophischen Sinne.

Ein solcher Vergleich könnte allerdings aus mehreren Gründen auch zu schwerwiegenden Missverständnissen führen. Zwar kündigt Steiner tatsächlich zu Beginn der in diesem Band versammelten Texte an, er werde in diesen von spirituellen Erfahrungen berichten, doch nimmt diese Schilderung dann gerade nicht die Form eines persönlichen Erfahrungsberichts an (einen solchen findet man allenfalls in seiner Autobiographie Mein Lebensgang). Selbst seine Beispiele sind nicht eindeutig persönlichen Erlebnissen zuzuordnen. Die folgende Passage der zweiten Meditation aus Ein Weg zur Selbsterkenntnis ist ein Beispiel für diese Ambiguität:

Es kann ein Augenblick eintreten, in dem die Seele sich innerhalb ganz anders erlebt als gewöhnlich. Zumeist wird das anfangs so geschehen, daß die Seele aus dem Schlafe wie zu einem Traume sich belebt. Nur zeigt sich sogleich, daß sich das Erlebnis mit dem nicht vergleichen läßt, was man sonst als Träume kennt. Man ist dann der Sinnes- und Verstandeswelt ganz entrückt, und man erlebt doch so, wie man im gewöhnlichen Dasein nur erlebt, wenn man im wachen Zustande der Außenwelt gegenübersteht. Man fühlt sich gedrängt, das Erlebnis in sich vor|zustellen. Man nimmt zu dem Vorstellen solche Begriffe, die man im gewöhnlichen Leben hat; aber man weiß sehr genau, daß man anderes erlebt, als das ist, worauf sich in normaler Art diese Begriffe beziehen. Diese betrachtet man nur als ein Ausdrucksmittel für ein Erlebnis, das man vorher nicht gehabt hat, und von dem man auch wissen kann, daß es im gewöhnlichen Dasein unmöglich ist. Man fühlt sich etwa allseitig von Gewitterstürmen umgeben. Man hört Donner und vernimmt Blitze. Man weiß sich in einem Zimmer eines Hauses. Man fühlt sich durchsetzt von einer Kraft, von welcher man vorher nichts gewußt hat. Dann vermeint man Risse um sich her in den Mauern zu sehen. Man ist veranlasst, sich oder einer Person, die man neben sich zu haben glaubt, zu sagen: jetzt handelt es sich um Schweres; der Blitz geht durch das Haus, er erfasst mich; ich fühle mich von ihm ergriffen. Er löst mich auf. (WS, 16 f.)

Es handelt sich hier also um den Fall eines Menschen, welcher Erlebnisse hat, die von Steiner als Wahrnehmung der ›elementarischen Welt‹ bzw. des ›elementarischen Leibes‹ beschrieben werden. Der Leser erfährt nicht, ob es sich um Steiners eigene Erlebnisse handelt, um die Erfahrungen eines anderen Menschen, oder um ein konstruiertes Beispiel, das vielleicht teilweise auf konkreten Erfahrungen beruht. Da die in dem Beispiel beschriebene Person sich in gewisser Hinsicht in einem traumähnlichen Zustand befindet (obwohl sie, wie Steiner betont, nicht tatsächlich träumt), könnte an dieser Stelle ein Vergleich des beschriebenen Bewusstseinszustandes mit dem sogenannten ›luziden Träumen‹ oder ›Wachträumen‹ interessant sein. Um einen solchen Vergleich anzustellen, müssten allerdings tatsächliche Berichte von Personen, die eine solche Erfahrung gemacht haben, herangezogen und auf Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Steiners Darstellung hin untersucht werden. Dabei könnte sich theoretisch herausstellen, dass dasjenige, was man generell als ›luziden Traum‹ bezeichnet, als Erfahrung des Elementarischen im Sinne Steiners verstanden werden kann. Um aber einen solchen Vergleich zwischen dem luziden Träumen und der Wahrnehmung des Elementarischen anstellen zu können, müsste eine ganze Anzahl solcher Berichte herangezogen werden. Dies wäre jedenfalls eine Forderung, die an einen empirischen Vergleich dieser Art gestellt werden müsste. Ferner könnte kritisch eingewendet werden, dass Steiner hier möglicherweise nur ein Beispiel konstruiert hat, welches zwar seinen allgemeinen Ansichten über das elementarische Erleben entspricht, in Wirklichkeit aber keine von einer Person tatsächlich erlebten Bilder schildert, sondern nur solche, welche den allgemeinen Begriff dieser bestimmten Art von Erleben illustrieren sollen. Die Kritik könnte auch dahingehend ausgeweitet werden, dass man Steiner entgegenhält, er gehe nur deshalb in dieser Art vor, um den gängigen Einwand zu entkräften, übersinnliche Erfahrungen seien nichts anderes als gewöhnliche Wahrnehmungen des täglichen Lebens, die zunächst unbewusst aufgenommen werden und dann später auch im Bewusstsein auftauchen, ohne dass die Person sich ihrer Herkunft bewusst wird. Mit anderen Worten: Nirgendwo im Weg zur Selbsterkenntnis finden sich konkrete Hinweise darauf, dass die beschriebenen Erlebnisse auf tatsächlichen Erfahrungen beruhen. Ein naturwissenschaftlich denkender Mensch würde von einer empirischen Studie doch wohl eine sorgfältige und konkrete Darstellung der in Frage stehenden Erfahrungen erwarten sowie einen Vergleich und eine kritische Reflektion derselben. Steiner scheint in seinem Werk jedoch ein solches Vorgehen nicht primär anzustreben, sondern das Hauptaugenmerk seiner Auseinandersetzungen auf ein breites Spektrum spiritueller Themen und Perspektiven zu legen.

Allerdings finden sich bei Steiner sehr wohl Darstellungen, in denen er die Bedeutung kritischer Untersuchungen hervorhebt. Im sogenannten Bologna-Vortrag vom 8. April 1911 spricht er beispielsweise sehr ausführlich darüber, dass der Erforscher geistiger Erfahrungen stets eine kritische Haltung gegenüber dem Gegenstand seiner Forschung einnehmen müsse. Da heißt es etwa:

Naturgemäß ist aber auch, daß der besonnene Geistesforscher im eminentesten Sinne kritisch sein muß gegenüber den einzelnen von ihm gemachten übersinnlichen Beobachtungen. Und er wird eigentlich niemals in bezug auf positive Ergebnisse der übersinnlichen Forschung anders sprechen als mit dem Vorbehalt: dies oder jenes ist beobachtet worden; und die dabei geübte kritische Vorsicht berechtigt zu der Annahme, daß jeder, welcher sich durch entsprechende Übungen in Verhältnis bringen kann zu der übersinnlichen Welt, dieselben Beobachtungen machen wird. (GA 35, 122)

Doch wie bereits angemerkt: Wenn wir nicht wissen, welche Praktiken konkret angewendet wurden, um zu bestimmten übersinnlichen Erfahrungen zu gelangen, und wie daraus bestimmte Konzepte und Schlussfolgerungen abgeleitet wurden, bleibt eine kritische Evaluation anthroposophischer Darstellungen schwierig. Man muss sich daher fragen, ob Steiner seinem eigenen Ideal, »seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode« zu behandeln, auch gerecht geworden ist. Wissen wir denn, worin die von ihm postulierte geisteswissenschaftliche Methode eigentlich besteht? Kritisch betrachtet kann es jedenfalls leicht so erscheinen, als habe Steiner seine geistige Welt im Voraus konzipiert und erst im Nachhinein konstruiert oder tatsächliche Erlebnisse als Beispiele benutzt, um seine allgemeine Weltanschauung zu bestätigen. Anders als moderne phänomenologische Zugänge, welche in der phänomenologischen Betrachtung alles theoretische Wissen zunächst einmal »ausklammern«, um in der Erfahrung »die Dinge selbst« sprechen zu lassen, geht Steiner offenbar so vor, dass er, wenn er geistige Erfahrungen zu beschreiben unternimmt, sich auf ein bereits etabliertes Begriffssystem bezieht. Steiner sieht dies, wie noch zu zeigen sein wird, offenbar als Notwendigkeit für den Umgang mit übersinnlichen Erfahrungen an. Seiner Ansicht nach kann man sich ohne Begriffe im geistigen Raum überhaupt nicht bewegen. Dies wirft jedoch die Frage auf, wie diese Begriffe überhaupt erst zustande gekommen sind. Beruhen die anthroposophischen Vorstellungen auf experimenteller Erfahrung oder (wie im theosophischen Kontext traditionell beansprucht worden ist) auf der Überlieferung einer ›uralten Weisheit‹? Wenn ersteres der Fall wäre, wie Steiner immer wieder behauptet hat, dann müsste man doch eigentlich erwarten, dass es Berichte über die Praktiken gibt, mit deren Hilfe die anthroposophische Forschung zu ihren Erfahrungen und Begriffen gelangt ist. Andernfalls müsste, wie in der theosophischen Tradition, auf die historischen oder anderweitigen Quellen der postulierten ›uralten Weisheit‹ verwiesen werden. Man kann zu der Ansicht kommen, dass der Anthroposophie Steiners im Allgemeinen eine solche grundlegende Reflexion über ihre eigene phänomenologische Methodik fehlt, dass aber die Schriften Ein Weg zur Selbsterkenntnis und Die Schwelle der geistigen Welt zumindest ansatzweise einen Versuch darstellen, auf jene Erfahrungen hinzuweisen, aus welchen die anthroposophische Begriffswelt hervorgegangen ist.

Auch andere kontemplative Traditionen setzen sich mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Erfahrungen und Begriffen auseinander. Ein Beispiel findet sich in einer Geschichte über einen buddhistischen Mönch, der angeblich die vierte jhāna-Stufe erreicht hatte, also einen Zustand tiefer Meditation. Seine Mitmönche zeigten sich erstaunt, als er zudem von Hörwahrnehmungen berichtete, da der Buddha den vierten jhāna-Zustand ausdrücklich als einen solchen definierte, in dem der Meditierende nichts mehr höre. So nahmen die Mönche an, ihr Genosse sage die Unwahrheit. Lügen aber war ein schweres Vergehen für einen Mönch; es konnte mit Ausschluss aus dem Orden bestraft werden. Der Buddha löste das Problem dadurch, dass er verlauten ließ, der Mönch habe den vierten jhāna-Zustand offenbar nur unvollkommen verwirklicht. Aber kann denn eine einzige Person die Autorität besitzen, zu definieren wie ein bestimmter Bewusstseinszustand zu sein habe? Kann es nicht individuell bedingte Unterschiede geben? Und überhaupt ist es generell sehr schwierig, bestimmte meditative oder andere Zustände des Bewusstseins phänomenologisch genau zu bestimmen. Zwar kann ein Bewusstseinszustand so definiert werden, dass in ihm bestimmte experimentelle Kriterien erfüllt werden, aber Erfahrungen sind vielfältiger Natur und zudem in ständiger Veränderung begriffen. Das Verhältnis zwischen inneren Erfahrungen und den entsprechenden Begriffen, mit denen man diese Erfahrungen beschreibt, kann daher, möchte man es sachgemäß erfassen, als ein fortwährendes Gespräch verstanden werden. Jedes Mal, wenn wir einen Arzt konsultieren, dann begeben wir uns selbst in ein solches Verfahren. Ein oder mehrere Symptome werden als mögliche Hinweise auf ein zugrundeliegendes Problem angesehen, das in einem Organ oder einem biologischen Vorgang seine Ursache haben könnte. Dabei spielt sich der Prozess der Diagnose in einer Gemeinschaft ab, innerhalb der ein Arzt in ständigem Dialog mit anderen Ärzten und Forschern steht, und nur dieser Austausch innerhalb der Forscher- und Praktiker-Gemeinschaft etabliert medizinisches Wissen und macht die vorgeschlagene Therapie glaubwürdig.

In Bezug auf das Werk Steiners und die Aussagen der Anthroposophie hat ein entsprechender gemeinschaftlicher Dialog erst in jüngster Zeit begonnen. Traditionell bestand hier lange eine Kluft zwischen dem Ideal der Anthroposophie als einer empirischen Wissenschaft der inneren Erfahrung und der tatsächlichen Verwirklichung. Auch in dieser Hinsicht können die beiden Texte dieses Bandes als Versuch verstanden werden, eine Lücke zu schließen. Dies zeigt sich z.B. an solchen Stellen, an denen Steiner auf methodische Fragen und auf mögliche erkenntnistheoretische Einwände gegen seinen Ansatz eingeht. An vielen Stellen seines schriftlichen Werkes und ebenfalls in seinen Vorträgen diskutiert er ausführlich das allgemeine Wesen der Anthroposophie als eine Wissenschaft des Geistigen, charakterisiert ihre spezielle Methodik und geht auf mögliche Einwände gegen diese ein. Man könnte diese Art von Rechtfertigung sogar als eines seiner zentralen Themen beschreiben. Dabei sind die Texte des vorliegenden Bandes insofern einzigartig innerhalb des steinerschen Werkes, als hier diese Art der Darstellung und Rechtfertigung anthroposophischer Geisteswissenschaft durch das Medium der Meditationen vorgetragen wird. Dabei wird in der Schwelle der geistigen Welt ein größeres Gewicht auf den dargestellten Inhalt gelegt, indem Steiner hier ausführlicher auf bestimmte Zentralvorstellungen der Anthroposophie eingeht. So weist Steiner in der Einleitung zu dieser Schrift ausdrücklich darauf hin, dass ihr Inhalt als Meditationsgegenstand verwendet werden kann. Dies trifft zwar in gewisser Hinsicht auf alle anthroposophischen Texte zu, insofern diese die Darstellung des Geistigen zum Thema haben, aber es ist doch bemerkenswert, dass Steiner drei besondere Kapitel von Die Schwelle der geistigen Welt mit Zusammenfassungen des zuvor Ausgeführten abschließt. Diese Zusammenfassungen bestehen aus wenigen kurzen Sätzen und geben, wie Steiner selbst anmerkt (vgl. SW, 30, 46 und 98), eine schematische »Zusammenfassung des Vorhergehenden«. Haben wir diese Formulierung so zu verstehen, dass diese Zusammenfassungen insbesondere als Meditationsmaterial gedacht sind? Steiner äußert sich dazu nicht, doch scheint diese Annahme wahrscheinlich, da sich zur Meditation ein solches knappes und argumentationsfreies Material ausgezeichnet eignet. Eine Fortsetzung dieser Kommunikationsform kann übrigens in den sogenannten Anthroposophischen Leitsätzen gesehen werden, die Steiner 1924 und 1925 für die Mitglieder seiner Gesellschaft formulierte, doch findet sie sich auch bereits in den verdichteten und poetisch gehaltenen Strophen des Anthroposophischen Seelenkalenders (1912/1913) und natürlich in den darüber hinaus von Steiner geschaffenen zahlreichen Mantras.

Der Übergang von einer meditativen zu einer diskursiven Darstellungsweise lässt sich gut im ersten Kapitel der Schwelle der geistigen Welt beobachten, in dem Steiner über das »Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann« (SW, 7) nachdenkt. Was er da nämlich zu diesem Thema vorträgt – dass das Denken im Prinzip verlässlich ist und daher die Seele sicher zu einem Verständnis ihrer selbst und der Welt führen vermag – wird am Ende des Gedankengangs zu einem Meditationssatz verdichtet: »Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens« (SW, 11). Man könnte sogar diesen Übergang von einer diskursiv und philosophisch gehaltenen Darstellung zu einer mehr intuitiven, poetischen und performativen Schilderung als charakteristisch für Steiners Werk insgesamt ansehen. Der obige Satz zum Beispiel ist eindeutig nicht als philosophische Aussage gemeint, sondern enthält die Beschreibung einer Aktivität. Das bloße Lesen desselben ist allerdings noch nicht diese Betätigung selbst. Der Satz muss vielmehr als ein Imperativ verstanden werden, als Aufforderung zu einem Tun, einem bewusstseinsverändernden Akt. Und wenn ein Leser das, was er da liest, tatsächlich tut, d.h. wenn er sich selbst tatsächlich während der Meditation in seinem Fühlen und Denken als eins mit dem Strom des Weltgeschehens erlebt, dann wird der Satz durch eben diesen Akt wahr. Es handelt sich also um eine praktische Aussage, in der es darum geht, was getan werden soll, und deren Wahrheit nicht an sich besteht, sondern sich erst durch die praktische Ausführung realisiert und bestätigt. Anders gesagt: Eine meditativ gehaltene Aussage ist zugleich theoretischer und praktischer Natur. Wir werden auf diesen Aspekt der Performativität des Meditationsaktes noch zurückkommen, wenn wir uns dem speziellen Inhalt von Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen zuwenden werden.

 

Anthroposophische Meditation

Der Charakter und historische Kontext der anthroposophischen Meditation wurde bereits in der Einleitung zur SKA Band 7 eingehend erläutert, deshalb soll an dieser Stelle nur ein allgemeiner Umriss derselben gegeben werden, ergänzt durch einige Hinweise auf die gegenwärtige Forschung zu diesem Thema. Anthroposophische Meditation gehört in den kulturellen Kontext der europäischen Moderne und stellt daher auch eine Antwort auf die Fragen und Probleme dieser Zeit dar. Historische Bezüge bestehen sowohl zur christlichen Tradition im Allgemeinen als auch besonders zur christlichen Mystik und zu der geistesgeschichtlichen Strömung des Rosenkreuzertums. Allerdings bestehen natürlich auch, vermittelt durch Steiners Beziehungen zur Theosophie, Verbindungen zu buddhistischen und hinduistischen Meditationstraditionen. So wurden während Steiners theosophischer Tätigkeit zeitweise auch Begriffe wie ›Kundalini‹, ›Auren‹ und ›Chakren‹ Teil seines geisteswissenschaftlichen Vokabulars. Doch zeigt sich ziemlich klar, dass Steiner bei der Ausarbeitung der anthroposophischen Meditation und seines Zugangs zur Spiritualität insgesamt vor allem seine unmittelbare kulturelle Umgebung im Auge hatte und weniger die asiatischen Vorbilder, welche die anglo-indische Theosophie so nachhaltig prägten. So bezieht er sich z.B. stark auf den nietzscheschen Individualismus und auf die in der Nachfolge Kants entstandene Frage nach den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens, kaum aber, wie etwa Helena Petrovna Blavatsky und andere theosophische Autoren, auf indische oder tibetische Quellen oder auf die sogenannten ›Meister‹. Wenn Steiner über die Natur geistiger Farbwahrnehmungen spricht, verweist er auf Goethes Konzeption der ›sinnlich-sittlichen Farben‹, und wenn er das Wesen seiner Geheimwissenschaft im Umriss zu charakterisieren versucht, so tut er dies im Vergleich mit der Evolutionstheorie des Entwicklungsbiologen Ernst Haeckel. Aber Steiner bezog sich nicht nur auf diese bedeutsamen philosophischen und naturwissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit, sondern sprach zugleich auch die Sprache eines spirituellen Lehrers, indem er dem modernen Menschen eine geistige Sehnsucht diagnostizierte, eine Suche nach einer Spiritualität, die sowohl seinem Individualismus als auch seinem kritischen Denken gerecht werden sollte. Vermutlich lässt sich zwar eine ›geistige Sehnsucht‹ für jede Zeit nachweisen, aber die Tatsache, dass Persönlichkeiten wie Aleister Crowley, einer der berühmtesten und kontroversesten britischen Okkultisten, oder Swami Vivekananda, ein ebenso bekannter und einflussreicher indischer Gelehrter, auf Resonanz gestoßen sind, deutet auf ein breites spirituelles Interesse in der damaligen Kultur hin. Steiner verblieb nicht innerhalb der Grenzen der allgemeinen philosophischen und wissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit, sondern ließ sich auch von spirituellen Strömungen und Traditionen, wie die Mystik und die Theosophie, inspirieren. Er war innerhalb der verschiedenen spirituellen Erweckungsbewegungen der europäischen Moderne aktiv und entwarf dabei einen möglichen Weg der Menschheit in die Zukunft, welcher die religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen Impulse seiner Zeit zu vereinen und zugleich von zeitbedingter Befangenheit zu befreien suchte.

