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Einleitung

Von Christian Clement

SKA 3 (2019), XXXVII-XCV

Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch machen dürfte.

 

Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie (1874)

Es kommt nicht darauf an, ob man mit den Gedanken übereinstimmt, die Haeckel […] entwickelt. Das Wesentliche ist, dass hier mit den Mitteln unserer Geistesbildung die Frage aufgeworfen wird: wie kann das menschliche Gemüt seine Bedürfnisse durch das moderne Wissen befriedigen?

Rudolf Steiner: Neujahrsbetrachtungen eines Ketzers (1899)

I. Rudolf Steiner als Biograph: Selbst-Darstellung

als Medium geisteswissenschaftlicher Forschung

Die im vorliegenden Band enthaltenen Texte Rudolf Steiners markieren eine faszinierende und nichtsdestoweniger bisher wenig erforschte Phase innerhalb der intellektuellen Entwicklung dieses Denkers: die Zeit zwischen 1894, dem Jahr der Herausgabe seines philosophischen Hauptwerks Die Philosophie der Freiheit (vgl. SKA 2), und dem Jahr 1900, in welchem mit den Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert (später erweitert zu Die Rätsel der Philosophie) die letzte Monographie seiner vortheosophischen Phase herauskam (vgl. SKA 4). Die bisherige Steinerforschung hat ihr Interesse meist entweder dem Frühwerk Steiners zugewandt, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes stand, oder seinen philosophischen Schriften der frühen neunziger Jahre, oder aber der theosophischen und anthroposophischen Phase, deren Beginn das Erscheinen der Theosophie im Jahr 1904 markiert. Die Schriften der dazwischenliegenden Zeit hingegen, und besonders die in diesem Band enthaltenen – Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895), Goethes Weltanschauung (1897) und Haeckel und seine Gegner (1899) –, sind seltener zum Gegenstand eingehender Untersuchung gemacht worden. Prominent unter diesen wenigen Arbeiten ist der Ansatz Helmut Zanders in Anthroposophie in Deutschland (2007), der die in diesen Texten sich abzeichnenden sprachlichen und gedanklichen Wandlungen Steiners mit religionspsychologischen Deutungen zu erklären versucht, mit »Konversionen« und »Bekehrungen« des späteren Anthroposophiebegründers vom Idealismus zum Nihilismus, Materialismus, Atheismus, und dann wieder zurück zum Spiritualismus, zur Theosophie, zum Christentum. In der binnenanthroposophischen Literatur hingegen dominieren mystifizierende bzw. hagiographisierende Erklärungsmodelle: da wird von einem »Abgrund« gesprochen, in den Steiner hinabsteigen musste, von einem »Damaskuserlebnis« oder vom Hineinschlüpfen in die »Haut des Drachen«, um diesen von innen her zu besiegen. Beide Deutungsmuster liefern zwar interessante interpretatorische Aspekte und spannende biographische Narrative, geben jedoch für ein systematisches Verständnis der hier in Frage stehenden Texte und ihrer Entwicklung wenig her.

Ein Grund für diese unbefriedigende Deutungslage kann darin gesehen werden, dass die bisherige Steinerforschung sich diesen Texten vor allem vom historisch-kritischen Standpunkt genähert hat. Ein solcher Ansatz interessiert sich naturgemäß vor allem für die verschiedenen Einflüsse, die auf Steiner gewirkt haben, und für die offenkundigen thematischen, terminologischen und perspektivischen Verschiebungen in Steiners Texten. Die in all diesen Wandlungen konstant bleibenden systematischen und formalen Grundzüge seines Denkens treten dabei weniger deutlich hervor. Textorientiert-immanente Herangehensweisen, in denen die steinerschen Texte nicht primär nach ihrem ›woher‹ und ›wozu‹ befragt werden, sondern vor allem nach ihrem ›was‹ und ›wie‹, waren bisher die Ausnahme. Diesem Umstand versuchen die innerhalb dieser kritischen Edition erscheinenden Einleitungen zu Steiners Texten durch ihren spezifischen Ansatz abzuhelfen, der sich zunächst auf das einzig wirklich Feststehende konzentriert, die Texte (die steinerschen wie diejenigen, deren Lektüre ihn geprägt haben), und deren Bedeutung und Entwicklung primär aus diesen selbst heraus zu verstehen sucht. Auch in den vorliegenden Bemerkungen wird der Versuch unternommen, durch eine solche textzentrierte Hermeneutik den rätselhaften Wandlungen Rudolf Steiners näher zu kommen. Arbeitshypothese ist, dass eine so vorgehende Lektüre eine notwendige Ergänzung der bestehenden historisch-kritischen und psychologischen Deutungen des steinerschen Werks darstellt, in der die für diesen Autor charakteristischen Widersprüche und Brüche verständlicher werden.

Eine besondere Eigenart der in diesem Band enthaltenen Schriften ist die ihnen eigentümliche und von Ansgar Martins in seinem Vorwort bereits angedeutete Methodik Steiners, der es nicht primär um eine historisch-objektive Schilderung und Würdigung der von ihm dargestellten Persönlichkeiten geht, wie man dies heute allgemein von solchen Biographien erwartet. Steiner versucht stattdessen, uns das Eigentümliche dieser Persönlichkeiten dadurch nahezubringen, dass er sie uns im Spiegel seiner eigenen Ideenwelt vorstellt. Seine Nietzsche-Schrift von 1895 etwa nutzte er über weite Strecken als Medium der Darstellung seiner eigenen philosophischen Ideen, wie er sie zwischen 1891 und 1894 systematisch entwickelt hatte. In der Goethe-Schrift von 1897 geht er ähnlich vor, indem er diese zum Instrument einer Darstellung der eigenen erkenntnistheoretischen, moralphilosophischen und wissenschaftskritischen Vorstellungen macht. Und auch in der Verteidigungsschrift für Ernst Haeckel aus dem Jahr 1899 stehen ausschließlich diejenigen Ideen im Mittelpunkt der Schilderung des haeckelschen Werkes, die für Steiners eigene intellektuelle Entwicklung die größte Bedeutung gehabt haben. Wo Steiner selbst zu Wort kommt, spricht er in allen drei Büchern vor allem über seine eigene Erkenntnistheorie (FN, 59 ff., GW, 71 ff., HG, 27 ff.), seine Kritik der modernen Sinnesphysiologie (FN, 62 ff., GW, 133 ff., HG, 25 ff.) und seinen ethischen Individualismus (FN, 86 ff., GW 66 ff., HG, 32). Die strukturelle Analyse zeigt zudem, dass diese selbstreferentiellen Ausführungen auch kompositorisch in allen drei Texten den jeweiligen Mittelteil bilden.

Steiner stellte also unübersehbar sich selbst ins ›Zentrum‹ seiner intellektuellen Biographien. Den eigentlichen ›Biographien‹ der von ihm behandelten Persönlichkeiten, den hinter dem jeweiligen Werk stehenden Lebensläufen, den persönlichen Beziehungen und Schicksalsschlägen, den Orten und geistigen Einflüssen, die sie prägten, widmet er kaum eine Zeile. Nicht als ›Menschen‹ interessieren ihn Nietzsche, Goethe und Haeckel, sondern als Schöpfer und Vertreter bestimmter ›Weltanschauungen‹ oder ›Denkungsarten‹. Und diese Weltanschauungen behandelt Steiner wiederum nur insofern, als sie der eigenen entweder entsprechen oder von dieser aus interpretiert, korrigiert und komplettiert werden können.

Verschiedene Interpreten haben Steiners enthusiastischen und selbstreferentiellen Umgang mit dem Denken anderer Persönlichkeiten als ein Ergebnis seiner Begegnung mit dem Stil und der Gedankenwelt Nietzsches und Max Stirners zu erklären versucht. Dem steht allerdings entgegen, dass sich dieser Umgang keineswegs erst in den Texten der neunziger Jahre zeigt. Bereits die erste eigenständige Monographie Steiners, die Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung (1885), trat mit dem expliziten Anspruch auf, Goethe besser zu verstehen als dieser selbst, und die dem naturwissenschaftlichen Werk Goethes zugrundeliegende, aber von Goethe selbst nicht in systematischer Form ausgesprochene Wissenschaftsmethodik darstellen zu können. Auch an den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die zwischen 1884 und 1897 herauskamen, lässt sich zeigen, dass Steiners zunächst angenommene Rolle des distanzierten und sich an akademische Gepflogenheiten haltenden Herausgebers gewissermaßen nur Fassade war, die von Einleitung zu Einleitung langsam abbröckelte, indem er seine Goethe-Studien zunehmend für die Darstellung seiner eigenen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Anschauungen instrumentalisierte (vgl. dazu die Einleitung zu SKA 1). Ähnlich verfuhr er auch mit Kant und Fichte in seiner Doktordissertation, die später unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft erschien, und mit anderen Denkern in seiner Philosophie der Freiheit (vgl. Einleitung zu SKA 2).

Auch in jenen Schriften, die Steiner nach der Zeit seines Engagements für Stirner veröffentlicht hat, kann dieselbe charakteristische Art des Umgangs mit dem Denken anderer beobachtet werden. In dem 1901 erschienenen Buch Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens schildert Steiner die Hauptvertreter der abendländischen Mystik von Meister Eckhart bis Angelus Silesius in einer Weise, in der diese Mystiker allesamt als Vorläufer jener erkenntnistheoretischen und moralischen Vorstellungen erscheinen, die für den objektiven Idealismus und den ethischen Individualismus der Philosophie der Freiheit charakteristisch sind. Und in der ein Jahr später herausgegebenen Schrift Das Christentum als mystische Tatsache geht Steiner in ähnlicher Weise mit den Positionen der vorsokratischen Philosophen, mit Plato und mit dem Neuplatonismus Plotins und Philos um. Auch das antike Mysterienwesen, die Gnosis und sogar die ägyptischen und griechischen Mythen erscheinen allesamt als Ausdruck von mehr oder weniger »dunkel gefühlten« Anschauungen, die dann in Steiners eigenem Idealismus ihre klare und deutliche philosophische Ausdrucksform gefunden haben. In einer an Hegels Selbstanspruch gemahnenden Art präsentiert Steiner in seinen Texten das eigene Denken als ein telos, dem nicht nur Goethe, Nietzsche und Haeckel zuarbeiteten, sondern auf das die gesamte bisherige Geistesgeschichte des Abendlandes gewissermaßen hindeutet und zusteuert.

Dieselbe Methodik lässt sich auch in die Werke der theosophischen und anthroposophischen Phase Steiners weiterverfolgen. In diesen Schriften, insbesondere in der Theosophie (1904), in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904–05) und in der Geheimwissenschaft (1910), setzt Steiner sich nicht länger nur mit den klassischen Positionen abendländischer Philosophiegeschichte auseinander, sondern nun auch mit den anthropologischen, ontologischen, wissenstheoretischen und kosmologischen Konzeptionen der neuzeitlichen Theosophen, allen voran mit Alfred Sinnett, H. P. Blavatsky und Annie Besant. Aber die Art des Umgangs mit diesem neuen Umfeld ist die altbekannte: Wie früher Goethe, Nietzsche und Haeckel deutet Steiner jetzt auch die theosophische ›Weltanschauung‹ und ›Denkungsart‹ durch den Filter seiner eigenen Grundüberzeugungen und sucht ihr die Form einer kohärenten, systematischen und erkenntnistheoretisch abgesicherten Theorie zu geben, die dann als eine ›Wissenschaft vom Geistigen‹ bzw. als Anthroposophie an die Seite der Naturwissenschaft und der traditionellen Geisteswissenschaften treten soll (vgl. dazu die Einleitungen zu SKA 6 und 8). Und wieder beansprucht Steiner, seine Ideengeber, die jetzt aus dem Umfeld der anglo-indischen Theosophie kommen, besser zu verstehen als diese sich selbst.

Steiners egozentrisch-selbstprojektiver Umgang mit der Geistesgeschichte kann also mit seiner zeitweiligen Begeisterung für Nietzsche und Stirner nicht hinreichend erklärt werden. Hinzukommen muss die umgekehrte Perspektive, in der Steiners Affinitäten und sein enthusiastisches Eintreten für bestimmte Persönlichkeiten aus der Signatur seines Denkens heraus verstanden wird. In solcher Perspektive erscheinen bestimmte divergente Aussagen Steiners, die in der bisherigen Literatur als Widersprüche oder Sinnesänderungen gedeutet worden sind, plötzlich in ganz anderem Licht.

Betrachten wir beispielsweise die in unseren Texten manifesten Bekenntnisse Steiners zu seiner subjektivistisch-projektiven Biographik. In seinem Nietzsche-Buch identifiziert er sich z. B. mit dem nietzscheschen Ideal einer Geschichtsschreibung, die »keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat« und dennoch »im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch« machen kann (FN, 116). Entsprechend geißelt er in dieser Schrift die positivistisch gesinnten »Fanatiker der Tatsächlichkeit« dafür, dass diese die Wahrheit »jenseits des persönlichen, individuellen Urteils« suchten, und plädiert im Gegenzug für das »durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte Urteil« (FN, 57). Denn der »freie Geist«, so lesen wir hier, verstehe die Wahrheit »als sein Geschöpf« (ebd., 59). Ähnliche Töne werden im Vorwort der Goethe-Schrift von 1897 angeschlagen, wenn Steiner offen bekennt, dass er »nur diejenigen Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein eigenes Denken und Empfinden weist« und »daß ich eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen will, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß« (GW, 9). Die positivistische Forderung nach Objektivität versteht er als »Angst vor dem Subjektiven«, die auf einer »Verkennung der wahrhaften Natur desselben« beruhe (ebd., 56).

Neben solchen in der Tat nach subjektverliebter Romantik klingenden Aussagen Steiners finden sich allerdings andere, in denen er zeitgleich geradezu das Gegenteil zu behaupten scheint und beansprucht, dass in seinen biographischen Schilderungen keineswegs bloß die eigene Weltanschauung zur Darstellung komme, sondern ‒ mittels dieser ‒ der innerste Kern der jeweils geschilderten Persönlichkeit bzw. Ideenwelt. So lesen wir in dem soeben zitierten Vorwort zu Goethes Weltanschaung auch die folgenden Sätze:

[…] [J]e mehr ich meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden, das auch die Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst dunkel geblieben sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke wollte ich lesen, was mir ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte seines Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen (GW, 7).

Die Simultanität solch divergenter Aussagen lässt jeden Deutungsversuch, der sich auf vermeintliche ›Sinnesänderungen‹ Steiners beruft, ins Leere laufen. Der hier aufscheinende Widerspruch lässt sich nicht aus der biographischen Entwicklung Steiners ableiten, sondern ist vom Wesen desjenigen Denkens her zu verstehen, das hier am Werk ist. Eines Denkens, das tief in der Gedankenwelt des deutschen Idealismus wurzelt, und sich zugleich die Ideale und Standards moderner kritischer Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreibt. Steiner selbst war sich dieser Spannung, dieses Zusammenpralls zweier wissenschaftsgeschichtlicher Pole in seinem eigenen Denken voll bewusst, verstand den Konflikt aber nicht als problematisch, sondern vielmehr als erkenntnisfördernd. In den Welt- und Lebensanschauungen machte er diese Spannung ‒ vom deutschen Idealismus zur naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie ‒ zum zentralen Thema der Darstellung und empfahl auch sonst seinen Lesern immer wieder, ideelle Widersprüche nicht als Defizite zu begreifen, sondern als Gelegenheiten und als Fenster zum eigentlichen Wesen der Dinge. In den Zusätzen zur Neuauflage der Philosophie der Freiheit etwa lesen wir:

Wer sich gedrängt fühlt, bei dieser Gegenüberstellung als bei einem ›Widerspruch‹ stehen zu bleiben, und wer nicht erkennt, daß eben in der lebendigen Anschauung dieses tatsächlich vorhandenen Gegensatzes ein Stück vom Wesen des Menschen sich enthüllt, dem wird weder die Idee der Erkenntnis, noch die der Freiheit im rechten Lichte erscheinen können (PF, 187).

