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Vorwort

 

Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen.
Steiners intellektuelle Biographie(n) mit besonderer Rücksicht auf Max Stirner

 

Von Ansgar Martins

SKA 3 (2019), VII-XXXIII

Ich komme da auf eine Physicierung des Idealismus […]. Welches Gesetz ist der Mensch in seiner Wirksamkeit? Dies ist die Frage. – Ich komme auf diesem Wege kaum durch. Ueberhaupt umgibt mich Dunkel.

(Johann Gottlieb Fichte)

 

Im Vorwort zu Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert (1901) erwähnt Rudolf Steiner zwei ideengeschichtliche »Marksteine«: Johann Gottlieb Fichtes Bestimmung des Menschen (1800) als »Morgengeläute des neuen Jahrhunderts« und Ernst Haeckels Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899) als evolutionären »Ausklang«. Mit Fichtes Subjektphilosophie und Haeckels Evolutions-Monismus sind zwei seiner wesentlichen Interessenbereiche berührt: Steiner beansprucht, den alten Abgrund zwischen Ich und Welt, Geist und Natur, »Seelentiefen drinnen« und »Weltenraum da draußen« zu überwinden. Er baut darauf, »daß es die Sprache der Dinge ist, die im Innern des Menschen gesprochen wird« (GW, 54). Im Individuum findet er dazu die ideelle Substanz des Alls wieder und im Erkenntnisakt die heilige Hochzeit von Subjektivität und Objektivität. Das »Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit« gilt als »wahre Kommunion des Menschen« (EG, 93), als »thätige« Teilhabe am ideellen »Weltprozess«, dem »Organismus des Universums« (WW, 10). Ich, Welt und All sind demnach gänzlich erkennbar, weil substanzidentisch: Aus meinem »Innern« soll das der Dinge leuchten. Diese Position drückt den Kern von Steiners Monismus aus und weist auf seine spätere Esoterik voraus. Zunächst entwickelten seine Pläne sich jedoch ganz anders.

 

Steiner formulierte das skizzierte Programm in den 1880er Jahren im Anschluss an Fichtes Ich-Philosophie und Goethes Naturphilosophie idealistisch – ab Mitte der 1890er jedoch eher mit Ernst Haeckel, Friedrich Nietzsche und Max Stirner: naturalistisch und radikal diesseitig. Der letztere Ansatz prägt die drei Schriften des vorliegenden Bandes. Dieses Vorwort soll weniger die evolutionstheoretische Seite von Steiners ›Weltanschauung‹ um 1900 thematisieren als vielmehr die parallele Zuspitzung seiner Ich-Philosophie, in der nun »genialische« Persönlichkeiten wie Nietzsche, Goethe und Haeckel in den Vordergrund treten. Fichtes ›Ich‹ wird durch Stirners ›sterblichen Schöpfer‹ überschrieben. Der Einfluss Stirners – der meist nur neben Nietzsche als »ein anderes Enfant terrible des 19. Jahrhunderts« gesehen wird, in das Steiner sich in den 1890er Jahren »verliebt[e]« – steht hier im Mittelpunkt. Denn Steiner widmete ihm keine eigenständige Monographie, fand aber im Zusammenhang mit ihm die radikalsten Formulierungen für die im Folgenden zu rekonstruierende Konzeption von Philosophie als persönlichem Erlebnis. Auch darin lassen sich freilich Vorstufen der anthroposophischen Esoterik entdecken.

 

1. Biographien von sich zur Freiheit emporringenden Seelen

Goethes Weltanschauung (1897) ist als Bilanz von Steiners vorangehender Auseinandersetzung mit Goethe im Rahmen der Editionen von dessen naturwissenschaftlichen Schriften anzusehen. Im Unterschied zu seiner ersten Monographie, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886), in der Steiner Goethe eher fortzuschreiben beanspruchte, legte er in der Vorrede des neuen Goethe-Buchs großen Wert darauf, dass er sich von dem Porträtierten unterscheide, »daß nach meiner Ansicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat«, und bekennt: »[I]ch möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst fördert«. Goethes Naturphilosophie wird nicht mehr als die Revolution der Wissenschaften, sondern als seine individuelle Kreation verstanden, die beispielsweise seine Dichtung besser zu verstehen helfe. Steiner beschreibt sein Verhältnis zu Goethe 1897 wie folgt:

Ich darf [den Inhalt dieses] Buchs als erlebt im vollsten Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspunkten habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern versucht. Allen Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich Goethe zu verstehen. (GW, 7)

Erlebnis ist dabei nicht passiver Eindruck, sondern »erkämpft« – Steiner verklammert hier individuelle Existenz und philosophische Einsicht. Goethes ›Weltanschauung‹ kann demnach nicht einfach argumentativ nachvollzogen, sondern muss existenziell errungen und persönlich hervorgebracht werden. Diese Subjektivierung von Philosophie findet freilich auf Kosten von verallgemeinerbarer und kommunizierbarer Erkenntnis statt. Programmatisch hatte Steiner das 1894, ein Jahr nach dem Erscheinen seines Buchs Die Philosophie der Freiheit, verkündet. In einem Brief an seine Wiener Freundin Rosa Mayreder nahm er den Argumentationsgang jenes Buchs de facto zurück und wollte es stattdessen als Artikulation völlig persönlicher Erlebnisse verstanden wissen:

Ich lehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint. Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele zeigen. Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. […] Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht, die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. […] Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet. […] Vielleicht ist aber überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen. (GA 39, 232)

Hartmut Traub – der Steiners Frühwerk bis 1894 philosophisch zu systematisieren sucht – stellt schon die reflexive Entwicklung von Steiners Schriften zwischen 1886 und 1894 unter das Motto ›Je früher desto klarer‹ und distanziert sich scharf von dem zitierten Brief an Mayreder: »Das ist nun doch etwas ganz anderes als wissenschaftliches Philosophieren. […] Diesem intellektuellen Anarchismus, der das Ende ernsthaften Philosophierens darstellt, können wir uns nicht anschließen.« Philosophie als »Erlebnis« von »einzigen Persönlichkeit[en]« ist in der Tat kein »wissenschaftliches Philosophieren« mehr, zugleich aber der Eintritt in eine ganz andere Art des Philosophierens, nämlich diejenige Nietzsches und Stirners: apodiktisch, aphoristisch, egoistisch (und bekanntermaßen anarchisch). Die Probleme dieses Ansatzes liegen gleichwohl auf der Hand und sind nicht zu unterschätzen. Durch die völlige Subjektivierung von Erkenntnis gehen einerseits die ›Dinge‹ und andererseits die Möglichkeit verloren, Erkanntes intersubjektiv nachvollziehbar zu machen: Die »Zeit des Lehrens« ist »vorüber«, es existiert keine Brücke über »Klippen und Abgründe«. Nicht erst dadurch aber setzt sich eine Philosophie, die unmittelbar persönlich erlebt sein will, der Kritik aus. Die Beanspruchung unmittelbarer subjektiver Evidenz als Wissensquelle hat bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Friedrich Heinrich Jacobi problematisiert:

Fürs erste, weil nicht die Natur des Inhalts, sondern das Faktum des Bewußtseins als das Kriterium der Wahrheit aufgestellt wird, so ist das subjektive Wissen und die Versicherung, daß Ich in meinem Bewußtsein einen gewissen Inhalt vorfinde, die Grundlage dessen, was als wahr ausgegeben wird. Was ich in meinem Bewußtsein vorfinde, wird dabei dazu gesteigert, in dem Bewußtsein aller sich vorzufinden, und für die Natur des Bewußtseins selbst ausgegeben.