Entsprechend dem zunehmenden Individualismus seiner Zeit legt Steiner Wert auf Freiheit und Denken als die Ausgangspunkte meditativer Praxis. So betont er etwa, dass der spirituelle Lehrer, der Guru, für den modernen Menschen eine weniger wichtige Rolle spielen müsse als in gewissen indischen Traditionen, einschließlich des tibetischen Buddhismus, in dem der Guru nicht nur zentral ist, sondern sogar religiös verehrt und als Meditationsobjekt verwendet wird. Schüler verwenden hier die Guru-Meditation, um inspiriert zu werden, die Unbeständigkeit der eigenen Identität zu erkennen und durch eine direkte Übertragung von spiritueller Energie ein Erweckungserlebnis hervorzurufen. Zwar schrieb auch Steiner, solange er als Theosoph tätig war, dem Guru bzw. dem spirituellen Lehrer eine wesentliche Rolle zu, relativierte diese Sichtweise jedoch zunehmend, sodass er schließlich schrieb, der Lehrer könne auch durch ein Buch ersetzt werden.

Obwohl Steiner sich in einigen Schriften negativ über die Aktivität des Denkens äußert, bleibt sie für ihn die Quelle der menschlichen Freiheit und des Wissens. Positive Darstellungen der intellektuellen Tätigkeit finden sich hauptsächlich in seinen philosophischen Werken, wohingegen Steiner in seinen anthroposophischen Texten und Vorträgen die Denkaktivität (zumindest die abstrakte bzw. naturwissenschaftliche) als ungeeignet für die Erfassung der spirituellen Dimension der Wirklichkeit beschreibt. Dennoch bleibt für ihn das Denken ein Ausgangspunkt sowohl philosophischen als auch spirituellen Wissens. Die Fähigkeit zu denken befreie den Menschen einerseits, schließe ihn aber zugleich in seine subjektive Welt ein. Wenn man in der Lage ist, autonom Gedanken und innere Bilder zu erschaffen, ist man laut Steiner nicht mehr an das sinnlich Gegebene gebunden, sondern kann Einblicke in die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Dingen erlangen und sogar zukünftige Geschehnisse voraussagen. Diese innere Begrenzung sieht Steiner als charakteristisches Merkmal des modernen Bewusstseins an, welches die vom Menschen hervorgebrachten Gedanken nicht mehr als Ausdruck eines Göttlichen versteht oder, wie noch Aristoteles, als Teilnahme am Göttlichen. Man könnte Descartes als den Vater dieser modernen Ansicht bezeichnen, für den das Denken die einzige sichere Grundlage alles Wissens war. Aber auch Descartes bedurfte noch des Bezuges auf die Gottesidee, um das menschliche Wissen über die Außenwelt als wahrheitsgemäß zu rechtfertigen. Erst in der nachkantianischen Welt wurde das Denken als etwas vorgestellt, das völlig in sich selbst eingeschlossen ist. Und in dieser Welt wuchs dann der naturalistische Verdacht, dass das Denken ein Erzeugnis der biologischen Funktionen des Körpers sein könnte. Dadurch wurde die Ansicht vom Denken als einer in sich selbst eingeschlossenen Tätigkeit noch verstärkt, da aus dieser Perspektive die Quelle des Denkens für immer verborgen bleiben muss.

Die Verankerung der menschlichen Einzigartigkeit in der Fähigkeit zum rationalen Denken hat eine lange Tradition. Diese geht zurück bis zu den griechischen Philosophen und findet sich bis heute, etwa in der Neuformulierung des Gedankens bei Hans Jonas in seinem Artikel Homo Pictor and the Differentia of Man. Darin schlägt Jonas vor, die Einzigartigkeit des Menschen in dessen Fähigkeit zu sehen, Bilder schaffen zu können, und meint, diese sei sogar noch früher anzusetzen als die eigentliche Denkfähigkeit. Ebenfalls bei Jonas findet sich der Gedanke, dass diese Tätigkeit eine zweifache Bedeutung habe, indem sie einerseits Freiheit ermögliche und andererseits Verlust von Realität bedeute. Ein Bild sei eben dem Wesen nach von der Realität frei (d.h. unabhängig) und somit zugleich von Realität frei (d.h. illusorisch). Die Fähigkeit des Denkens kann also als eine Fortsetzung der bilderzeugenden Tätigkeit des Menschen gesehen werden, da Begriffe ebenso wie Bilder Repräsentationen von etwas sind, obwohl die ersteren abstrakter sind. Die Meditation strebt nach Steiner danach, die Vorstellungs- und Denkfähigkeit (aber zugleich auch das Fühlen und Wollen) in solcher Weise zu verstärken, dass das Bewusstsein ‒ bzw., in Steiners Terminologie, die Seele ‒ sich von ihrer sinnlichen Umgebung unabhängig macht und ganz in sich selbst lebt. In gewisser Weise könnte dieser Vorgang somit als Vollendung des Individuationsprozesses verstanden werden. Zugleich wird dabei die Fähigkeit zum begrifflichen Denken sozusagen zurückverwandelt in das, was es nach Steiner ursprünglich war, nämlich die Fähigkeit der Erzeugung von Bildern, allerdings mit dem Unterschied, dass das in der Meditation erzeugte Bild innerhalb eines vollkommen wachen Bewusstseins oder zumindest in einem Zustand erhöhter Wachheit hervorgebracht wird. Diesen Zustand eines wachen Bilderbewusstseins beschreibt Steiner auch als ›Imagination‹ oder ›imaginative Bewusstheit‹.

Der von Steiner als ›imaginativ‹ beschriebene Bewusstseinszustand ist allerdings in seiner Konzeption nur die erste Stufe der übersinnlichen bzw. geistigen Erkenntnis. Wenn die Seele keine Eindrücke mehr von außen durch die sinnliche Wahrnehmung erhält, dann wird der Inhalt ihres Bewusstseins entweder halluzinatorischer Natur sein oder Projektion ihres eigenen Wesens und somit rein subjektiv. Eine solche Projektion stellt z.B. der sogenannte ›Hüter der Schwelle‹ dar, den Steiner an vielen Stellen seines Werkes und auch in den beiden vorliegenden Schriften beschreibt. Dieser Hüter ist als Bild für die Konfrontation des Menschen mit gewissen unbewussten bzw. verdrängten Aspekten der eigenen Seele zu verstehen. Nach Steiners Darstellung ist die Begegnung des Menschen mit diesem ›Hüter‹ in der eigenen Seele auf einer bestimmten Stufe der geistigen Entwicklung Voraussetzung für den weiteren Erkenntnisfortschritt. Geistige Wahrnehmungen dieser Art sind nach Steiner Ergebnis einer Intensivierung der Hingabefähigkeit der Seele gegenüber einem äußeren Gegenstand. Geistige Entwicklung im Sinne der anthroposophischen Meditation erfordert daher eine Verbindung zwischen scheinbar gegensätzlichen Zuständen: zwischen Freiheit und Hingabe. Der Mensch müsse in der Lage sein, vollständig in sich selbst zu sein, und zugleich fähig und willens, sich einem Gegenüber ganz hinzugeben. Ist dieser Zustand verwirklicht, dann spricht Steiner von der ›Inspiration‹ als zweiter Stufe der übersinnlichen Bewusstheit.

Der dritte Schritt innerhalb des anthroposophischen Modells der Bewusstseinsentwicklung ist die völlige Vereinigung des Bewusstseins mit seinem Gegenstand. Diese habe zwei Aspekte. Zum einen finde eine Vereinigung der Seele mit einem geistigen Inhalt statt. Diesen Bewusstseinszustand nennt Steiner auch ›Intuition‹. Diese finde nicht nur in besonderen Formen der übersinnlichen Erkenntnis statt, wie etwa dem Hellsehen, sondern liege schon ganz alltäglichen Vorgängen zugrunde, wie etwa der Erfahrung des Ich oder der Auffassung eines reinen, von allem sinnlichen Inhalt freien Begriffs. Was diesen fundamentalen Vorgängen epistemologisch zugrunde liegt, ist nach Steiner auch Grundlage der Fähigkeit, in den Bereich der geistigen Erfahrung bewusst einzutreten und in diesem zu forschen. Denn es gehe dabei um nichts anderes als darum, mit den Vorgängen oder Wesen dieses Bereichs eins zu werden, sie sozusagen ›von innen her‹ so anzuschauen und zu erkennen, wie wir normalerweise nur uns selbst bzw. unsere Begriffe kennen. Das intuitive Wissen dieser Art, die höchste Stufe der Erkenntnis in Steiners Modell, besteht also darin, dasjenige zu sein, was man weiß. In dieser Vereinigung von Denker und Gedachtem verschmelzen somit auch die Bereiche des Menschlichen und des Geistigen insgesamt. Das Ziel der anthroposophischen Meditation besteht nicht darin, in ein transzendentes Jenseits einzudringen, sondern die entwickelte Wahrnehmungsfähigkeit des Seelischen und Geistigen in den Dienst der Selbsterkenntnis und der menschlichen Kultur zu stellen. So kommen die verschiedenen Formen anthroposophischer Bewusstseinsschulung in den verschiedensten praktischen Bereichen zur Anwendung, etwa in der anthroposophischen Medizin, der Kunst oder der biodynamischen Landwirtschaft.

Im Unterschied zu anderen traditionellen Formen der Meditation, wie etwa der Transzendentalen Meditation oder der Achtsamkeitsmeditation, welche ihre Wurzeln in asiatischen Traditionen haben, ist bisher der anthroposophischen Meditation in der Forschung wenig Beachtung geschenkt worden. Einige wenige Studien haben jedoch in jüngerer Zeit besonders die experimentellen Berichte von Praktikern dieser Meditationsform in Augenschein genommen. So wurde beispielsweise das Spektrum der verschiedenen Motivationen für die Auseinandersetzung mit anthroposophischer Meditation untersucht, ferner auch die Ergebnisse verschiedener meditativer und anderer geistiger Praktiken, die im Zusammenhang mit der Anthroposophie stehen. Innerhalb der anthroposophischen Bewegung stellt die Integration der verschiedenen Stimmen, die sich auf Meditation als Quelle eigenständiger geistiger Erfahrung berufen, eine besondere Herausforderung dar. In anderen spirituellen Traditionen wurde nach dem Tod des Gründers oft ein geistiger Nachfolger bestimmt, welchem die Lehrautorität zugesprochen wurde. Auch wurde festgelegt, zu welchen inhaltlichen Fragen die Mitglieder ein Mitspracherecht haben. Steiner jedoch hat keinen ausdrücklichen Nachfolger bestimmt, dem er ähnliche geistige Fähigkeiten zugesprochen hätte wie sich selbst. Deshalb wurde lange Zeit innerhalb der anthroposophischen Bewegung die Meditationweitgehend als Privatsache betrachtet, bis gewisse Persönlichkeiten hervortraten (etwa Jostein Sæther, Judith von Halle, Yeshayahu Ben-Aharon), welche für sich eine Befähigung zu geistiger Forschung im Sinne und in Fortführung Steiners beansprucht haben. Dem folgte eine gewisse Normalisierung der anthroposophischen Meditation unter den Mitgliedern und Anhängern, die vermutlich der allgemein zunehmenden Akzeptanz und Verbreitung von Meditationspraktiken in der Gesellschaft zuzuschreiben ist. Es wurden Kurse in anthroposophischer Meditation angeboten, und das Problem der offenen Beschreibung der dabei gesammelten Erfahrungen verschwand weitgehend. Selbst am Goetheanum in Dornach wurden Konferenzen über anthroposophische Meditation angeboten. Das Problem der Sukzession Steiners hat sich hingegen dahingehend gelöst, dass sich die Gemeinschaft der Anhänger und Praktiker der Anthroposophie kollektiv als Nachfolger des Gründers versteht, auch wenn freilich die neuen Inhalte und Perspektiven, welche dieses Forschungskollektiv in der entsprechenden Literatur und im anthroposophischen Vortragswesen zutage fördert, an Tiefe an Breite weit hinter dem zurückbleiben, was Steiner selbst in seinen Schriften und Vorträgen vorgelegt hat.

Die meisten der heute einflussreichen Meditationsschulen und -formen, wie die schon erwähnte Transzendentale Meditation und die Achtsamkeitsschulung oder auch das MBSR (mindfulness-based stress reduction), präsentieren sich in der Regel in einem säkularen Rahmen. So hat etwa der Begründer des MBSR, Jon Kabat-Zinn, verlauten lassen, dass sich seine Schule aus spirituellen Gründen einen säkularen Anstrich gibt; es sei dies eine Form von upāya, d.h. ein Kunstgriff, durch den man Menschen durch Umgehung aller ideologischen Vorurteile zur Annahme einer spirituellen Praxis verleiten könne. So seien manche Menschen wegen ihrer säkularen oder atheistischen Ansichten zurückhaltend gegenüber den spirituellen Zusammenhängen, aus denen diese Praktiken ursprünglich stammen. Verschweige man jedoch diese Zusammenhänge, so vermindere sich die Skepsis und die Menschen könnten, ohne durch Vorurteile abgehalten zu werden, eigene Meditationserfahrungen sammeln – was dann im Nachhinein zu einer offeneren Haltung gegenüber dem spirituellen Hintergrund führen könne. Auch könne natürlich ein Mensch diese Meditationstechnik ausschließlich zur Stressreduzierung verwenden und den spirituellen Hintergrund der Praxis ganz ignorieren. Auf der anderen Seite behauptet Kabat-Zinn jedoch, dass sein Ansatz das Ergebnis einer Vision sei, die er in der Meditation erfahren habe, und dass er MBSR als Teil seiner persönlichen ›karmischen‹ Mission begreift.

Man könnte nun fragen, ob die spirituelle Offenheit innerhalb der gegenwärtig wachsenden Gemeinschaft der Meditierenden größer ist als der heute vorherrschende Trend zur Meditation um der besseren Gesundheit willen. Die Praktizierenden und Lehrer der anthroposophischen Meditation jedenfalls sind überwiegend in ihrem spirituellen Rahmen geblieben und Wellness spielt hier kaum eine Rolle. Dies könnte vielleicht daran liegen, dass die anthroposophische Meditation sich als Praxis weit weniger von ihrer Grundlage, d.h. von der ursprünglichen spirituellen Weltanschauung ihrer Begründer entfernt hat, als das bei vielen anderen Meditationformen der Fall ist, die heute, zumeist wohl auch mit kommerziellem Hintergrund, angeboten werden. Die anthroposophische Meditation hingegen hat kaum Versuche unternommen, sich in die zeitgenössische Kultur und die wissenschaftliche Forschung zu integrieren. Wohl auch deshalb ist sie größtenteils unbekannt.

Es gibt aber sehr wohl wissenschaftliche Ansätze zur Erforschung der Meditation. Dabei wird in erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, Meditation als Zugang zu einer geistigen Wirklichkeit und somit im Sinne der anthroposophischen Perspektive zu verstehen. Solche Betrachtungsweisen finden sich in einigen phänomenologisch ausgerichteten Forschungsansätzen, aber auch im sogenannten ›first-person-Ansatz‹, eine Methode, die ursprünglich im Kontext der psychologischen Forschung von Wissenschaftlern wie Edward B. Titchener entwickelt wurde. Durch die zunehmende Dominanz verhaltensforscherischer Ansätze wurden diese Tendenzen jedoch verdrängt und die sich stattdessen durchsetzenden experimentellen Methoden charakterisiert ein weitgehendes Misstrauen gegenüber Betrachtungsweisen, die auf subjektiven Berichten beruhen. Doch sind introspektive und phänomenologische Ansätze in den letzten Jahren wieder zunehmend ins Zentrum des Interesses gerückt worden. Unter den verschiedenen aktuellen Formen eines solchen first-person-Ansatzes finden sich etwa die deskriptive Phänomenologie und die Mikrophänomenologie. Solche und andere Methoden werden verwendet, um anhand konkreter experimenteller Beschreibungen die Natur des meditativen Bewusstseins zu erforschen. Zwar fehlen solchen Ansätzen in der Regel Bezüge auf spirituelle Zusammenhänge, wie sie im steinerschen Werk zu finden sind, doch können diese Vorgehensweisen durchaus so verstanden werden, dass sie »seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode« zu erkennen suchen, ganz ähnlich wie Steiner selbst dies in Ein Weg zur Selbsterkenntnis und in Die Schwelle der geistigen Welt versucht hat.

 

Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen

In den »Einleitenden Bemerkungen« zu Ein Weg zur Selbsterkenntnis kündigt Steiner an, dass er mit diesem Text sowohl »demjenigen Leser etwas zu geben [versucht], der sich bereits mit der Literatur und den Arbeiten auf dem Gebiete des Übersinnlichen, wie es hier gemeint ist, eingehender bekannt gemacht hat« (WS IV f.) als auch demjenigen nützlich sein könne, »welcher den Ergebnissen der Geisteswissenschaft noch ferne steht« (WS, V).

Darüber hinaus stellt er fest, dass der Inhalt des Textes zwar nur einen (und insofern einen individuellen) Weg zur Erlangung spiritueller Einsicht präsentiere, dennoch aber eine tiefgreifende Beschreibung der individuellen Erfahrung darstelle und somit für jeden von Wert sein könne, der auf der Suche nach einem solchen Erlebnis ist (ebd.). Man kommt jedoch nur dann zum eigentlichen Kern des Textes, wenn man dasjenige ins Auge fasst, was man als seinen ›performativen Charakter‹ beschreiben könnte. Ziel dieser Schrift ist es nicht nur, eine Beschreibung spiritueller Erfahrungen zu liefern, sondern zugleich eine Anleitung für solche Erlebnisse zu liefern. Die Schrift enthält folglich nicht nur Meditationen, sondern ist selbst eine Art Meditation: Indem die Texte eingeübt werden, können die im Werk beschriebenen Erfahrungen erlangt werden. Was dies konkret bedeutet, werden wir im Folgenden genauer anschauen.

Zunächst wäre dazu anzumerken, dass die Schrift keine spezifischen Anweisungen enthält, wie sie sonst typisch für Meditationshandbücher sind. Es ist also nirgendwo zu lesen, die Leserschaft möge sich beispielsweise für eine gewisse Zeit auf einen bestimmten Inhalt konzentrieren, in besonderer Weise atmen oder ein Mantra wiederholen. Vielmehr ist es das Ziel des Textes, die inneren Kräfte der Seele dadurch zu erwecken, dass diese in ihn gewissermaßen »hineinwachsen«, sodass er ihm im Verlaufe des Lesens wie zu einer Art »Selbstgespräch« des Meditierenden wird (WS, III). Dieses Gespräch soll zu meditativem Fortschritt inspirieren und zu Einsichten führen. Wenn der Inhalt entsprechend meditiert wird, sollen die Beschreibungen zu eigenen Erfahrungen werden. Dies ist der performative Charakter des Textes.