Ein solcher im Innern des steinerschen Denkens lebender ›Widerspruch‹ ist z. B. der, dass dieses auf der einen Seite in allen Phasen einen starken Zug zum Individualismus aufweist und sich für einen Denker vor allem insofern interessiert, als dabei ein individuelles »Erlebnis des Einzelnen« zum Vorschein kommt. Zugleich aber betont dieses Denken immer auch die transpersonale Natur des Menschen und des Denkens. ›Denken‹ bzw. ›Geist‹ ist für Steiner in allen Perioden seiner Entwicklung etwas, das, obwohl es nur im individuellen menschlichen Selbstbewusstsein zur Erscheinung und zur Erkenntnis seiner selbst kommt und somit zur immerwährenden Subjektivität verurteilt ist, seiner Natur nach in einem über das Individuum hinausweisenden, universellen Sein gegründet und insofern objektiv ist. »Ich darf niemals sagen, daß mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden« (PF, 61). Ausgehend von diesem nach Steiner im Wesen des Denkens selbst liegenden Widerspruch war es nur konsequent, wenn er sein eigenes philosophisches Denken als ein solches verstand, das – bei aller Eigenheit und individuellen Färbung im konkreten Ausdruck – ontologisch in eben demselben Grund wurzelt, aus dem auch das Denken Nietzsches, Goethes und Haeckels sowie die Vorstellungen der Theosophen hervorgegangen sind. Und aus dieser Vorstellung eines Hervorgehens aus und eines Teilhabens aller individuellen Ideenwelten an ein und demselben unteilbaren Grund – hinzugenommen zu der bereits erwähnten Anschauung, dass für den Menschen dieser universelle Wirklichkeitsgrund immer nur als je individuelles Denkerlebnis erfahrbar sein kann – fühlte Steiner sich berechtigt, in der eigenen individuellen Denkerfahrung den Schlüssel zum Verständnis anderer Persönlichkeiten und Denkrichtungen, ja der Geistesgeschichte überhaupt zu suchen. Aus seiner Perspektive ist es ja gerade der hyperindividualisierte ›Einzige‹ im Sinne Nietzsches und Stirners, der gewissermaßen ›selbstlos‹ und ›objektiv‹ erkennt und handelt, weil sich in seinen Ideen und Taten der Grund des Seins selbst auf einzigartige Weise ausspricht – während in weniger individualisierten und selbstbestimmten Menschen vor allem ihre Zeit und ihr sie prägendes Umfeld denkt, spricht und handelt. In Goethes Weltanschauung klingt dies dann folgendermaßen:

Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem großen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser Einen Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit, die da spricht (GW, 52).

In der Sprache des späteren Esoterikers finden wir denselben Gedanken in etwas anderer Formulierung wieder. So schreibt Steiner 1914 in seinen Rätseln der Philosophie über Platos Darstellung seiner Philosophie als Ausfluss der Persönlichkeit des Sokrates:

[…] [I]n ihm spricht überall seine persönliche Meinung; aber die Persönlichkeit trägt das Bewußtsein in sich: wer seine persönliche Meinung aus den rechten Gründen der Seele herausspricht, der spricht etwas aus, was mehr ist als Menschenmeinung, was ein Ausdruck ist der Absichten der Weltordnung durch das menschliche Denken […]. [I]n der Menschenseele kommt denkend die Wahrheit zustande, wenn diese Menschenseele mit ihrem Grundwesen so verbunden ist, wie es bei Sokrates der Fall war. Indem Plato auf Sokrates blickt, trägt er nicht eine Lehre vor, die durch Nachdenken ›festgestellt‹ wird, sondern er läßt einen im rechten Sinne entwickelten Menschen sprechen und beobachtet, was dieser als Wahrheit hervorbringt (RP(I), 25 f.).

Im radikal individualisierten Denken und Handeln des Menschen kommt also das überindividuelle Wesen der Wirklichkeit zu seinem höchsten und wahrsten Ausdruck: so die theoretische Rechtfertigung von Steiners selbstbezogener biographischer Methode, wenn man sie in den anthropologischen Begriffen seines ethischen Individualismus ausdrückt. Sie rechtfertigt sich freilich auch von seiner monistischen Erkenntnistheorie her, denn deren grundlegende Überzeugung ist, dass menschliches Erkennen immer und überall in nichts anderem besteht, als in einer Projektion eigener (Denk-)Erlebnisse in einen gegebenen Wahrnehmungsinhalt. Steiner erläutert dies in Goethes Weltanschauung, indem er in Anlehnung an das Goethe-Zitat »Der Mensch weiß niemals, wie anthropomorphisch er ist« (WA I/42.2, 132; vgl. GNS, V, 353) die Grundprämissen seiner Philosophie der Freiheit noch einmal zusammenfasst, freilich jetzt nicht mehr in idealistischen Philosophemen, sondern in stirnerscher Handfestigkeit:

Die Außenseite der Natur lernt der Mensch durch die Anschauung kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthüllen sich in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse. […] Der Mensch befriedigt seine höchsten geistigen Bedürfnisse, wenn er der objektiv angeschauten Welt einverleibt, was sie in seinem Innern ihm als ihre tieferen Geheimnisse offenbart. […] Wenn ich sage: ein Körper stößt den andern, so habe ich bereits ein inneres Erlebnis auf die Außenwelt übertragen. […] Ich greife nach einem inneren Erlebnis, das mich über die Wahrnehmung aufklärt. Ich weiß, daß ich selbst durch Anwendung von Kraft, durch Stoßen, einen Körper in Bewegung versetzen kann. Dieses Erlebnis übertrage ich auf die Erscheinung und sage: der eine Körper stößt den andern (GW, 50).

Liest man Steiners intellektuelle Biographien im Lichte dieser ontologischen und epistemologischen Prämissen, wird nachvollziehbar, warum er sich berechtigt fühlen konnte, die Erkenntnis der Ideenwelt einer anderen Persönlichkeit auf demselben Weg zu suchen, auf dem der Naturwissenschaftler die physikalischen Stoßgesetze zu verstehen sucht: nämlich indem er seine ureigensten persönlichen Erkenntniserlebnisse in den zu verstehenden Gegenstand, in diesem Fall in die zu verstehende Persönlichkeit, hineinlegt. »Erst wenn sich der leibliche und geistige Organismus des Menschen den Erscheinungen gegenüberstellt, dann enthüllen sie ihr Inneres« (GW, 56). Steiners 1897 gegebenes simultanes Bekenntnis zum Subjektivismus und zum Objektivismus in der Erkenntnis, das zunächst als zeitweiliger Ausdruck übersteigerter Nietzsche- und Stirner-Begeisterung erscheinen kann, erweist sich bei genauerem Hinsehen als grundlegendes Element seines Denkens, welches in allen Phasen seiner Entwicklung nachzuweisen ist.

Von dieser Einsicht aus kann auf jene späteren Äußerungen geblickt werden, die Steiner nach der Jahrhundertwende gemacht hat und in denen er, im Rückblick auf seine früheren Publikationen, das offene Bekenntnis zu einer subjektivistisch geprägten Geschichtsschreibung à la Nietzsche und Stirner scheinbar zurückgenommen hat. Entsprechende Aussagen, die von den Vertretern einer Konversions-Biographik gern herangezogen werden, finden sich zuhauf in Steiners Vortragswerk. So vertrat er in einem Vortrag aus dem Jahre 1910 die Ansicht, es sei die Absicht seines Buches von 1895 gewesen, Nietzsche nicht so zu schildern,

[…] wie meine Meinung ist – denn was geht die Welt meine persönliche Meinung über Nietzsche an? –, sondern so, wie man ihn schildern muss, wenn man sozusagen aus sich selbst herausgeht und in ihn hineinfährt. Die Leute, die das gelesen haben, haben, als mein nächstes Buch erschien, mir das übelgenommen und gesagt, ich sei unbeständig. Sie konnten nicht begreifen, dass man nicht Nietzsche-Anhänger sein muss, wenn man positiv, von innen heraus, Nietzsches Standpunkt schildert. Ebenso war es, als ich über Haeckel geschrieben habe; jeder urteilte: Das ist ein Haeckelianer, der das geschrieben hat. (GA 191, 231)

Wie sind solche und ähnliche Aussagen zu verstehen? Hat Steiner sich als Esoteriker und als Führer einer internationalen Bewegung, dessen Stellung und Autorität auf dem Glauben an die objektive Wahrheit der von ihm verkündeten Lehre beruhte, vielleicht aus eben diesem Grund von der subjektivistischen Wahrheitstheorie seiner früheren Jahre verabschiedet? Wird hier eine frühere und dem Anthroposophen Steiner peinliche Identifikation mit Nietzsche und Haeckel in ein bloß methodisches »Hineinschlüpfen« zum Zweck der didaktischen Verdeutlichung umgedeutet? Psychologisch nachvollziehbar wäre das allemal und zudem eine bequeme Erklärung für den scheinbaren Widerspruch in seinen Aussagen. Die obigen Überlegungen sollten aber solchen Psychologisierungen gegenüber skeptisch gemacht haben. Und ein genauerer Blick auf die Texte zeigt, dass Steiner tatsächlich auch als Esoteriker weiterhin dieselbe subjektbezogene Epistemologie vertreten hat, für die er sich in seinen intellektuellen Biographien der neunziger Jahre stark gemacht hatte. Als Beispiel kann wieder Goethes-Weltanschauung in der Revision von 1918 dienen. Dort schreibt der reife Anthroposoph Steiner in einem Zusatz, rückblickend auf die 20 Jahre zuvor erschienene Schrift, dass er darin »nirgends die Absicht gehabt habe, etwa Bestandteile einer eigenen Weltanschauung durch die Darstellung der Goetheschen Vorstellungsart hindurchschimmern zu lassen« (GW, 13). Dies scheint zunächst in frappantem Widerspruch zu dem 1897 geschriebenen (und in der Neuauflage stehen gebliebenen) Satz zu stehen, er wolle »eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß«. Bei genauem Lesen fällt jedoch auf, dass Steiner hier, indem er einerseits in der Tat von einem Biographen fordert, bei der Schilderung der Ideenwelt einer bestimmten Persönlichkeit »seine eigene Weltanschauung inhaltlich« nicht zu vertreten, mit dieser fein gewählten – und durch Sperrdruck hervorgehobenen – Formulierung zugleich impliziert, dass ein solches Vorgehen in anderer als inhaltlicher Hinsicht sehr wohl vertretbar, ja erforderlich sein kann. In solcher nicht-inhaltlichen, statt des ›was‹ also vor allem das ›wie‹ betreffenden Hinsicht, wird dem Biographen durchaus das Recht, ja sogar die »Pflicht« zugesprochen, »dasjenige, was die eigene Weltanschauung ihm gibt, zum Verstehen der geschilderten zu verwenden« (ebd.). In anderen Worten: Steiner hält es auch 1918 noch für legitim und sachdienlich, die Ideenwelt einer Person didaktisch so zu schildern, wie sie ihm »nach seiner eigenen Wesenheit erscheinen muß«, und glaubt auch weiterhin, dass in solcher Schilderung das Charakteristische und Wesentliche der jeweils geschilderten Ideenwelt hervortreten kann. Seine theoretische Grundposition von 1918 stimmt somit der Sache nach mit derjenigen von 1897 völlig überein, wenn auch in differenzierteren und gemilderten Tönen, ohne die verbale Kraftmeierei der neunziger Jahre. Neu ist lediglich, dass Steiner in dem zitierten Zusatz jetzt einen methodischen Unterschied zwischen der biographischen Betrachtung einer Einzelpersönlichkeit und der allgemein-geistesgeschichtlichen Darstellung macht und somit einen interessanten Hinweis darauf liefert, in welchem Verhältnis seine intellektuellen Biographien zu seinen späteren anthroposophischen Geschichtsdarstellungen stehen.

All dies im Einzelnen zu verfolgen, würde hier zu weit führen. Soviel sollte jedoch schon jetzt deutlich werden: Wenn Steiner als Esoteriker die Fähigkeit zum ›Hellsehen‹ bzw. zur anthroposophischen ›Geistesforschung‹ darin erblickt, dass der Mensch mit seinem Denken nicht nur, wie vom ›empirischen Dogma‹ der Naturwissenschaft gefordert, in das sinnliche Beobachtbare eintaucht, sondern darüber hinaus auch in frei von der bildschaffenden Kraft der Phantasie erzeugte ›Imaginationen‹ (oder, im Falle der sogenannten ›Inspiration‹, in reine sinnlichkeitsfreie Begriffe), so ist das keine prinzipielle Abkehr von früheren Überzeugungen. Die epistemologische Begründung und Rechtfertigung solchen Vorgehens finden sich bereits in Steiners vortheosophischen Texten, in denen er sich mit Goethes »Glaube an die Erkenntnisfähigkeit der Phantasie« (RP[I], 132) identifizierte. Denn was tut der von seinen ›Imaginationen‹ und ›Inspirationen‹ ausgehende anthroposophische ›Geistesforscher‹ nach Steiner anderes mit der Wirklichkeit, als dass er »seine subjektiven Erlebnisse in diese hineinlegt«, um so deren objektives Wesen erscheinen zu lassen – weil er überzeugt ist, dass »in dem Subjektiven das eigentlichste und tiefste Objektive lebt« (GW, 51)? Der Unterschied liegt nur darin, dass der ›Geistesforscher‹, so Steiner, eben auf andere, subtilere, beweglichere »subjektive Erlebnisse« rekurriert und somit dem Künstler bzw. dem Philosophen nähersteht als dem klassischen Naturwissenschaftler, der sich bei solchem ›Hineinlegen‹ seiner selbst in den Erkenntnisgegenstand auf sinnlich Wahrnehmbares beschränken muss.

Damit ist zugleich auf einen weiteren und entscheidenden Punkt unserer Texte hingewiesen. Die Perspektive, aus welcher Steiner hier seine jeweiligen Gegenstände anschaut, versteht sich selbst nicht nur als eine bestimmte Theorie über das Wirkliche neben anderen, sondern als Ausdruck eines ganz eigenen methodischen Zugangs zum Denken und Wahrnehmen selbst und somit einer gewissermaßen gesteigerten Form von Bewusstheit. Wesentlich sind ihm nicht die einzelnen geäußerten Gedanken, sondern die dahinterstehende mentale Aktivität, die auf eine ganz andere Form von Wirklichkeitserfahrung rekurriert, als die gewöhnliche Alltagserfahrung und das akademisch-wissenschaftliche Denken. Wenn Steiner von Goethe schreibt, dass man das Wesentliche seiner Geistesart nicht in den einzelnen Aussagen finden könne, sondern nur im Verständnis seiner ganz speziellen individuellen Art zu denken, so beansprucht er ein Gleiches auch gegenüber seinen eigenen Texten.

Nur wer ebenso wie [Goethe] zu sehen fähig ist, kann seine Idee von dem Wesen des Organismus nachdenken. […] [W]er unfähig ist, einen solchen höheren Begriff zu fassen und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert, weil er am Organismus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird sich für die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel der Atome erwärmen […]. Wer aber den Begriff des Organischen im Sinne Goethes in sich aufnehmen kann, der wird über seine Berechtigung ebensowenig streiten wie über das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch nicht mit dem Farbenblinden über die Farbenwelt. (GW, 83)

Was Steiner in unseren Texten vermitteln will, ist also nicht bloß eine neue Goethe- (oder Nietzsche- oder Haeckel-) Interpretation, sondern, am Beispiel seiner biographischen Darstellungen, eine ganz andere Form des erkennenden Umgangs mit Wirklichkeit als diejenige, welche in den traditionellen Natur- und Geisteswissenschaften herrscht: eine auf Totalität und Identität gehende, den Dualismus von Subjekt und Objekt zu überwinden suchende Erkenntnishaltung, die sich aus geistesgeschichtlicher Perspektive als ›mystisch‹ charakterisieren lässt (was auch Steiner selbst in seiner Neubearbeitung von Goethes Weltanschauung, trotz früherer Skepsis gegenüber dem Mystik-Begriff, eingestand). Schon in der Philosophie der Freiheit hatte er die Anschauung formuliert, dass die in diesem Buch vertretene Erkenntnishaltung das Potential beinhalte, den Menschen auf eine höhere Stufe seiner Entwicklung zu heben: »Das Wissen hat nur dadurch Wert, dass es einen Beitrag liefert zur allseitigen Entfaltung der ganzen Menschennatur« (PF, 282). Das aus solcher Haltung heraus hervorgebrachte Wissen verstand er nicht bloß als mentale Reproduktion eines ausserhalb des Bewusstseins sich vollziehenden, evolutionär fortschreitenden Wirklichkeitsprozesses, sondern zugleich als Ausdruck und Stufe eben dieses Prozesses im und durch den Menschen. »Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen«, schrieb Steiner schon 1892, sondern bestehe darin, das Erkennen als »höchste Tätigkeit des Menschen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen einzugliedern« (WW, IX), d. h. durch persönliche Bewusstseinsentwicklung dem allgemeinen Evolutionsprozess Gelegenheit zu geben, sich in derselben fortzusetzen. Und schon damals war er der Überzeugung, dass dieses Potential zur Höherentwicklung des Bewusstseins in jedem Menschen schlummert, wo es zwar von bestehenden, in früheren Perioden entwickelten Denk- und Bewusstseinsformen niedergehalten wird, aus diesem ›Schlummer‹ aber erweckt werden kann, indem es mit sich selbst konfrontiert wird, und zwar in Form von literarischen oder künstlerischen Äußerungen jener Persönlichkeiten, in denen solch eine ›Erweckung‹ bereits realisiert ist.