Die selbstsichere Verallgemeinerung des subjektiv Evidenten – anstelle einer Prüfung der »Natur des Inhalts«, durch die das Unmittelbare sich als vermittelt herausstellt – kritisiert Hegel als sich selbst verabsolutierende subjektivistische Eitelkeit. Man mag von Steiners skizziertem Programm halten, was man will: Die im vorliegenden Band veröffentlichten Bücher aber folgen genau dieser verabsolutierten Persönlichkeitstheorie. Es sind nicht nur Schriften über Steiners ›persönliche Erlebnisse‹ – das unterschiede sie nicht von seinen übrigen Texten –, sondern sie sind zugleich als »Biographie[n]« der »sich zur Freiheit emporringenden Seele[n]« Nietzsches, Goethes und Haeckels zu verstehen. Für die Porträtierten soll gleich Steiner gelten:

Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden, als in der von mir erlebten. (RP[II], 174)

Um angesichts der nicht enden wollenden Debatten über Kontinuitäten und Brüche in Steiners eigener intellektueller Biographie ganz deutlich zu sein: Die Spezifik jener Konzeption von Philosophie (also von Philosophie als persönlichem Erlebnis rein subjektiver Ideen) gegenüber seinen vorangehenden und folgenden Schriften besteht nicht etwa darin, dass Steiners frühere philosophische Erlebnisse oder spätere theosophische Visionen weniger subjektiven Charakter hätten. Im Gegenteil: Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886) etwa dichtet Goethes neoplatonische Züge reichlich subjektiv zum idealistischen System weiter und will den Motor ›anschauender Vernunft‹ bis zu Fichtes Ich erheben. Dabei postuliert Steiner gemäß Traub eine »Typologie der Erkenntis«-Formen, die stufenförmig vom Anorganischen über das Organische zu Psychologie, Volks- und Staatslehre aufsteigen. Dieses spätidealistische System leitet Steiner kenotisch ab: Gott sei in die Schöpfung aufgegangen und erstehe im Willen des individuellen Menschen wieder auf.

Im Systembau von 1886 wird Goethe einfach absorbiert. Die ideelle Kaperfahrt, die Steiner hier (ebenso wie in seiner späteren Theosophie-Rezeption) praktiziert, erhebt er um 1894 zur bewussten Reflexion und zum distinkten Bekenntnis. In den intellektuellen Biographien schreibt er dieses Verfahren dann nicht nur sich selbst, sondern auch den empirischen Personen Nietzsche oder Goethe zu, deren Erkenntnisse er (trotz aller Wertschätzung des Subjekts in den vorangehenden Monographien) nun erst als erlebt, erkämpft und durchlebt präsentiert. Dass Steiner Mitte der 1890er Jahre intellektuelle Biographien schreibt (statt beispielsweise eine ›Erkenntnistheorie der nietzscheschen Weltanschauung‹ vorzulegen), hängt mit dieser temporär vorrangigen Priorisierung der ›einzigen Persönlichkeit‹ zusammen. Seine nachfolgenden Werke Welt- und Lebensanschauungen sowie zur Mystik- und Mysteriengeschichte exerzieren dieses Paradigma noch in Form größerer philosophie- und religionshistorischer Überblicksdarstellungen durch. In den im engeren Sinne theosophischen Schriften ab 1904 präsentiert Steiner dann seine Lektüren meist ohne Quellennennung in Form von konkreten kosmologischen, angelologischen oder anthropologischen Narrativen oder Tatsachenberichten. Auf diese trifft mehr denn je zu, dass es sich um ›persönlich‹ ›Erlebtes‹ handelt. Steiner legt dieses Prinzip aber nicht mehr mit derselben Radikalität wie 1895–1901 der Weltanschauungs-Produktion anderer zugrunde, sondern korrigiert oder kontextualisiert diese bevorzugt aus der allgelehrten Perspektive des Sehers.

So sind die Monographien kurz vor 1900, in denen Steiner die subjektivistischsten Worte findet – mutatis mutandis – zugleich seine ›objektivsten‹, soll heißen: es sind unter seinen zahlreichen Büchern diejenigen, in denen die Konturen der von ihm verhandelten Gegenstände (bzw. Personen und Philosophen) am deutlichsten hervortreten. Die genannten Aporien und das elitäre Pathos von Steiners Formulierungen sollten daher nicht davon ablenken, dass die oben zitierte Bemerkung aus Goethes Weltanschauung zutrifft: Mit seiner selbst »erkämpfte[n] Weltanschauung« konnte er Goethe besser verstehen. Goethes Weltanschauung ist – eben weil Steiner nicht überall beansprucht, Goethe fortzuschreiben, sondern sich Zeit lässt, das Material zu präsentieren und zuweilen hadert – eines seiner sachlich informativsten Bücher. Dasselbe gilt für die Nietzsche-Studie. Ausgerechnet in den Jahren, in denen Steiner die Theorie der »einzigen Persönlichkeit« und damit die subjektive Beschränkung objektiver Natur- und ›Ding‹-Erkenntnis entdeckt, gelingt es ihm besser als sonst je, den Gedankenwelten anderer, Goethes, Haeckels und Nietzsches, gerecht zu werden. Auch hier aber stellte Steiner sich, wie Christian Clement in der Einleitung dieses Bandes zeigt, selbst ins Zentrum: Vor allem geht es in den intellektuellen Biographien doch um seine eigenen Erlebnisse.

 

2. Steiners Nietzsche: Übermensch, Genealogie und Evolution

Schon Nietzsches frühes Bekenntnis »Ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist« macht deutlich, wo man die Quellen von Steiners elitär zugespitzter Persönlichkeitstheorie zu suchen hat. Sein Weg in Richtung einer antireligiösen und innerweltlichen Philosophie in der zweiten Hälfte der 1890er hängt nicht nur mit Haeckel zusammen, sondern freilich auch mit Nietzsches radikaler Diesseitsorientierung, Christentums-Kritik und Verachtung der »Hinterweltler« (d. h. der Jenseitsgläubigen). In Weimar las Steiner Anfang der 1890er nicht nur dessen Schriften, sondern knüpfte vor Ort auch Kontakte zu Elisabeth Förster-Nietzsche und dem Nietzsche-Archiv, die sich schließlich im Streit verloren. 1895 legte Steiner in Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit eine der ersten Monographien über Nietzsche vor.