Wie weitreichend dieser Ansatz ist, wird deutlich, wenn man betrachtet, in welcher Beziehung Beschreibungen von Objekten zu diesen Objekten selbst stehen. Stellen wir uns einmal vor, jemand stoße auf die Beschreibung eines Ortes, an dem er noch nie war ‒ beispielsweise Florenz oder den Hades ‒ und behaupte dann, er sei tatsächlich in Florenz oder im Hades gewesen. Das wäre natürlich absurd, denn normalerweise funktionieren Beschreibungen nicht in dieser Weise. Wenn man die Beschreibung verinnerlicht, kann man zwar das Gefühl haben, tatsächlich dort gewesen zu sein, aber der Ort wird nicht wirklich instanziiert. Bei meditativen und auch bei philosophischen Texten ist dies allerdings bis zu einem gewissen Grade anders. Denn beim Lesen einer philosophischen Schrift muss der Leser die im Text entwickelten Begriffe in seinem Denken selbst hervorbringen oder instanziieren, wenn er ihn verstehen möchte. In diesem Fall kann man also tatsächlich durch die Beschreibung von etwas zum eigentlichen Sein des Beschriebenen gelangen bzw. dieses hervorrufen.

Philosophische Schriften oder Vorträge können aber nicht nur Begriffe evozieren, sondern sogar eine ganz neue Form von Bewusstheit hervorzurufen, etwa indem sie den Leser oder Zuhörer auf die eigene unbewusste Tätigkeit beim Denken aufmerksam machen. Dies lässt sich beispielsweise an Fichte deutlich zeigen, könnte aber wahrscheinlich auch bis zu den Anfängen der Philosophie zurückverfolgt werden, beispielsweise in Platos Auseinandersetzung mit Sokrates’ Konzept der denkerischen Eigenständigkeit oder in Aristoteles’ Begriff der aktiven Vernunft), obwohl die griechische Philosophie im Allgemeinen weniger Interesse daran hatte, den Denkakt als solchen zu betrachten. Für Fichte jedenfalls war es von grundlegender Bedeutung, dass die Philosophie nicht nur als eine Lehre oder eine Sammlung von Aussagen verstanden wird, sondern dass jeder Leser oder Zuhörer in der Lage sein sollte, der Bewegungen des Denkens in sich selbst gewahr zu werden, sodass sie dadurch die Wahrheit eines Gedankens erfahren können, der als solcher in nichts anderem besteht als in einer inneren geistigen Tathandlung. Das wohl bekannteste Beispiel eines solchen Gewahrwerdens findet sich in Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, wo der Philosoph seinem Leser Anweisungen gibt, auf seine eigenen inneren Handlungen während eines Denkaktes zu achten und dabei das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu realisieren. Fichte fordert an dieser Stelle den Leser dazu auf, sich eine Wand vorzustellen – und dann an denjenigen zu denken, der an die Wand denkt. Ferner solle er dabei die eigene völlige Freiheit bemerken, mit der er entweder an die Wand oder an sich selber denke. Daran anschließend bemerkt Fichte:

Du dachtest meiner Aufforderung gemäss deinen Tisch, deine Wand u.s.w., und nachdem du thätig die Gedanken dieser Gegenstände in dir hervorgebracht hattest, warst du nun in ruhiger fixirter Contemplation derselben begriffen (obtutu haerebas fixus in illo, wie der Dichter sagt). Ich sagte dir: jetzt denke dich, und bemerke, dass dieses Denken ein Thun ist. Du musstest, um das verlangte zu vollziehen, dich losreissen von jener Ruhe der Contemplation, von jener Bestimmtheit deines Denkens, und dasselbe anders bestimmen; und nur inwiefern du dieses Losreissen und dieses Abändern der Bestimmtheit bemerktest, bemerktest du dich als thätig. Ich berufe mich hier lediglich auf deine eigene innere Anschauung; von aussen dir anzudemonstriren, was nur in dir selbst seyn kann, vermag ich nicht (FG I/4, 279).

Fichte weist seinen Leser ferner darauf hin, dass seine Darstellung nur dann zutrifft, wenn er den beschriebenen Akt auch tatsächlich vollzieht. Wenn ihm der Akt der Selbstbeobachtung nicht gelinge, könne auch die Erfahrung, auf der die Einsicht beruht, nicht eintreten. In gleicher Weise könnte man vielleicht von der Philosophie insgesamt sagen, dass ihre Relevanz immer davon abhängt, ob der Rezipient eines Arguments sich auf einen bestimmten Gedankengang einlässt und diesen im Verstehen innerlich selbst realisiert. Allerdings geht Fichtes Argument noch weiter, denn es enthält nicht nur eine ausdrückliche Anleitung, was sich zu vollziehen hat, sondern beschreibt zugleich auch das Wesen des Bewusstseins selbst, welches jedem Verständnisakt zugrunde liegt. Man erforscht also durch den Nachvollzug des von Fichte Beschriebenen das Bewusstsein als solches, bzw. das Ich, indem in diesem Akt dessen fundamentales Wesen verstanden und damit zugleich verwirklicht wird. Das Ich wird sich seines eigenen Wesens als einer Tathandlung bewusst, indem es den Denkakt als solchen als sein eigenes Tun reflektiert. Es findet eine Vereinigung von Richten der Aufmerksamkeit auf etwas, Ruhen in sich selbst (was Fichte als ›Contemplation‹ bezeichnet), diskursivem Denken und intuitiver Einsicht statt, also ein hochgradig meditativer Akt.

Fichte ist jedoch nicht der einzige Philosoph, der ein solches Vorgehen beschrieben hat. Wenn wir etwa den Blick auf die kontemplativen Traditionen richten, und insbesondere auf deren einschlägige Meditationshandbücher und -anleitungen, finden wir in der Tat Beispiele von Meditationen, die auf eine Selbsterkenntnis des Bewusstseins zielen und dabei in ähnlich performativer Weise vorgehen wie Fichte. Neben den acht Meditationen in Steiners Weg zur Selbsterkenntnis wäre da beispielsweise das Meditationshandbuch Bkra-śis-rnam-rgyal (engl.: Clarifying the Natural State) von Dakpo Tashi Namgyal (ca. 1511–1587) zu nennen. Dieses beschreibt, wie die Natur des Bewusstseins immer ›gerichtet‹ ist und einen Weg angibt, wie man durch angeleitetes Richten der Aufmerksamkeit auf die intuitive Tätigkeit des Geistes zu einem Erweckungserlebnis kommen kann:

Lass deinen Geist gewähren, wie er von sich selbst aus natürlich handeln würde, ohne korrigierend einzugreifen. Stimmt es nicht, dass alle deine Gedanken, seien sie einfach oder subtil, in sich selbst ruhen? Bewahre eine gleichmütige Ruhe und versuche zu bemerken, ob der Geist diese Ruhe nicht vielleicht auch in seinem natürlichen Zustand aufweist. […]

Werde nicht stumpf, unaufmerksam oder apathisch während dieses Zustandes. Stimmt es nicht, dass du diesen Zustand der Einheit des Geistes verbal nicht ausdrücken kannst, und auch keine ihr entsprechende Gedankenform bilden kannst? Ist es nicht vielmehr ein völlig unbeschreibbarer Zustand bewusster, aufmerksamer, unbegrenzter und heller Wachheit, der sich nur durch sich selbst erfasst?

Siehe während dieses Zustands der Gleichmütigkeit, ob es nicht eine Erfahrung ist, in welcher kein ›Ding‹ erfahren wird. (Namgyal [2001], 40 f.)

Diese Instruktionen erläutern also zum einen, wie man den Geist zur Ruhe bringen und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richten kann, und zum anderen bieten sie rhetorische Fragen über die Natur der dabei gesammelten Erfahrungen. Dadurch soll eine Einheit zwischen Konzentration (shamatha) und Einsichtsmeditation (vipashyanā) erzeugt werden. Es handelt sich um ein typisches Beispiel dafür, wie ein Meditationslehrer oder Guru seine Schüler anweisen kann, den Geist als solchen in den Blick zu nehmen. Solche Anweisungen werden bisweilen auch als ›hinweisende Anleitung‹ (pointing out instructions) bezeichnet. Sie ähneln der fichteschen Anleitung darin, dass sie konkrete Anweisungen geben, was man in der Meditation innerlich zu tun hat, worauf zu achten ist, und wie man die gesammelten Erfahrungen deuten kann. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass Fichte seinen Leser im obigen Beispiel direkt anspricht und dabei das Wesen der so ausgeführten Tathandlung als etwas beschreibt, das fundamental zum Wesen des Ich gehört, und er zudem das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis von Aktivität und Ruhe reflektiert. Buddhistische Lehrer würden es wahrscheinlich nicht für möglich halten, dass diese Zusammenhänge so deutlich in Worte zu fassen sind, wie Fichte dies vermutet, da es um ›unbeschreibbare Zustände‹ geht. Allerdings werden ›unbeschreibbare Zustände‹ doch oft beschrieben, genau wie im obigen Zitat. Diese Art von Widersprüchen sind charakteristisch für meditative Texte, sind in Steiners Schriften allerdings seltener. Wir werden auf diese Thematik im Abschnitt über »Denken und Begriff im Verhältnis zur geistigen Wirklichkeit« zurückkommen.

Die Meditationen in Ein Weg zur Selbsterkenntnis weisen eine ganz bestimmte Abfolge auf. Sie beginnen mit Betrachtungen über den ›physischen Leib‹ und schreiten fort zu Bemerkungen über den ›elementarischen Leib‹ und die ›elementarische Welt‹, den ›Astralleib‹ und den ›Ich-Leib‹. Zwischen der Behandlung des ›Elementarischen‹ und des ›Astralen‹ wird der sogenannte ›Hüter der Schwelle‹ thematisiert, womit Steiner möglicherweise andeuten möchte, dass dieser dem Meditierenden in dem Moment erscheine, in dem er in seiner geistigen Entwicklung von der Wahrnehmung elementarischer Phänomene zu denjenigen des astralen Erlebnisbereichs fortschreite. Das Thema der letzten beiden Kapitel ist die Art und Weise des Erlebens im Übersinnlichen und die dabei nach Steiner entstehende Einsicht in die Reinkarnation als eine Tatsache der menschlichen Existenz. Das allgemeine Aufbauschema des Buches könnte also als ein Aufstieg durch die verschiedenen Schichten des Seins beschrieben werden, welcher im gröbsten physischen Bereich beginnt und durch das ›Seelische‹ zum ›Geistigen‹ in immer subtilere Seins- bzw. Erkenntnissphären führt. Als Kennzeichen dieser Reise werden verschiedene Erlebnisse beschrieben, die sich auf ›Wesensglieder‹ oder ›Leiber‹ beziehen oder auf entsprechende ›physische‹, ›elementarische‹ oder ›astrale‹ Umgebungen. Den Abschluss bildet eine Darstellung möglicher geistiger Erlebnisse, die zu einer Einsicht in karmische Verhältnisse führen würden. Diese Abfolge erinnert an Beschreibungen von Gotama Buddhas Erleuchtungserlebnis, welches ebenfalls in der Einsicht in den Kreislauf der Widergeburten und in das Verhältnis von Aktion und Wirkung gipfelte und in der Formel der ›Vier edlen Wahrheiten‹ zusammengefasst wurde. Das Erwachen des Buddha wird ebenfalls als eine Reise durch die verschiedenen Ebenen des Seins beschrieben, auch wenn die Betonung mehr auf die Stufen des jeweiligen Erlebens im Bewusstsein, die sogenannten jhānas gelegt wird. Und wie bei Steiner führt auch bei Buddha die Reise zu einer Begegnung mit einem furchterregenden geistigen Wesen, das in der buddhistischen Literatur als der Dämon Māra beschrieben wird. Ausgehend von diesen Parallelen könnte man Steiners Weg zur Selbsterkenntnis als eine Art Landkarte für die Reise zur geistigen Erweckung verstehen, welche dieselben charakteristischen Etappen aufweist, die sich auch in anderen klassischen Erleuchtungsbeschreibungen finden, und zwar nicht nur in religiösen Schriften sondern auch in der allgemeinen Literatur. So könnte man beispielsweise Parallelen zwischen Ein Weg zur Selbsterkenntnis und Dantes Göttlicher Komödie entdecken, da ja auch dieses Werk von verschiedenen Bereichen des Seins bzw. Erlebens berichtet, durch welche die Seele nach dem Tod aufsteigt. Neben diesen Gemeinsamkeiten mit der traditionellen ›Erleuchtungs-‹ oder ›Einweihungsliteratur‹ gibt es jedoch auch solche Aspekte in Steiners Beschreibungen, die einzigartig und für eine anthroposophische Betrachtung charakteristisch sind. Einige dieser Besonderheiten der steinerschen Perspektive, welche die Anthroposophie als innovativ innerhalb der spirituellen Traditionen auszeichnen, werden im Folgenden näher betrachtet.

In seinen Vorträgen kommentiert Steiner seinen Weg zur Selbsterkenntnis mehrfach. In den meisten Fällen sind diese Hinweise allerdings sehr knapp und es wird zumeist nur diejenige Sicht auf die übersinnliche Erfahrung wiederholt, die im Weg zur Selbsterkenntnis selbst bereits dargestellt ist. Eine dieser Bemerkungen jedoch erscheint in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung, da sie zumindest zu einer begründeten Vermutung über die Stellung des Textes innerhalb des steinerschen Gesamtwerkes führen kann. Steiner spricht nämlich an dieser Stelle darüber, dass der Weg in die Welt der geistigen Erfahrung immer ein individueller ist. Er tut dies im Zusammenhang einer Besprechung der verschiedenen Charaktere seiner Mysteriendramen, von denen ein jeder einen ganz eigenen Weg einschlagen muss, um zu geistiger Erfahrung zu gelangen, und dabei betont er, dass keiner dieser Wege besser oder schlechter sei als die anderen. Dabei bezieht er sich auf Ein Weg zur Selbsterkenntnis und wiederholt seine Überzeugung, dass dieses Werk zwar einen individuellen Weg zu solcher Erfahrung beschreibe, deshalb aber trotzdem von allgemeinem Nutzen sein könne. Man könnte dies so verstehen, als deute Steiner damit an, der im Weg zur Selbsterkenntnis beschriebene Prozess stelle tatsächlich einen Bericht seiner eigenen geistigen Erfahrung dar. Denn wessen Weg sollte es sonst sein? Zudem wurden die Mysteriendramen etwa zur selben Zeit verfasst (1910–1913), wie der Weg zur Selbsterkenntnis (1912). Es wäre somit vorstellbar, dass er in die Beschreibung der individuellen Erkenntniswege seiner Dramencharaktere eigene Erlebnisse einfließen ließ. Folglich könnte er beispielsweise durch persönliche Erfahrungen zu der Erkenntnis gelangt sein, dass jemandes geistige Entwicklung von der Einsicht in die defizitäre Natur des Selbst (siehe dazu den Abschnitt über den »Hüter der Schwelle« unten) oder in die eigene Selbstbezogenheit profitiert. Man könnte dann diese Erfahrung auch im Kontext von Steiners Aufsatz über den Egoismus in der Philosophie lesen und bemerken, dass in diesem Text ein Übergang stattzufinden scheint zwischen einer Ich-zentrieren Perspektive zu einer mehr Welt-zentrierten Sichtweise. Mit anderen Worten: Es könnte sein, dass die Entwicklung seiner Ideen einen inneren oder spirituellen Prozess widerspiegelt, und dass Ein Weg zur Selbsterkenntnis einen Schlüssel zum Verständnis dieses Zusammenhangs darstellt. Die künftige Steinerforschung könnte dieser Hypothese nachgehen, indem sie Steiners Biographie, seinen intellektuellen Werdegang und seine Hinweise auf die geistige Entwicklung im Verhältnis zu Ein Weg zur Selbsterkenntnis näher untersucht. Dabei könnte das unbestimmte Pronomen im Titel des Werkes im Sinne des bestimmten Personalpronomens verstanden werden, d.h. als »Mein Weg zur Selbsterkenntnis«.

Die Schwelle der geistigen Welt

Die Ziele der Schrift Schwelle der geistigen Welt sind denen des Werkes Ein Weg zur Selbsterkenntnis verwandt. Steiner beabsichtigt in beiden Texten, bereits veröffentlichtes Material von neuen Gesichtspunkten aus zu beleuchten, spirituell Suchenden Anregungen zu bieten und ihnen Stoff für die Meditation zu liefern. Allerdings ist die Schrift von 1913 weniger performativ als sein Text aus dem Jahre 1912. Die in diesem Werk gebotenen Kapitelzusammenfassungen könnten zwar in ihrer Verdichtung als besonders geeignet für die meditative Praxis angesehen werden, doch weisen sie nicht die poetische Qualität anderer anthroposophischer Spruchdichtung auf. Interessant ist auch der Untertitel von Die Schwelle der geistigen Welt: »Aphoristische Ausführungen«. Aphorismen sind kurze und bisweilen paradoxe Äußerungen, die irgendwo zwischen Prosa und Poesie verortet sind (wie etwa das bekannte Beispiel Heraklits: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen«). Diese Gestaltungsmerkmale weisen Steiners Zusammenfassungen allerdings nicht auf, und sie sind im Grunde auch zu sachlich formuliert, um im traditionellen Sinne als Aphorismen gelten zu können. Steiner selbst schreibt dazu:

In dieser Schrift werden in aphoristischer Form einige Schilderungen gegeben derjenigen Teile der Welt und der menschlichen Wesenheit, die geschaut werden, wenn die geistige Erkenntnis die Grenze überschreitet, welche Sinneswelt von Geisteswelt trennt. Es ist weder eine systematische Darstellung noch in irgendeiner Beziehung Vollständigkeit angestrebt, sondern es sind in freier Art einige Beschreibungen versucht von geistigen Erlebnissen. (SW, 5)

›Aphoristisch‹ bedeutet für Steiner also offenbar lediglich, dass seine Darstellung freier, knapper und weniger systematisch ist als in anderen Schriften. Wenn wir nun zum Inhalt übergehen, so gibt Steiner an, in der Schwelle zur geistigen Welt auf sehr ähnliche Weise geistige Erfahrungen zu beschreiben, wie in Ein Weg zur Selbsterkenntnis. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass sich der neue Text keineswegs auf solche Beschreibungen beschränkt. So versucht Steiner beispielsweise in dem Kapitel »Von dem Erkennen der geistigen Welt«, seinen Lesern das Auftreten geistiger Erfahrungen durch einen Vergleich mit dem Erinnerungsprozess deutlich zu machen. Und in den Zusammenfassungen listet er allgemeine Gesetzmäßigkeiten auf und keine einzelnen Erlebnisse. Darüber hinaus nimmt Steiner die Ich-Perspektive deutlich weniger ein, und verallgemeinert stattdessen in seinen Ausführungen. Hier ein charakteristisches Beispiel für diese Art der Darlegung:

Wenn die Menschenseele bewußt in die elementarische Welt eintritt, so sieht sie sich genötigt, manche Vorstellungen, welche sie innerhalb der Sinneswelt gewonnen hat, zu verändern. Verstärkt die Seele ihre Kräfte entsprechend, so wird sie zu dieser Veränderung auch fähig. Nur wenn sie zurückscheut, diese Verstärkung sich zu erwerben, so kann sie von dem Gefühle befallen werden, beim Eintritte in die elementarische Welt den festen Boden zu verlieren, auf welchem sie ihr inneres Leben aufbauen muß. (SW, 57)

Diese Ausführungen klängen anders, wären sie aus der Ich-Perspektive verfasst. So aber präsentieren sie Erlebnisse beim Eintritt in die elementarische Welt als Gesetzmäßigkeiten. Man könnte zur Illustration die obige Äußerung einmal aus der Ich-Perspektive formulieren: »Als ich bewusst in die elementarische Welt eintrat, fühlte ich mich genötigt, manche Vorstellungen, wie ich sie innerhalb der Sinnenwelt gewonnen hatte, zu verändern«. Die induktive Verallgemeinerung dieser Erfahrung könnte dann als Gesetz formuliert werden, da vermutlich jeder Mensch in dieser Situation eine ähnliche Erfahrung macht: Jede menschliche Seele fühlt beim Eintritt in die elementarische Welt die Nötigung, ihre frühere Vorstellungsweise zu verändern. Dagegen kann freilich eingewendet werden, dass manche Menschen dieselbe Erfahrung ohne eine solche Veränderung durchmachen könnten oder sie vielleicht eher als ›unbeschreiblich‹ charakterisieren. Um also solche Aussagen zu rechtfertigen, hätte Steiner eigentlich auf die entsprechenden Erlebnisse eingehen müssen. Eine solche systematische Analyse wäre jedoch innerhalb der aphoristischen Überlegungen zu umfangreich gewesen. Nichtsdestoweniger kann der Leser den Eindruck gewinnen, dass Steiner möglicherweise auch in der Schwellen-Schrift von seinen eigenen begrenzten Erlebnissen ausgeht und diese generalisiert. In welchem Maße dies jedoch so ist, lässt sich schwer einschätzen und Steiner selbst gibt keinen Hinweis darauf, wie er zu den dargestellten Ergebnissen gekommen ist.