Steiner war also im Kern seines Denkens nicht Theoretiker im klassischen Sinn des Wortes, sondern könnte wohl besser als Mystiker bzw. Erkenntnis-Didaktiker beschrieben werden, dem es nicht primär darum ging, ein kohärentes System von Begriffen zu entwickeln, sondern der sich vor allem für die praktische Frage interessierte, wie sich durch bewusste Arbeit an sich selbst das Bewusstsein des Menschen – und damit das Wesen der Wirklichkeit insgesamt – zu neuen und höheren Stufen entwickeln lässt, die als Potential bereits in diesem angelegt sind. Für ihn zählten nicht Texte und Begriffe als solche, sondern dasjenige, was sich in der inneren Arbeit mit denselben für die Evolution von Mensch und Welt erreichen lässt. Dies gilt nicht erst für den Esoteriker und Geisteswissenschaftler Steiner, sondern tritt schon in den Texten dieses Bandes deutlich hervor.

Mit diesen einleitenden Bemerkungen hoffen wir deutlich gemacht zu haben, wie fruchtbar die Auseinandersetzung mit den in diesem Band enthaltenen Schriften für die Deutung der stilistischen und argumentativen Wandlungen im Werk Rudolf Steiners sein kann. Ein Verständnis der Art und Weise, in der Steiner sich in den späten neunziger Jahren zu Persönlichkeiten wie Nietzsche, Haeckel und Goethe stellte, führt direkt hinein in die innere Signatur des steinerschen Denkens – und zwar in einer ganz eigenen Weise, die sich vom Charakter seiner frühen Goethe-Deutungen und seiner philosophischen Werke ebenso unterscheidet wie von dem seiner Esoterik. Unser Bild des steinerschen Weges vom deutschen Idealismus durch die Theosophie in die Anthroposophie bliebe ohne diese Texte ebenso unvollständig wie unser Verständnis der in diesen Wandlungen konstant bleibenden Denkstrukturen.

Radikaler Individualismus und Evolutionstheorie der Moral:

Rudolf Steiner und Nietzsche

Wer Steiners Philosophie der Freiheit auch nur oberflächlich gelesen hat, wird nicht überrascht darüber sein, dass ihr Autor sich für die Schriften Nietzsches begeisterte, sobald er sie kennenlernte. Die Parallelen zwischen der darin entwickelten Moral- und Kulturkritik und dem ethischen Individualismus Steiners sind unübersehbar und tiefgehend. Beide Denker verstanden moralische und religiöse Vorstellungen in evolutionistischem Sinne, d. h. nicht als überzeitlich gültige ewige Werte, sondern als Entwicklungsprodukte des menschlichen Geistes, deren Entwicklung sich in einer ›Genealogie der Moral‹ historisch rekonstruieren lassen muss. Von dieser Grundvorstellung aus entwickelten beide eine mit lebensphilosophischen und anarchistischen Tendenzen durchzogene progressive Ethik, deren Ideal das freie Individuum darstellt, das sich in seinem Denken und Handeln nach und nach von aller gesellschaftlich und biologisch bedingten Steuerung seines Handelns sowie auch von aller Bevormundung durch vorgeblich universelle rationale Normen emanzipiert. Was Nietzsche als den ›Übermenschen‹ ins Auge fasste und in der Gestalt seines Zarathustra literarisch konkretisierte, ist in vielfacher Hinsicht dem ›freien Geist‹ verwandt, der in Steiners ethischen Texten als Ziel und Ideal der menschlichen Entwicklung figuriert. Steiner selbst hat auf diese Geistesverwandschaft oft und nachdrücklich hingewiesen, auch da wo er ab 1894 seine philosophischen Eigenleistungen und Abweichungen von Nietzsche hervorhebt:

Ich weiß genau, wohin mein Buch [Die Philosophie der Freiheit] im Strome gegenwärtiger Geistesentwicklung gehört; ich kann mit Fingern darauf zeigen, wo es sich an Nietzsches Gedankenrichtung anreiht; ich kann es mit Ruhe aussprechen, daß ich Ideen ausgesprochen habe, die bei Nietzsche fehlen. Ich darf es meinen Freunden – aber nur diesen – gestehen, daß ich es mit Schmerz empfinde, daß Nietzsche mein Buch nicht mehr hat lesen können. Er hätte es genommen als das, was es ist: in jeder Zeile als persönliches Erlebnis.

[…] [I]ch habe die feste Überzeugung, daß meine ›Freiheitsphilosophie‹ an Nietzsche nicht spurlos vorübergegangen wäre. Er hätte eine Menge von Fragen, die er offengelassen hat, bei mir weitergeführt gefunden und hätte mir gewiß in der Ansicht recht gegeben, daß seine Moralansicht, sein Immoralismus, seine Krönung erst in meiner ›Freiheitsphilosophie‹ findet, daß seine ›moralischen Instinkte‹ gehörig sublimiert und auf ihren Ursprung verfolgt das geben, was bei mir als ›moralische Phantasie‹ figuriert. Dieses Kapitel ›Moralische Phantasie‹ meiner ›Freiheitsphilosophie‹ fehlt geradezu in Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, trotzdem alles, was in derselben steht, darauf hinweist. (GA 39, 238 f.)

Wie weit aber diese allgemeine Übereinstimmung im Einzelfall tatsächlich geht und wie Steiners kritische Äußerungen zu Nietzsche im Rahmen seiner eigenen Entwicklung zu deuten sind, wird in der Literatur kontrovers gesehen. Das Spektrum reicht von Steiners eigener Auffassung, dass er, trotz aller Schärfe seiner psychologisch-charakterlichen Bewertung Nietzsches, inhaltlich lebenslang dessen ›Sache vertreten‹ habe, über David Hoffmanns und Helmut Zanders Beurteilung einer nur zeitweiligen und später wieder aufgegebenen »Nietzsche-Faszination« bis hin zu der These Lorenzo Ravaglis, Steiners Nietzsche-Deutung von 1895 sei eine reine Projektion seines eigenen ethischen Individualismus, die inhaltlich überhaupt nichts mit Nietzsches Vorstellungen zu tun habe. Im Folgenden sollen die zentralen Punkte dieser Übereinstimmung wie auch die Distanzierungen Steiners in den Kontext eines historischen Überblicks seiner Äußerungen über Nietzsche gestellt werden.

 

Erste Begegnung mit Nietzsche:

Pathologisierung und Identifikation (1889–1893)

Steiner selbst verlegte seine Bekanntschaft mit Nietzsche in das Jahr 1889 (vgl. GA 28, 187). Als definitive Lektüre für dieses Jahr ist die Auseinandersetzung mit Jenseits von Gut und Böse nachgewiesen. Seine ersten öffentlichen Äußerungen zum Werk des Philosophen finden sich in einer Rezension über Hermann Bahr und Conrad Alberti im Literarischen Merkur von 1891. Sie sind geprägt von einer ambivalenten Haltung, die auf der einen Seite Nietzsches Persönlichkeit bzw. seinen literarischen Stil unter pathologischen Gesichtspunkten betrachtet (wie damals üblich in der öffentlichen Nietzsche-Debatte), zugleich aber eine Übereinstimmung in wesentlichen Grundüberzeugungen zeigt, die teilweise bis zur völligen Identifikation geht. In seiner Autobiographie von 1924 spricht Steiner davon, dass er damals von Nietzsches »Betrachtungsart zugleich gefesselt und wieder zurückgestoßen« worden sei. Dieselbe Doppeltendenz findet sich auch in den folgenden Veröffentlichungen der Jahre 1892 und 1893.

Der überwiegende Teil der steinerschen Äußerungen aus dieser Zeit betrachtet Nietzsche nicht primär als philosophisches, sondern als psychologisches Problem einer Persönlichkeit an der »Grenzscheide zwischen Wahnsinn und Genialität«. Steiner gibt sich zwar als ein Liebhaber Nietzsches zu erkennen, spricht aber zugleich von einer »Umnachtung des Geistes«, die Nietzsche daran gehindert habe, »ein Werk zu schaffen, das jedenfalls zu den merkwürdigsten aller Zeiten gehört hätte«. Er sieht ihn als einen tragischen »Denker-Ikaros« und beklagt, bei Nietzsche werde »alles zum Zerrbilde«. Nietzsches Popularität wird weitgehend diesem überzogenen Stil zugeschrieben.

Ich liebe Nietzsche wie irgendeiner, aber seine Wirkung auf viele scheint mir nicht in seinem Gedankengehalte begründet, sondern in den mystischen Wirkungen seines Stils, die einem kranken Nervensystem ihr Dasein verdanken. Man liest Nietzsche nicht, um ihn in die Höhe seiner Ideen zu folgen, sondern um sich von den Reizmitteln seines Stiles aufregen zu lassen. (GA 32, 13)

In auffälligem Gegensatz zu Steiners teilweise scharfer Kritik an Nietzsches Charakter und Stil steht die Tatsache, dass er an mehreren Stellen dessen charakteristischen literarischen Stil unverkennbar adaptiert. Diese stilistische Identifikation, die sich bis in ganz konkrete Bilder und Formulierungen aus Nietzsches Texten erstreckt, lässt sich in vielen Veröffentlichungen Steiners von 1892 bis zur Jahrhundertwende nachweisen. Die folgende Äußerung etwa bedient sich nicht nur der bei Nietzsche oft zu findenden Hochgebirgs-Metaphorik, sondern imitiert auch jene überzogene Rhetorik, die eigentlich kritisiert bzw. charakterisiert werden soll:

Wer Nietzsche liest und sich ernstlich in ihn vertieft, braucht, um wieder zurechtzukommen, keine theoretische Widerlegung, sondern mehrwöchentliche gesunde Gebirgsluft und sehr viele kalte Bäder. (GA 31, 458)

Daneben finden sich zahlreiche Passagen, in denen Steiner sich inhaltlich mit Nietzsche identifiziert und sich als kongenialen Denker charakterisiert. Zustimmung findet vor allem Nietzsches These von der Geschichtlichkeit der moralischen und religiösen Wertvorstellungen, sowie seine Forderung nach der Schaffung neuer Werte, die von schöpferischen Individuen zustande zu bringen sei. Steiners verhaltene inhaltliche Kritik an Nietzsches Gedanken in diesen ersten Äußerungen wendet sich vor allem gegen eine unzureichende Bestimmung der Konzeption des Übermenschen. Nietzsche habe nicht vermocht, so Steiners Einwand, diesen an sich richtigen Begriff positiv und konkret zu füllen.

 

Die Jahre 1894-95:

Die Wende zum ›Nietzsche-Narren‹

Steiners zunächst ambivalente Haltung gegenüber Nietzsche wandelte sich in der Zeit der Abfassung seiner eigenen philosophischen Schriften. Die problematischen Aspekte der nietzscheschen Persönlichkeit wie auch die Bedenken gegenüber seinem hyperbolischen Stil treten in den Hintergrund. Statt seines Charakters stehen nun die ethischen, anthropologischen und kulturkritischen Inhalte seiner Schriften im Mittelpunkt von Steiners Darstellungen, in denen er nun rückhaltlos als deren begeisterter Leser und Apologet auftritt. Paradigmatisch für diese Perspektivverschiebung ist ein Brief an Pauline Specht vom 23. Dezember 1894, in dem Steiner unter anderem schreibt:

Ist Ihnen Nietzsches ›Antichrist‹ vor Augen gekommen? Eines der bedeutsamsten Bücher, die seit Jahrhunderten geschrieben worden sind. Ich habe meine eigenen Empfindungen in jedem Satze wiedergefunden! Ich kann vorläufig kein Wort für den Grad der Befriedigung finden, die dieses Werk in mir hervorgerufen hat. (GA 39, 238)

Wo Steiner denn doch die Psychopathologie Nietzsches anspricht, wird diese jetzt in einem etwas anderen Licht gesehen. Nicht mehr Nietzsche insgesamt, sondern nur mehr die späten Werke gelten jetzt als Ausdruck von dessen fortschreitender Krankheit. Steiner möchte jetzt anscheinend als Denker gesehen werden, der philosophisch mit Nietzsche völlig auf einer Linie liegt. Aus dieser Phase stammen auch die einleitend zitierten Äußerungen Steiners über seine empfundene Kongenialität mit Nietzsche.

Aufgrund dieser Übereinstimmung versteht sich Steiner jetzt zunehmend als Apologet Nietzsches. Ein vermehrtes Auftreten des Pronomens ›wir‹, wenn von den wahren ›Verstehern‹ und ›Wächtern‹ Nietzsches die Rede ist, springt in den Texten dieser Zeit deutlich ins Auge. Diese persönliche und teilweise existentielle Identifikation mit Nietzsche wurde auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen und führte auf der einen Seite dazu, dass er als Autor all jenen verdächtig wurde, die Nietzsche kritisch gegenüberstanden. Von dem Soziologen Ferdinand Tönnies etwa wurde er in einem Artikel unter die ›Nietzsche-Narren‹ der Zeit gezählt. Andererseits brachte ihm diese Gefolgschaft das Interesse und Wohlwollen der Nietzsche-Gemeinde ein. Die Leiterin des Nietzsche-Archivs und Schwester des Philosophen, Elisabeth Nietzsche-Förster, wurde auf Steiner aufmerksam und begann ihn als potentiellen Mitarbeiter und möglichen Herausgeber der Nietzsche-Ausgabe in ihren Einflussbereich zu ziehen. In dieser Situation befand sich Steiner, als sein Nietzsche-Buch im Frühsommer 1895 herauskam.

 

Nietzsches Einfluss auf die philosophischen Schriften Steiners

Bevor wir uns dieser Schrift zuwenden, soll zunächst ein Blick auf die philosophischen Schriften Steiners geworfen werden, die in den vier vorhergehenden Jahren entstanden waren. Indem diese sowohl inhaltlich als auch in Stil und Form zahlreiche Spuren von Steiners Auseinandersetzung mit Nietzsche aufweisen, sind sie sprechende Dokumente seiner Identifikation mit dem umstrittenen Philosophen.

In der Schrift Wahrheit und Wissenschaft, die 1892 als erweiterte Form von Steiners im Vorjahr eingereichter Doktordissertation erschien, zeigt sich die Nähe zu Nietzsche schon im Untertitel der Schrift: Vorspiel zu einer ›Philosophie der Freiheit‹. Ferner weist das 1892 hinzugefügte Schlusskapitel der Schrift sprachlich und stilistisch deutlich auf Nietzsche hin. Steiner hatte dieses Kapitel in der ursprünglichen Fassung weggelassen, weil er der Ansicht war, dass es die Anerkennung der Dissertation durch ihre akademischen Gutachter gefährdet hätte. Und in der Tat enthält dieses Kapitel Ideen, die dem konservativen Rostocker Prüfungskommittee wahrscheinlich verdächtig erschienen wären. Besonders mit dem letzten Satz dieses Kapitels – »Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen« (WW, 74) – hätte Steiner sich sicher den Verdacht zugezogen, Nietzscheaner zu sein. Ganz im Sinne und teilweise auch im Ton Nietzsches ist auch die neue Vorrede von Wahrheit und Wissenschaft gehalten, die Steiner ebenfalls 1892 hinzufügte. Steiners Pathologisierung des Andersdenkenden, etwa seine Attacke auf den »ungesunden Kant-Glauben der Gegenwart« stammt ebenso aus dem Repertoire der nietzscheschen Rhetorik wie seine Auffassung des kategorischen Imperativs als ›Stimme aus dem Jenseits‹, seine Auffassung von der »Wahrheit als Freiheitstat« und seine Ablehnung jeglicher metaphysischer ›Hinterwelt‹ jenseits der menschlichen Erfahrung grundlegende Theoreme der Philosophie Nietzsches sind. Der allgemeine existentielle Zug dieser Zusätze weist in dieselbe Richtung.