Zu den Formulierungen in Die Philosophie der Freiheit, die seinen allmählichen Auszug aus dem Idealismus im Zusammenhang mit seiner Nietzsche-Lektüre erahnen lassen, gehört der Satz: »Man muß sich der Idee als Herr gegenüberstellen, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.« Den Weg über »Klippen und Abgründe«, den Steiner 1894 gegenüber Mayreder beschwört, wendet er ein Jahr später in seinen Hymnen auf Nietzsches »Herrennatur« heroisch: »Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit nicht empfangen – er will sie schaffen«. Diese Schöpferkraft hatte Steiner natürlich schon früher für die moralische Phantasie veranschlagt, nun ging es stärker um ihren endlichen Schöpfer. Zarathustra lehre »die Menschen, ihre Tugenden als ihre Geschöpfe betrachten« und »diejenigen verachten, die ihre Tugenden höher als sich selbst achten.«

Dennoch lassen sich durchaus klare Differenzen festmachen, etwa in Sachen Freiheits- und Erkenntnisoptimismus. Wenn Nietzsche schreibt: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben«, dann steht das in offensichtlichem Kontrast zu Steiner, der trotz aller wechselnden ideologischen Gewänder stets im Menschen die Krone der Schöpfung sah. Nietzsche ist pessimistischer, relativistischer, abgründiger als Steiner – auch wenn er selbst über den Nihilismus durchaus hinauswollte: durch eine positive Philosophie des Lebens.

Indem er Nietzsches destruktive Züge abmildert, weicht Steiner besonders von einer inzwischen etablierten Nietzsche-Interpretation unversöhnlich ab: »Genealogie als Kritik«, jener ideologiekritischen und dekonstruktivistischen Lesart, welche die kritischen Sozialtheorien des 20. Jahrhunderts prägte. Nietzsches Genealogie der christlichen Moral als »Sklaven«-Moral beispielsweise liest Steiner nicht als Versuch, diese ›zweite Natur‹ durch den Hinweis auf ihre historische Kontingenz als geworden und veränderlich zu kritisieren. Eher sieht er eine Parallele zu seiner eigenen Evolutionsphilosophie: Nietzsche erkläre die Moral gnadenlos wie ein Naturforscher, der die Vorgeschichte von Organen betrachtet. Dieses darwinistisch-haeckelianische Bild von Naturwissenschaft hätte Nietzsche vermutlich schroff abgekanzelt: Wenn er auch selbst sehr wohl biologische Triebe am Grunde menschlichen Verhaltens sah und sich auf Naturkräfte à la Goethe berief, wollte er diese doch keinesfalls mit Darwin zusammenbringen.

Die verunsichernden und kulturkritischen Folgen Nietzsches (»Die Form ist flüssig, der Sinn aber ist es noch mehr … selbst innerhalb jedes Organismus steht es nicht anders«) sah Steiner also eher weniger. So grenzt er sich in seinem Buch auch dezidiert von Lou Andreas-Salomés »mystischem« Nietzsche ab. Selbst in seiner Nietzsche-Lektüre suchte er durchaus Sinn und Vernunft in der Welt: im »Übermenschen«, der »naturgemäß zu leben versteht«. Die lebens- und willensphilosophischen Reflexionen Nietzsches markieren den systematischen Punkt, an dem Steiner seine harmonisch-monistische Naturphilosophie einschaltet. Steiner verehrte Nietzsche trotz solcher Unterschiede zweifellos zutiefst, weil er im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen bis in die Triebnatur allergisch auf die nachwirkenden christlichen »Vorurteile« reagiert habe. Durch diese mithin bio-emotionale Differenz von seiner Umwelt zeichnet er sich für Steiner als neuer Menschentypus und Kämpfer gegen seine Zeit aus. Die »Persönlichkeit« Nietzsche dient als Beispiel eines vollendet Individuierten, eines »Übermenschen«, der praktisch den Einklang zwischen evolutionärer Natur und Ich gefunden hat.

In einer Rezension aus dem Jahr 1900 versucht Steiner einmal konkret, das »genialische« geistige Vermögen von Einzelnen monistisch mit der Biologie der Gattung zu vermitteln, um es als »allgemein-menschliches« (Goethe) Potenzial zu bestimmen. Er erklärt die »großen Genies« evolutionär.

Genialität ist geistige Zeugung. Und wer auf modern naturwissenschaftlichem Standpunkt steht, der kann in der geistigen Zeugung, in der seelischen Produktivität nichts anderes sehen als eine höhere Stufe der Produktivität in der Körperwelt. […] Man darf nicht verkennen, daß in den großen Genies, auf denen der Fortgang der Kultur beruht, nicht eine besondere mystische Gabe vorhanden ist, sondern nur eine Steigerung derjenigen geistigen Fähigkeit, die in jedem Neu-Ersinnen auftritt. Genie ist in diesem Sinne eine allgemein-menschliche Eigenschaft. (GA 30, 423)

Das biologisch gegründete Vermögen des Genies – auf Nietzsches Grundierung und Kritik desselben ist noch zurückzukommen – tritt hier das Erbe des Transzendentalsubjekts an. Es ermöglicht, die Theorie der einzigen Persönlichkeit mit Haeckels Körperwelten zu versöhnen. Steiner erläutert die biologische Verankerung der »geistigen Zeugung« anhand des »Befruchtungsvorgang[s]« näher. Hier nämlich zeige sich, wie der biologische Trieb das Lebewesen über seine »selbstsüchtigen Geschäfte« hinaustreibe und für die der »Gesamtnatur« einspanne. »Wenn wir bildlich sprechen dürfen, so können wir sagen: Im Befruchtungsvorgang gebraucht die Natur eine List. Sie setzt in den Menschen einen Trieb, durch den eine selbstlose, unegoistische Handlung dennoch aus eigennütziger Begierde vollzogen wird«; ein Vorgang, der sich dann bis hinauf zu einer »höheren Einheit« von »Egoismus« und »Altruismus« im Genie sublimiert.

Die Rede von der »List« der Natur ist zwar als Bild ausgewiesen, zeigt aber exemplarisch, wie in Steiners Versuch, naturale und geistige Produktivität zu verketten, auch um 1900 ungebrochen idealistische Analogien und Annahmen wirksam sind. Steiner neigt trotz seiner Bekenntnisse zu evolutionärer Variation und Selektion und trotz seines damaligen Anti-Platonismus weiterhin zu teleologischen und metaphysischen Modellen. Auch die Konstruktion des »Übermenschen« scheint rhetorisch in die Nähe einer Zweckursache zu geraten: »In solchen Menschen sieht er [Nietzsche] den Zweck des Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem Ziele angekommen zu sein, wenn sie einen solchen Menschen hervorgebracht hat.« Steiner versteht sich um 1900 durchaus selbst als naturalistischer Anti-Idealist, Geist ist für ihn nur der leiblich manifeste der einzelnen Person und geht auf biologische Vollzüge zurück, die sich bereits bei den tierischen Vorfahren andeuten. Doch zugleich muss der Monist schon in den simpelsten biologischen Vorgängen (proto-)ideelle Vollzüge unterstellen, damit diese sich einmal zum menschlichen Reflexionsvermögen steigern können. Auch die goetheanisch-morphologische Evolutionslehre, die Steiner mit Haeckel verbindet, trägt pantheistische Züge. Eine rezeptionsgeschichtliche Folge dieser Ambivalenz ist, dass Anthroposophen an die immanente idealistische Logik von Steiners einschlägigen Schriften um die Jahrhundertwende anknüpfen und sie relativ leicht in den Kanon integrieren können, während nichtanthroposophischen Steiner-Lesern oft die programmatischen Differenzen jener Texte zu Steiners früheren, dezidiert idealistischen, und seinen späteren, esoterischen Werken ins Auge springen. Die sich unvermeidlich anschließende Debatte über Kontinuitäten und Brüche in Steiners Überzeugungen geht oft an der Spezifik seiner jeweiligen ideologischen Zustände vorbei. Auch das Charakteristikum von Steiners hier zur Diskussion stehenden Texten geht meist verloren. Steiner ist in seinen konsequentesten Äußerungen jener Jahre weder Idealist noch Biologist, sondern durchkreuzt diese Alternative in seiner Persönlichkeitstheorie existenzialistisch.