Wie auch immer es sich damit verhalten mag, es bleibt das charakteristische Ziel sowohl von der Schwelle der geistigen Welt als auch von Ein Weg zur Selbsterkenntnis, die Erlebnisse der Seele auf ihrer Reise durch die Welt der ›elementarischen‹, ›seelischen‹ und ›geistigen‹ Erfahrung zu beschreiben. Und auch die allgemeine Form beider Texte ist auffallend ähnlich. Wie in der früheren Schrift wird auch in der späteren ein gradueller epistemologischer Aufstieg durch die Schichten des Seins dargestellt, bis zur Höhe des Geistigen bzw. des Ich (allerdings beginnt Steiner in seinem Werk aus dem Jahre 1913 zunächst mit dem ›ätherischen Leib‹ und führt den ›physischen‹ erst später ein). Neu an der Schwellen-Schrift ist jedoch, dass Steiner zunächst von der Bedeutung des Denkens und dem allgemeinen Charakter übersinnlicher Erfahrung spricht, wodurch eine Art Grundlage für die folgende Darstellungen gelegt wird. In den anschließenden Kapiteln werden anthropologische Aspekte und die Erfahrung geistiger Wesen und höherer Welten thematisiert. Dann kehrt Steiner noch einmal zum ›physischen Leib‹ zurück und diskutiert dessen Verbundenheit mit dem Ich:

Für den Menschen kann dieses Ich-Erlebnis zuerst nur in der Sinneswelt eintreten, wenn er von seinem physisch-sinnlichen Leib umhüllt ist. Von da aus kann er es dann in die elementarische Welt und in die geistige Welt hineintragen und seinen ätherischen und astralischen Leib damit durchdringen. Der Mensch hat eben einen ätherischen und astralischen Leib, in welchen sich das Ich-Erlebnis zunächst nicht bildet. Er hat einen physisch-sinnlichen Leib, in dem dieses Erlebnis auftreten kann. (SW, 87 f.)

Im Weiteren wird der ›physische Leib‹ zu der ersten kosmogonischen Entwicklungsstufe der Erde in Beziehung gesetzt (die in der Anthroposophie als ›alter Saturn‹ charakterisiert wird). Dadurch wird das gröbste der menschlichen Wesensglieder (der ›physische Leib‹) mit der frühesten kosmogonischen Entwicklungsstufe der Erde in Verbindung gebracht und beide als Grundlage des subtilsten und am weitesten entwickelten Wesensgliedes (des Ich) verstanden. So könnte sich erklären, warum der physische Leib in der Schwellen-Schrift so spät thematisiert wird. Allerdings macht Steiner in seiner Einleitung deutlich, dass er in dem Text keine systematische Entwicklung der Thematik intendiert. Wohl aber finden sich am Schluss des Werkes Hinweise darauf, wie sich die Darstellungen der verschiedenen Seins- bzw. Erlebnisbereiche in den Schriften von 1912 und 1913 zu denjenigen verhalten, die in der Theosophie und der Geheimwissenschaft zu finden sind. Diese geben dem Leser die Möglichkeit, die aphoristischen und teilweise mit veränderter Terminologie arbeitenden Schilderungen der jüngeren Texte in den systematischen Kontext der älteren und ausführlichen Darstellungen einzuordnen.

Auch zur Schwelle der geistigen Welt finden sich Bemerkungen in Steiners späten Vorträgen, welche Licht auf das Buch und auf die Anthroposophie insgesamt werfen. So spricht Steiner über diese Schrift in einem Vortrag in Köln vom 18. Dezember 1913, also nur wenige Monate nach dessen Veröffentlichung:

Da ist gezeigt, wie durch allmähliches Aufsteigen der Seherblick sich erhebt von dem, was sich um uns herum ausbreitet als Dinge, als Vorgänge in den Dingen, wie das alles sozusagen als ein Nichtiges entschwindet und schmilzt, vernichtet wird und zuletzt die Region erreicht wird, wo nur noch Wesen in irgendwelchen Bewußtseinszuständen sind. Also, die wirklichen Realitäten der Welt sind Wesen in den verschiedenen Bewußtseinszuständen. Daß wir in dem menschlichen Bewußtseinszustand leben und von diesem Bewußtseinszustand keinen vollen Überblick über die Realitäten haben, das bewirkt, daß uns dasjenige, was keine Realität ist, als eine Realität erscheint. (GA 148, 306)

Dabei scheint ihm besonders wichtig herauszustreichen, dass alles Sein letztendlich Geist bzw. ›Bewusst-Sein‹ ist:

Es ist gut, festzuhalten, daß es im Grunde genommen im Weltenall doch nichts anderes gibt als Bewußtseine. Außer dem Bewußtsein irgendwelcher Wesenheiten ist letzten Endes alles übrige dem Gebiete der Maja oder der großen Illusion angehörig. (ebd., 305)

Steiner illustriert dies am Beispiel eines menschlichen Haares, welchem, wenn es nur für sich betrachtet werde, keine wirkliche Existenz zugeschrieben werden könne. Es bestehe nicht in sich selbst, sondern habe ein Sein nur im Verhältnis zu demjenigen Menschen, an dem bzw. aus dem heraus es wächst. Welche Form des Seins der Mensch auch immer betrachten möge, so sein Argument, das daran beteiligte Bewusstsein sei als die Wurzel und Grundlage des Betrachteten und somit als die einzige für sich bestehende Form des Seins zu verstehen (ebd., 306). Steiner vertritt hier also interessanterweise eine panpsychische Perspektive und steht somit der Nur-Geist-Schule (cittamātra) innerhalb des Buddhismus nahe. Denselben Standpunkt nimmt er auch in einem Vortrag des Folgejahres ein, gehalten in Dornach am 14. November 1914. Dabei bezieht er sich auf seine Aussage in der Schwelle der geistigen Welt, dass der elementarische (bzw. ätherische) Leib des Menschen mit dem elementarischen Leib der Erde verbunden sei. Darüber hinaus äußert er die Überzeugung, dass selbst die physische Erde in gewisser Hinsicht nichts anderes als Geist sei:

Zur Erde gehört zunächst die feste Erde selber, welche die Kontinente bildet. Das, was wir aber als dieses Materielle, Feste der Erde ansprechen, ist nichts anderes als Maja. Die Wirklichkeit ist eine große Summe von Naturgeistern, die wieder geführt werden von Geistern höherer Hierarchien. Daß sich das gleichsam zusammenballt und als feste Erde wirkt, ist Maja. Die Erde ist durch und durch Geist. (GA 158, 59)

Wirklichkeit ist also nach Steiner, selbst in ihren gröbsten und konkretesten Manifestationen, dem Wesen nach immer Bewusstsein bzw. Geist. Allerdings nicht in dem Sinne, dass alle äußerlichen Erscheinungen auf einen einzigen universellen Geist zu reduzieren wären. Geist ist für Steiner, wie sich an seiner oben angedeuteten Analyse der Wirklichkeit zeigt, immer differenziert und tritt in der Form individualisierter geistiger Wesenheiten auf.

 

Einzelne Problemstellungen

Im Folgenden sollen einige der Themen betrachtet werden, die Steiner im Weg zur Selbsterkenntnis und der Schwelle zur geistigen Welt entweder wiederholt anspricht oder in ein neues Licht rückt. Dabei handelt es sich um erkenntnistheoretische, anthropologische und kosmologische Fragen, die das Wesen des Selbst, die Natur des Denkens und der Begriffe sowie die Begegnung mit dem ›Hüter der Schwelle‹ betreffen.

 

Erkenntnistheoretische Probleme

Zunächst sollen einige Inhalte besprochen werden, die mit Steiners Erkenntnistheorie und seinem Modell des spirituellen Wissens im Zusammenhang stehen und in den Schriften dieses Bandes wiederholt Erwähnung finden. Damit fassen wir ein Thema, das man ›spirituelle Erkenntnis‹ nennen könnte, ins Auge, das natürlich nicht nur in der Anthroposophie eine zentrale Rolle spielt, sondern auch in anderen Meditationstraditionen, und das dort wie bei Steiner mit der Anschauung zusammenhängt, dass der Mensch zu einer höheren Stufe des Wissens bzw. Bewusstseins erwachen kann als der gewöhnlichen. Dabei wird der Begriff der spirituellen oder geistigen Erkenntnis etwas anders gefasst, als dieser gewöhnlich in der philosophischen Erkenntnistheorie verstanden wird. Denn dort wird ›Erkenntnis‹ im Allgemeinen als ein Prozess verstanden, der sich aus dem Zusammenwirken von sinnlicher Beobachtung und begrifflicher Arbeit ergibt, oder auch aus der Arbeit mit Begriffen allein, und diese Verhältnisse werden dann in der Regel in theoretischer Weise dargestellt. In den erwähnten spirituellen Traditionen und auch der Anthroposophie spielt der Begriff der geistigen Erkenntnis bzw. des geistigen Wissens eine existentielle Rolle. Der Erwerb dieses Wissens wird vielfach als das Beschreiten eines gefahrvollen ›Pfades‹ beschrieben, auf dem der Mensch Hindernisse zu überwinden hat und in dessen Verlauf er irgendwann vor einem ›Abgrund‹ steht, der ihn mit der Auslöschung seines bisherigen Selbst bedroht. Dieser Pfad beinhaltet noch weitere schmerzvolle Erlebnisse, einschließlich der Erfahrung, dass alle Illusionen des Menschen in seiner Selbstbezogenheit ihren Ursprung haben. Der Begriff der geistigen Erkenntnis beinhaltet in den verschiedenen spirituellen Traditionen immer auch eine Selbsterkenntnis und betrifft nicht nur den Intellekt, sondern den gesamten Menschen mit seinen Gefühlen und seiner nachtodlichen Existenz. In der zweiten Meditation von Ein Weg zur Selbsterkenntnis wird beispielsweise beschrieben, wie die Seele an den oben erwähnten Abgrund herantritt und dabei von existentieller Angst ergriffen wird. Diese Angst erklärt sich nach Steiner dadurch, dass der Erkenntnissucher dasjenige, was er bisher als sein Ich betrachtet und auf dem er seine bisherige Identität aufgebaut hat, vor dem Eintritt in die geistige Erkenntnis loslassen und als eine selbsterzeugte illusorische Konstruktion durchschauen muss. Und diese existentielle Angst vor dem Ich-Verlust hindere den Menschen daran, im Erkenntnisfortschritt die Grenzen seiner Ich-zentrierten Identität zu überschreiten.

Von diesem Gesichtspunkt aus argumentiert Steiner dann weiter, dass man die Einwände derjenigen, welche die Existenz einer geistigen Welt bzw. die Möglichkeit geistiger Erkenntnis leugnen, als eine Abwehrreaktion verstehen könne, die in Wirklichkeit auf einer unbewussten Angst vor dem Ich-Verlust beruht. Dieses Argument kann auf den ersten Blick simplifizierend oder rein rhetorisch erscheinen, doch könnte man darin durchaus auch eine tiefenpsychologische Dimension erkennen. Steiner erkennt generell den immensen Einfluss des Unbewussten auf das menschliche Verhalten an. Dies zeigt sich besonders am Beispiel der sogenannten inneren Begegnung mit dem ›Hüter der Schwelle‹. Dieses Erlebnis, bei dem der für die geistige Erkenntnis noch nicht reife Mensch an der ›Schwelle‹ zurückgehalten wird, beschreibt Steiner als ausgesprochen herausfordernd und schmerzvoll. Denn in dieser Erfahrung erweise sich nicht nur ein gewisses Denken oder eine bestimmte Erkenntnis als fehlerhaft und unzureichend, sondern das gesamte bisherige Selbstbild, ja das Ich als solches. An der Schwelle des ›Hüters‹ erlebt nach Steiner der Mensch sich selbst als kosmische Fehlentwicklung.

Solche Erlebnisse und die damit einhergehende ›Reinigung‹ des Menschen durch die Befreiung vom Selbstbild gehören zu den Pfaden der geistigen Erkenntnis in den verschiedenen spirituellen Traditionen. Steiner schildert diesen Prozess besonders eindringlich im Zusammenhang mit der Erfahrung des Hüters der Schwelle. Ohne diese Reinigung würde der Mensch beim Eintritt in den Bereich der geistigen Erfahrung Vorstellungen in diesen hineintragen, welche die Erkenntnis in diesem Bereich verfälschten. Der Vorgang ist vergleichbar mit der Reinigung der Linsen an einem Mikroskop. Wenn die Linsen von Staub oder Unreinheiten bedeckt sind, besteht die Gefahr, fehlerhaft zu beobachten oder überhaupt nichts zu sehen. In ähnlicher Weise verzerrt oder verhindert nach Steiner die Selbstbezogenheit des Menschen den klaren Blick auf die geistigen Erfahrungen. Diese ›Reinigung‹ der Seele ist das Ergebnis der inneren Erfahrungen, der Einsicht in das eigene Wesen, welche der Erkenntnissuchende auf dem Pfad durchleben muss.

Der Weg zu geistiger Erkenntnis ist also nach Steiner ein sehr persönlicher und mühsamer Prozess. Ferner ist charakteristisch, dass diese ›unbequemen‹ und teilweise schmerzvollen Erfahrungen und Gefühle nicht verschwinden, sobald man ihnen in der Selbsterkenntnis begegnet. Vielmehr werden bestimmte gefühlsmäßige Grunderlebnisse und besonders bestimmte Sympathien und Antipathien zu einer wesentlichen Quelle der Erkenntnis. Dies ist wieder ein Punkt, an dem Steiners Konzeption der geistigen Erkenntnis etablierten wissenschaftlichen Anschauungen widerspricht. Etwas ist nicht wahr, so sagen wir gewöhnlich, nur weil ich fühle oder will, dass es wahr ist, sondern die Wahrheit besteht unabhängig von den Gefühlen und Absichten, die ich damit verbinde. Gefühle werden in diesem Zusammenhang als etwas gesehen, das der Fähigkeit, die Wahrheit klar zu sehen, im Wege steht. In Steiners Schwelle der geistigen Welt spielen Gefühle auf dem Weg zu geistiger Erkenntnis hingegen eine wichtige Rolle, und auch im Weg zur Selbsterkenntnis fungieren bestimmte Empfindungen als wichtige Wegmarken des meditativen Erlebens. So wird in der ersten Meditation dieser Schrift die Natur des physischen Leibes betrachtet. Dabei wird zunächst rein begrifflich das Wesen dieses Leibes betrachtet sowie auch die Fähigkeit der Seele, unabhängig von diesem zu existieren. Dann aber leitet die Meditation über zu gewissen Gefühlen, die sich einstellen können, wenn man sich die Möglichkeit einer Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Seele vom Leib vorstellt. In einer traditionellen philosophischen Betrachtung dieser Frage würde man wohl eine rein theoretische Argumentation erwarten, frei von jedem Gefühlsaspekt. Bei Steiner werden hingegen nicht nur bestimmte während eines Gedankengangs auftauchende Gefühle erwähnt, sondern diese bestätigen sogar die Wahrheit des vorgetragenen Gedankens:

Die Seele fühlt nichts Unerträgliches bei dem Gedanken, daß ihre Stoffe und Kräfte Vorgängen der Außenwelt verfallen, die mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun haben. Sie kann in ihren Tiefen bei vollkommen unbefangener Hingabe an das Leben keinen aus dem Leibe aufsteigenden Wunsch entdecken, der ihr den Gedanken unbehaglich machte an die Auflösung nach dem Tode. Das Unerträgliche tritt erst dann ein, wenn die Vorstellung gebildet werden sollte, die in die Außenwelt zurückkehrenden Stoffe und Kräfte nehmen die sich erlebende Seele mit. (WS, 8 f.)

Und gleicherweise heißt es im Folgenden:

Der Außenwelt während des Lebens einen ganz andren Anteil an dem Leibesdasein zuzuerkennen als nach dem Tode, ist ein Gedanke, der aus dem Nichts hergeholt werden müßte. Als sinnloser Gedanke muß er stets vor der Wirklichkeit zurückprallen, während doch die Vorstellung ganz gesund ist, daß die Außenwelt während des Lebens ganz den gleichen Anteil an dem Leibe hat wie nach dem Tode. Die Seele fühlt sich, wenn sie den letzteren Gedanken hegt, ganz im Einklangmit der Offenbarung der Tatsachen. Sie kann empfinden, daß sie durch diese Vorstellung nicht in Mißklang kommt mit den Tatsachen, die durch sich selbst sprechen und denen kein künstlicher Gedanke hinzugefügt werden darf.

Man achtet nicht immer darauf, in wie schönem Einklange das natürliche, gesunde Empfinden der Seele mit der Naturoffenbarung ist. Es könnte dies so selbstverständlich erscheinen, daß es gar keiner Beachtung wert wäre; und doch ist dies scheinbar Bedeutungslose lichtbringend. Nichts Unerträgliches hat der Gedanke, daß der Leib in die Elemente aufgelöst werde; etwas Sinnloses dagegen der andre, daß dies auch mit der Seele geschehe. Es gibt viele menschlich persönliche Gründe, welche dies als sinnlos erscheinen lassen; diese müssen von der objektiven Betrachtung unberücksichtigt gelassen werden. (WS, 9)

Auffällig an diesen Ausführungen ist, dass der Prozess der Erkenntnis in deskriptiver Weise dargestellt wird. Steiner beschreibt detailliert, was die Seele fühle bzw. fühlen könne, werde sie mit bestimmten Gedanken über ihre eigene Natur konfrontiert. Diese Gefühle, etwa der Ärger über die ›Unerträglichkeit‹ oder die ›Sinnlosigkeit‹ des Gedankens, die Seele könne ohne einen physischen Leib nicht existieren, werden als Mittel gesehen, durch die es möglich sei, zu einer wahrheitsgemäßen Erkenntnis zu gelangen, in diesem Fall über die Leibunabhängigkeit der Seele.