Die 1894 erschienene Philosophie der Freiheit weist ebenfalls eindeutige inhaltliche und sprachliche Bezüge zu Nietzsche auf, auch wenn der Name des Philosophen selbst in der Schrift nicht auftaucht. Auf der inhaltlichen Ebene sind es vor allem die bereits erwähnten Vorstellungen einer ›Entwicklungsgeschichte der Moral‹ und die Idee des ›freien Geistes‹, der am Ende dieser Entwicklung steht und über diese hinausgeht, indem er sich von aller biologischen, psychologischen, sozialen und ideellen Determination befreit und mittels seiner ›moralischen Phantasie‹ die Antriebe seines Handelns nicht länger bloß empfängt und umsetzt, sondern diese selbst schöpferisch produziert. Im Rahmen dieser Ideen teilt Steiner mit Nietzsche auch (zumindest in der Erstfassung der Schrift) dessen radikale Kritik am ›Philistertum‹ der bürgerlichen Gesellschaft, am Anspruch von Religion und Kirche als moralischen Instanzen sowie an den Vorstellungen eines ontologischen ›Jenseits‹ und eines persönlichen, anthropomorph vorgestellten Gottes. Stilistisch betrachtet prägen die nietzscheschen Einfärbungen, die in Wahrheit und Wissenschaft nur in den später hinzugefügten Teilen zu finden sind, nunmehr die gesamte Schrift. Die Philosophie der Freiheit ist, jedenfalls in der Fassung von 1894, keine sachlich-objektive Behandlung des Freiheitsproblems, sondern eine weltanschaulich gehaltene Kampfschrift, in der ein existentiell betroffener Autor (allerdings im Namen eines progressiven ›wir‹-Kollektivs) gegen die reaktionären Gegner der eigenen – und einzig richtigen – Auffassung vom Wesen des Erkennens und der Freiheit in den Ring tritt:

[…] [D]er Kultus des menschlichen Individuums strebt gegenwärtig dahin, Mittelpunkt aller Lebensinteressen zu werden. Mit Energie wird die Überwindung jeder wie immer gearteten Autorität erstrebt. Was gelten soll, muß seinen Ursprung in den Wurzeln der Individualität haben. […] Wir lassen uns keine Ideale aufdrängen; wir sind überzeugt, daß in jedem von uns etwas lebt, das edel ist und wert, zur Entwicklung zu kommen, wenn wir nur tief genug, bis in den Grund unseres Wesens, hinabzusteigen vermögen. Wir glauben nicht mehr daran, daß es einen Normalmenschen giebt, zu dem alle hinstreben sollen. Unsere Anschauung von der Vollkommenheit des Ganzen ist die, daß es auf der besonderen Vollkommenheit jedes einzelnen Individuums beruht. […] Wir wollen nach keiner Richtung abhängig sein; und wo Abhängigkeit sein muß, da ertragen wir sie nur, wenn sie mit einem Lebensinteresse unseres Individuums zusammenfällt (PF, Vorwort von 1894).

 

Das Nietzsche-Buch von 1895

Ein Jahr später bezog Steiner dann in seiner Schrift Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit ausführlich Position zu Nietzsche. Zur Gegenposition, gegen die das Buch in scharfer Polemik Stellung bezieht, erklärt Steiner das im Vorjahre erschienene Nietzsche-Buch von Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894). In diesem seiner Meinung nach »augenblicklich verbreitetsten Buche über Nietzsche« (FN, VIII) habe die Autorin ein »mystisches Ungeheuer« in die Welt gesetzt, das dem nietzscheschen Geist völlig zuwider laufe, da es – wie Steiner am 20. August 1895 in nietzschescher Diktion gegenüber Rosa Mayreder äußerte – »aus christlich-mystisch-theistischen Instinkten heraus geschaffen« sei. In Andreas-Salomés Darstellung erscheine Nietzsche als »hysterischer Schwächling, getrieben von zwei voreinander schaudernden Ichs, der eine Philosophie aus seiner Krankheit herausdestilliert, die endlich ideell in Mystik, psychisch in Wahnsinn auslaufen muß«. Steiner schließt sein Urteil mit einer weiteren identifizierenden Bezugnahme auf Nietzsches Instinktlehre:

Jede Seite schmeckt nach Christentum; jede Seite verrät die Ohnmacht, wahre Nietzsche-Luft zu atmen. Wie sich Nietzsche instinktiv von dem Fräulein Salomé abgewendet hat, so widerstrebt dieses aus der Sphäre ›deutscher‹ Bildung entsprungene Buch meinen innersten Instinkten. Ich fühle mich abgestoßen davon wie von dem heiligen Augustin. (GA 39, 259)

Als die beiden Hauptanliegen seines Buches nennt Steiner die Herausarbeitung des Begriffs vom ›Übermenschen‹ als zentraler Idee der nietzscheschen Philosophie sowie den Nachweis einer kontinuierlichen Entwicklung im Denken Nietzsches. In einer interessanten Vorwegnahme der späteren Kontinuitäts-Debatte über sein eigenes Werk versucht Steiner zu zeigen, dass Nietzsche eben nicht »in den verschiedenen Zeiten seiner Schriftstellerlaufbahn voneinander mehr oder wenige abweichende Meinungen gehabt« habe, und dass »von einem Meinungswechsel bei Nietzsche nicht die Rede sein« (FN, VIII) könne. Ja, der hermeneutische Zugriff zur Deutung von Nietzsches Entwicklung im dritten Kapitel liegt gerade darin, die Beweggründe für Nietzsches frühe Begeisterung für Schopenhauer und Wagner in jenen Grundelementen zu suchen, die schon damals den Kern seines Denkens ausgemacht hätten, aber erst nach der Abwendung von diesen frühen Vorbildern zur vollen Entfaltung gekommen seien. Nach Steiner waren es eben dieselben ›Grundinstinkte‹ Nietzsches, welche ihn zuerst für seine frühen ›Erzieher‹ erwärmten und ihn später zum Bruch mit denselben führten.

Die Schrift ist in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil beschreibt Steiner die Hauptzüge des nietzscheschen Denkens. Er gipfelt, nach dem Urteil Hoffmanns, in einer »Charakterisierung von Nietzsches Kampf gegen seine Zeit als einem rücksichtslosen geistigen Kampf im Namen der gesunden, lebenfördernden Instinkte gegen alle naturwidrigen idealistischen Wahngewebe«. Im zweiten und zentralen Teil charakterisiert Steiner den Typus des Übermenschen, wie er ihn aus den Hauptschriften Nietzsches herauslas. Diese Darstellung mündet in der oben bereits erwähnten Darstellung von Steiners eigenem ethischen Individualismus. Er bescheinigt der Instinkttheorie Nietzsches, dass sie »die Bedeutung des Bewußtseins für die menschliche Persönlichkeit« unterschätze (FN, 89 f.), weshalb sie einer Ergänzung bzw. Präzisierung durch die steinersche Bewusstseinstheorie bedürfe. Im dritten Teil der Schrift schließlich schildert Steiner Nietzsches Entwicklungsgang, wobei ihn die oben erwähnte Intention leitet, die verschiedenen Werkphasen als Ausdruck einer ungebrochenen zielgerichteten Entwicklung zu lesen.

 

 

Drei Phasen von Steiners Nietzsche-Rezeption nach 1895

Die Geschichte der Auseinandersetzung Rudolf Steiners mit Nietzsche enthält auch nach der Veröffentlichung seiner Schrift von 1895 noch einige interessante Kapitel. Zunächst finden wir Steiner in den Jahren 1895 bis 1897 im Umfeld des Nietzsche-Archivs, und zwar als Ergebnis der oben bereits angedeuteten Annäherung an Elisabeth Förster-Nietzsche. Steiner war einerseits interessiert an der Nietzsche-Philologie und hielt sich selbst auch für fähig, Nietzsches Werke sachgemäß herauszugeben, trat aber damit andererseits in Konkurrenz zu dem gegenwärtigen Herausgeber der Werke, Fritz Koegel. Diese komplizierte Situation wurde von Förster-Nietzsche für persönliche Ränkespiele ausgenutzt, wodurch Steiner, der sich bei allem Interesse für eine Herausgeberschaft gegenüber Koegel korrekt verhalten wollte, dabei aber teilweise auch menschlich ungeschickt agierte, in Konflikte und Verwicklungen verstrickt wurde. Diese begannen im Herbst 1895 und führten im Frühjahr 1897 schließlich zum Eklat, indem beide sich gegenseitig der Lüge bezichtigten. Steiner brach nun alle Beziehungen zum Archiv ab und kritisierte später Förster-Nietzsche öffentlich für ihre Inkompetenz als Verwalterin der Sache Nietzsches und für ihren fragwürdigen Umgang mit Mitarbeitern. Im Zusammenhang mit dieser Einleitung sind diese Vorgänge insofern relevant, als Steiners Nietzsche-Buch, welches Ende April oder Anfang Mai 1895 erschienen ist, als Versuch gewertet werden kann, sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Augen Elisabeth Förster-Nietzsches als Nietzsche-Kenner zu etablieren. Briefe zeigen, dass eine erste Annäherung der beiden Persönlichkeiten bereits im Mai 1894 stattfand, und schon im Februar 1895 wurde Steiner zum ersten Mal offiziell ins Archiv eingeladen. (Dieses befand sich damals noch in Naumburg und zog erst im September 1896 nach Weimar um.) Steiner war sich also schon vor der Veröffentlichung seines Nietzsche-Buches im Klaren darüber, dass sich hier eine neue Karriereoption aufgetan hatte, die einen möglichen Ausweg aus der mittlerweile verhassten Philologentätigkeit am Goethe- und Schiller-Archiv eröffnete. Die sich durch die Verbindung mit dem Nietzsche-Archiv ergebenden Konflikte und Verwicklungen hingegen liegen sämtlich nach dem Erscheinen des Buches und spielen für dessen Deutung somit keine Rolle.

Eine weitere Phase in der Geschichte von Steiners Nietzsche-Rezeption spielte sich im Sommer des Jahres 1900 ab, als Steiner, der mittlerweile Herausgeber der Zeitschrift für Litteratur in Berlin war, dieses Organ dazu nutzte, eine erneute öffentliche Debatte um Nietzsche zu führen. Dabei ging es vor allem um Fragen der Anordnung von Nietzsches Schriften, besonders der nachgelassenen, und um Nietzsches Gedanken von der ›ewigen Wiederkehr‹, aber auch Steiners Verhältnis zu Elisabeth Förster-Nietzsche wurde noch einmal öffentlich thematisiert. Im Juli und August desselben Jahres erschienen dann zwei Aufsätze Steiners, bezeichnenderweise in der Wiener Klinischen Rundschau, in denen Steiner seine bereits früher geäußerten Bedenken gegenüber Nietzsches mentaler Gesundheit wieder aufgriff und jetzt deutlich in den Vordergrund stellte. In diesen Aufsätzen wird das Thema der Psychopathologie Nietzsches geradezu zum Angelpunkt seines Urteils über Nietzsche, welches im scharfen Kontrast zu der positiven Darstellung von 1895 steht. Der Denker erscheint jetzt nicht länger als »einer der führenden Geister der Zukunft«, sondern als »interessante Einzelpersönlichkeit« und »merkwürdiger Denker«, der aber »den großen Bedürfnissen der Zeit ganz fernstand«. Seiner Selbstdarstellung als Nietzsche-Anhänger und der Rhetorik des ›wir‹ kehrte er entschieden den Rücken:

Deshalb konnte er [Nietzsche] auch nur zu Ideen kommen, die als Äußerungen einer merkwürdigen Einzelpersönlichkeit interessieren, zu denen sich aber in der Form, wie er sie ausgesprochen hat, kein anderer, im wahren Sinne des Wortes, als Anhänger bekennen sollte. (GA 31, 491)

Nachdem Steiner sich um 1902 der Theosophie zugewandt hatte und nun systematisch seine esoterische Weltanschauung ausgestaltete, begann auch eine neue Phase seiner Nietzsche-Rezeption. Auch in dieser herrscht die schon bekannte Ambivalenz zwischen inhaltlicher und charakterlicher Bewertung, allerdings in neuem Gewand. Zum einen charakterisiert der Theosoph Steiner Nietzsche weiterhin als progressiven Denker, der seiner Zeit voraus war. In theosophischer Diktion stellt sich dies nun so dar, dass Nietzsche als eine Art ›Eingeweihter‹ dargestellt wird, der »die uralte Weisheit der Mysterien […] dunkel ahnend im Herzen hatte, für die er aber keinen klaren Ausdruck« habe gewinnen können, »an der er litt und die er herbeisehnte als neues Leben, das aus unserer Kultur hervorgehen sollte«. Die Lehre von der ›ewigen Widerkehr‹ interpretiert Steiner jetzt als dunkle Ahnung und zugleich Verzerrung der theosophischen Entwicklungslehre. Zugleich werden die philosophischen und psychopathologischen Problematiken Nietzsches wiederum betont und nun als ein Kapitel ›okkulter Geschichte‹ dargestellt, indem Steiner das Spätwerk des Philosophen als Ausdruck des negativen Einflusses geistiger (ahrimanischer) Mächte deutet.

Diese letzten Phasen der Auseinandersetzung Steiners mit Nietzsche haben auf das Nietzsche-Buch keinen unmittelbaren Einfluss gehabt und sind daher an dieser Stelle nur kurz umrissen worden um ein vollständiges Bild der Thematik zu geben. An diesen Zusammenhängen näher interessierte Leser seien an David Hoffmanns ausgezeichnete Arbeiten über die Geschichte des Nietzsche-Archivs verwiesen, in der diese Vorgänge detailliert dargestellt sind.

 

Steiners Verhältnis zu Nietzsche

in der bisherigen Forschung

In der bisherigen Forschung über Steiners Verhältnis zu Nietzsche lassen sich drei Grundprobleme identifizieren, die zum Teil kontrovers diskutiert werden. Da ist zum einen die Frage nach dem Einfluss nietzscheschen Denkens auf Steiner, insbesondere auf die philosophischen Schriften der neunziger Jahre. Zweitens wird immer wieder debattiert, ob seine sich wandelnden öffentlichen Bewertungen Nietzsches als Brüche und Sinneswandlungen aufzufassen sind oder als unterschiedliche Schwerpunktsetzungen innerhalb einer insgesamt kontinuierlichen Sichtweise. Drittens stellt sich das Problem einer ambivalenten Darstellungsweise, und zwar ganz besonders in dem Buch von 1895.

Zunächst zur Frage des gedanklichen Einflusses. Wir haben bereits erwähnt, dass Steiner nach eigener Aussage die Schriften Nietzsches um das Jahr 1888 kennenlernte. Erste stilistische und inhaltliche Spuren einer intensiven Lektüre und Identifikation mit Nietzsches Texten lassen sich, wie wir gesehen haben, in der öffentlichen Buchfassung seiner Dissertation von 1892 nachweisen. Somit stellt sich die Frage, ob und inwiefern diese Schrift und besonders auch der zweite Teil der Philosophie der Freiheit von 1894 im Kontext von Steiners Auseinandersetzung mit Nietzsche gesehen werden müssen. Steiner selbst hat bekanntlich den Standpunkt vertreten, dass er seine philosophischen Ideen und insbesondere seinen ethischen Individualismus völlig unabhängig von Nietzsche entwickelt habe. »Mir erging es mit Nietzsches Ideen folgendermaßen«, schrieb er etwa in einem Aufsatz vom Januar 1893: »Ihr Inhalt erschien mir zumeist nicht neu. Ich hatte ihn in mir schon ausgebildet, bevor ich Nietzsche kennenlernte«. Dies könne übrigens jedermann selbst nachprüfen, so Steiner im November desselben Jahres an Vincenz Knauer, und zwar anhand seiner Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Besonders in der 1887 verfassten Einleitung zum zweiten Band – und somit vor seiner Begegnung mit Nietzsches Werk – finde man die Grundideen seines ethischen Individualismus bereits im Grundsatz formuliert (vgl. GA 39, 187). Auch im Nietzsche-Buch von 1895 kommt diese Haltung zum Ausdruck (vgl. FN, VII). Gegenüber dieser Selbstdarstellung hat Zander die These vertreten, dass Steiners Philosophie nicht anders zu verstehen sei als im Rahmen einer Beeinflussung durch Nietzsche. Steiner sei in den frühen neunziger Jahren »der Faszination Nietzsches erlegen« und eine »Deutung von Steiners philosophischen Positionen auf dem Hintergrund seiner Nietzschelektüre« sei deshalb »zwingend«. Steiners Hinweis auf entsprechende Äußerungen in seinen Goethe-Einleitungen, die vor seiner Begegnung mit Nietzsche erschienen seien und somit seine Unabhängigkeit belegten, weist Zander ab: Davon könne »keine Rede sein«. Ein Blick auf den von Steiner als Beleg seiner Unabhängigkeit genannten Text von 1887 macht aber deutlich, dass die Sache so eindeutig nicht ist, da sich dort in der Tat (wie auch in den Grundlinien von 1886) Grundzüge des steinerschen Individualismus zumindest ansatzweise nachweisen lassen. Eine eingehende Untersuchung des gedanklichen und sprachlichen Einflusses von Nietzsches Philosophie auf Steiner, welche dessen Selbstanspruch philologisch-kritisch untersucht, steht bisher aus und bleibt Aufgabe der künftigen Forschung.