 

3. Der Stirner-Nietzsche-Komplex

Die Grenzen von Steiners evolutionärer Nietzsche-Deutung sind zugleich der Eintritt in den autonomen Herrschaftsbereich des Egoisten Max Stirner. Sein Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844) stieß im Vormärz noch kaum auf Interesse und geriet fast in Vergessenheit. Erst als John Henry Mackay Stirners Werke Ende des 19. Jahrhunderts neu bekanntmachte und eine Biographie verfasste, entwickelte sich ein regelrechter Stirner-Hype und ein unauflöslicher »Stirner-Nietzsche-Komplex«, für den Steiners folgende Reflexionen ein bemerkenswertes Beispiel abgeben. Steiner gehörte erst ab 1898 fest zu Mackays Berliner Umfeld, hatte aber bereits 1893 den Einzigen enthusiastisch zur Kenntnis genommen. An Mackay schrieb er, dass sein Buch Die Philosophie der Freiheit (dessen erste Exemplare gerade ausgeliefert wurden) die kongeniale erkenntnis- und moraltheoretische Unterfütterung Stirners enthalte. Steiner drückte seine Zustimmung zu anderen Philosophen oft in dieser Weise aus. Der Brief scheint weniger als Lektüreanweisung für Die Philosophie der Freiheit plausibel denn als Programm, das sich in seinen nachfolgenden Texten entfaltet.

So zeichnet Steiner 1895 in Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit einen eminent stirnerschen Nietzsche, was er an einer Stelle auch bekennt: Er zitiert zu Beginn des Kapitels »Nietzsches Entwicklungsgang« drei Seiten lang Der Einzige und sein Eigentum. Stirner habe »bereits in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in kristallklaren Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen […] oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen.« Steiner ist letztlich einer der »viele[n] Stirnerianer«, über die Hans G. Helms schreibt, dass sie genug davon hatten, »immer wieder Nietzsche als Geburtshelfer vorgehalten zu bekommen« und »den Vergleich zugunsten Stirners abschlossen«. Dieser Aspekt ist in der Forschung bislang deutlich zu kurz gekommen. Die Bevorzugung Stirners mag auch erklären, warum dieser ungebrochen zu Steiners Heroen zählt, während er Nietzsche ab 1901 als pathologischen Fall zurückweist. Die zitierte Gegenüberstellung von Nietzsches »Herzenstönen« und Stirners Klarheit macht deutlich, was Steiner im Einzigen finden wollte: eine – wie auch immer eigenwillige – Variante des cartesianischen Cogito, eine Ich-Philosophie, die in Nietzsches Pathos der Lebensfülle unterzugehen scheint. In einem späteren Text bedauert Steiner vielleicht nicht nur Nietzsche, sondern auch sich selbst, wenn er feststellt:

[Ein] Gefühl des Schmerzes muß in denjenigen vorhanden sein, die in der Zeit, in der Stirners Buch vergessen war, ihre Jugend verlebt haben. […] Einer der Großen der Gegenwart würde dieses Gefühl haben, wenn nicht eine tückische Krankheit gerade in dem Augenblicke seinem Schaffen ein jähes Ende bereitet hätte, als er ausholte, eine geistige Tat zu vollbringen, die in würdigster Weise sich Stirners Lebenswerk angeschlossen hätte. Ich meine Friedrich Nietzsche. Seine ›Umwertung aller Werte‹ hätte er aus der Vorstellungsart heraus geschrieben, aus der Stirners ›Einziger‹ geflossen ist. […] Statt dessen mußte er sich durch die Anschauungsweise Schopenhauers durchbewegen, die ihn erst nach schmerzlichen Enttäuschungen zu denjenigen Ideen kommen ließ, in denen er allein leben konnte (GA 32, 212 f.).

Stirner ist für Steiner gleichsam Nietzsche minus Andreas-Salomé und Schopenhauer, genauer: minus Andreas-Salomés (vermeintlicher) Mystizismus und Schopenhauers (tatsächlicher) Pessimismus. Nicht nur in Friedrich Nietzsche, auch in Goethes Weltanschauung zitiert Steiner an einer zentralen Stelle Stirners Buch, und zwar dessen Schlussätze:

Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell᾽ ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab᾽ mein Sach᾽ auf Nichts gestellt.

Steiner dazu: »Aber zugleich darf ich, wie Faust zu Mephistopheles sagen: ›In deinem Nichts hoff᾽ ich das All zu finden‹, denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft.« Steiner versucht hier, die monistische Rückbindung des anarchischen Subjekts an den Evolutionsstrom zu leisten und zugleich zu erklären, warum das Individuum der Natur etwas Neues hinzufügen kann. Die »Triebkraft, die alles hervorbringt, [wirkt] in seinem Innern als sein eigener Wille«. Die Naturphilosophie (Goethes) ist nurmehr vermitteltes Erkenntnisziel, gleichsam als roter Teppich des Eigners. Stirners »Absolutismus des Endlichen« verstand Steiner offensichtlich nicht als nihilistisch-sinnleer, sondern als »produktiv«: als konstruktivistischen Akt der Selbstermächtigung. Ein sterblicher und vergänglicher Schöpfer (»der sich selbst verzehrt«) baut seine eigene Welt. Bis zu dieser Einsicht habe Goethe sich nicht aufgeschwungen. Er sei »bis zu der Anschauung der Freiheit nicht gekommen, weil er eine Abneigung gegen die Selbsterkenntnis hatte.« Mit Stirner triumphiert Steiners Ich-Philosophie über die Naturphilosophie. Das Subjekt begabt den materiellen kosmologischen Rahmen der biologischen Evolution erst im Nachhinein mit selbst gesetztem Sinn.

 

4. Wie man zum Herrn der Wahrheit werden kann

Stirners Anliegen findet man am griffigsten in der Einleitung des Einzigen formuliert:

Was soll nicht alles Meine Sache sein! […] Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. [...] Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache ›des Menschen‹. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!