Interessanterweise versteht Steiner die beschriebene anthroposophische Perspektive als einen objektiven Zugang zu der behandelten Frage. Wie aber kann das sein, wenn die Argumentation sich auf etwas so Subjektives wie Gefühle beruft? Steiner scheint darauf hinweisen zu wollen, dass es prinzipiell möglich sei, eine objektive Haltung gegenüber den eigenen Gefühlsreaktionen einzunehmen, und die so von Subjektivität befreiten seelischen Reaktionen dann für die Wahrheitserkenntnis zu nutzen, etwa wie wenn man sich von Gefühlen nicht mitreißen lässt, aber trotzdem als Ausdruck einer Tatsache nimmt (ähnliches findet in Bezug auf Empfindungen statt: Subjektiv erlebter Schmerz kann ein Hinweis auf physische Verletzung sein). Dagegen werden wahrscheinlich viele Leser einwenden, dass die Erkenntnis der Wahrheit eines Sachverhaltes auf der Grundlage empirischer Daten und begrifflicher Erwägungen gewonnen werden müsse und nicht mithilfe von Gefühlen erlangt werden könne. Dem kann allerdings entgegenhalten werden, dass auch theoretische Erwägungen im Grunde auf begrifflichen Intuitionen beruhen, die als eine Art von Gefühlen verstanden werden können, und dass alle Empirik nichts Wert ist ohne eine begriffliche Bearbeitung. Doch haben die Menschen offensichtlich unterschiedliche Intuitionen und Gefühle, und das obige Argument könnte daher dazu führen, dass verschiedene Meinungen über einen Gegenstand sich allesamt auf persönliche Gefühlserlebnisse berufen, auch wenn jeder behaupten könnte, nur seine eigenen Intuitionen seien objektiv. Die Wahrheit würde dann wohl am Ende demjenigen zugesprochen werden, der rhetorisch am effektivsten seinen Anspruch geltend machen kann. In eine ähnlich verfahrene Situation gerät Steiner, wenn er behauptet – möglicherweise inspiriert durch Nietzsche – dass bestimmte Anschauungen ›gesünder‹ seien als andere. Denn nun müsste gefragt werden, welcher Begriff von Gesundheit dieser Argumentation zugrunde liegt und ob ein solcher Hinweisüberhaupt irgendeinen argumentativen Wert hat oder nicht ausschließlich rhetorischen Zwecken dient. Ferner ist in der europäischen Kulturgeschichte oftmals der Versuch unternommen worden, esoterische Vorstellungen zu diskreditieren, indem man sie als ›ungesund‹ ‒ immoralisch oder auf andere Weise gefährlich ‒ bezeichnet hat. Es besteht also keineswegs Einigkeit darüber, was im Gedanklichen ›gesund‹ ist oder nicht. Man könnte sogar (wiederum mit Nietzsche) argumentieren, dass ein auf einer Lüge oder zumindest einer Einbildung beruhendes Leben in psychologischer Hinsicht sogar gesünder sein könnte als ein Leben im Wissen einer bedrückenden Wahrheit, und dass somit zwischen Wahrheit und Gesundheit kein zwingender Zusammenhang besteht.

Durch Betrachtungen dieser Art wird klar, dass es den von Steiner angebotenen acht Meditationen nicht primär darum geht, eine bestimmte Einsicht begrifflich zu vermitteln, sondern um geistige Praxis und die Freilegung von Wegen, Wirklichkeit anders zu erfahren und zu erkennen. Bereits in den Stufen der höheren Erkenntnis hatte Steiner ausgeführt, dass es zur geistigen Praxis gehört, ein ganz neues Verhältnis gegenüber den eigenen Gefühlen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang erwähnt er beispielsweise Gefühle des Schmerzes und der Befriedigung, die von wahren und falschen Aussagenausgelöst werden können:

Zu den wichtigsten [Gefühlen dieser Art] gehört eine höhere Empfindlichkeit gegenüber von ›wahr‹ und ›unwahr‹, von ›richtig‹ und ›unrichtig‹. Gewiß hat ja auch der gewöhnliche Mensch ähnliche Gefühle. Sie müssen aber eben bei dem Geheimschüler in einem viel höheren Maße ausgebildet werden. Man nehme an, jemand begehe einen logischen Fehler: ein anderer sieht diesen Fehler ein, und er stellt die Sache richtig. Man mache sich klar, wie groß der Anteil des Urteiles, des Verstandes bei einem solchen Richtigstellen ist und wie gering das Gefühl der Lust beim Richtigen, der Unlust beim Unrichtigen. Wohlgemerkt, es soll durchaus nicht behauptet werden, daß die Lust und entsprechend die Unlust gar nicht vorhanden seien. Aber der Grad, in dem sie im gewöhnlichen Leben vorhanden sind, muß sich in der Geheimschulung ins Unbegrenzte steigern. Ganz systematisch muß der Geheimschüler die Aufmerksamkeit auf sein Seelenleben lenken: und er muß es dahin bringen, daß ihm das logisch Unrichtige eine Quelle des Schmerzes wird, der durchaus nicht hinter einem physischen Schmerze zurückbleibt; und in umgekehrter Art muß ihm das ›Richtige‹ wirkliche Freude oder Lust bereiten. Wo also ein anderer nur seinen Verstand, seine Urteilskraft in Bewegung bringt, muß der Geheimschüler lernen, die ganze Stufenfolge von Gefühlen, vom Schmerz bis zum Enthusiasmus, von der wehevollen Spannung bis zur entzückenden Lösung im Besitz der Wahrheit zu durchleben. Ja, er muß etwas wie Haß empfinden lernen gegen dasjenige, was beim ›normalen‹ Menschen nur als ein nüchtern-kaltes ›Unrichtiges›‹ erlebt wird; er muß eine Liebe zur Wahrheit in sich entwickeln, welche einen ganz persönlichen Charakter trägt; so persönlich, so warm wie der Liebende der Geliebten gegenüber empfindet. (SE, 275)

Die in der meditativen Darstellung vorgetragenen Vorstellungen über das Verhältnis zwischen der Seele und dem physischen Leib stecken ein Feld spiritueller Praxis ab, innerhalb dessen nicht nur gedacht und definiert wird, sondern in dem es auch und besonders darum geht, bestimmte Gefühlserlebnisse zu erwecken und zu intensivieren. In dieser Hinsicht besteht also ein zentraler Unterschied zwischen diskursiven und meditativen Darstellungen. Im Kontext der letzteren geht es nicht nur um Wahrheit oder Unwahrheit, sondern besonders auch um das Erleben der dadurch ausgelösten Gefühle. In der im Weg zur Selbsterkenntnis diskutierten Frage nach der Unsterblichkeit der Seele liegt jedoch keine logische Unmöglichkeit in der Vorstellung, dass die Seele sich nach der Auflösung des physischen Leibes ebenfalls auflöst; auch Steiner weist keine solche logische Unmöglichkeit nach. Es wird somit nicht deutlich, wieso in diesem Beispiel der Gedankeninhalt (die Möglichkeit der Sterblichkeit der Seele) ein bestimmtes Gefühl (nämlich das der Unerträglichkeit dieses Gedankens) auslösen sollte. Vielmehr geht Steiner offensichtlich einfach davon aus, dass der Gedanke einer Auflösung der Seele nach der Ablösung vom Leib unzutreffend ist. Zentral scheint für ihn zu sein, dass man gegenüber diesem seiner Ansicht nach unzutreffenden Gedanken das Gefühl der Unerträglichkeit entwickelt.

Dem könnte ein Kritiker vielleicht vorwerfen, dass Steiner sich hier einer manipulativen Rhetorik bedient: Erst erzählt er seiner Leserschaft, wie sie über bestimmte Dinge zu fühlen hat, dann beruft er sich auf die geistige Intuition, um seine Sicht auf diese Dinge zu rechtfertigen, während er in Wirklichkeit seine eigene Intuition aufdrängt. Einer solchen Kritik könnte man freilich umgekehrt vorwerfen, dass sie auf genau die gleiche Weise verfährt. Auch der Kritiker stellt ja seine Sicht der Dinge nur deshalb so dar, weil er ebenfalls sein Publikum dazu bringen möchte, darüber so zu denken wie er selbst. Aber wäre es überhaupt sinnvoll gewesen, wenn Steiner in WS und SW auf derartige mögliche Einwände auf seine Darstellung eingegangen wäre? In Texten, die so ausdrücklich auf eine meditative Rezeptionshaltung hin angelegt sind, wäre doch eine solche argumentative Debatte eher unpassend gewesen. An anderen Stellen hat Steiner sich ja keineswegs gescheut, auf Einwände seiner Gegner (oder auch auf solche, die er sich selbst vorlegte) mit detaillierten Erwiderungen einzugehen.

Es ist ja in der Philosophiegeschichte verschiedentlich argumentiert worden, dass ein Hervorgehen von Bewusstsein aus der Materie nicht vorgestellt werden könne, weil es sich dabei um zwei grundverschiedene Kategorien handle. In einer Ansammlung von Materie, so die Argumentation, könnten sich keine Erlebnisse abspielen, weil die Materie einfach nicht die dazu erforderliche Intentionalitätsstruktur aufweise. Bewusstsein sei schließlich, im Sinne des von Franz Brentano formulierten Intentionalitätstheorems, immer Bewusstsein von etwas. Im Gegensatz dazu sei Materie per definitionem niemals Materie von etwas. Diese könne zwar Medium des Bewusstseins sein, etwa wenn die Materie die Form von Buchstaben, Wörtern oder Bildern annehme und dadurch Bewusstseinsinhalte darstelle, aber das Erscheinen von Bewusstheitsinhalten in Form einer materiellen Manifestation könne doch immer nur wieder innerhalb eines bewussten Wesens stattfinden. Und wenn die Materie sich auflöse, wenn die Buchstaben oder das Bild vernichtet würden, werde damit nicht zugleich die Bedeutung derselben vernichtet? Eine solche Argumentation könnte Steiners Position stärken, natürlich vorausgesetzt es würde zunächst aufzeigt, dass die Seele bzw. das Bewusstsein sich tatsächlich in ähnlicher Weise zum physischen Leib verhält wie die Bedeutung eines Wortes zu dessen materiellem Träger.

Im Nachwort zum Weg zur Selbsterkenntnis, welches Steiner der Neuauflage von 1918 hinzufügte, werden drei Merkmale der übersinnlichen Erfahrung beschrieben. Das erste sei, dass diese Erfahrungen nicht oder nur schwer erinnerbar seien. Allerdings könne man diejenigen inneren Vorgänge erinnern, die man vollzogen habe, um zu diesen Erfahrungen zu gelangen. Zu diesen Merkmalen äußert Steiner sich auch im Nachwort zur Schwelle der geistigen Welt, das ebenfalls im Jahr 1918 hinzugefügt wurde. Dort heißt es, dass die Fähigkeit der Erinnerung während der geistigen Wahrnehmung inaktiv sei. Allerdings bewahre sich die Seele Spuren dieses Wahrnehmungsvorganges, durch die sie sich später selbst erkennen bzw. wiedererkennen könne, wenn sie sich innerhalb der Welt der geistigen Erfahrung befinde. Steiner betont also, dass alles, was während der geistigen Wahrnehmung geschieht, in voll bewusster Weise abläuft. Ferner merkt er an, dass die Seele die übersinnlichen Erfahrungen durch Worte und Bilder, die eigentlich zur Beschreibung der physisch erfahrbaren Welt geschaffen wurden und tauglich sind, einen mehr oder weniger angemessenen Ausdruck zu verleihen vermag. Dadurch sei es indirekt möglich, diese Erfahrungen doch zu erinnern. Allerdings dürften solche Charakterisierungen nicht als absolut verstanden werden. Steiner merkt ausdrücklich an, dass es »nicht leicht« sei genau zu bestimmen, was man mittels der Erinnerung erlebe und man, um über eine solche Erfahrung zu sprechen, »oft genötigt« sei, sich wieder in den inneren Zustand zu versetzen, in dem es ursprünglich dazu gekommen ist (SW, 108). Aber ›nicht leicht‹ bedeutet eben nicht ›unmöglich‹, und ›oft‹ heißt nicht ›immer‹, d.h. Steiner spricht hier nicht über absolute Charakteristika der übersinnlichen Erfahrungen, sondern über Tendenzen, die sie aufweisen. Ein Gleiches gilt auch für die folgenden Aussagen.

Das zweite Charakteristikum der geistigen Erfahrung besteht nach Steiner darin, dass es schwierig sei, das gleiche Erlebnis ein zweites Mal hervorzurufen. Prinzipiell gilt ja die Wiederholbarkeit im Experiment als eine unabdingbare Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Forschung. Außerdem ist es ja so, dass wir uns normalerweise an wiederholte Erlebnisse gewöhnen und die Wiederholung dadurch zunehmend leichter fällt. Bei der geistigen Erfahrung ist es jedoch anders. An eine geistige Wahrnehmung kann man sich nach Steiner prinzipiell nicht erinnern, sondern diese muss, soll sie genuin eine solche sein, immer wieder neu gemacht werden. Auf diese Problematik ist Steiner etwa in der dritten Auflage seiner Theosophie eingegangen, die zeitgleich zu den Schriften dieses Bandes entstand, indem er hervorhob, dass Erlebnisse im Bereich der geistigen Erfahrung nicht unabhängig von der Bereitschaft dieses Geistigen, sich zu offenbaren, sind. Ihre Wiederholung kann daher nicht in gleicher Weise durch eine Experimentalanordnung erzwungen werden wie die willens- und bewusstseinslosen Vorgänge der physischen Welt. Auch in seiner Schrift Von Seelenrätseln, in einem Zusatz mit dem Titel »Ein oft erhobener Einwand gegen die Anthroposophie« (VS, 261–265), geht Steiner auf diese Problematik ein. Erneut verdeutlicht er, wenn auch aus anderer Perspektive, dass gewisse Methoden, die in der Naturwissenschaft funktionieren, für seine geisteswissenschaftliche Forschung inadäquat wären. Denn der entsprechende Gegenstand solcher Forschung sei eben in der ›Natur‹ – also in einer vom Menschen unabhängigen Außensphäre, die für alle Forscher die gleiche ist und die gleichen Gesetzmäßigkeiten aufweist – gar nicht vorhanden, sondern existiere nur in der inneren Erfahrung:

Es wird oft ein Einwand gegen die Anthroposophie erhoben, der ebenso begreiflich aus der Seelenstimmung der Persönlichkeiten heraus ist, von denen er kommt, wie er unberechtigt ist gegenüber dem Geiste, aus dem heraus das anthroposophische Forschen angestellt wird. […] Es wird, um diesen Einwand aufzustellen, gefordert, daß die geistigen Beobachtungsergebnisse, die von der Anthroposophie vorgebracht werden, im Sinne der rein naturwissenschaftlichen Experimentiermethode ›bewiesen‹ werden sollen. Man stellt sich etwa vor, einige Personen, die behaupten, sie können zu solchen Ergebnissen kommen, werden einer Anzahl anderer Personen in einem regelrecht angeordneten Experiment gegenübergesetzt und die ›Geistesforscher‹ hätten dann anzugeben, was sie an den zu untersuchenden Personen ›geschaut‹ haben. Ihre Angaben müßten dann übereinstimmen oder doch wenigstens in einem genügend großen Prozentsatze sich ähnlich sein. […] Wer aber Anthroposophie wirklich verstanden hat, der hat auch die Einsicht, daß ein in der angedeuteten Art angestelltes Experiment zur Gewinnung wahrhaft geistiger Anschauungsergebnisse ungefähr ebenso geeignet ist wie zur Beobachtung der Zeit an einer Uhr die Stillesetzung der Zeiger. Denn zur Herbeiführung der Bedingungen, unter denen Geistiges geschaut werden kann, führen Wege, die aus den Verhältnissen des seelischen Lebens selbst sich heraus ergeben müssen. Äußere Veranstaltungen, wie sie zu einemnaturwissenschaftlichen Experiment führen, sind nicht aus solchen Verhältnissen heraus gebildet. Innerhalb dieser Verhältnisse muß z. B. gelegen sein, daß der Willensimpuls, der zum Schauen führt, nur aus dem ureigenen inneren Impuls desjenigen restlos hervorgeht, der schauen soll. Und daß nicht in künstlichen äußeren Maßnahmen etwas gegeben ist, was gestaltend in diesen inneren Impuls einfließt. (VS, 261–263)

Das dritte Merkmal der geistigen Erfahrungen nach Steiner besteht darin, dass diese nur sehr kurz andauern und sich also im Moment ihres Entstehens schon wieder verflüchtigen. In anderen Worten: In der meditativen Erfahrung habe man gar nicht die Zeit, die auftretenden geistigen Zustände ausführlich zu beobachten.

Nun könnte man fragen, warum Steiner in unseren Texten ausgerechnet über diese drei Merkmale der geistigen Erfahrung spricht. Ein möglicher Grund könnte im unsystematischen Charakter der Schriften liegen, auf deren aphoristischen Stil bereits hingewiesen wurde. Steiner scheinen diese drei Merkmale deshalb besonders wichtig zu sein, da er es für nötig erachtet, bestimmte Missverständnisse und Vorurteile auszuräumen. So betont er beispielsweise im Hinblick auf das dritte Merkmal, dass geistige Erfahrungen viel häufiger aufträten als gemeinhin angenommen. Um sich ihrer aber bewusst zu werden, bedürfe es der Fähigkeit, ganz subtile Bewusstseinsphänomene in den Blick zu nehmen, die der Aufmerksamkeit der meisten Menschen einfach entschlüpfen. Steiner erwähnt an dieser Stelle eine Übung, mit der man diese Form der Aufmerksamkeit schulen könne. Wenn ein Mensch mit einer Entscheidung konfrontiert sei, könne er etwa versuchen, ganz unmittelbar einen Überblick über die Lage zu gewinnen und dann ohne Verzug entscheiden. Steiner fügt hinzu, dass dieses Beispiel zeige, wie diejenigen Fähigkeiten, die zur Ausbildung der geistigen Wahrnehmung führen, keineswegs ungewöhnlich oder selten seien, sondern auf ganz gewöhnlichen Alltagskompetenzen beruhten, in diesem Fall also auf der Geistesgegenwart. Stets versucht Steiner, seine Beschreibungen der besonderen geistigen Fähigkeiten in ganz gewöhnlichen Alltagserfahrungen zu verankern, indem er tiefe und sogar vom physischen Leib unabhängige Zustände des Bewusstseins, durch die man Zugang zu subtilen Erlebniswelten erlangt, an einfache und praktische Geisteshandlungen bindet, mit denen jedermann vertraut ist. Das stete Bemühen um diese Verankerung im Bekannten zeichnet auch die Schilderung der übrigen oben angeführten Kriterien des geistigen Erlebens aus.