Ein zweiter Schwerpunkt in der Debatte um Steiners Nietzsche-Rezeption ist die Interpretation der oben skizzierten Wandlungen in den öffentlichen Äußerungen Steiners zu Nietzsche. Zander deutet diese Perspektivwechsel, wie oben bereits angedeutet, als grundlegende »Sinneswandlungen« und »Bekehrungen«. Zuerst sei Steiner, und zwar um 1891, vom zuvor freundlichen aber ambivalenten Nietzsche-Leser zum »überzeugten Nietzscheaner«, ja ein »nietzscheanischer Konvertit« geworden, dessen Verhältnis zu seinem neuen Idol nicht anders charakterisiert werden könne als das eines gläubigen Anhängers. Im Sommer 1900 habe dann eine zweite Bekehrung stattgefunden, als deren Ergebnis Steiner sich in einer Art ödipalen Auflehnung gegen die frühere Vaterfigur gewendet und den Versuch unternommen habe, den Charakter Nietzsches öffentlich zu »demontieren« und ihn »als kulturelle Leitfigur zu entmachten«. In der Sache weitgehend analog mit dieser Interpretation, aber rhetorisch nüchterner, war bereits die frühere Einschätzung Hoffmanns ausgefallen, der von einer »Relativierung« der Haltung Steiners um 1900 spricht, von einer zunehmenden »Distanzierung« Steiners vom Enthusiasmus seiner Steiner-Schrift und, was die Bedeutung Nietzsches als Denker angehe, von einer grundlegenden »Revision« seiner früheren Position. Dieser Befund darf derzeit wohl als Konsens zumindest innerhalb der kritischen Steinerforschung gelten; wobei die Meinungen über Ausmaß und Motivation dieser Revision auseinandergehen.

Steiner selbst ist offenbar schon zu seinen Lebzeiten mit ähnlichen Einschätzungen konfrontiert worden und setzte diesen die Auffassung entgegen, dass er, bei aller zeitweiligen philosophischen und psychopathologischen Kritik an Nietzsche, stets dessen »Sache« vertreten habe und dies auch in Zukunft tun werde. Noch 1920 bezeichnete er Nietzsches Philosophie im Kontext seiner anthroposophischen Deutung des Denkers als welthistorisch bedeutsames Beispiel eines Strebens nach Individualität, welches »wir wollen müssen, wenn […] die Menschen nicht ihr Ich verlieren sollen und die Zivilisation in Barbarei übergehen soll« (GA 322, 73). Dem Einwand, seine Haltung gegenüber Nietzsche habe sich grundlegend gewandelt, hielt er 1904 in einem öffentlichen Vortrag entgegen, dass es sich dabei nicht um Meinungsänderungen sondern um drei unterschiedliche methodische Darstellungsparadigmen gehandelt habe, nämlich (in dem Buch von 1895) um eine historisch-ideengeschichtliche Darstellung, dann (in den Aufsätzen des Jahres 1900) um eine charakterlich-psychologische Analyse, und schließlich, nach der Wende zur Theosophie, um eine geisteswissenschaftliche Beleuchtung. Dabei geht Steiner sogar von der Defensive in die Offensive und postuliert, dass ein angemessenes Verständnis Nietzsches und seiner Entwicklung überhaupt nur aus einer solchen »dreifachen Betrachtung« heraus verständlich sei. Dieser rückblickenden apologetischen Selbstdeutung Steiners ist in der kritischen Literatur, soweit wir sehen konnten, bisher ebenso wenig ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt worden wie seinem Hinweis auf eine von Nietzsche unabhängige Entwicklung seines ethischen Individualismus in den Schriften von 1886 und 1887. Auch hier bietet sich der künftigen Forschung somit ein interessantes und noch zu wenig bearbeitetes Feld.

Eine dritte Schwierigkeit in der Deutung von Steiners Nietzsche-Schrift und ein Hauptgrund für die kontroversen Interpretationen dieses Buches liegt in der Tatsache, dass in der Darstellung dieses Buches die Grenzen zwischen dem Referat der Positionen Nietzsches und der persönlichen Stellungnahme nicht klar gezogen sind. Der engagierte und bisweilen bekenntnishafte Ton der Schrift, das oftmalige Zitieren ohne Anführungszeichen oder Quellenhinweis sowie die generelle Tendenz zu einem Verwischen der Grenzen zwischen Referat, Bewertung und Selbstaussage stellen den Interpreten dieses Textes vor eine schwierige Aufgabe. Im Einzelfall ist es manchmal geradezu unmöglich zu entscheiden, ob Steiner Nietzsche referiert, seine Nietzsche-Deutung vorträgt oder eigene Anschauungen darlegt, von denen er glaubt, sie stünden im Einklang mit Nietzsche.

Steiners Sorglosigkeit gegenüber einer sauberen Unterscheidung zwischen Referat, Textdeutung und Selbstdarstellung hat innerhalb der anthroposophischen Steiner-Deutung zu vielfachen Kontroversen geführt, da eine Reihe von Vorstellungen, zu denen Steiner sich in seinem Nietzsche-Buch positiv äußert oder sogar zu identifizieren scheint, sich sowohl mit dem philosophischen Idealismus seiner frühen Schriften als auch mit seiner späteren Esoterik nur schwer vermitteln lassen. Auch die kritische Forschung tut sich bislang mit diesem Problem schwer. Zander bemerkt zwar auf der einen Seite, dass der Text des Nietzsche-Buches »nicht ganz leicht zu lesen« sei, da er »sich als Referat von Nietzsches Positionen gibt und insofern nicht notwendig Steiners eigene Position darstellen will«, ignoriert aber dann mehrfach das von ihm selbst formulierte caveat, etwa wenn er pauschal verfügt: »So übernahm Steiner von Nietzsche die Kritik an der Metaphysik und an allen Idealismen« oder wenn er den Steiner der späten neunziger Jahre pauschal zum »Nihilisten« erklärt. Dass Steiner 1895 keineswegs »alle Idealismen« ablehnte und insbesondere den goetheschen weiterhin leidenschaftlich verteidigte, zeigt sich beispielsweise in seinem zwei Jahre später erscheinenden Goethe-Buch, das im folgenden Abschnitt näher betrachtet werden soll. Bei einer strengeren Beachtung des von Zander ganz zurecht formulierten hermeneutischen Vorbehalts wird man sich von künftigen Deutungen dieses sperrigen Textes ein differenzierteres Bild davon erhoffen dürfen, inwieweit Steiner 1895 mit Nietzsche übereinstimmte, wo er diesen umdeutete, um ihn sich anzueignen, und wo er seine eigenen Wege ging.

Von der Morphologie der Naturerscheinungen zur

Geisteswissenschaft: Rudolf Steiner und Goethe

Zwei Jahre nach Veröffentlichung des Nietzsche-Buches erschien als nächste größere Veröffentlichung Steiners eine zusammenfassende Darstellung seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Goethes Schriften zur Naturwissenschaft unter dem Titel Goethes Weltanschauung. Steiner hatte in den Jahren von 1883 bis 1897 im Rahmen zweier philologischer Großprojekte die historisch-kritische Herausgabe dieser Texte betreut: zunächst in der von Joseph Kürschner herausgegebenen Reihe Deutsche National-Litteratur und später zusätzlich für die im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv herausgegebene Sophien-Ausgabe. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeiten hat er für die allgemeine Öffentlichkeit in drei Publikationen zusammengefasst: in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1884/1887/1890/1897), den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung (1886) und in der nunmehr zu besprechenden Schrift von 1897.

Die folgende Darstellung unterzieht sich nicht der Aufgabe, die Entwicklung von Steiners Rezeption der goetheschen Naturanschauungen insgesamt zu dokumentieren. Dies geschieht in der Einleitung zum ersten Band der SKA, in dem die ersten beiden der oben genannten Goethe-Schriften enthalten sind. An dieser Stelle soll daher lediglich die Schrift von 1897 betrachtet werden, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: Zum einen ist zu fragen, inwiefern Steiners Darstellung in Goethes Weltanschauung inhaltlich und stilistisch von derjenigen abweicht, die sich in seinen früheren Goethe-Schriften findet. Zum andern soll die Textentwicklung der Schrift kurz ins Auge gefasst werden, denn in einer 1918 erschienenen Neuauflage des Buches hatte der mittlerweile als Anthroposoph auftretende Steiner vielfache und teilweise erhebliche Änderungen gegenüber dem Text der Erstausgabe vorgenommen.

 

Die Erstausgabe von Goethes Weltanschauung (1897):

Goethe-Deutung als Kampf um die rechte Weltanschauung

Steiners Goethe-Schriften der achtziger Jahre zeichnen sich durch eine nahezu unkritische Goethe-Verehrung aus. Der junge Herausgeber von 1884 äußert sich, bei allem Bemühen um eine sachlich-akademische Darstellungsweise, enthusiastisch über Goethes Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaft, charakterisiert ihn gar als den »Kopernikus und Kepler der organischen Welt«, der als erster eine angemessene wissenschaftliche Methodik entwickelt habe, um der besonderen Natur organischer Wesen erkennend beizukommen. Kritische Töne finden sich in den Texten der achtziger Jahre kaum; erst in den allerletzten Einleitungen von 1890 und 1897 begann Steiner, leise auch auf Grenzen der goetheschen Leistung hinzudeuten. Diese Grenzen wurden dann in Goethes Weltanschauung deutlicher hervorgehoben und dienten Steiner als Hintergrund einer Profilierung der eigenen philosophischen Position, die er mittlerweile in der Philosophie der Freiheit der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Den darin entwickelten ›Objektiven Idealismus‹ verstand er insgesamt als Weiterführung, teilweise aber auch als Korrektiv und Vervollkommnung der goetheschen Bestrebungen.

In der Erstausgabe von Goethes Weltanschauung fällt zunächst auf, dass Steiner, anders als in den frühen Einleitungen, den Rahmen der reinen Goethe-Interpretation immer wieder verlässt und sich auf eine »polemische Weltanschauungsdebatte« zugunsten Goethes und gegen die von ihm kritisierten Tendenzen innerhalb der neueren Naturwissenschaft einlässt. Insbesondere gegen Kant und die »Kantianer« ging er in scharfer Polemik vor, wodurch er sich eine hitzige persönliche Kontroverse mit Karl Vorländer, einer damaligen Koryphäe der Kant-Forschung, einhandelte. Er tat dies mit demselben nietzscheanisch-existentiellen Gestus, den wir schon in den Zusätzen zu Wahrheit und Wissenschaft, in der Philosophie der Freiheit und der Nietzsche-Schrift beobachten konnten. Wo Steiner den Boden seiner Goethe-Deutung verlässt und seine weltanschaulichen Gegner attackiert, ist die Sprache deutlich schärfer, sind die Aussagen apodiktischer und kompromissloser, die Angriffe persönlicher und verletzender als in den achtziger Jahren. Die Auseinandersetzung mit bestehender Forschungsliteratur fehlt gänzlich; Steiner tritt nicht mehr primär als Akademiker auf, der sich an die Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Publizierens hält, sondern – wie seine neuen Inspiratoren Nietzsche und Haeckel selbst – als weltanschaulich motivierter ›Kämpfer gegen seine Zeit‹, der sich mit Literaturhinweisen nicht lange aufhält. Gegen die »Kant-Gläubigen« (Neukantianer) und die »Tatsachenfanatiker« (Positivisten) mit ihrem »Ignorabimus« setzt er die eigene und seiner Ansicht nach mit Goethe übereinstimmende Überzeugung, dass die Erzeugnisse der menschlichen Erkenntnistätigkeit prinzipiell als »Wahrheiten« anzusehen seien, dass die Wirklichkeit für den Menschen prinzipiell erkennbar sein müsse und dass von ›unübersteigbaren Grenzen‹ des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht die Rede sein könne.

Neben der stilistischen und rhetorischen Neuausrichtung geht Steiner in Goethes Weltanschauung in seiner Verteidigung Goethes auch argumentatorisch neue Wege. Das prägnanteste Beispiel ist eine das gesamte Buch durchziehende antiplatonische Haltung, welche den ideengeschichtlichen Rahmen seiner neuen Goethe-Darstellung abgibt. Dieser Ansatz war insofern neu, als Steiner in seinen früheren Goethe-Schriften am Platonismus wenig auszusetzen hatte. Der Name Plato wird in den achtziger Jahren zwar kaum je erwähnt, doch interpretierte Steiner zu dieser Zeit den goetheschen Typus-Begriff in unverkennbar platonischer Weise. »Die Idee eines Wesens, welches in beständiger Veränderung begriffen ist und dabei doch immer identisch bleibt, tritt uns hier [im goetheschen ›Typus‹] entgegen«, heißt es in der Einleitung von 1884 (EG, 10). Insgesamt erscheint die goethesche Naturwissenschaft in Steiners frühen Einleitungen als eine aristotelisch gewendete und mittels des Entwicklungsgedankens modernisierte Ideenlehre nach platonischem Muster.

1897 spielte Steiner nicht länger Goethe als einen modernen Platoniker gegen eine verflachte und unverständige Moderne aus, sondern bemühte sich stattdessen um eine Vermittlung des goetheschen Idealismus mit dieser Moderne, insbesondere mit Nietzsche und Haeckel. In diesem neuen Rahmen war der Platonismus kein geeignetes Mittel mehr, um die goethesche Typus-Lehre an eine gebildete Öffentlichkeit zu vermitteln. Zwar wurde an dem Begriff der ›Idee‹ als Ausdruck für den Typus festgehalten, aber der Name Plato stand jetzt für einen ontologischen Dualismus und für eine Abwertung der sinnlich-materiellen Welt gegenüber dem Geistigen. Man hat sich zu vergegenwärtigen, dass für Nietzsche wie für Haeckel der Platonismus den ideologischen Hintergrund des verhassten Christentums darstellte, dem auch Steiner damals äußerst kritisch gegenüberstand (vgl. Fußnote zu FN, 24). In Goethes Weltanschaung waren daher andere Wege zu gehen, um Goethe zu erklären und ihn in ein positives Licht zu setzen. Plato wurde als Ahnherr der goetheschen Typenlehre abgesetzt und zum ideengeschichtlichen Gegenpol der goetheschen Weltanschauung umfunktioniert.

Vor allem andern wird Plato vorgeworfen, die epistemische Trennung der Wirklichkeit in Idee und Anschauung, welche der Mensch im Akt des Erkennens tatsächlich vollzieht, ontologisch aufgefasst und ideengeschichtlich zementiert zu haben. So sei Plato zu einem Dualismus gekommen, der nur die Ideen als wirklich anerkennt und die sinnlich-materielle Welt als bloßen Schein abwertet. Dieses Denkmuster habe das abendländische Denken nachhaltig geprägt und habe dann auch zu der weltverachtenden Haltung des Christentums geführt. Ja, das Christentum habe, so Steiner, den zunächst nur als Theorie vorhandenen und somit relativ ›harmlosen‹ Platonismus zur seelisch-religiösen Sache gemacht und so dem abendländischen Gemüt umso tiefer »eingeimpft«. Aber auch die neuere Philosophie stehe unter dem Bann Platos, von Bacon über die Rationalisten und Kant bis hin zur neukantianischen Abwertung alles an die Sinneserfahrung gebundenen Erkennens als bloß subjektiv bzw. illusorisch. Sowohl gegen die religiös motivierte Verdammung des Sinnlichen als auch gegen das wissenschaftstheoretische ›Ignorabimus‹ preist Steiner die goethesche Art der Naturbetrachtung als heilsames Gegenmittel an.