Der Einzige hebt als imponierendes Plädoyer für Nichtidentität an, als radikale Parteiname für das vollends Individuierte gegen die erdrückende Übermacht der schlecht-allgemeinen, normierenden Mächte gesellschaftlicher Institutionen und Ideologien: Staat, Nation, Ökonomie, Religion, Moral, usw. Daraus resultiert bei ihm die Ablehnung jeglicher Intersubjektivität. Am Ende wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, einfach alles Allgemeine verworfen – und damit alles, zu dem sich Erkenntnisse irgendwie relational verhalten müssten, um nachvollziehbar zu sein. Steiners Stirner-Erfahrung fällt mit dem Rückzug ins »Erlebnis des Einzelnen«, der elitären Entdiskursivierung von Philosophie zusammen. Er formuliert einen Stirner der Innerlichkeit (»In deinem Nichts hoff‘ ich das All zu finden«). Dazu passt auch, dass Steiner von Stirners rabiaten Praxis-Vorstellungen weit entfernt bleibt. Während Letzterer etwa zur Lösung der Sozialen Frage (bzw. um den »besitzlosen Pöbel auszurotten«) wie nebenbei den »Krieg Aller gegen Alle erklärt«, schwebt Steiner eher der intellektuelle Konkurrenzkampf völlig freier Geister vor. Es geht ihm weniger um Gesellschaft als eine stirnersche Erkenntnistheorie.

Wie das Wissen persönlich werden kann, wie dasjenige, was man denkend erkennt, in die Kraft des persönlichen Willens übergehen kann, das hat sich Stirner […] beantwortet. Wie man aus dem Welterkenner der Weltherrscher, aus dem Priester der Wahrheit der Herr der Wahrheit werden kann, das ist die Frage für ihn gewesen. (GA 32, 221)

Der ›Priester der Wahrheit‹ ist eine Formulierung Fichtes, die Steiner in seiner vorangehenden Argumentation kritisiert. Er grenzt sich hier also von der ursprünglichen Quelle seiner Ich-Philosophie ab. Auch Nietzsche, Goethes Faust und Haeckels Naturgesetze wischt er im Banne Stirners wie nebenbei vom Tisch, wenn er gegen Vertreter von objektiven Erkenntnisidealen wettert:

Die Welt ist da, so sagten sie. Sie ist gesetzmäßig. Uns drängt es, die Gesetze, nach denen sie eine objektive Macht geformt hat, zu erforschen. Und wenn sie dann ›redlich‹ erforscht hatten, was ›die Welt im Innersten zusammenhält‹, dann fühlten sich die Philosophen so selig, wie wenn dem Bräutigam die Geliebte das Jawort gegeben hat. Denn – wie sagt doch Nietzsche? – die Wahrheit ist ein Weib. Stirner ist kein Freier; er ist Eroberer. Er überwindet die Wahrheit. Er verdaut sie. Und sie wird bei ihm nicht Weltanschauung, nicht Philosophie; von der er uns Mitteilung macht. Sie wird Persönlichkeit. (ebd.)

Das formuliert Steiner unter Verweis auf Stirners Erziehungsschrift (1842), die eine der Persönlichkeit immanente Dialektik von Wissen und Willen stipuliert. Dabei wird die persönliche Wissensproduktion zum beinahe mystischen Akt. Das Wissen geht durch das unsinnliche Prisma des Ich hindurch und bricht sich dann als regelrechter Sturm des Willens Bahn.

[D]as Wissen vollendet sich selbst zum Willen, wenn es sich entsinnlicht und als Geist, ›der sich den Körper baut‹, sich selbst erschafft. Darum haften an jeder Erziehung, die nicht auf diesen Tod und diese Himmelfahrt des Wissens ausgeht, die Gebrechen der Zeitlichkeit, die Formalität und Materialität, der Dandismus und Industrialismus. […] Die Wahrheit selbst besteht in nichts Anderem als in dem Offenbaren seiner selbst, und dazu gehört das Auffinden seiner selbst, die Befreiung von allem Fremden, die äusserste Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die wiedergewonnene Naivität. […] So laufen denn die Radien aller Erziehungen in dem Einen Mittelpunkte zusammen, welcher Persönlichkeit heisst. Das Wissen, so gelehrt und tief, oder so breit und fasslich es auch sei, bleibt so lange doch nur ein Besitz und Eigenthum, als es nicht in dem unsichtbaren Punkt des Ich’s zusammengeschwunden ist, um von da als Wille, als übersinnlicher und unfasslicher Geist allgewaltig hervorzubrechen. (Stirner [1898], 20 f. u. 25)

Wohlgemerkt: Es geht hier, anders als in Steiners Rezeption, vordergründig um (Anti-)Pädagogik, um persönliche Wissensvermittlung. Doch die vorgestellte Theorie der »Persönlichkeit« ist weit umfassender, »allgewaltig«. Beim Geist, »der sich den Körper baut«, handelt es sich (nebst aller philosophiegeschichtlichen Vorläufer der Wissens-, Leib-, und Willenstheorie) um ein Wallenstein-Zitat, das bei Schiller für den tragischen Realitätsverlust eines Feldherrn steht, für die Selbstüberschätzung vor dem Ende. Man könnte das als unfreiwillige Selbstüberführung Stirners lesen, der jede Tuchfühlung mit der äußeren Realität verloren hat – wenn er das Zitat nicht mit Absicht platziert hätte. »Stirner hat verschiedentlich angedeutet, in welchem Zustand er sich den Empörer wünscht: im ›Rausch‹. Der ›Einzige‹ soll ›spontan‹, unmittelbar, ohne jede Überlegung genossen werden.« Er kokettiert somit durchaus bewusst mit dem Moment von antirealistischem Wahnsinn, das der vollkommene Egoist bräuchte, um sich selbst gänzlich absolut zu setzen (und erweist sich durch dieses Bewusstsein als verkappter Realist). Steiner dagegen beharrt durchweg darauf, eine (natur-)wissenschaftlich evidente ›Weltanschauung‹ vorzutragen. Das ist ein Unterschied ums Ganze: Eine solche Philosophie der Selbstverabsolutierung kann nicht ohne Reflexion auf dieses Moment fortgeschrieben werden – oder nur um den Preis, dass der Wahn nicht mehr ausgewiesen wird und selbst als Erkenntnis durchgeht. Die ›einzige Persönlichkeit‹, die aus dem Nichts schafft, braucht keine Erkenntnistheorie. Sie kann setzen, was sie will.

Mit Nietzsche, dem solche Selbstverabsolutierungen keineswegs fremd waren, kann man auch deren Gefahren eindrucksvoll beschreiben. Sein (durch Schopenhauer und Wagner geprägtes) Genie-Konzept ist zweifellos zu den Quellen der steinerschen Persönlichkeitstheorie zu zählen, aber er lieferte in Menschliches, Allzumenschliches (I) eine überdeutliche Kritik nach. Im »Cultus des Genius« werde letztlich religiöser Wunderglaube ins Gebiet der Erkenntnis und des Kunstschaffens übertragen, was nur für die innere Stabilität der Genie-Verehrer positive Auswirkungen habe.

 

Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie in‘s Gehirn dringt, so dass er […] sich für etwas Übermenschliches zu halten beginnt. […] Dadurch, dass er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus: jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist. (KSA 2, 154 f.)