 

Denken und Begriff im Verhältnis

zur geistigen Wirklichkeit

Es ist ein Gemeinplatz in den kontemplativen Traditionen, dass sich geistige Erfahrungen und spirituelles Wissen nicht adäquat mit den Mitteln des begrifflichen Denkens verstehen lassen. Es gilt als ausgemacht, dass solches Wissen bzw. solche Erfahrungen prinzipiell unbeschreiblich oder nicht begreifbar sind. Manche Traditionen gehen sogar so weit, sämtliche in der meditativen Praxis zu erlebenden Phänomene als illusorisch zu charakterisieren, gleichgültig ob es sich dabei um das Erleben von Farben, Formen, Energien oder Stimmen handelt. Nach dieser Ansicht müsste also jemand, der sich nicht einer Illusion hingeben möchte, zu einer Erfahrungsform gelangen, die jenseits aller Beschreibungen, Worte und Kategorien liegt und auf die sich deshalb allenfalls durch widersprüchliche Aussagen hindeuten lässt. In letzter Konsequenz wäre daher dieses begrifflich nicht erfassbare ›Etwas‹ am ehesten als eine Erfahrung der ›Stille‹ zu charakterisieren. Solche Zugänge finden wir historisch in der sogenannten via negativa, der ›negativen Theologie‹, welche die Möglichkeit zurückweist, das Wesen der Gottheit oder des Absoluten in Begriffe fassen zu können und sich ihm daher auf dem Weg der Negation zu nähern versucht, d.h. durch Aussagen darüber, was dieses Wesen nicht ist: Nur durch die Negation kann man sich nach dieser Auffassung dem anzunähern, was für die Sprache ein Nichts ist.

Solche Traditionen stehen in deutlichem Gegensatz zu jenen religiösen Tendenzen, welche das Wesen Gottes durch positive Begriffe wie ›Allmacht‹, ›Allwissenheit‹, ›absolute Güte‹ auszudrücken versuchen. Aus Sicht einer konsequent negativen Theologie sind solche Definitionen irreführend. Wenn aber auf jegliche Beschreibung verzichtet wird, gibt es auch keine Möglichkeit, sprachlich auf irgendetwas hinzuweisen, was die Seele veranlassen könnte, nach diesem Wesen zu streben. Es liegt somit auf dem Grunde vieler kontemplativer Traditionen ein prinzipielles Paradoxon. Es besteht ein allgemeiner Wunsch danach, sich mit dem höchsten Gut zu identifizieren, die Seele diesem anzunähern, zugleich wird dieses jedoch als transzendent und unerreichbar beschrieben. Man weist zwar auf das Schweigen als vielleicht angemessensten Weg hin, mit diesem Paradox umzugehen, kommt aber gerade dadurch nicht wirklich ohne jeden Verweis auf dieses Wesen aus, und so bleibt das Paradox bestehen.

In spirituellen Texten kann man beobachten, wie dieses Paradox zur Geltung gebracht wird, indem man versucht, sich einem überbegrifflichen Absoluten begrifflich zu nähern. Im Folgenden sei ein Beispiel aus einem traditionellen tibetischen Medidationshandbuch gegeben, dem Phyag rgya chen po oder Mahāmudrā (»das königliche Siegel«) verfasst von Ngawang Kunga Tenzin (1680‒1728). Im Mahāmudrā wird beschrieben, wie man dadurch zu einem Erwachen kommen kann, dass man das Denken als solches untersucht und dabei feststellt, dass dieses Denken bzw. der Geist nicht unabhängig von den Phänomenen existiert, deren es sich dabei bewusst wird. Bestimmte Einsichtsübungen, die als vipaśyanā bezeichnet werden, bestehen darin, den Geist (das Bewusstsein) unmittelbar zu beobachten und zu versuchen ihn anhand bestimmter Begriffe zu verstehen. Man fragt sich beispielsweise, wo der Geist lokalisiert ist (innerhalb des Leibes, außerhalb oder dazwischen?) oder ob er einfach oder vielfältig ist, und man richtet dann seine Aufmerksamkeit auf den Geist im Raum oder versucht, die Einheit oder Vielfalt des Geistes zu identifizieren. (Dass ich überhaupt erlebe, ist eine einheitliche Erfahrung. Ich kann aber unterschiedliche Emotionen erleben, und somit ist die Frage: Wie kann dann der Geist einheitlich sein?). Man soll durch solche Betrachtungen zu der Einsicht kommen, dass der Geist als solches mithilfe von Begriffen nicht beschrieben werden kann und dass sein Wesen daher nichtbegrifflich ist. Man erfährt so, dass der Geist keine bestimmten sinnlichen Qualitäten aufweist, nicht im Raum oder in der Zeit auffindbar ist, keine Substanz ist; vielmehr kann er als leer und nichtidentisch beschrieben werden. Gleichzeitig aber werden dem Geist Qualitäten wie Wachheit und Selbstbewusstsein zugeschrieben. Er wird einerseits als »begriffsloses Wissen«, zugleich aber auch als »allwissend« charakterisiert. Und so kommen wir auch hier in die paradoxe Lage, dass der Geist bzw. das Absolute mittels begrifflicher Bestimmungen als nicht-begrifflich dargestellt wird. Dieser Umstand könnte als notwendige Folge des nichtbegrifflichen Wesens des Geistes verstanden werden, denn Widersprüche sind nicht zu vermeiden, wenn man über dasjenige spricht, über das prinzipiell nicht gesprochen werden kann. Konsequenterweise müssten dann aber wirklich alle begrifflichen Bestimmungen des Geistes zurückgewiesen werden, also auch solche Zuschreibungen wie ›wach‹ und ›selbstbewusst‹. Wir wären dann also wieder beim Schweigen, aber auch dieses lässt sich ja nur wieder begrifflich anhand eines Gegensatzpaares bestimmen, nämlich als das Gegenteil des Redens. Man möchte sich jenseits aller begrifflichen Gegensatzpaare bewegen, und ist doch wieder in konzeptionellen Polaritäten gefangen. Auch die Traditionen der via negativa kommen also an der begrifflichen Bestimmung ihres Gegenstandes nicht vorbei.

Dieses Paradoxon wird auch in den Diskursen der Philosophen des deutschen Idealismus thematisiert. In ihrer späten Korrespondenz versuchen Fichte und Schelling, sich gegenseitig in Versicherungen darüber zu übertreffen, dass das Absolute nicht in positiven Begriffen auszudrücken sei. Obwohl in den Systemen beider Denker begriffliche Gegensatzpaare eine bedeutende Rolle spielen, erkennen beide zugleich an, dass innerhalb eines Gegensatzes der eine Begriff nicht unabhängig vom andern verstanden werden kann und also von diesem abhängt. Hegel führt diese Einsicht dann insofern weiter, als sein Denken insgesamt auf der Voraussetzung einer inneren Einheit aller Gegensätze beruhte. Dem analysierenden Verstand muss der Gedanke einer Einheit der Gegensätze jedoch als ein Widerspruch erscheinen. Hegel insistiert daher, dass es eine Form des Wissens geben muss, welche die sich hinter diesen Widersprüchen verbergende Wahrheit zu erfassen vermag. Ja, Hegels Begriff des Begriffs selbst, dessen ›Für-sich-Sein‹, wie er sich ausdrückt, zugleich sein ›An-sich-Sein‹ ist, stellt dieses ›Etwas‹ dar, das die Gegensätzlichkeit des bloß verstandesmäßigen Erkennens transzendiert, sich aber zugleich durch seine inhärente Negativität der Fixierung in einer bestimmten begrifflichen Gestalt entzieht. Insofern kommt die hegelsche Philosophie durch ihren Begriff vom Begriff bzw. durch ihr Verständnis der Denkbewegung aus der Negation heraus derjenigen Konzeption des Geistes nahe, die wir im Mahāmudrā angetroffen haben. Es besteht jedoch ein Unterschied insofern als Hegel nicht behauptet, dass Begriffe prinzipiell unfähig seien, das Absolute zu beschreiben, sondern vielmehr ein ganz bestimmtes begriffliches Narrativ anbietet, welches die innere Einheit des absoluten Seins und seiner Erscheinungen erklären soll. So wird beispielsweise in der Phänomenologie des Geistes die Verzweiflung am bedingten Wissen zum Ausgangspunkt der Entfaltung des absoluten Wissens. Auch in der Tradition des Mahāmudrā sind Negativitäten wie Begierde oder sinnliches Verlangen, Hass, Zweifel integrale Aspekte des Pfades zur positiven Weisheit. Es wird aber immer nur beschrieben, dass diese Umwandlung geschehen kann; systematische Darstellungen des ›Wie‹ scheint es weder im Mahāmudrā noch bei Hegel zu geben.

In der Anthroposophie sind diese beiden Vorstellungen ebenfalls von zentraler Bedeutung. Es gibt auch nach Steiner eine letzte, absolute, geistige Wirklichkeit, die sich begrifflich beschreiben lässt; zugleich aber erfordert die tatsächliche Wahrnehmung und Erkenntnis dieser Wirklichkeit eine besondere Form des Denkens bzw. des Bewusstseins, die es erst einmal zu entwickeln gilt. Steiner geht zwar kaum je auf die Widersprüchlichkeit ein, welche das Postulat der begrifflichen Charakterisierung einer selbst nicht begrifflichen Wirklichkeit mit sich bringt doch erkennt er sehr klar die Schwierigkeit, geistige Erfahrungen, die als solche nur in einem besonderen Bewusstseinszustand erlebt werden können, anhand von Begriffen zu beschreiben, die sich in der Auseinandersetzung mit physisch-sinnlichen Phänomenen gebildet haben. Immer wieder betont er, dass es, um ein Verständnis der geistigen Erfahrung zu erreichen, der Bildung neuer, ›beweglicherer‹ Begriffe bedarf. So heißt es im Weg zur Selbsterkenntnis: »Es müssen Begriffe umgewandelt, erweitert, mit anderen verschmolzen werden, wenn man die übersinnliche Welt richtig beschreiben will« (WS, 76). Was aber Steiner genau meint, wenn er davon spricht, Begriffe zu verschmelzen, ist nicht notwendigerweise identisch mit dem, was Hegel im Sinne hatte, als er von Dialektik und der Einheit der Gegensätze sprach. So schreibt Steiner in einem früheren Abschnitt:

Bedeutsam tritt der Unterschied der übersinnlichen Welten von der sinnlichen auch bei allem auf, was mit den Vorstellungen des ›Schönen‹ und ›Hässlichen‹ zusammenhängt. Die Art, wie man diese Begriffe im Sinnensein anwendet, verliert alle Bedeutung, sobald man die übersinnlichen Welten betritt. Ein ›Schönes‹ kann da nur, wenn man sich auf die Bedeutung des Wortes im Sinnensein besinnt, ein solches Wesen genannt werden, dem es gelingt, alles, was es in sich erlebt, auch den anderen Wesen seiner Welt zu offenbaren, so daß diese andern Wesen an seinem ganzen Erleben teilnehmen können. Die Fähigkeit, sich ganz mit allem, was im Innern ist, zu offenbaren, und nichts in sich verborgen halten zu müssen, könnte als ›schön‹ in den höheren Welten bezeichnet werden. Und es fällt da dieser Begriff völlig zusammen mit dem von rückhaltloser Aufrichtigkeit, von ehrlichem Darleben dessen, was ein Wesen in sich trägt. ›Hässlich‹ könnte das genannt werden, was den inneren Inhalt, den es hat, nicht in der äußern Erscheinung offenbaren will, was das eigne Erleben in sich zurückhält und für andre Wesen sich in bezug auf gewisse Eigenschaften verbirgt. Es entzieht sich ein solches Wesen seiner geistigen Umgebung. Es fällt dieser Begriff zusammen mit dem von unaufrichtigem Sich-Offenbaren. Lügen und Hässlichsein ist in der geistigen Welt als Wirklichkeit dasselbe, so daß ein hässlich auftretendes Wesen ein lügnerisches ist. (WS, 74)

Am Beispiel dieser Passage wird deutlich, dass Steiner etwas ganz Bestimmtes im Sinn hat, wenn er erklärt, dass »Begriffe umgewandelt, erweitert, mit anderen verschmolzen werden« müssen, »wenn man die übersinnliche Welt richtig beschreiben will.« So muss etwa seiner Auffassung nach der Begriff der ›Hässlichkeit‹ verwandelt werden, indem er nicht nur dasjenige beinhaltet, was nicht schön aussieht; er muss dahingehend erweitert werden, dass er auch etwa das moralisch Unschöne wie das Lügen einschließt, wodurch dann beide Begriffe verschmelzen zu dem des »unaufrichtig Sich-Offenbarenden«. Aus einer absoluten Perspektive könnte man freilich sagen, dass nichts wirklich getrennt ist, und dass alle Phänomene, einschließlich die der Hässlichkeit und des Lügens, nicht wirklich verschieden sind. Aber das ist nicht dasjenige, was Steiner hier im Blick hat. Vielmehr verbindet er zwei Phänomene, die innerhalb des gewöhnlichen Lebens als getrennt wahrgenommen werden, und zeigt dann, wie diese in der geistigen Wahrnehmung und in Bezug auf geistige Wesen verschmelzen. Die anthroposophische Perspektive steht also zwischen dem Bereich der gewöhnlichen menschlichen Erfahrung und der absoluten spirituellen Perspektive, in der es keine wirklichen Unterschiede gibt. Obwohl also Steiner einerseits den Versuch unternimmt, wie gewisse Mystiker das an sich überbegriffliche Göttliche bzw. Geistige in positiven Begriffen zu beschrieben, beschränken sich seine Darstellungen nicht auf den bloßen Versuch, bestehende Begriffe zur Beschreibung der geistigen Erfahrung zu verwenden. Vielmehr streben Steiners anthroposophische Betrachtungen danach, spezifische neue Formen des Wahrnehmens, Denkens und Sprechens zu entwickeln, mittels derer der Abgrund zwischen der geistigen Erfahrung und dem sprachlichen Ausdruck überbrückt werden kann.

Abschließend soll noch erwähnt werden, dass Steiner das Denken als die einzige menschliche Fähigkeit versteht, die einen von der leiblichen Grundlage unabhängigen Daseins- bzw. Tätigkeitsmodus aufweise. Es ist also für Steiner die einzige wirklich vollbewusste Tätigkeit des Menschen, und die Art und Weise, wie das Denken für denjenigen, der es vollzieht, im Schreiten von Begriff zu Begriff völlig transparent sein kann, wird Steiner zum Ideal für die geistige Wahrnehmung (vgl. etwa PF, 149–153) ‒ auch wenn er zugleich betont, dass reines Denken allein nicht in den Bereich der geistigen Erfahrung als solche eintreten kann. Dies lässt sich vielleicht so verstehen, dass nach Steiner das Denken als solches in der Form, in der es vom gewöhnlichen Bewusstsein erlebt wird, als vorstellungsgebundenes Denken, nicht als unmittelbare spirituelle Erfahrung gelten kann, dass aber jene innere Klarheit und Transparenz der Begriffe, jene Verbundenheit aller Einzelbestimmungen in einem einheitlichen Ganzen, zum inneren Wesen sowohl des Denkens als auch der geistigen Erfahrung gehört. Gemeinsam ist diesen das Vermögen, sich all dessen, was man erlebt, voll bewusst zu sein und von einem Moment der geistigen Erfahrung zum anderen in vollem Bewusstsein überzugehen.

Spirituelle Anthropologie und Kosmogonie

Neben der Erkenntnistheorie Steiners sind seine spirituelle Anthropologie und seine Kosmogonie weitere zentrale Ausprägungen der Anthroposophie. Diese beiden Bereiche behandelt er in besonderer Ausführlichkeit in den Werken Theosophie und Geheimwissenschaft im Umriss, wobei er vor allem die Entwicklung des Menschen und des Kosmos von einem anthroposophischen Standpunkt aus in den Blick nimmt. Auf diese spirituelle Entwicklungstheorie kommt er auch in seinen Vorträgen bis zu seinem Tod immer wieder zurück – neben diesen Themen ist nur die anthroposophische Meditation ähnlich zentral und prägend für seine Anthroposophie. Dabei stützt sich seine Anthropologie auf das Modell der sogenannten ›Wesensglieder‹, eine Weiterentwicklung der innerhalb der Theosophie durch Annie Besant kanonisierten Lehre von den ›subtle bodies‹ oder ›principles‹ des Menschen. In der anthroposophischen Form dieser Menschenkunde stehen neben esoterischen und spirituellen besonders entwicklungsgeschichtliche Aspekte im Zentrum. Dabei wird die Entwicklung des Menschen in tiefgehender Weise mit der Evolution des Kosmos verbunden. Nach dieser Anschauung hat sich unser gegenwärtiges Sonnensystem in Form verschiedener planetarischer Verkörperungen entwickelt, die in Analogie zur Idee der menschlichen Reinkarnation verstanden werden können. Dabei vollziehe sich der kosmische Entstehungsprozess unter Aufsicht und Leitung verschiedener geistiger Wesen, welche die Entwicklungsreihe der unterschiedlichen planetarischen Verkörperungen ›von außen‹ (oder, je nach Perspektive, ›von innen‹) begleiteten und beeinflussten. Zur Charakterisierung dieser geistigen Wesen bedient sich Steiner der pseudo-dionysischen Angelologie des christlichen Mittelalters, welche neun Gruppen geistiger Wesen kennt (d.h. drei sogenannte ›Hierarchien‹ mit je drei Unterstufen), und erweitert dieses Modell dann noch um vier weitere, ›unter‹ den Engeln und Menschen stehende Wesen, den sogenannten ›Natur-‹ oder ›Elementarwesen‹, die bereits als ›Erd-‹, ›Feuer-‹, ›Luft-‹ und ›Wassergeister‹ aus der paracelsischen Naturphilosophie bekannt sind.

Obwohl in diesem Modell der Weltentstehung der Evolutionsgedanke im Zentrum steht, unterscheidet sich Steiners Sicht auf die Entwicklung von Mensch und Welt durch den eingenommenen anthroposophischen Standpunkt drastisch von der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie, welche denselben Prozess durch das sinnlich Wahrnehmbare beschreibt. Besonders die Annahme von geistigen Wesenheiten, die an der kosmischen Entwicklung beteiligt sein sollen, wird wahrscheinlich den meisten Vertretern gegenwärtiger Naturwissenschaft als abwegig, unwissenschaftlich oder schlicht fiktiv erscheinen. Allerdings besteht von einem phänomenalistischen Standpunkt aus prima facie kein wirklicher Grund, die Existenz rein geistiger Wesen oder Engel abzulehnen. Denn die Wahrnehmung gewisser ›Präsenzen‹ scheint in der Tat eine allgemeine Fähigkeit des Menschen zu sein, auch wenn man natürlich darüber streiten kann, ob sich diese Fähigkeit nur auf Menschen und Tiere bezieht oder sich möglicherweise auch auf andere unkörperliche Wesen erstreckt. Für Steiner jedenfalls steht fest, dass es solche un- bzw. übersinnliche körperlosen Wesen gibt, dass ihr Wirken von sensiblen Menschen erlebt werden kann und dass ein Verständnis ihrer Natur und ihres Einflusses auf das menschliche und kosmische Geschehen notwendig ist, wenn man ein vollständiges Bild der Wirklichkeit erlangen und auch die ›verborgenen‹ oder ›wahren‹ hinter der Oberfläche der sinnlich erfahrbaren Welt wirksamen Kräfte erkennen möchte.