Der antiplatonische Zug der Schrift geht einher mit einer größeren Vorsicht gegenüber der Verwendung religiös-theologischer Symbolik für die wissenschaftstheoretische Debatte. In den achtziger Jahren hatte Steiner noch keine Probleme damit gehabt, die Sphäre des Ideellen bzw. Geistigen mit dem Begriff des »Göttlichen« zu bezeichnen oder vom Grund allen Seins als von »Gott« zu sprechen. Damals redete er noch die idealistische Sprache Goethes und Fichtes, die ja auch ihrerseits trotz einer dezidiert antikirchlichen Haltung kein Problem hatten, den Gottesbegriff entsprechend zu handhaben. Innerhalb dieses begrifflichen Paradigmas konnte Steiner einerseits die »im Gedanken zu erfassende, unwandelbare, ewige Einheit aller Dinge« problemlos als ›Gott‹ oder ›das Göttliche‹ bezeichnen, wie er ja andererseits auch keine Skrupel hatte, diese Einheit in der Vielfalt in Anlehnung an Goethe als ›Idee‹ zu charakterisieren. 1897 vertrat Steiner inhaltlich weiterhin dieselben philosophischen Positionen, jetzt aber von einem veränderten Gesichtspunkt aus, und in diesem neuen Paradigma standen die Begriffe »Gott« bzw. »göttlich« für etwas völlig anderes, nämlich für den Gedanken einer ideellen bzw. geistige Wirklichkeit, die als vom sinnlich-materiellen Sein ontologisch getrennt vorgestellt wird. Ein solcher »Gott« aber existiert für Steiner, wie für Nietzsche und Haeckel, nur in der Vorstellung irregeführter Menschen, ist ein »nur gedachter Gott«. Einen solchen Gott musste er daher 1895 in seiner Nietzsche-Schrift und 1897 in Goethes Weltanschauung ebenso vehement ablehnen, wie er in den achtziger Jahren einen immanent-goetheanisch verstandenen ›Gott‹ anerkennen konnte – und wie er ihn auch 1897 noch anerkannte. »Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat«, lesen wir in Goethes Weltanschauung, »denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen ›verborgenen‹ Gott zu suchen: er ergreift das Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der Natur« (GW, 72).

Vom Standpunkt der Gliederung weist das Buch drei Hauptteile auf. Deren erster ist, nach Vorwort und Einleitung, das Kapitel Goethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenentwicklung. Hier entwickelt Steiner seine philosophiegeschichtliche Einordnung Goethes als Antipode aller von Plato sich herleitenden Dualismen, seine Reflexionen über den engen Zusammenhang von »Weltanschauung und Persönlichkeit« und seine Deutung des goetheschen Metamorphosebegriffs im Kontext seiner eigenen philosophischen Anschauungen. Im zweiten Hauptteil werden die zentralen Errungenschaften Goethes von der so entwickelten Perspektive aus näher betrachtet: die Morphologie der organischen Lebewesen und die Farbenlehre. Den Schlussteil des Buches bilden kurze Bemerkungen zu weiteren Gebieten, in denen Goethe naturwissenschaftlich gearbeitet hatte (Geologie und Meteorologie), eine Betrachtung zu »Goethe und Hegel« sowie, in der Neuauflage von 1918, eine Verteidigung gegenüber Einwänden, die in Bezug auf das Buch inzwischen erhoben worden waren.

Inhaltlich neu sind vor allem jene Passagen, in denen Steiner jetzt die Grenzen der goetheschen Weltanschauung hervorhebt. Goethes größte Leistung habe, so Steiner, in der Fähigkeit bestanden, das ›Göttlich-Geistige‹ in den verschiedenen Metamorphosen der Natur zu erblicken. Diesen Geist aber auch durch die vielfachen Metamorphosen des menschlichen Geistes zu verfolgen (wie beispielsweise Hegel), ja überhaupt Denken und Geist als solche in den Blick zu nehmen, und nicht nur in den sinnlich greifbaren Gestaltungen der Natur, dafür habe Goethe das Organ gefehlt. Und als Ergebnis dieser Beschränkung habe er auch die Idee der menschlichen Freiheit nicht korrekt fassen können:

[…] [S]o wie die schöpferischen Naturkräfte ›nach tausendfältigen Pflanzen‹ noch eine machen, worin ›alle übrigen enthalten‹ sind, so bringen sie auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor, worin die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfaßt der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt [1897: über das Denken nachdenkt]. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. […] Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die sittliche Weltordnung zu gelangen« (GW, 67–69).

Diese Einschätzung wird mit einer entwicklungspsychologischen Betrachtung über Goethes biographische Entwicklung verbunden. Goethe habe, so Steiner, in seiner frühen Phase die platonisch-dualistischen Tendenzen seiner Zeit überwunden und so ein strikt monistisches Weltbild entwickeln können, in welchem die Naturerscheinungen weder einseitig-materialistisch (aus rein physikalisch-biologischen Prinzipien) noch platonisch-dualistisch (als Ausdruck eines außerhalb bzw. jenseits ihrer selbst liegenden Prinzips) erklärt werden. Dieser »aufsteigenden Entwicklung« gegenüber wird dann beim späten Goethe eine »absteigende Entwicklung« diagnostiziert, die diesen »wieder zu christlichen und mystischen Vorstellungen hinführte« (GW 76, 1918 gestrichene Passage).

Reintegration des Platonismus und des Christentums:

Zur Neuausgabe von Goethes Weltanschauung (1918)

Angesichts der 1918 veröffentlichten und stark bearbeiteten Neuausgabe von Goethes Weltanschauung kann die Frage gestellt werden, ob Steiner mit solchen Worten nicht vielleicht prophetisch seine eigene Zukunft vorausgesagt hat. Denn im Zuge der Ausbildung seiner Esoterik machte er sich viele der »christlichen und mystischen Vorstellungen«, die er in seinen vortheosophischen Texten kritisiert und bekämpft hatte, wiederum zu eigen und reintegrierte sie in seine Weltanschauung. Wie er in den achtziger Jahren zunächst den Idealismus Goethes und Fichtes und dann in den neunziger Jahren den Nihilismus und Materialismus Nietzsches und Haeckels als Vehikel der Darstellung seiner eigenen Ideenentwicklung verwendet hatte und dabei intensiv, bis zur völligen Identifikation, in deren Ideenwelten eingetaucht war, so verhielt er sich ab 1902 gegenüber dem esoterisch-spiritualistischen Weltbild der anglo-indischen Theosophie. Auch diesem stellte er sich wieder als ›Herr der Ideen‹ gegenüber, überzeugt, es besser zu verstehen als deren Schöpfer, und verwandelte es im Zuge seiner Aneignung und Verarbeitung in dasjenige, was wir heute als die steinersche Anthroposophie kennen.

Damit ergab sich 1918 wiederum eine neue Perspektive auf Goethe. Hatte Steiners Aufgabe 1897 vor allem darin bestanden, seine frühere platonisierende Goethe-Deutung mit seiner mittlerweile erfolgten Hinwendung zu den Antiplatonikern Nietzsche und Haeckel sprachlich und konzeptionell in Einklang zu bringen hatte, so waren nun beide diese früheren Paradigmen mit dem jetzt vertretenen theosophischen Spiritualismus zu vereinbaren. Besonders problematisch in dieser Situation waren natürlich die antiplatonischen und antichristlichen Spitzen von Goethes Weltanschauung, da Steiner im Zuge seines ideellen ›Einzugs in die Theosophie‹ sowohl den Platonismus als auch das Christentum positiv konnotiert, ja zu tragenden Elementen seiner Esoterik gemacht hatte. Es überrascht daher wenig, wenn wir den Anthroposophen Steiner in der Neuauflage von 1918 darum bemüht sehen, auf der einen Seite die harschen Worte gegen Plato, gegen die Mystiker und gegen das Christentum zurückzunehmen bzw. zu relativieren, und auf der anderen Seite den Begriff des »Geistigen« und der »geistigen Erfahrung« prononciert hervorzuheben, wo er zuvor in idealistischer Diktion von der »Idee«, vom »Ideellen« und von der »Ideen-Anschauung« gesprochen hatte.

An den meisten Stellen, die von dieser ›anthroposophischen‹ Überarbeitung von Goethes Weltanschauung betroffen sind, wird die zuvor geäußerte Kritik an Plato und den Mystikern schlicht zur Kritik an einem »einseitigen« oder »falsch verstandenen« Platonismus bzw. Mystizismus. Dem wird eine korrekte oder reine »Auffassung« bzw. »Strömung« des Platonismus entgegengestellt, der Goethe nicht nur widerspreche, sondern die von diesem in ihrer Reinheit wiederhergestellt worden sei (GW, 26 f.). An mehreren Stellen im Text fügt er ausführliche Betrachtungen ein, welche die Deutung Goethes als Vertreter dieses »recht verstandenen« Platonismus rechtfertigen (vgl. etwa GW, 19). Das Kapitel zum Platonismus wird fast vollständig umgearbeitet. Ähnlich geht Steiner mit seinen früheren antichristlichen Äußerungen um. Die zuvor kritisierte falsche Ansicht des Christentums wird nun als falsche Ansicht auf das Christentum, als bloß »vermeintlich christliche« Sichtweise ausgelegt (GW, 28), denn neben der ›falschen‹ Auslegung des Christentums meinte der Esoteriker Steiner seit 1902 eine ›richtige‹ zu kennen. Und wo zuvor Gott pauschal als bloße personifizierte Projektion der platonischen Ideenwelt in ein imaginäres Jenseits entlarvt worden war, stellt Steiner jetzt klar, dass diese Kritik sich nur auf den »menschenähnlichen« bzw. »nur gedachten Gott« einer anthropomorphistischen Religionsvorstellung bezieht. Das Adjektiv »göttlich« wird an vielen Stellen durch Ausdrücke wie »außermenschlich«, »ausser der Natur befindlich« ersetzt (GW, 111). Auch die deftige, von nietzschescher Diktion geprägte Sprache von 1897 nahm Steiner 1918 teilweise zurück.

Eine weitere Neuausrichtung in Goethes Weltanschauung von 1918 ist die jetzt neue Betonung des Geistbegriffes und der »geistigen Erfahrung«. Statt von »Gott« und »Gottheit« im Sinne Goethes spricht Steiner jetzt bevorzugt von »Geist« und »Geistigkeit« (GW, 60). Und aus der fichteschen »Anschauung der Ideen«, dem »Denken über das Denken« wird jetzt ein »Geist-Erleben« (GW, 70). Weitere Änderungen betreffen gewisse Vorstellungen, die für Steiner im Zuge seiner Hinwendung zur Theosophie Bedeutung gewonnen hatten. Als Beispiel sei die Idee der Reinkarnation genannt, die Steiner in seinen vortheosophischen Texten bekanntlich nicht goutierte, die aber in seiner Esoterik eine fundamentale Rolle spielt. In Goethes Weltanschauung wird zwar nicht von der Wiedergeburt des Menschen als solcher geredet, wohl aber von der Idee einer Fortdauer der Seele nach dem Tod. Diese Vorstellung hatte Steiner im Zuge seiner Goethe-Deutung 1897 noch pauschal abgelehnt. Der Glaube an »eine individuelle Fortdauer des Individuums«, hieß es da, stehe im »Widerspruch zu Goethes Naturstudien« (GW, 75). 1918 hingegen formuliert er differenzierter: Nur gegenüber der Vorstellung einer Seele, »die an die Bedingungen der physischen Leibesorganisation gebunden« sei, könne von einer individuellen Fortdauer nach dem Tod nicht gesprochen werden (ebd.). Ferner fügte er einen längeren Zusatz hinzu, in dem dafür argumentiert wird, dass die Reinkarnationsidee, wie der Anthroposoph Steiner sie auffasste, in keinem Widerspruch zu Goethes Vorstellungen steht, ja deren konsequente Fortführung darstelle.

 

›Radikale Neuinterpretation‹ Goethes

oder ›neue Stilisierung‹ in veränderter Zeitlage?

Die beschriebenen Wandlungen in Goethes Weltanschauung haben in der Steinerforschung kontroverse Deutungen hervorgerufen. Zander spricht gegenüber der Erstauflage des Buches von einer »radikalen Neuinterpretation Goethes« und bemüht in diesem Zusammenhang einmal mehr die Figur des intellektuellen Ödipus-Komplexes, der wir schon im Zusammenhang mit Steiners Nietzsche-Deutung begegnet sind: Steiner habe 1897 buchstäblich einen »Mord« an der früheren geistigen »Vaterfigur« verübt. Zander meint zudem, dass sich in dieser radikalen Wende eine »biographische Krise« niederschlage. Steiner habe sich in den neunziger Jahren vom Idealismus seiner frühen Schriften »grundlegend verabschiedet« und sich intellektuell, vermittelt durch die Auseinandersetzung mit Denkern wie Nietzsche, Stirner und Haeckel, atheistischen, materialistischen und nihilistischen Positionen zugewandt. Mit demselben Argument deutet er die Neuauflage der Schrift von 1918, sieht darin eine erneute »Sinneswandlung« Steiners. Der zuvor vom Idealisten zum Materialisten und Atheisten bekehrte Steiner sei nach der Jahrhundertwende erneut konvertiert, und zwar diesmal zur mystisch-spiritualistischen Weltanschauung der Theosophie. Dies zeige sich, neben der Rehabilitation des Platonismus, in einer Aufwertung des Gottesbegriffes, verbunden mit einer Abwertung der Schöpferrolle des Menschen, die der frühe Steiner so vehement vertreten hatte. Sowohl in erkenntnistheoretischer wie in ethischer Hinsicht sieht Zander den autonomen, im Erkennen und im freien Handeln die Wirklichkeit produktiv hervorbringenden Menschen aus Steiners vortheosophischen Schriften jetzt in die zweite Reihe verdrängt, hinter eine 1897 abgeschaffte, aber 1918 wieder zugelassene »göttliche Weltordnung«, als deren bloß ausführendes Organ sozusagen. Über den Umfang und die Brisanz dieser »relecture« habe Steiner dann seine Leser bewusst getäuscht, indem er in Vorrede und Nachwort der Neuauflage entsprechende »Nebelkerzen« geworfen habe.

Steiner selbst spricht im Vorwort der Neuausgabe von 1918 diese Einwände, der ihm bereits von Zeitgenossen gemacht worden waren, direkt an. Er räumt ein, seiner Goethe-Darstellung »stilistisch« eine neue Form gegeben sowie ihm »wichtig erscheinende Erweiterungen und Ergänzungen an manchen Stellen« eingefügt zu haben, beharrt aber darauf, inhaltlich keine wesentlichen Änderungen vorgenommen zu haben. Etwas »Wesentliches an diesem Buche sonst zu ändern«, schreibt er, habe kein Grund vorgelegen (GW, 5). Auch das Nachwort zur Neuauflage geht noch einmal auf diese Frage ein und bewertet den Vorwurf der vertuschten Meinungsänderung als Versuch einer Diskreditierung anthroposophischer Geisteswissenschaft durch ein Argument ad hominem (GW, 166). Steiner hält dagegen, dass auf seiner Seite gar kein Grund für eine Vertuschung früherer Äußerungen bestehe, da er überzeugt sei, dass zwischen seiner 1897 geübten Goethe-Deutung und seiner mittlerweile entwickelten esoterischen Weltanschauung keinerlei Gegensatz bestehe. Er gibt sich überzeugt, dass »Goethes Ideen über das Naturgebiet, wirklich erlebt, zu den von mir dargelegten anthroposophischen Erkenntnissen notwendig führen müssen, wenn man, was Goethe noch nicht getan hat, die Erlebnisse im Naturgebiet überleitet zu Erlebnissen im Geistgebiet« (ebd.). Zur Veranschaulichung der Konsistenz seines Denkens geht Steiner dann konkret auf seine »verschiedenen Aussprüche über den Platonismus« ein und argumentiert, dass ein Widerspruch zwischen seinen Aussagen nur für denjenigen bestehe, der »an die bloßen Wortklänge sich hält« (GW, 168). Kritischen Lesern empfiehlt er, »auf die verschiedenen Beziehungen« einzugehen, »in die ich das eine und das andere Mal den Platonismus, durch seine eigene Wesenheit, bringen mußte« (ebd.). Einmal sei es eben darum gegangen, vor der Gefahr einer aus der platonischen Ideenlehre abgeleiteten dualistischen Ontologie zu warnen, ein anderes Mal darum, den Wert derselben für die Ausbildung rein geistiger Anschauung anzuerkennen.