Gegen diese Entwicklung ist es nach Nietzsche nötig, die (bei Stirner wie Steiner oft ausgeblendete) Intersubjektivität von Erkenntnisprozessen bewusst zu machen. Man müsse sich Rechenschaft über die eigenen Eigenschaften, Erzieher, Glücks- und Lebensumstände geben, deren Einflüsse sich zur vermeintlich genialen Schöpfung des Einzelnen kombinieren. »Alle Großen waren große Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen«, und die scheinbar punktuelle Intuition und Inspiration sei nur der plötzliche Durchbruch des so angesammelten »Capitals«. In dieser (aber auch nur dieser) Hinsicht läuft Nietzsches philologisch-genealogischer Vorbehalt, der die Intuition durch den Hinweis auf ihr allmähliches Zustandekommen in Frage stellt, parallel mit Hegels oben angeführter Kritik des unmittelbaren Wissens, das vergisst, dass und wie sehr es selber vermittelt ist.

Nietzsche fährt in seiner Kritik der selbstverblendeten »grosse[n] Geister« fort: »Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche Wirkung zu machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreißen, dass übernatürliche Führer vor ihnen her giengen.« Diese Polemik wider die Verabsolutierung des Genies trifft auf den ersten Blick allerlei Probleme, in die Steiner, Stirner und die einzige Persönlichkeit geraten. Steiners spätere Erinnerung an diese Konstellation in Mein Lebensgang zeigt allerdings, dass die Verwicklungen komplizierter sind. Er beschreibt die Stirner-Phase nicht als Durchbruch zum Einzigen oder auch nur als Kontakt mit einem besonderen Geistesverwandten, sondern als Gefährdung und Versuchung.

 

5. Im unsichtbaren Punkt des Ichs

Im autobiographischen Rückblick relativierte Steiner seine Ideen aus der Zeit kurz vor der Jahrhundertwende und wollte sie nur als äußerliche »Prüfung« gelten lassen, in die er aus übersinnlichen Notwendigkeiten »untertauchen musste«:

Das Schicksal hatte nun mein Erlebnis mit J. H. Mackay und mit Stirner so gewendet, dass ich auch da untertauchen musste in eine Gedankenwelt, die mir zur geistigen Prüfung wurde. […] Damals […] sollte meine Seele mit dem rein ethischen Individualismus in eine Art Abgrund gerissen werden. Er sollte aus einem rein menschlich Innerlichen zu etwas Äußerlichem gemacht werden. Das Esoterische sollte ins Exoterische abgelenkt werden. (ML, 262)

Die Texte um 1900 wären nach Steiners späterer Deutungsanweisung inhaltlich nicht substanziell, nur »methodische Grundlagen der Anthroposophie«: eine »Prüfung« durch höhere Mächte, nach deren Absolvierung er sich endlich ans Esoterische wagen durfte. Aber Steiners Rückblick auf seine Stirner-Phase erzeugt zu Unrecht den Eindruck, er habe in diesem Zusammenhang ›Äußerliches‹ und ›Exoterisches‹ vertreten. Der Weg in die ›einzige Persönlichkeit‹ war von Anfang einer ins Innere – er hoffte tatsächlich, in Stirners Nichts das All zu finden. So scheinen ja auch schon im obigen Zitat aus Stirners Erziehungsschrift Vorgänge eine Rolle zu spielen, die an mystische erinnern oder sich jedenfalls religiöser Metaphorik bedienen (die, wie beinahe alle der hier verhandelten Tropen, auf den deutschen Idealismus zurückgeht): Der »Tod und diese Himmelfahrt des Wissens« bzw. dessen Einschrumpfung in den »unsichtbaren Punkt des Ichs«, um sodann als Leib und »Wille, als übersinnlicher und unfasslicher Geist allgewaltig hervorzubrechen.« Das sterbliche Wissen wird im »unsichtbaren Punkt« gleichsam gekreuzigt, um als Wille neu aufzuerstehen.

In diesem Akt der Zusammenziehung und »Umstülpung« des Wissens in der Nacht der Innerlichkeit kann man die Logik und Ästhetik wiedererkennen, die auch Steiner seiner retrospektiven Behauptung einer geistigen »Prüfung« vor der Jahrhundertwende zugrunde legt. Auch er bringt diese »Prüfung« mit einer Vision von Tod und Himmelfahrt in Verbindung: »[I]n innerster, ernstester Erkenntnisfeier« habe er »vor dem Mysterium von Golgatha« »[g]estanden«. Obwohl er damals ›äußerlich‹ als Religions- und Christentums-Gegner agierte, habe er zugleich den »wahren Inhalt«des Christentums erfahren.

Solche Berichte von Konversions- und Erweckungserlebnissen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem sei es erlaubt, Steiners Visionen von Tod und Auferstehung im Spiegel derjenigen Stirners weiter auszuloten. Der Einzige und sein Eigentum steht tatsächlich auch in einem religionsphilosophischen Kontext, dem der linkshegelianischen Religionskritik. Man darf dazu die Spaltung der hegelschen Schule als zwei unterschiedliche Akzentuierungen von Hegels (dreifacher) Aufhebung der Religion in Philosophie darstellen, letztlich als unterschiedliche Akzentuierungen dessen, was ›aufheben‹ bedeutet: Handelte es sich eher um eine Kontinuität (des Inhalts) oder um eine Transformation (der Form)? Die Linkshegelianer standen für die Transformation; am berühmtesten ist Feuerbachs Dechiffrierung der Theologie als Anthropologie in Das Wesen des Christentums (1841): Im Bild des allmächtigen, alliebenden und allwissenden Gottes zeigt sich, was Menschen sein könnten, aber an sich selbst nie glauben konnten.

Stirner beklagte, dass die Beschwörung »des Menschen« nur die des nächsten fragwürdigen Allgemeinbegriffs ist, der von den Menschen, konkret von »Mir«, abstrahiert. »Ich« ist dabei nicht jedermann, sondern erst der Einzige, der alle Autoritäten und Abhängigkeiten loszuwerden vermag. »Ich bin berechtigt, Zeus, Jehova, Gott usw. zu stürzen, wenn Ich’s kann; kann Ich’s nicht, so werden diese Götter stets gegen Mich im Rechte und in der Macht bleiben, Ich aber werde Mich vor ihrem Rechte und ihrer Macht fürchten in ohnmächtiger ›Gottesfurcht‹«. Am Schluss seiner Argumentation findet Stirner dann aber in Gott – der einzigen Idee der klassischen Metaphysik, die zugleich ganz vollkommen allgemein und ganz konkret ist – schlicht sich selbst wieder. »Man sagt von Gott: ›Namen nennen Dich nicht‹. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen.« Auch das Gott zugeschriebene Streben nach Vollkommenheit »gilt allein von mir«. Dass Stirner gerade in seinem schöpferischen Nihilismus, das heißt in dem Anspruch, seine Sache auf Nichts zu stellen, doch wieder an die Stelle Gottes tritt, hat bereits Feuerbach ihm (anonym) entgegnet. Karl Ballmer, der vermutlich aufschlussreichste anthroposophische Stirner-Interpret, will über diesen religiösen Nihilismus die Vereinbarkeit mit Steiner konstruieren: »Stirners Nichts ist deswegen absolutes Nichts, weil es die Latenz der Schöpferwerdung in der Schwebe und offen hält. […] Das Ich ist das absolute Nichts – und deswegen der präsumptive Allherscher«. Letztlich sind Stirner und Steiner Auto-Theisten. Was über Gott gesagt wurde, muss für »Mich« gelten. Im Unterschied zu dem Vormärz-Schriftsteller geht es Steiner – selbst in seiner anarchistischen Berliner Zeit – niemals so sehr um das Stürzen von Göttern wie um Selbsterkenntnis. Gott ist hier einfach das Ich bzw.: ist ich. Böhme, schrieb er in seinem Aufsatz Der Egoismus in der Philosophie (1899), schaute »das Ich des Menschen«, wo er den »Christengott« im Inneren zu sehen wähnte. Dieses projektionstheoretische Argument, nach dem religiöse Vorstellungen auf gestörte Erkenntnisbedingungen zurückgehen, findet sich innerhalb von Steiners Werk in unterschiedlichen Fassungen. In Die Philosophie der Freiheit gilt es für den personalen Gott, der (›bloß‹) ein ins Jenseits versetzter Mensch sei, während Steiner hier zugleich noch über eine positive Religionsphilosophie – Gott als Totalität der (Ideen-)Welt – verfügt. Im Egoismus-Aufsatz fällt diese weg und Steiner versteht die Welt vollends vom sterblichen Schöpfer her. Dieser vergesse sich selbst bei der Kreation seiner ›geistigen Welt‹ und spreize dabei unbewusst seinen Geist in Geister auf.