Steiner entwickelt in Ein Weg zur Selbsterkenntnis und in der Schwelle der geistigen Welt noch einige weitere anthropologische und kosmologische Perspektiven, einige davon auch auf phänomenologischem Weg. Wie bereits angedeutet, beschreibt die erstere der beiden Schriften eine aufsteigende Entwicklung des menschlichen Erkennens aus dem Bereich des sinnlich erscheinenden physischen Seins zu immer höheren und höchsten geistigen Seins- bzw. Erkenntnisbereichen. Dieser Prozess, der dann in der Geheimwissenschaft mit der Entwicklungsgeschichte der verschieden Seins- und Bewusstseinsbereiche des Kosmos sowie mit der Genese der Menschheit und seiner Geschichte parallelisiert wird, wird in den genannten Schriften von bestimmten Einsichten in das Wesen des Menschen und der kosmischen Entwicklung begleitet, beinhaltet aber auch die Beschreibung rein geistiger Wesen. Der Aufbau von Die Schwelle der geistigen Welt folgt im Prinzip demselben Muster, allerdings in weniger strikter Form. In der für ihn charakteristischen Weise bedient sich Steiner sowohl des logischen Arguments als auch der Metapher und der Analogie, um seine Sicht der Dinge darzustellen. Allerdings verwendet er zur Stärkung seiner Position auch, wie bereits angemerkt, einige für ihn eher untypische Methoden, indem er etwa auf Gefühle wie den oben beschriebenen subtilen Sinn für die Wahrheit Bezug nimmt. So wird beispielsweise im Weg zur Selbsterkenntnis der Begriff des physischen Leibes dadurch entwickelt, dass man Vergleiche ziehen soll zwischen dem, was man ist, was man bewusst erlebt, und der Natur der physischen Welt, aus welcher dieser Leib hervorgeht und in die hinein er sich nach dem Tod wiederum auflöst. Das derart geleitete Nachdenken soll nach Steiner dazu führen, wirklich zu erleben, was der physische Leib ist (WS, 12). Die steinerschen Betrachtungen sollen also ausdrücklich zu einem Erlebnis führen.

Durch den ›elementarischen‹ Leib fühlt man sich nach Steiner als Teil der Umgebung, ähnlich wie man sich mit der eigenen Hand verbunden fühlt. Man kann sich also, auch in diesem Erlebnis der Verbundenheit mit der Umgebung, weiterhin als individuell bestehendes Wesen fühlen. Die Erfahrung der sogenannten ›astralen‹ Welt und seines Astralleibes führt den Menschen dann wiederum zu einer ganz anderen Art des Erlebens, nämlich zur Erfahrung des Daseins in einer »vollständige[n] Innenwelt« (WS, 49). Im Erleben der elementarischen Welt könne man, so Steiner, trotz der erlebten Erfahrung der Einheit, immer noch klar unterscheiden zwischen Dingen, die mehr und solchen die weniger zu einem selbst gehören. Das sei in der astralen Welt nicht länger möglich. Die Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Selbst und Umgebung führe daher zu einem extremen Gefühl der Einsamkeit. Wenn nur noch das Selbst erfahren wird, erscheint Einsamkeit natürlich tatsächlich die zwingende Folge zu sein, da es ja nichts mehr gibt, zu dem das Selbst sich noch in Beziehung setzen könnte. Andererseits beschreibt Steiner dann aber doch wieder bestimmte Wesen, die dem Menschen während der astralen Erfahrung begegnen, und er schildert, wie sich die menschliche Seele von diesen astralen Phänomenen oder Wesen entweder angezogen und abgestoßen fühlt. Was die Seele in diesem Zustand fähig mache, sich solchen astralen Wesen zu nähern und mit ihnen zu interagieren, seien die seelischen Fähigkeit der Liebe, der Bewunderung und der Hingabe. Damit hätten wir einige Beispiele dafür angegeben, wie Steiner versucht, durch seine Darstellung dasjenige innerlich erlebbar zu machen, was die Anthroposophie als das ›Physische‹, das ›Elementarische‹ (›Ätherische‹) und das ›Astrale‹ charakterisiert, auch zeigt Steiner, was der Mensch in diesen Bereichen erleben kann, und wie er in diesen verschiedenen Phasen mit dem Kosmos verbunden ist. Dem von Steiner ebenfalls behandelten ›Wesensglied‹ des ›Ich‹ werden wir uns später noch genauer zuwenden.

Wie bereits dargestellt, beschreibt Steiner in der Schwelle der geistigen Welt verschiedene geistige und elementarische Wesen und gibt auch einige knappe Hinweise auf die verschiedenen planetarischen Entwicklungsstufen seiner Kosmogonie. In einigen Fällen geht er dabei ausgesprochen experimentell bzw. phänomenologisch vor. So etwa im folgenden Beispiel:

Es gibt da Wesenheiten, die man verwandt findet mit allem, was nach Dauer, nach Festigkeit, nach Schwere drängt. Man kann sie als Erdenseelen bezeichnen. (Und wenn man nicht überklug sich dünkt und sich nicht fürchtet vor dem Bilde, das doch auch nur auf die Wirklichkeit deuten, sie nicht selber sein soll, so kann man von ›Gnomen‹ sprechen.) Man findet Wesen, die man wegen ihrer Beschaffenheiten als Luft-, Wasser-, Feuerseelen bezeichnen kann.

Dann aber zeigen sich auch andere Wesenheiten. Diese treten zwar so auf, daß sie als elementarische (ätherische) Wesen erscheinen, doch man erkennt an ihnen, daß in ihrer ätherischen Wesenheit etwas steckt, was höherer Art ist als die Wesenhaftigkeit der elementarischen Welt. Man lernt verstehen, daß man dem wahren Sein dieser Wesen mit dem Grade von übersinnlicher Erkenntnis, der nur für die elementarische Welt ausreicht, ebenso wenig beikommen kann, wie man der wahren Wesenheit des Menschen mit dem bloßen physischen Bewußtsein beikommen kann. (SW, 27 f.)

Die folgenden Aussagen machen deutlich, dass Steiners Darstellung als Ausdruck von Erfahrungen interpretiert werden kann: »man trifft da Wesenheiten, die man verwandt findet mit«, »[sie] erscheinen als elementarische Wesen« oder »man erkennt an ihnen, daß in ihrer […] Wesenheit etwas steckt« (ebd.). Wenn man beispielsweise ein menschliches Gesicht betrachtet, etwa das eines Verwandten, dann kann man an gewissen Ähnlichkeiten erleben, ohne dass man dabei mit klar definierten Begriffen operiert, dass die Person mit anderen Mitgliedern der Familie verwandt ist. Oder man kann bei der Betrachtung bestimmter hegelscher Argumente erleben, dass darin Elemente kantischen Denkens zum Ausdruck kommen und dann sagen, dass kantische Elemente in der hegelschen Philosophie leben. Dieses charakteristisch Kantische kann ein spezifischer Wortgebrauch sein, eine bestimmte Form der Argumentation oder die Herangehensweise an bestimmte Probleme, und dieses ›Etwas‹ lässt sich während des Nachvollziehungsprozesses der hegelschen Gedanken erleben. Solche Erfahrungen mögen subtil sein, sind aber doch real und konkret.

Ferner geht aus dem obigen Zitat hervor, dass die Trennung zwischen verschiedenen Arten von Wesen bei Steiner nicht sehr strikt ist. Einige der beschriebenen Wesen erscheinen als elementarisch, aber sie sind zugleich verbunden mit anderen höheren Wesen, deren Natur erst dann erkannt werden kann, wenn man sich zur Wahrnehmung höherer Ebenen der Hierarchie erhebt. Diese Abwesenheit einer klaren Trennung zwischen den verschiedenen Wesensarten – bzw. die Allgegenwart einer Verbindung zwischen ihnen – kommt ebenfalls zum Ausdruck, wenn Steiner von den Elementarwesen schreibt, sie seien Teil eines übergeordneten »großen Geistleibes« (SW, 27), der seinerseits wiederum Teil des elementarischen Leibes oder Lebensleibes der Erde sei. Diese Wesen sind also, obwohl einerseits klar verschieden, andererseits doch nicht vollständig voneinander getrennt, ähnlich wie die Gedankengänge Hegels und Kants im obigen Beispiel. Auch von diesen könnte man ja sagen, dass sie zu einem gedanklichen Ganzen gehören, welches sichtbar wird, wenn man es gewissermaßen aus der Ferne betrachtet, wenn also die charakteristischen Unterschiede zwischen beiden Philosophen zunehmend verschwinden und das ihnen Gemeinsame sichtbar wird.

Zwei Kapitel der Schwelle der geistigen Welt sind der Beschreibung zweier geistiger Wesenheiten gewidmet, die eine zentrale Rolle in Steiners Werk spielen, insbesondere in Hinblick auf das Verständnis des Bösen. Steiner bezeichnet sie als ›Ahriman‹ und ›Luzifer‹. Das ›ahrimanische‹ Wesen wird vor allem mit dem ›mineralischen‹ bzw. ›physischen‹ Reich und damit auch mit dem Phänomen des Todes in Verbindung gebracht. Ahrimanische Wesen sind für die Todesprozesse zuständig, die sich innerhalb der Natur abspielen, und sind daher besonders mit dem physischen Leib des Menschen verbunden sowie mit dem durch diesen zustande kommenden Bild der äußeren physischen Welt. Mit der Erzeugung dieses äußeren Weltbildes verleihen nach Steiner die ahrimanischen Wesen zugleich dem Menschen auch eine gewisse Unabhängigkeit, denn mittels dieses materiellen Weltbildes könne er sich von seiner Außenwelt abtrennen und diese beherrschen (oder zumindest in der Illusion leben) ‒ auch wenn Steiner diesen Aspekt in den vorliegenden Texten nicht gesondert behandelt. Die ›ahrimanischen‹ Wesen erzeugten das äußere materielle Weltbild dadurch, dass sie die geistigen Wesenheiten, deren Wirken den Kosmos bildet, im Bewusstsein zu abstrakten Gedanken und Vorstellungen absterben ließen. Der Mensch bilde dann anhand dieser ›Wesensleichen‹ bzw. ›Schatten‹ in seinem Denken ein Weltbild aus, in dem nur das als real gilt, was sinnlich wahrgenommen werden kann. Auf diese Weise ermöglichten es die ›ahrimanischen‹ Wesen, dass der Mensch sich in seinem Denken in einer illusorischen Welt aus rein materialistischen Gedanken einkapselt und sich so von der Wirklichkeit mental abschließt. Folglich seien die ›ahrimanischen‹ Wesen die Inspiratoren der Logik, der Technik, des Materialismus und alles Mechanischen und Strukturellen. Ihnen gegenüber stehen die ›luziferischen‹ Wesen, welche nach Steiner danach streben, dass der Mensch sich vor allem mit seinem Innenleben, also mit seinen Gefühlen, Wünschen und Phantasien, beschäftigt, sodass er sich als von der ›ahrimanischen Dingwelt‹ unabhängig und somit von deren äußeren Zwängen befreit erlebt. Die Aufgabe der luziferischen Wesen besteht somit darin, den Menschen in seiner subjektiven Selbsterfahrung ebenso gefangen zu halten, wie die ahrimanischen ihn in seinem materiellen Weltbild einzukapseln suchen. Das luziferische Erleben befreit den Menschen somit von den Zwängen der äußeren Welt und vermittelt ihm die Erfahrung, kein ausschließlich physisches Wesen zu sein (und wird so zur Inspiration für künstlerisches, philosophisches, individuelles Schaffen), schließt ihn aber zugleich in eine innere geistig-seelische Welt ein, die keine Verbindung zur Außenwelt hat. Auf diese Weise konzipiert Steiner seine Vorstellung von der Doppelnatur des Bösen, nach der sowohl Ahriman als auch Luzifer ihre berechtigten Funktionen im menschlichen Leben und in der Welt haben. Wenn diese Kräfte aber einseitig wirken bzw. in einer ihnen nicht zukommenden Sphäre, dann verursachen sie Ungleichgewicht, Einseitigkeit, Schaden, mit anderen Worten: das Böse. Steiners Konzeption des Bösen ist also keineswegs eindimensional. Sie beschreibt ein Zusammenspiel zweier Kräfte, deren Tätigkeit ein weites Spektrum abdeckt, von gutem und notwendigem Einfluss auf das Leben bis hin zu schädlicher und böse zu nennender Aktivität, je nachdem ob diese Kräfte in Harmonie zueinander stehen und am rechten Ort wirken oder nicht.

 

Die Natur und das Ich

Innerhalb der europäischen Kulturgeschichte spielen die Begriffe des ›Ich‹ bzw. der ›Persönlichkeit‹ eine besonders wichtige Rolle. Es kann daher nicht überraschen, dass auch bei Steiner diese Vorstellungen in ganz besonderer Weise hervorgehoben werden. So etwa in der sechsten Meditation von Ein Weg zur Selbsterkenntnis, wo ein Begriff auftaucht, der freilich zunächst ungewöhnlich erscheinen kann, nämlich der sogenannte »Ich-Leib«.

In asiatischen spirituellen Traditionen wird die Existenz des ›Ich‹ häufig infrage gestellt. Vor allem die buddhistische anatta-Lehre leugnet, dass es ein Ich gäbe. Diese Lehren können auf vielfältige Weise interpretiert werden. Eine Möglichkeit besteht etwa darin, dass alle Erlebnisse, die auf ein Ich hindeuten könnten, für irrtümlich erklärt werden und behauptet wird, es gebe kein Ich, weder ein individuelles noch ein universelles göttliches. Selbstheit bzw. Persönlichkeit wird kategorisch geleugnet. Laut einer anderen Interpretation kann eine subjektive Erscheinung oder Illusion zwar als Ich bezeichnet werden, nicht aber eine an sich bestehende Wesenheit oder Substanz. In den buddhistischen Traditionen wird beispielsweise eine solche Ich-Illusion als Ursache alles menschlichen Leidens und aller Unzufriedenheit verstanden. Nach dieser Lehre fasst der Mensch gewöhnlich seine verschiedenen Neigungen und Abneigungen in der Idee eines Ich zusammen, missdeutet dann diese selbstgeschaffene Ich-Idee als reales substantielles Ich-Wesen, identifiziert sich damit und begründet so all sein Denken und Handeln auf eine Illusion, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Alles auf dieser Illusion beruhende Leben führt daher nach buddhistischer Lehre zu Leid, und die Befreiung vom Leid bestehe dann darin, die Unbeständigkeit und Substanzlosigkeit aller Erscheinungen (und eben besonders des Ich) zu durchschauen und dadurch nicht mehr durch Begehren oder Abneigung an ihnen zu haften. Allerdings wirft dieses Modell die Frage auf, ob es hinter der Welt der Erscheinungen nicht doch ein wirkliches Ich geben könnte. Der Buddha aber geht auf dieses Problem nicht weiter ein, da aus seiner Sicht diese Frage rein theoretisch ist und keinen Wert hat für die praktische Befreiung des Menschen aus der Welt der Erscheinungen, dem ewig sich drehenden Rad von samsāra, die zyklische Existenz von Geburt und Wiedergeburt.

Die hinduistische Lehre vom Selbst, wie sie beispielsweise in der Bhagavad Gita zum Ausdruck kommt, steht im Gegensatz zu der oben skizzierten ersten Form der buddhistischen anatta-Lehre, weist aber mit der zweiten Form durchaus Ähnlichkeiten auf. Die Bhagavad Gita erkennt nämlich sehr wohl die Existenz eines Ich oder Selbst an, und zwar eines individuell-menschlichen und eines kosmisch-göttlichen. Die Selbstverwirklichung des Geistes und die höchste Erkenntnis besteht in dieser Tradition darin, dass der ātman, das persönliche oder individuelle Selbst im Menschen, als identisch mit dem brahman, dem universalen Selbst, verstanden bzw. erkannt wird. Spätere Formen des Buddhismus, etwa die verschiedenen Ausprägungen des mahāyāna, können ebenfalls als verträglich mit dieser Sichtweise angesehen werden. Und sogar das Christentum kennt ähnliche Vorstellungen, wenn beispielsweise in mystischen Traditionen gelehrt wird, dass beim gottergebenen oder erleuchteten Menschen das Göttliche selbst (also Gott bzw. Christus) zur Quelle dessen werden kann, was der Mensch denkt, möchte und tut, sodass durch das individuelle menschliche Ich tatsächlich das göttlich-universelle Selbst handelt. Es sind in den religiösen Traditionen der westlich-europäischen Kulturen, und ganz besonders innerhalb der reichen mystischen Literatur, vielfältige Ansichten von der Möglichkeit eines Aufgehens des persönlichen Ich in Gott vorhanden, und entsprechende Darstellungen in den Schriften Meister Eckharts, Angelus Silesius’ oder Jacob Böhmes (um nur einige zu nennen) werden von den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen durchaus zur Kenntnis genommen und historisch erforscht. Ein wissenschaftlicher Diskurs über die Erfahrungen, in denen es in der Mystik geht, etwa im Bereich der Psychologie oder der modernen Bewusstseinsforschung, ist allerdings eher selten. Allenfalls im Bereich der Philosophie, etwa im deutschen Idealismus oder in der Phänomenologie, wurden diese in der abendländischen Tradition nicht nur historisch, sondern auch systematisch untersucht.

Wenn wir uns nun dieser europäischen Philosophiegeschichte zuwenden, so finden wir eine bemerkenswerte Übereinstimmung darüber, dass es ein Ich gibt und diese Vorstellung von großer praktischer und ethischer Bedeutung ist, etwa als Grundlage für die menschliche Freiheit. Sehr oft wird dabei das Ich, wie etwa bei Aristoteles, an die Tätigkeit des Denkens geknüpft. Noch bei Descartes finden wir diese Ansicht: In seiner Philosophie stellt die Fähigkeit des Ich, Zweifel zu erheben, und die Unmöglichkeit, seine eigene Existenz zu leugnen, die Grundlage der Erkenntnistheorie dar. In Kants Philosophie ist das Ich an sich zwar unerkennbar, spielt aber doch als sogenannte ›regulative Idee‹ eine zentrale Rolle, indem das Ich als eine Vorstellung verstanden wird, die jegliche andere vorstellende Tätigkeit des Menschen begleiten müsse und somit die Einheit der menschlichen Erfahrungswelt garantiere. Ferner ist nach Kant das Ich die Fähigkeit zur Bildung rationaler Gedanken, wodurch der Mensch zu einem freien und moralischen Wesen wird. Diese Ansicht wurde von den deutschen Idealisten weitergeführt und radikalisiert. Fichte etwa ging davon aus, das Ich sehr wohl als das erkennen zu können, was es ist. Und bei Hegel wird das Ich, in seiner vollendeten Form als absoluter Geist im Menschen, zum Zentrum der Philosophie und zum telos der Weltgeschichte. Freilich teilten nicht alle Philosophen diese Ansicht. Hume beispielsweise machte die berühmte Bemerkung, dass er, indem er seine inneren Erlebnisse untersuchte, nichts habe finden können, was einem Ich oder Selbst irgendwie ähnlich sehe, weshalb er das Ich als ein Bündel von unzusammenhängenden Bewusstseinsinhalten (Perzeptionen) beschrieb, die nur durch die Idee der Kausalität mühsam zusammengehalten werden. Auch für Foucault und die meisten poststrukturalistischen Denker besteht das Ich nicht in und durch sich selbst, sondern gilt als logische oder sprachliche Funktion, die durch das Denken bzw. die Sprache geschaffen wird und nichts außerhalb derselben bezeichnet.