Dass hinter die These von einer »radikalen Neuinterpretation«, in der Steiner im Hinblick auf Goethe »so ziemlich exakt das Gegenteil seiner Position der 1880er Jahre« vertreten habe, ebenso ein Fragezeichen gesetzt werden darf wie hinter das Postulat einer »Konversion« Steiners zu materialistischen, atheistischen und nihilistischen Anschauungen, haben wir oben bereits begründet. Aber auch Steiners eigene Charakterisierung seiner Revision als bloßer ›Neustilisierung‹ erscheint gegenüber den tatsächlich vorgenommenen Neubestimmungen als unangemessen. Die »verschiedenen Beziehungen«, in welche Steiner in der Tat den Platonismus bringt, erklären sich nicht bloß aus dessen »eigener Wesenheit«, sondern können nur im Kontext der jeweiligen weltanschaulichen Allianzen und Gegnerschaften verstanden werden, in deren Kontext Steiner sich jeweils bewegte. Sachlich angemessener wäre wohl, von strategisch motivierten Paradigmenwechseln zu sprechen, in denen der Begriff ›Platonismus‹ unterschiedlich konnotiert und instrumentalisiert wird. Steiner hatte in den neunziger Jahren offenbar die Entscheidung getroffen, seine eigenen philosophischen Positionen nicht länger im Rahmen einer rückblickend-verklärenden Identifikation mit den idealistischen Systemen des 18. Jahrhunderts zu vertreten, sondern diese in den Kontext neuerer und zeitgenössischer Strömungen zu stellen, d. h. sich von nun an statt mit Goethe und Fichte mit Denkern wie Nietzsche, Stirner und Haeckel zu identifizieren. Nietzschescher Individualismus und haeckelsche Entwicklungslehre, aber ergänzt und vertieft durch die Einsichten Goethes und Fichtes – das war Steiners Programm für den Umgang mit seiner geistigen Umwelt in den neunziger Jahren. Der Esoteriker Steiner von 1918 hingegen hatte wiederum andere sprachliche und argumentative Wege einzuschlagen. Der gedankliche Kern seiner Goethe-Deutung jedoch, so wird man bei nüchterner Betrachtung wohl sagen dürfen, blieb in all diesen ideologisch bedingten thematischen, terminologischen und stilistischen Transpositionen, und trotz mancher natürlich auch stattfindenden Meinungsänderung, im Ganzen relativ konstant. Denn dieser Kern war untrennbar verbunden mit den konstitutiven Grundkonstanten seiner Denkerpersönlichkeit.

Biogenetische Perspektive und ›Mut zur Weltanschauung‹:

Rudolf Steiner und Haeckel

Der dritte Text dieses Bandes ist eine relativ kurze Schrift Steiners, in welcher der Entwicklungsbiologe Ernst Haeckel gegen einige prominente Kritiker aus dem Bereich der Naturwissenschaften verteidigt wird. In der bestehenden Gesamtausgabe wird diese Apologie nicht als eigenständige Monographie geführt, sondern findet sich – sei es wegen ihrer Kürze, sei es aus inhaltlichen Gründen – in GA 30 unter den ›gesammelten Aufsätzen‹. Steiner selbst hat den Text, der 1899 zunächst tatsächlich als Aufsatzfolge erschienen war, im Folgejahr als eigenständige Broschüre herausgegeben und später mehrfach auf dieselbe als seine »Schrift« oder sein »Buch« (bzw. »Büchelchen«) über Haeckel verwiesen. Die vorliegende Edition möchte daher diesem Text die ihm zukommende Stellung als eigenständige Monographie zurückgeben und stellt sie hiermit den intellektuellen Biographien über Nietzsche und Goethe (GA 5 und 6) zur Seite. Die drei Schriften zusammen geben uns ein vollständigeres Bild der steinerschen Gedankenwege in den späten neunziger Jahren.

 

Steiner als Apologet Haeckels

Die Frage, warum Steiner so engagiert für Haeckel Position bezogen hat, und zwar nicht nur in der vorliegenden Schrift, sondern in zahlreichen weiteren Aufsätzen und Vorträgen weit in seine esoterische Phase hinein, hat (wie Steiner selbst an mehreren Stellen berichtet) schon seine Zeitgenossen irritiert. Warum würde jemand, der zunächst vor allem als Vertreter einer idealistischen Freiheitsphilosophie bekannt geworden war und später als Galionsfigur der theosophischen Bewegung in Deutschland eine ausgeprägt idealistische und spiritualistische Weltanschauung vertrat, und dessen primäres Anliegen es stets war, überall auf die ideelle bzw. geistige Dimension der Wirklichkeit zu verweisen, für den Vertreter eines konsequenten naturwissenschaftlichen Materialismus in die Schanze springen, der die Vorstellung eines »Geistes in der Natur« ausdrücklich leugnete – und zudem die Willensfreiheit bestritt? Im Falle von Goethe und Nietzsche lag ja gewissermaßen auf der Hand, warum Steiner sich für diese Denker einsetzte: Ersterer war die ideale Projektionsfläche seines objektiven Idealismus gewesen, Letzterer die seines ethischen Individualismus. Aber was war es in Haeckels Werk, das ein solches Engagement rechtfertigte?

Ein in der kritischen Literatur zu findender Erklärungsversuch besteht darin, von einer temporären Bekehrung Steiners zum Materialismus auszugehen. Wenn dieser in der Haeckel-Schrift Sätze schreibt wie »Die Abstammungslehre muß natürlich zu der Ansicht führen, daß die seelischen Thätigkeiten des Menschen nur eine besondere Form derjenigen physiologischen Funktionen sind, die sich bei dessen Wirbeltier-Ahnen finden« (HG, 15), so meint diese Interpretationsrichtung, dass Steiner die hier geschilderten und als konsequent charakterisierten logischen Konsequenzen der haeckelschen Anschauungen auch für sich selbst akzeptiert und an ein ›Seelisches‹ nicht mehr geglaubt habe. Um dann allerdings das Wiederauftauchen des ›Seelischen‹ und ›Geistigen‹ in Steiners zwei Jahre später erscheinenden Theosophie zu erklären, muss diese Position eine weitere Bekehrung postulieren, und über die Überzeugungskraft dieser These meinen wir im Vorstehenden das Nötige gesagt zu haben.‒ Eine andere Erklärungsstrategie besteht darin, Steiners Eintreten für Haeckel auf eine »karrieretechnische Strategie« zurückzuführen oder zumindest damit in Verbindung zu bringen. Dazu wäre anzumerken, dass es in der Tat so aussieht, als habe Steiner sich eine Zeitlang persönliche Hilfe von Haeckel in seinem Bestreben versprochen, eine akademische Anstellung zu erlangen. Es ist daher prinzipiell nicht abwegig sich vorzustellen, dass er den populären Evolutionsbiologen auch aus diesem Grund für eine Weile besonders hofiert haben mag. Doch liefert dieses temporäre persönliche Interesse Steiners an einer guten Beziehung zu Haeckel kaum eine ausreichende Erklärung für sein anhaltendes Engagement, denn er hat den Entwicklungstheoretiker auch dann noch verteidigt, als er sich keinen persönlichen Vorteil mehr von diesem Eintreten versprechen konnte.

Näher kommt man dem hier vorliegenden Problem, unserer Auffassung nach, wenn man sich verdeutlicht, wie tief Steiners Denken – sowohl in seinen philosophischen Schriften als auch in seinen theosophischen und anthroposophischen Veröffentlichungen – von jener Verbindung des Evolutionsgedankens mit einem ontologischen Monismus geprägt ist, das für die haeckelsche Entwicklungstheorie charakteristisch ist. Sowohl die Philosophie seiner Frühzeit als auch die spätere Anthroposophie sind im Kern monistische Evolutionstheorien. Den Monismus als ontologische Grundposition sah Steiner zeitlebens als wirksames philosophisches Instrument gegen die Vorstellung von unübersteigbaren Erkenntnisgrenzen. Ferner verteidigt Steiner den Monismus Haeckels, weil er der Überzeugung ist, dass nur auf monistischer Grundlage die Freiheit des Menschen konsistent begründet werden kann. Dass Haeckel selbst von seiner Version des Monismus zur Leugnung des freien Willens getrieben wurde (vgl. HG, 30), störte ihn dabei nicht.

Von elementarem Interesse für Steiner ist ferner Haeckels Entwicklungsbegriff und insbesondere das von ihm formulierte Theorem des »biogenetischen Grundgesetzes«, nach dem die individuelle Ontogenese biologischer Organismen eine Rekapitulation der Phylogenese der gesamten Art darstellt. Dieser Gedanke findet sich in vielfachen Umformungen und Neuwendungen bei Steiner und ist ein zentrales systematisches Grundelement seiner Esoterik. Die Art, wie Steiner sich die Entstehung des Kosmos und die Entwicklung des Menschen vorstellte, vor und nach seiner Hinwendung zur Theosophie, ist ohne den Einfluss Haeckels nicht zu verstehen. Zwar waren es auch theosophische Vorstellungen, vor allem die Schriften Alfred Sinnetts und Helena Petrowna Blavatskys, welche Steiners esoterische Ideen über die Evolution der Welt und des Menschen prägten. Aber auch von diesen theosophischen Vorstellungen lässt sich zeigen, wie nachhaltig sie von Haeckel und seinen Ideen über die Evolution der Organismen geprägt waren. In den Bildern, in denen etwa Blavatsky in ihrer Secret Doctrine die Fortpflanzung des Urmenschen beschrieb (erst durch eine Art Sprossung wie bei der Zellteilung, dann ovipar, von eingeschlechtlicher zu zweigeschlechtlicher Zeugung) und die auch Steiner in seine esoterische Kosmogonie aufnahm, spiegeln sich deutlich Haeckels Schilderungen und bildhafte Illustrationen der stammesgeschichtlichen und embryonalen Entwicklung der Lebewesen.

Im Lichte dieser Zusammenhänge erscheinen Deutungen, die das Eintreten Steiners für Haeckel als zeitweiligen Ausflug in den Materialismus oder mit temporären Karriereinteressen erklären, relativ substanzlos. Sachgemäßer erscheint es, dieses Interesse aus der Affinität seines Denkens zu den oben angedeuteten Aspekten haeckelscher Entwicklungstheorie und deren Nutzbarkeit für eine ganzheitliche und umfassende Weltanschauung zu erklären, wie Steiner sie anstrebte – trotz der materialistischen Form, in dem diese Gedanken bei Haeckel auftraten. Goethe und Nietzsche waren philosophische Seelenverwandte Steiners, Haeckel hingegen mehr ein nützlicher Verbündeter. Daher unterscheidet sich seine Haeckel-Schrift im Grad der persönlichen Identifikation deutlich von den beiden vorhergehenden Darstellungen. In der Funktionalisierung Haeckels für die Profilierung der eigenen Weltanschauung hingegen liegt sie auf derselben Linie.

Die zentrale Bedeutung des biogenetischen Grundgesetzes für die esoterische Anthropologie Steiners soll im Folgenden an einem Beispiel erläutert werden, das Steiner in einem Vortrag vom 24. März 1920 entwickelt hat. Um dies nachvollziehen zu können, müssen wir etwas tiefer in die anthroposophische Gedankenwelt Steiners eintauchen. Steiner entwickelt in diesem Vortrag zunächst eine Grundvorstellung der anthroposophischen Anthropologie, die Gliederung der menschlichen Entwicklung in Siebenjahresperioden (›Jahrsiebten‹ in anthroposophischer Terminologie), und erläutert dann, wie die grundlegenden biologischen Umbildungen des menschlichen Organismus – Zahnwechsel um das siebte Jahr, Geschlechtsreife um das vierzehnte usw. – jeweils mit einer fundamentalen Umbildung der seelischen und geistigen Organisation des Menschen einhergingen. Dann deutet er, anlehnend an das biogenetische Grundgesetz, diese Siebenjahresperioden als in der Individualentwicklung zusammengezogene Wiederholungen langer menschheitsgeschichtlicher Entwicklungsepochen. Das erste ›Jahrsiebt‹ etwa, geprägt durch die charakteristische Fähigkeit des Kindes, seine physische Gestalt vom Geistigen und Seelischen her zu formen und zum Wachstum zu bringen, erscheint als Entsprechung einer prähistorischen Entwicklungsepoche, in welcher der Mensch diese plastische Fähigkeit sein ganzes Leben lang gehabt habe. Die im zweiten ›Jahrsiebt‹ auftretende Autoritätsorientierung des jungen Menschen hingegen erscheint als Wiederholung und Zusammenziehung jener Geschichtsepochen, in denen die menschliche Kultur durch den Patriarchalismus geprägt gewesen sei. Der Mensch dieser zweiten Epoche, so Steiner, sei zeitlebens von jenem Bedürfnis instinktiv geprägt gewesen, welches der heutige Mensch nur noch während seines zweiten ›Jahrsiebts‹ als natürlichen Impuls verspüre: nämlich sich an älteren und erfahrenen Menschen als an Vorbildern und Erziehern des eigenen Denkens und Handelns zu orientieren. Auf diese zweite folgt dann in Steiners Modell eine dritte Periode, in welchem die natürliche Autoritätsorientierung einem für die Individualisierung notwendigen Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Kritik weicht. Dieser individualgeschichtlichen Phase würde dann in der Menschheitsgeschichte die gegenwärtige Zeit als dritte Großperiode entsprechen, was Steiner in diesem Kontext allerdings nicht ausdrücklich ausführt.

Deutlich erkennt man in solchen Überlegungen die haeckelsche Grundidee wieder: Die in bestimmten Phasen seiner Entwicklung natürlich auftretenden physischen und seelischen bzw. geistigen Metamorphosen des individuellen Menschen erscheinen in anthroposophischer Betrachtung als konzentrierte Wiederholung großer menschheitsgeschichtlicher Entwicklungsperioden. »Bedenken Sie«, fordert Steiner seine Hörer auf, »wie tief wir durch dieses wahre Gesetz hineinschauen in den inneren Entwicklungsgang der Menschheit« (vgl. GA 73a, 43–48). Die spezifisch anthroposophische Wendung des biogenetischen Grundgesetzes wird aber erst deutlich, wenn der Text noch genauer analysiert wird. Steiner erklärt nämlich, dass der ›Geisteswissenschaftler‹ diese Zusammenhänge nicht dadurch erkenne, dass er einfach historische Erkenntnisse auf die Individualpsychologie überträgt oder umgekehrt. Vielmehr finde er diese Zusammenhänge durch Wahrnehmung gewisser subtiler innerer Erlebnisse, die sich bei genauerer Betrachtung als »rudimentäre Wiederholungen« oder »Spiegelungen« dieser kollektiv- und individualgeschichtlichen Prozesse erwiesen. Ferner erklärt er, dass das Auftauchen dieser seelischen bzw. geistigen »Rudimente« im Individuum nicht der chronologischen Folge ihres Auftretens in der äußeren Entwicklung der Menschheit und des Individuums entspreche, sondern als deren Umkehrung erscheine. Der ›Geistesforscher‹ entdecke, dass die »Spiegelungen« der ältesten Entwicklungsphase erst im fortgeschrittenen Alter des Menschen auftauchen, die Spiegelungen der historisch und individualgeschichtlich folgenden Phasen entsprechend früher. Man habe daher, wenn man anhand dieser »Rudimente« oder »Wiederholungen« die frühesten Epochen der Menschheitsgeschichte erforschen wolle, »statt an den Beginn des Lebens zu sehen, wie es der Naturforscher tun muß, an das Ende des Lebens zu sehen« (GA 73a, 46).

Wir haben es hier also mit einer jener ideellen ›Umstülpungen‹ zu tun, die für das anthroposophische Denken charakteristisch sind. In dieser stellt sich die Ontogenese des Menschen nicht bloß (wie in Haeckels rein biologischer Perspektive) linear als die Wiederholung seiner Phylogenese dar, sondern vielmehr als invertiertes Spiegelbild derselben, und umgekehrt. – Zahlreiche weitere Beispiele solcher Anwendungen und Umformungen der haeckelschen Gedankenfigur in der steinerschen Esoterik könnten leicht beigebracht werden.