Dann läßt er die Geschöpfe seines Geistes an sich herankommen, wie er ein Ereignis der Außenwelt, zum Beispiel Wind und Wetter, an sich herankommen läßt. Er vernimmt keinen Artunterschied zwischen dem, was in der Außenwelt, und dem, was in seiner Seele vorgeht. Er ist deshalb der Ansicht, daß sie nur ein Reich sind […]. Nur fühlt er, daß die Geschöpfe des Geistes höherer Art sind. Deshalb stellt er sie über die Geschöpfe der bloßen Natur […] und läßt von ihnen die Natur beherrscht sein. Er kennt somit nur Außenwelt. Denn seine eigene innere Welt verlegt er nach außen. (GA 30, 101)

Steiner geht in den Jahren nach 1900 diesen Weg in den »unsichtbaren Punkt des Ichs« ohne Zweifel weiter. Insofern verhält sich seine Stirner-Lesart kongruent zu seiner späteren Esoterik. Im Verhältnis zum Egoismus-Aufsatz wird aber in Steiners Theosophie und Anthroposophie die Beziehung von Innen- und Außenwelt nochmals umgekehrt. Vor diesem Hintergrund ließe sich seine christologische »Erkenntnisfeier« als Wiederauferstehung der Außenwelt interpretieren, die im absoluten Nichts der einzigen Persönlichkeit keinen Platz mehr gefunden hatte. Von dieser neuen Warte aus charakterisiert Steiner 1920 die im Negativen verharrende Perspektive Stirners als ein »Sich-Verwickeln, Sich-Verwirren in das Bewußtsein, das dann nicht mehr aus sich herauskann«.

 

6. Muss man verstummen?

In seiner Autobiographie Mein Lebensgang behauptet Steiner, dass ihm 1897 (also etwa zu Beginn der »Prüfung«) »die Frage […] Erlebnis« geworden sei: »Muß man verstummen?« Wenn er 1894 im Brief an Mayreder schreibt, »vielleicht« sei »die Zeit des Lehrens in Dingen«, jedenfalls seine, »vorüber«, darf man hier ein zeitnahes Korrelat jener Erinnerung vermuten. Das Problem des Verstummens gehört nun auch zu den theologischen Folgen, in die sich Stirners Monolog verwickelt: Dass das Heiligste (und so auch der Einzige) sich nicht sagen lässt. »›Namen nennen Dich nicht‹. Das gilt von Mir«. Genau genommen scheint es schon ein Widerspruch, dass Stirner den Einzigen geschrieben hat, weil die Intersubjektivität der Sprache sie als eines jener Medien von Allgemeinheit prädestiniert, die er bekämpften wollte. Der konsequente Stirnerianer müsste – verstummen. In der Autobiographie spielt Steiner auch explizit auf dieses sprachmystische Dilemma an, wenngleich im Hinblick auf ganz andere Ausdrucksprobleme:

Der in die Geistwelt Schauende findet sein eigenes Wesen immer veräußerlicht, wenn er Meinungen, Ansichten aussprechen soll. Er tritt in die Geistwelt nicht in Abstraktionen, sondern in lebendigen Anschauungen. Auch die Natur, die ja das sinnenfällige Abbild des Geistigen ist, stellt nicht Meinungen, Ansichten auf, sondern sie stellt ihre Gestalten und ihr Werden vor die Welt hin. (ML, 262)

Im geistigen ›Schauen‹ wird demnach nicht mehr – wie Steiner in Der Egoismus in der Philosophie vertrat – das Innere veräußerlicht. Das Problem besteht für den Esoteriker vielmehr darin, die innerlich geschauten Gestalten der ›Geistwelt‹ in profane Worte zu kleiden. Der Hellseher muss permanent sinnliche Analogien für Übersinnliches finden; eine Schwierigkeit, auf die Steiner in Passagen wie der zitierten explizit aufmerksam macht. Die Frage, wie weit seine Darstellungen der ›Geistwelt‹ und ihrer geistigen Bewohner metaphorisch oder metaphysisch zu lesen seien, wird durch diese Explikation allerdings auch nicht beantwortet. Es bleibt unklar, wo die Grenzen von Innen und Außen, Bildern und Sachen verlaufen sollen – auf dieser Unklarheit beruht sowohl Steiners Anziehungskraft als auch die Kritik an ihm. Dieses verführerisch unaufgelöste Verhältnis von »Sinn und Sinnlichkeit« ist eines der Felder, auf denen zuweilen Steiners Nietzsche-Lektüre plötzlich durchschimmert, meist in Fragen der Ästhetik. Auf Nietzsches Polarität von ›dionysisch‹ und ›appolinisch‹ greift Steiner bezeichnenderweise nicht etwa zurück, als er 1909 die strukturhomologen Prinzipien Luzifer und Ahriman einführt, sondern vielmehr im Rahmen der Eurythmie.