Obwohl Rudolf Steiner als Denker in vieler Hinsicht in der Tradition der westlichen Philosophie steht, und in besonderer Weise der Ich-Philosophie des deutschen Idealismus verpflichtet ist, kennt auch er verschiedene Formen des Ich, ein ›wirkliches‹ und ein ›illusorisches‹, ein rein ›subjektives‹ (oder ›empirisches‹) und ein ›objektives‹, ›transpersonales‹. Wie viele von der Existenz eines Ich ausgehenden Denker weist auch Steiner darauf hin, dass dasjenige, was wir im ›gewöhnlichen‹ Bewusstsein als unser Ich betrachteten, also unser Selbstbild bzw. unsere Identität, in vieler Hinsicht einen illusorischen Charakter habe. Er geht aber davon aus, dass diese Illusion schwer durchschaut und überwunden werden könne, weil dieses ›illusorische‹ Selbst seiner Auffassung nach in tiefgehender Weise an die Verwirklichung des ›wahren‹ Ich gebunden ist. Erleben lässt sich dieses ›tiefere‹ oder ›wahre‹ Ich bzw. der sogenannte Ich-Leib nach Steiner erst dann, wenn der Mensch bestimmte bewusste Erfahrungen der astralen Welt sammelt. Während der Mensch im Bereich des Elementarischen die Erfahrung machen könne, dass sein individueller Ätherleib eine Art Erweiterung in die ätherische Umgebung hinein erfährt, gestalte sich die Selbstwahrnehmung im Bereich des Astralen als »eine Art Überspringen in eine andre Wesenheit« (WS, 53). Man erlebt also nach Steiner im Astralen das eigene Ich mittels und in Form jener Wesenheiten, denen man in dieser Sphäre begegnet. Dabei ist diese Selbst-Erfahrung von zweifacher Art, denn sie betrifft ein ›höheres‹ und ein ›niederes‹ Ich. Das niedere Ich wird erlebt als dasjenige, was man im ›gewöhnlichen‹ Bewusstsein als die eigene Persönlichkeit oder Identität ansieht, und dieses stellt sich nach Steiner in der geistigen Erfahrung tatsächlich (im Sinne der obigen Äußerung Humes) als bloßes ›Bündel‹ von Bewusstseinsinhalten dar. Der Mensch könne aber dann, mittels der Bewusstwerdung dieses ›Bündels‹, zur Erkenntnis eines höheren bzw. wahren Ich kommen, nämlich einer geistigen Individualität, die den Tod des niederen Ich überlebt und sich in immer neuen physischen Leibern (und immer neuen niederen Ich) inkarniert. Was also zuvor als Persönlichkeit erlebt worden ist, stellt nach Steiners Auffassung eine Art Spiegel dar, durch dessen Bild das wahre Ich zur Selbsterkenntnis gelangt. Auf dieser Stufe werde also die wichtige Erfahrung gesammelt, dass das höhere Selbst sich nur mittels der Spiegelung im niederen Selbst seiner selbst bewusst werden kann.

Diese Aussagen zeigen, dass Steiner mit jenen spirituellen Traditionen übereinstimmt, welche dem ›alltäglichen‹ bzw. empirischen Ich, also dem subjektiven Selbstbild des wahren Ich im ›gewöhnlichen‹ Bewusstsein, einen illusorischen Charakter zuschreiben. Und er schließt sich offenbar auch jenen Anschauungen an, die davon ausgehen, dass dieses wahre Ich den Tod überdauert und von einer physischen Inkarnation zur nächsten wandert. (In gewissen buddhistischen Schulen gilt allerdings die Vorstellung von einem sich reinkarnierenden Ich als illusorisch; was sich hier nach dem Tod wieder neu inkarniert, könnte aus dieser Sicht am besten mit der humeschen ›Bündel-Metapher‹ beschrieben werden, deren einzelne Elemente nicht von einem substantiellen Selbst in einer Einheit zusammengehalten werden, sondern nur vom Bewusstsein.) Die Frage, ob das von ihm postulierte höhere Ich von ewiger Natur ist, beantwortet Steiner in den Meditationen der vorliegenden Bände nicht. In sehr knapper und schwerverständlicher Form hatte er sich dazu allerdings in der Theosophie bereits geäußert. Dort heißt es nämlich: »Dadurch, daß die ewige Wahrheit so verselbständigt und mit dem ›Ich‹ zu einer Wesenheit verbunden wird, erlangt das ›Ich‹ selbst die Ewigkeit«. Soll damit ausgedrückt werden, dass das wahre Ich an sich nicht ewig sei, und nur durch die Verbindung mit der Wahrheit Ewigkeitscharakter erlange? Handelt die Stelle überhaupt vom ›wahren‹ Ich, oder vom ›niederen‹? Diese Fragen in all ihren philosophischen Implikationen zu verfolgen, würde hier zu weit führen. Man kann aber wohl so viel sagen, dass Steiner mit den Ansichten jener übereinzustimmen scheint, welche davon ausgehen, dass das endliche (niedere, subjektive, empirische) Ich sich durch Selbstentwicklung dem unendlichen (höheren, objektiven) Ich annähern oder gar eins mit ihm werden kann. Jedoch wäre zu fragen, in welcher Hinsicht ein im Unendlichen aufgehendes endliches Ich überhaupt noch seinen früheren endlichen Charakter beibehalten könnte, denn eine solche Beibehaltung wäre ja wohl Bedingung für die beschriebene ›Einheit‹.

Doch halten wir den Punkt fest, der Steiner in diesem Zusammenhang besonders wichtig zu sein scheint: Die Illusion des ›niederen‹ Ich ist die notwendige Bedingung dafür, dass das wahre ›höhere‹ Ich sich seiner selbst bewusst werden kann. Zugespitzt ausgedrückt, könnte man also sagen: Das ›niedere‹ Ich bedingt die Selbstverwirklichung des ›höheren‹. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint Steiners Ansicht deutlich weniger transzendent ausgerichtet als die oben erwähnten asiatischen Traditionen: Die Immanenz des illusorischen niederen Ich ist seiner Auffassung nach notwendig für die Verwirklichung der transzendenten Natur des höheren wahren Ich, in welchem letztlich der Ursprung des menschlichen Daseins liegt. Bemerkenswert an dieser Haltung ist, dass in ihr eine Dialektik der Umkehrung innewohnt, da nämlich einerseits das höhere Selbst als eigentliches ›wahres‹ Wesen des niederen verstanden wird (wobei letzteres bloß illusorische Manifestation des ersten ist), zugleich aber das Selbstbewusstsein des höheren Ich vom Vorhandensein des niederen abhängt, sodass, da das Selbstbewusstsein ja zum Wesen des höheren Selbst gehören soll, in gewisser Weise auch umgekehrt das illusorische Selbst, indem es eben diese Bewusstwerdung vermittelt, als Wesen des Wahren verstanden werden kann.

Zuletzt sollte noch angemerkt werden, dass nach Steiner auch bei der geistigen Wahrnehmung des ›wahren‹ Ich wieder eine Art fühlendes Wissen von Bedeutung ist:

Ein solches Sich-Hindurcharbeiten zu einem übergeordneten Ichwesen in dem gewöhnlichen Ich führt nicht nur dazu, sich sagen zu können, mein Gedanke bringt mich dazu, ein solches übergeordnetes Ich theoretisch zu ersinnen, sondern es führt dazu, das lebendige Wesen dieses ›Ich‹ in seiner Wirklichkeit als Macht in sich zu erfühlen, und das gewöhnliche Ich als ein Geschöpf dieses Anderen in sich zu empfinden. Dieses Fühlen ist ein wahrhafter Anfang des Schauens der Geistwesenheit der Seele. Und wenn es zu nichts führt, so liegt das nur daran, daß man es beim Anfang bewenden läßt. Dieser Anfang kann ein kaum bemerkbares, dumpfes Empfinden sein. Er wird dies vielleicht lange bleiben. Doch wenn man stark und kräftig das weiter verfolgt, was zu diesem Anfang geführt hat, bringt man es zuletzt zum Schauen der Seele als Geistwesenheit. (WS, 63)

Die Vorstellung, dass es beim Menschen ein solches Gefühl für das wahre Ich gibt, entweder in starker Form oder auch ganz subtil, scheint weit verbreitet zu sein. Innerhalb der anthroposophischen Bewegung wird dieses Gefühl in besonderer Weise durch die Betonung der biographischen Arbeit gepflegt. Und auch in der anthroposophischen Meditation wird das Ich häufig explizit angesprochen. Ein Beispiel dafür ist ein Mantra Steiners, in welchem angedeutet wird, das Ich bringe Licht in die Dunkelheit, zugleich aber trete dieses ›wahre‹ bzw. ›höhere› Ich niemals voll in das irdische Dasein ein.

Steiners Ansichten über das Wesen des Ich gehören somit zu den Aspekten der Anthroposophie, welche diese von anderen spirituellen Traditionen deutlich unterscheiden. Er betrachtet zwar auch das niedere bzw. empirische Ich als illusorisch und spricht von einem dahinter stehenden wahren Ich, fügt aber den für die europäisch-neuzeitliche Philosophie charakteristischen Gedanken hinzu, dass diese Illusion bei der Selbstbewusstwerdung des höheren Ich eine entscheidende Rolle spielt und somit für die spirituelle und moralische Entwicklung des Menschen bedeutsam und notwendig ist. Die Doppelfunktion und die dialektische Natur des niederen Ich führen im anthroposophischen Denken dazu, dass den immanenten Aspekten des menschlichen Daseins eine deutlich größere Rolle zukommt als in mehr transzendent ausgerichteten spirituellen Traditionen, da das illusorische Ich sich laut Steiner mittels Meditation und spiritueller Praxis dem wahren Ich anzugleichen und so mit dem geistigen Kosmos zu vereinen vermag. Diese Übereinstimmungen mit den im Westen weit verbreiteten Ansichten über die Existenz, Realität und zentrale Rolle des Ich stellen vermutlich einen weiteren Grund dafür dar, dass die Anthroposophie eine relativ weite Verbreitung gefunden hat.

 

Der ›Hüter der Schwelle‹

Das in beiden Texten evozierte Bild des ›Hüters der Schwelle‹ kann sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne verstanden werden. Unter die weitere Bedeutung fällt beispielsweise die verbreitete Vorstellung eines schatten- oder geisterhaften Widersachers, welcher dem nach geistiger Erkenntnis suchenden Menschen auf einer bestimmten Stufe seiner inneren Entwicklung entgegentritt und ihm das weitere Vordringen versagt. Eine solche ›Widersacher-Figur‹ kennen wir aus vielen spirituellen Weltanschauungen und kontemplativen Traditionen. Man könnte im judäo-christlichen Kontext etwa auf den ›Cherub mit dem flammenden Schwert‹ verweisen, welcher den Zugang zum Paradies verwehrt, oder die Figur des Teufels, welche Jesus in der Wüste versucht. In den buddhistischen Traditionen gibt es die bereits erwähnte dämonische Figur des Māra, die in dem Moment auftaucht, als Buddha sich in seiner Meditation unter dem Bodhi-Baum seiner Erleuchtung nähert. Im engeren Sinne betrachtet kann Steiners ›Hüter der Schwelle‹ als weitere Ausprägung einer charakteristischen Denkfigur des modernen europäischen Okkultismus verstanden werden. Steiner selbst verweist etwa explizit auf den rosenkreuzerisch geprägten Roman Zanoni von Edward Bulwer Lytton als eine »romanhafte« Darstellung derjenigen spirituellen Erlebnisse, von denen hier die Rede ist (vgl. dazu WE, 203 und die entsprechenden Stellenkommentare in SKA 7). Solche besonders auch in der theosophischen Literatur zirkulierenden Vorstellungen hat Steiner aufgegriffen und ihnen in der speziellen anthroposophischen Hüter-Konzeption eine charakteristische Form gegeben, die in ihrer spezifischen Form so kein Vorbild hat.

Ein Charakteristikum der steinerschen Hüter-Konzeption ist, dass er zwischen zwei Hüter-Gestalten unterscheidet, nämlich dem ersten oder ›kleinen‹ und dem zweiten bzw. ›großen‹ Hüter der Schwelle. Deren ausführlichste Darstellung findet sich in Steiners Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? (vgl. WE, 197–208 sowie 209–221). Der kleine Hüter ließe sich auch im Sinne der analytischen Psychologie Jungs als ›Schatten‹ der Seele verstehen, denn er stellt die Folgen selbstbezogenen Handelns im Leben bzw. bisherigen Leben eines Menschen dar (in Steiners Terminologie wäre er Ausdruck des persönlichen negativen Karma). Steiner führt dazu aus, dass das Vordringen in die Welt der geistigen Erfahrung für einen dazu nicht vorbereiteten Menschen zur Folge haben könne, dass die ›Erkenntnis‹ auf Irrtümern und Illusionen basiere. Die Aufgabe des kleinen Hüters bestünde deshalb darin, den unvorbereiteten Menschen die eigene Unvollkommenheit erkennen zu lassen und somit vom frühzeitigen Weiterschreiten abzuhalten. Im Gegensatz dazu sei der große Hüter ein Bild all dessen, wozu sich der Mensch im Laufe seiner verschiedenen Leben im positiven Sinne noch entwickeln, was er einmal werden kann. Er begegne dem Menschen beim Eintritt in die geistige Welt, um diesen zu ermahnen, nicht das Interesse an der irdisch-sinnlichen Welt zu verlieren und in der geistigen Welt aufzugehen. Der Hüter ermutigt den Erkenntnissucher dazu (in ähnlicher Weise, wie der weltzugewandtere mahāyāna Buddhismus das asketische Selbstbefreiungsziel des Frühbuddhismus als egoistisch kritisiert hat), in dieser irdischen Welt zu verbleiben bzw. in sie zurückzukehren und durch fortwährende Arbeit an sich selbst an der Evolution und Befreiung der Gesamtmenschheit mitzuwirken.

Sowohl der Weg zur Selbsterkenntnis als auch die Schwelle der geistigen Welt erweitern Steiners frühere Darstellungen der beiden Hüter und fügen einige in früheren Texten noch nicht erwähnte Details hinzu. So wird etwa im Weg zur Selbsterkenntnis zum ersten Mal erwähnt, dass dem Hüter gegenüber das Gefühl entstehen könne, ein kosmischer Irrtum oder Fehler zu sein (WS, 36). Dieses Gefühl wird als Ergebnis der Einsicht in den eigenen Egoismus, in unbewusste negative Gefühle geschildert; es legt den Grund für ein weniger selbstbezogenes Verhalten und ist somit Voraussetzung für ein von Illusionen freies Erkennen im Bereich des Geistigen. Ferner erklärt er, dass im gewöhnlichen Bewusstsein des Menschen die Identifikation mit dem eigenen Ich eine der stärksten Kräfte sei, die im Menschen wirksam sind. In der geistigen Erfahrung hingegen könne das Erkennen nur dann wahrheitsgemäß sein, wenn diese Identifikation mit dem ›niederen‹ Ich überwunden sei. Beim Eintritt in die Welt der geistigen Erfahrung werde diese als etwas unendlich Wertvolles und Wahres erlebt, als reinste Wirklichkeit, aber man erlebe zugleich die Notwendigkeit, die Identifikation mit dem niederen Ich abzulegen. Man müsse daher dieses niedere Ich genauso objektiv und leidenschaftslos anschauen können, wie ein bedeutungsloses Objekt. Die Seele solle »sich sagen können, was dir bisher als deine stärkste Wahrheit zu gelten hatte, das muß nun jenseits der Schwelle zur übersinnlichen Welt dir als der stärkste Irrtum erscheinen können« (WS, 40). Wieder könnten wir also sagen: Das niedere Ich, obwohl vom geistigen Standpunkt aus bloße Illusion, ist laut Steiner doch insofern zugleich wirklich und wahr, als der Durchgang durch diese Illusion eine notwendige Bedingung zur vollbewussten geistigen Erkenntnis ist. Dieser intensive Konflikt zwischen der Welt der geistigen Erfahrung und dem niederen Ich kann vielleicht als zentrale Ursache derjenigen Erlebnisse verstanden werden, die in der Begegnung mit den Hütern zum Ausdruck kommen. In dem Moment, indem sich Wirklichkeit (als geistige Erfahrung) enthülle, käme zugleich die Natur des Ich in seinen beiden Aspekten zum Vorschein, und dessen negative Seiten würden zugleich mit der Wahrheit des Geistigen offenbar.

Auch hier ist also für Steiner Selbstbezogenheit nicht etwas ausschließlich Negatives, das es einfach zu überwinden gilt. In der Schwelle der geistigen Welt merkt er an, dass sowohl die Fähigkeit, sich selbst als eigenständiges Wesen zu empfinden, als auch das bewusste Denken überhaupt zwar ausschließlich in der Sphäre des physisch-sinnlichen Erlebens entwickelt werden können, dass aber beide Fähigkeiten auch im Bereich der geistigen Erfahrung notwendig sind, um dort wahrheitsgemäß erkennen zu können. Zwar bestehe das Erkennen im Bereich der geistigen Erfahrung darin, in die einem begegnenden Wesen ›einzutauchen‹ und diese sozusagen von innen her zu erkennen; zugleich müsse man sich aber auch immer wieder ganz in sich selbst zurückziehen und sich als getrennt erleben können, um in diesem Bereich bewusst erleben und erkennen zu können. Das Denken werde in diesem Bereich anders erlebt als gewöhnlich, indem dasjenige, was im alltäglichen Bewusstsein als abstrakter Gedanke erscheint, dem Menschen nunmehr als lebendige Wesenheit entgegentritt, dennoch sei es auch hier die Tätigkeit des Denkens, die es möglich macht, in diesem Bereich nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu verstehen. Wenn der Mensch diese Fähigkeit im gewöhnlichen Bewusstsein nicht hinreichend ausgebildet habe, so treten laut Steiner im Bereich der geistigen Erfahrung luziferische und ahrimanische Illusionen auf. Dieser Umstand sei auch der Grund für die bereits erwähnte natürliche Abneigung der Seele, diesen Bereich unvorbereitet zu betreten. Oder wieder im Bild gesprochen: Der Hüter der Seele mache den Menschen darauf aufmerksam, in welchen Aspekten seines Wesens er noch am sinnlich Wahrnehmbaren hafte. Dieses Erlebnis könnte so stark sein, so Steiner weiter, dass der entsprechende Mensch sich dazu entscheidet, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiter nach geistiger Erkenntnis zu streben. Denn die gänzliche Aufgabe aller Anhaftung an die physisch-sinnliche Erlebniswelt, die immerhin Grundlage und Stütze des ›gewöhnlichen‹ Ich ist, führe in der geistigen Erfahrung zu einer Destabilisierung des ›gewöhnlichen‹ Selbst-Erlebens, die Steiner auch als Spaltung der Persönlichkeit bzw. als Auflösung des Ich beschreibt (vgl. WE, 183–196). Dennoch besteht er darauf, dass das Erleben des Menschen im gewöhnlichen Bewusstsein bzw. im Bereich der physisch-sinnlichen Wirklichkeitserfahrung die Grundlage ist, auf der allein diejenigen Kräfte erwachsen können, die zum Erkennen im Bereich der geistigen Erfahrung notwendig sind. Man muss also nach Steiner zuerst in der Welt der gewöhnlichen Erfahrung sowohl die abstrakte Denktätigkeit als auch ein starkes ›niederes‹ Ich ausbilden, um dann in der Welt der geistigen Erfahrung auch ohne abstrakte Begriffe denken und sich auch ohne dieses ›niedere‹ Ich als eigenständiges geistiges Wesen fühlen zu können.

Eine solche Begegnung mit dem Hüter der Schwelle sei keineswegs selten. Vielmehr erlebe jeder Mensch diese Begegnung beim Einschlafen, wenn auch unbewusst. Nach Steiner können Menschen, die sich einer geistigen Schulung unterziehen und so die entsprechende Sensibilität erwerben, diese Begegnung täglich auf subtile Weise an sich selbst erleben.

[Die originalen Fußnoten wurden in dieser HTML-Fassung weggelassen.]

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