Auch Steiners Spekulationen zur Geistesgeschichte von Dichtung und Rezitation auf dem Darmstädter Kongress »Anthroposophie und Wissenschaft« (Juli 1921) finden – um ein weiteres Beispiel zu benennen – ihren Höhepunkt in einer Überkreuzung von Goethe und Nietzsche, wenn Ersterer vom ›dionysischen‹ ins ›apollinische Element‹ übergeht und Steiner sich zur Beschreibung der antiken Bewusstseinsgeschichte sogar im Vorübergehen auf die Argumentation von Die Geburt der Tragödie beruft. In Goethe und Nietzsche leben nach seiner Darstellung von 1921 mitnichten subjektive Ideenwelten, sondern wirken sich objektive ethnospirituelle Impulse aus: Der griechischen (und doch eher apollinischen) Stimmung Goethes, die mit Atmung und Denken verknüpft sei, stellt Steiner »nordische« Bluts- und Willensmächte gegenüber. Marie Steiner-von Sivers, die Steiners poetologische Ausführungen durch Rezitationsbeispiele ergänzt, lässt zur Illustration ihrer Lesung von Goethes Achilleis einige Strophen des Nibelungenlieds folgen. Der Unterschied der Inszenierung auf der Darmstädter »Hochschultagung« 1921 zum Steiner der 1890er Jahre ist weniger sein eigener selektiv ›erlebender‹, idiosynkratischer Rezeptionsmodus, sondern dass er nun den Geisteszustand Goethes oder Nietzsches als Manifestation und Spiegelung geschichtsmetaphysischer Kräfteverhältnisse interpretiert – statt wie kurz vor der Jahrhundertwende den persönlichen Charakter von deren Ideen zu betonen. So kann er auch die Philosopheme Nietzsches, die er nicht mehr teilt, als Produkte ahrimanischer Beeinflussung neutralisieren. Steiners Perspektive ist nun spiritualistisch, völkerpsychologisch und geschichtsmetaphysisch, nicht mehr individualistisch auf ›einzige Persönlichkeiten‹ gerichtet.

Mit Der Egoismus in der Philosophie müsste man genau in der Beschreibung eurythmischer Urbuchstaben, ahrimanisch-luziferischer Mächte und griechisch-nordischer Volksmissionen Beispiele dafür sehen, dass Steiner später den ›Artunterschied‹ von Innen und Außen vergisst und bei aller vermeintlichen Versenkung in rein geistige Wesen nur noch Außenwelt kennt, da er seine eigenen Imaginationen als geschichtlich manifeste Potenzen ansieht. Die Verwandlung zwischen beiden Zuständen läuft jedoch in kleinen Schritten und längst bekannten Bahnen ab.

Als Übergangsphase des Philosophen zum Theosophen gelten Steiners Vorträge über Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens. Auch hier vertritt er wieder das projektionstheoretische Argument, versteht es nun aber nicht mehr ausschließlich religionskritisch. Vielmehr führt er nun ein vom individuellen Ich unterscheidbares (wenn auch mit ihm substanziell verbundenes) universelles All-Ich wieder ein, während die Mystiker sich nicht mehr bloß verkennen, sondern projektiv-produktive Verbildlichungen dieses Verhältnisses hervorbringen. Es müsse nur gelingen, sie der natürlichen Welt wieder einzugliedern. Die subjektive Erschaffung einer subjektiven »geistigen Welt« beschreibt Steiner dabei im Prinzip ganz ähnlich wie schon im Egoismus-Aufsatz. In Die Mystik liest man über Cusanus – den Steiner sich einmal mehr als persönliches Erlebnis anverwandelt –, der Mensch

[…] erschafft in sich eine geistige Welt. Mit dieser steht er der Natur einsam gegenüber. Er ist reicher geworden; aber der Reichtum ist eine Last, die er schwer trägt. Denn sie lastet zunächst auf ihm allein. Er muss aus eigener Kraft den Weg zurückfinden zur Natur. (MA, 77 f.) Seine Kraft kann leicht erlahmen. Statt die Eingliederung selbst zu vollziehen, wird er bei solchem Erlahmen seine Zuflucht zu einer von aussen kommenden Offenbarung nehmen, die ihn aus seiner Einsamkeit wieder erlöst, die das Wissen, das er als Last empfindet wieder zurückführt in den Urschoss des Daseins, in die Gottheit. (MA, 78)

Alternativ drohe die Verzweiflung an der inneren Einsamkeit; doch ein dritter Weg führe zur »Entwicklung der tiefsten, eigenen Kräfte des Menschen« im »Vertrauen in die Welt«. Diesem inneren Weg stellt Steiner dann (in Agrippa und Paracelsus) eine gegenläufige Vertiefung in die »Naturwissenschaft« gegenüber – die »zuletzt in die Region des Geistes hinaufgehoben werden muß, wenn sie in die höhere Erkenntnis übergehen soll«. Es handelt sich bei den Veränderungen zwischen der religionskritischen und der mystikaffinen Variante der Projektionstheorie nicht nur um eine Umkehrung der Bewertung, sondern um eine der Perspektive, das heißt um eine »Umstülpung« der vormals aufs Innenleben reduzierten religiösen Vorstellungen in eine sinnlich-übersinnliche Außenwelt, die mit geistigen Organen wahrgenommen, aber sinnlich beschrieben wird. Steiner kehrt dabei nicht zu den Offenbarungsreligionen zurück, sondern wendet sich eben der Adyar-Theosophie zu und verschmilzt deren kosmotheistische Evolutionsmetaphysik mit seiner goetheanisch-haeckelianischen Naturphilosophie. Das Ich stellt sein »freies Denken und Handeln dem evolutiven Schöpfungsprozess des ›Absoluten‹ oder ›Göttlichen‹ in der Welt [als] die notwendige Grundlage zur Verfügung«, wobei sich das Absolute nach und nach in ganze Reiche von geistigen Wesenheiten auffächert.

All diese Aspekte werden von Steiners anthroposophischer Christologie zusammengehalten, die somit als anthroposophisches Pendant zum ›Einzigen‹ verstanden werden könnte. Sie behält den unsichtbaren Punkt des Ichs theorieästhetisch als Zentrum bei und kippt zugleich ins All um: Das »Sonnenwesen« Christus entspricht einem makrokosmischen Urbild des menschlichen Ich. Fleischwerdung des Logos und Geistwerdung des Fleisches stellen das Zentralereignis der planetarischen Evolution dar. Die Kreuzigung gilt als der Moment der Geschichte, an dem die Menschheit aus der Lenkung durch kosmische Hierarchien in die Freiheit entlassen wird. Durch Christus rückt das Ich als individuelles und zugleich »Allgemein-Menschliches« (Goethe) ins Zentrum des Sonnensystems. Der Mensch als Ich ragt über die irdischen Reiche hinaus und kann diese und sich selbst in zukünftige Daseinsformen verwandeln. Seine höchste Freiheit wäre dann die Entscheidung für diese ›höhere‹ Notwendigkeit. Ironischerweise werden Steiners Ansichten immer subjektiver, je absoluter er seinen Kosmos aufrichtet: Nur die Akzeptanz seiner Autorität verbürgt sie. Angesichts dieser kosmischen Menschheitsmission wird wenigstens der entnervte Ausruf am Anfang des Einzigen – »Was soll nicht alles meine Sache sein!« –nachvollziehbar. Der späte Steiner bietet in mythologischem Gewande die idealistischen Gewalten wieder auf, gegen die der Linkshegelianismus zu Recht Einspruch erhoben hatte. Es handelt sich um alten Wein in neuen Schläuchen, den man anhand der Schriften Steiners um 1900 vortrefflich kritisieren kann. Die durch Neuauflagen und -ausgaben ihrer Werke belegte Tatsache, dass wir mit Steiner und »mit Stirner noch nicht am Ende sind«, fordert nicht zuletzt ideologiekritische Analysen heraus. Steiners Werk ist immer besser erforscht, die Geschichte seiner Nachwirkung und Anziehungskraft bliebe zu schreiben.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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