 

Persönliche Beziehungen 1892–1900

Steiners Auseinandersetzung mit Haeckel begann früh. Schon als achtzehnjähriger Student unterzog er sich, nach dem Zeugnis seiner Autobiographie Mein Lebensgang, einem »eingehenden Studium« der Generellen Morphologie Haeckels und fand sich dadurch veranlasst, »viel [über die haeckelsche Weltanschauung] zu denken«. In Steiners ersten maßgeblichen Veröffentlichungen, den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung findet Haeckel als Goetheaner und Darwinianer Steiners lobenden Zuspruch und wird als »Geist ersten Ranges« charakterisiert, in dem »die Darwinsche Lehre mit aller ihrer Einseitigkeit ihre konsequenteste Ausgestaltung gefunden« habe (EG, 20). Steiner erwähnt nicht, dass Haeckel mit seiner Ablehnung des Prinzips der natürlichen Selektion eine Zentralidee des darwinschen Denkens ablehnte und somit nur in eingeschränktem Sinn als Darwinianer gelten kann. Haeckel stand mehr in der lamarkschen Tradition, nach der es vor allem Umwelteinflüsse sind, welche zur Veränderung und Differenzierung der Arten führen. Aber solche Feinheiten interessierten Steiner in seiner Schrift nicht; er wollte Haeckel als jemanden präsentieren, der auf der Grundlage des allgemeinen Evolutionsgedankens das schon von Goethe angestrebte, aber nur eingeschränkt verwirklichte Projekt eines universellen Stammbaums der Organismen weitergeführt und zu einem Gesamtbild der organischen Entwicklung vom Urtier bis zum Menschen weitergebildet hatte. Haeckel sollte als der Vollender dessen erscheinen, was in der goetheschen Morphologie begonnen hatte. Aber auch umgekehrt sollte Haeckel durch Goethe vollendet werden. Dies zeigt sich bereits in der Einleitung aus dem Jahr 1884, wo Steiner einerseits Haeckel für die Auffindung dieses fundamentalen Entwicklungsgesetzes lobt, zugleich aber postuliert, dass der Evolutionstheoretiker eine nur unzureichende Erklärung für dieses Gesetz geliefert habe, und dass sich die von ihm beobachteten entwicklungsbiologischen Phänomene besser im Rahmen der idealistischen goetheschen Naturphilosophie (wie er sie verstand) erklären ließen.

Ein erster brieflicher Kontakt kam im Dezember 1892 zustande, als Haeckel Steiner lobende Anerkennung für einen in der Zeitschrift Zukunft erschienenen Artikel aussprach und ihm postwendend zwei seiner eigenen Aufsätze zusandte. Der ersten Kontaktaufnahme folgt eine Zeit, in der Haeckel und Steiner sich wechselseitig von ihrer Arbeit berichten, sich ihre jeweiligen Neupublikationen zusenden und als kongeniale Streiter für eine monistische Weltanschauung gegenseitig bestärken. Die erste persönliche Begegnung fand anlässlich des sechzigsten Geburtstags Haeckels statt, also am 16. Februar 1894 in Weimar.

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bricht der Briefkontakt zeitweilig ab, aber in Steiners Schriften aus dieser Zeit finden sich weiterhin durchweg positive Bemerkungen zu Haeckel. In der Philosophie der Freiheit von 1894 etwa bezeichnet Steiner seinen eigenen ethischen Individualismus als »die Krönung des Gebäudes, das Darwin und Haeckel für die Naturwissenschaft erstrebt haben« (PF, 206). Seine eigene Ethik hingegen sieht er als »vergeistigte Entwicklunglehre, auf das sittliche Leben übertragen« (ebd.).

Der persönliche Kontakt wird wieder aufgenommen, nachdem Steiner Weimar und der Goetheforschung den Rücken gekehrt hatte, nach Berlin umgesiedelt war und dort die Herausgabe der Zeitschrift für Litteratur übernommen hatte. Haeckel wendet sich jetzt an Steiner mit der Bitte, dass seine Veröffentlichungen in dem von Steiner herausgegebenen Organ angezeigt und besprochen werden. Steiner kommt dieser Bitte nach und insbesondere die Welträtsel (vgl. GA 30, 391–403 u. 441–451) werden in der Zeitschrift ausführlich besprochen; die Kunstformen in der Natur zumindest angezeigt (ebd., 571 f.). In einem Brief vom 10. Juli 1899 kündigt Steiner dem Naturforscher seine Verteidigungsschrift Haeckel und seine Gegner an, die er ihm nach dem Erscheinen auch persönlich zusendet. Am 10. Februar 1900 schickt Steiner die ersten Bogen seines Buches Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert und bittet Haeckel, ihm diese Schrift widmet zu dürfen, was dieser ihm gern gestattet und sich dabei positiv über Steiners Buch äußert. Der letzte Brief zwischen beiden datiert vom 4. Juli 1900, danach scheint der persönliche Kontakt abgerissen zu sein.

Nach einer in der Literatur weit verbreiteten Anekdote soll Haeckel sich von Steiner nach dessen Hinwendung zur Theosophischen Gesellschaft abgewandt haben mit der abschätzigen Bemerkung, dass dieser inzwischen »Theosoph geworden« sei. Wolfgang Vögele hat jedoch jüngst nachgewiesen, dass diese Äußerung nicht von Haeckel selbst stammt, sondern wahrscheinlich als Erfindung des Haeckel-Schülers Heinrich Schmidt anzusehen ist. Vögele weist ferner darauf hin, dass Haeckel Steiner noch 1903 ein Widmungsexemplar seiner Welträtsel zugeschickt hat. Die Geschichte von einer Abkehr Haeckels von Steiner aufgrund seiner Hinwendung zur Theosophie darf damit wohl ins Reich der zahlreichen Steiner-Legenden verwiesen werden. Zutreffend ist, dass der persönliche Kontakt abriss, was aber Steiner nicht daran hinderte, weiterhin in Aufsätzen und Vorträgen für Haeckel einzutreten – auch nach seiner Hinwendung zur Theosophie, allerdings jetzt mit neuen Argumenten. Der Theosoph Steiner pries Haeckels Entwicklungstheorie vor allem als ein Propädeutikum jenes esoterischen Denkens, das er jetzt vor der Öffentlichkeit vertrat. »Die Haeckelschen Forschungsergebnisse bilden«, so Steiner in einem Vortrag vom Oktober 1905 vor theosophischem Publikum in Berlin, »sozusagen das erste Kapitel der Theosophie oder Geisteswissenschaft« (Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie, vgl. GA 34, 231). Dass solche Aussagen nicht propagandistisch motiviert waren, sondern tatsächlich Steiners tiefe persönliche Überzeugung zum Ausdruck brachten, wird in einer privaten Notiz an Eduard Schuré vom 9. September 1907 deutlich:

Nun ist trotz aller deutschen Philosophie, trotz aller übrigen deutschen Bildung Haeckels phylogenetischer Gedanke die bedeutendste Tat des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Und es gibt keine bessere wissenschaftliche Grundlegung des Okkultismus als Haeckels Lehre. (GA 262, 20)

Steiners private Mitteilung an Schuré enthält allerdings auch deutlich kritische Töne, die man in seinen öffentlichen Verlautbarungen über Haeckel vermisst. Besonders Haeckels gedanklich-philosophische Fähigkeiten, die er öffentlich stets gepriesen hatte, werden in diesen privaten Äußerungen in Zweifel gezogen:

Hätte Haeckel jemals Philosophie auch nur ein wenig studiert, in der er nicht bloß Dilettant, sondern ein Kind ist: er hätte ganz sicher aus seinen epochemachenden phylogenetischen Studien die höchsten spiritualistischen Schlüsse gezogen. […] Haeckels Lehre ist groß, und Haeckel der schlechteste Kommentator dieser Lehre. Nicht indem man den Zeitgenossen die Schwächen Haeckels zeigt, nützt man der Kultur, sondern indem man ihnen die Größe von Haeckels phylogenetischen Gedanken darlegt. Das tat ich nun in den zwei Bänden meiner: ›Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert‹, die auch Haeckel gewidmet sind, und in meiner kleinen Schrift: ›Haeckel und seine Gegner‹. (ebd.)

Hatte der Steiner der Jahrhundertwende an Haeckel vor allem dessen Eintreten für eine monistische Wissenschaftstheorie, sein Eintreten für Goethe und seine Infragestellung des epistemologischen »Ignorabimus« geschätzt, so sah der Theosoph Steiner es als seine Aufgabe an, die positiven Aspekte, ja den seiner Meinung nach revolutionären Impetus der haeckelschen Entwicklungtheorie herauszustreichen, diese aber zugleich von den Irrtümern und der mangelhaften Darstellungsweise ihres Schöpfers zu befreien. Deren materialistische Ausprägung und ihre bloße Anwendung auf sinnlich-wahrnehmbare Gegenstände galt es seiner Meinung nach zu überwinden. Statt der Anwendung des Entwicklungsgedankens auf bloß natürliche Gestaltungen sollte er auch auf seelische und geistige Phänomene bezogen werden und somit in Anthroposophie einmünden.

Steiners Esoterik kann somit als Versuch einer systematischen Umsetzung dieses Projekts einer Verbindung von Idealismus und Evolutionstheorie verstanden werden. Die beiden »Marksteine« des 19. Jahrhunderts, von denen Steiner in seinen Welt- und Lebensanschauungen sprach, die ein Jahrhundert zurückliegende Philosophie des Deutschen Idealismus und die naturwissenschaftliche und philosophische Avantgarde seiner Zeit, schlossen sich in seinem Denken in ähnlicher Weise zu einer Einheit zusammen, wie ein gutes Jahrhundert zuvor in der Naturphilosophie Schellings. Und Haeckel lieferte – teilweise direkt, teilweise vermittelt durch Blavatskys Geheimlehre – das gedankliche Material, das Steiner eine solche Synthese möglich machte.

 

›Weltanschauung‹ als Erkenntnisorgan

Neben den oben erwähnten Affinitäten Steiners zu Goethe, Nietzsche und Haeckel ist noch ein weiterer Aspekt hervorzuheben, welcher ihn zeitlebens an allen drei Denkern faszinierte. Dieser Aspekt haftet sich an den Begriff der ›Weltanschauung‹, den Steiner in unseren Texten so auffällig oft verwendet, den er in den Titel seiner Goethe-Schrift aufnahm und der zum systematischen Zentralbegriff seiner letzten vortheosophischen Schrift wurde, den Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert. Mit diesem Begriff verband er zum einen den »denkerischen Mut«, nicht bei den einzelnen in einer bestimmten Fachdisziplin gemachten Einzeleinsichten stehen zu bleiben, sondern aus diesen ein umfassendes, holistisch-synthetisches Bild der Wirklichkeit zu entwickeln, welches den engen Kreis rein fachlich-naturwissenschaftlicher Betrachtung transzendiert und auch auf geistig-moralische und kulturelle Fragen Antworten zu geben wagt – und zwar nötigenfalls auch, wo Einzelheiten fehlen, mittels schöpferischer Phantasie und Einbildungskraft.

Schon in der Nietzsche-Schrift taucht dieser Aspekt auf, indem Steiner Haeckel vor allem dafür preist, dass er ein »phantasievoller Naturforscher« sei, der sich nicht davor gescheut habe, »aus den Ergebnissen einzelner Beobachtungen ein Gesamtbild der Entwickelung des organischen Lebens auf der Erde« zu entwerfen (FN, 57). Das Motiv wird im Januar 1899 weitergeführt in einem Leitartikel in der Zeitschrift für Litteratur, unter dem Titel Neujahrbetrachtungen eines Ketzers. In diesem Artikel, der als keimhaft-programmatisches Vorspiel zu seinen Welt- und Lebensanschauungen gelesen werden kann, klagt Steiner, dass der »tiefer blickende Mensch« im Rückblick auf das neunzehnte Jahrhundert, trotz aller kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, insgesamt »nicht recht froh« sein könne über den »Bildungsinhalt der Zeit«. Denn dieser könne, trotz allem Fortschritt im Einzelnen, die »tieferen geistigen Bedürfnisse des Menschen« nicht wirklich befriedigen:

Man vergegenwärtige sich, wie vor hundert Jahren Fichte die Geister entzündete, als er die Gesamtheit der Zeitbildung mit den innersten Bedürfnissen des menschlichen Geistes in Einklang zu bringen suchte. In der gleichen Richtung haben Schelling und Hegel das Wissen von den äußeren Dingen vertieft. Und wie wurden die Stimmen dieser Geister gehört! Um die Mitte des Jahrhunderts tritt ein völliger Wandel ein. Die so zahllos auf den Menschen einstürmenden Erkenntnisse von den äußeren Dingen scheinen die Fähigkeit vollständig in den Hintergrund zu drängen, Einblick zu halten in die eigene Seele und eine Harmonie zu suchen zwischen Außenwelt und Innen­welt. (GA 30, 380)

Steiner diagnostiziert einen existentiellen »Drang der menschlichen Seele nach Eingliederung alles Wissens in eine Gesamtanschauung, aus der die höchsten geistigen Bedürfnisse befriedigt werden können« und setzt diesem eine in der Gegenwart grassierende »Mutlosigkeit unseres Denkens« gegenüber, welche die wissenschaftlich gebildeten Zeitgenossen davon abhalte, zu einer solchen »Gesamtanschauung« der Wirklichkeit zu kommen. Anders Haeckel: Dieser habe den unerschütterlichen Glauben gehabt, »daß das Denken dazu berufen ist, die Welträtsel zu lösen« und daher eine Neigung entwickelt, »das vorhandene Wissen so zu durchdringen«, dass sich eine solche »Lösung« der Welträtsel, ein »Sinn« des Ganzen ergebe.

Neben dem Mut zur Ganzheitlichkeit, zur Interdisziplinarität, zur Einbeziehung der Phantasie und zur Subjektivität verband Steiner mit dem Begriff ›Weltanschauung‹ aber noch eine andere Vorstellung, und zwar die eines lebendigen Begriffs-Organismus, der als solcher nicht bloß einzelne Gedanken zu einem systematischen Ganzen vereint, sondern der vielmehr selbst als neues und höheres Sinnesorgan für geistige Zusammenhänge fungiert. Eine so verstandene Weltanschauung, die nicht bloß ein System von Begriffen ist, welches Wirklichkeit abzubilden versucht, sondern intim-persönlicher Ausdruck der geistigen Individualität ihres Schöpfers, ist nach Steiner selbst etwas Wirkliches und Lebendiges und kann somit als Wahrnehmungsorgan für Wirklichkeitsprozesse dienen, die sich der sinnlichen Beobachtung entziehen. So wie sich nach Darwin und Haeckel das Sehen das Auge schafft, um ein Organ zu haben, so schafft sich nach Steiner das Denken eine Weltanschauung, um durch dieses ›geistige Organ‹ dann geistige Prozesse ebenso zu beobachten und zum Gegenstand einer Geisteswissenschaft machen zu können, wie die sinnlichen Phänomene Gegenstand und Grundlage der Naturwissenschaft sind.

Steiners Verständnis der ›Weltanschauung‹ als eines Organs geistiger Wahrnehmung macht somit noch einmal von einer ganz anderen Seite verständlich, warum er davon ausging, dass die Projektion der eigenen Gedankenwelt in die Weltanschauung eines anderen Denkers zu gültigen verallgemeinerbaren Erkenntnissen führen kann. Denn wie im gewöhnlichen Sehprozess niemals eine abstrakte Sehtätigkeit am Werk ist, sondern immer ein individueller sehender Mensch, so ist auch bei solchem ›Eintauchen‹ in eine als ›geistiges Organ‹ dienende Weltanschauung nach Steiner niemals eine abstrakt-unpersönliche Vernunft am Werk, sondern immer ein durch die Persönlichkeit des Biographen individualisiertes Denken. Das seinem Wesen nach überindividuelle Denken (die ›Idee‹, der ›Geist‹) erscheint, so Steiner, als tatsächliches, wirkliches Denken nur in Form individualisierter, subjektiv gefärbter Denkakte. Je reicher und individualisierter aber die innere Gefühls- und Gedankenwelt desjenigen ist, der auf solche Weise durch die Ideenwelt eines anderen die Welt anschaut, desto mehr wird er, im Medium der Weltanschauung eines anderen, tatsächlich sehen können.

Das Bild von der Weltanschauung als Organ taucht auch im 1918 hinzugefügten Nachwort zu Goethes Weltanschauung auf. Steiner wendet diese Vorstellung hier auf seine eigene Entwicklung als Denker an und beschreibt, wie ihm die goetheschen Naturideen zu einem ›Organ‹ wurden, in das er sich auf seine individuelle Weise hineinzuleben suchte, um es sich und anderen verständlich zu machen – und das sich ihm dabei unter der Hand in etwas anderes, nämlich in die Anthroposophie, verwandelte:

Ich selber sehe in der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, die ich in meinen Schriften seit 16 Jahren zur Darstellung bringe, diejenige Erkenntnisart für den dem Menschen zugänglichen geistigen Weltgehalt, zu welcher derjenige kommen muß, der die Goetheschen Naturideen als etwas ihm Gemäßes in seiner Seele belebt hat und von da ausgehend zu Erkenntniserlebnissen über das Geistgebiet der Welt strebt (GW, 167).

In diesem Sinne erklärte Steiner dann auch als Esoteriker, dass die von ihm ausgebildete Anthroposophie nur in diesem Sinn sachgemäß zu verstehen und anzuwenden sei: nicht als ein System von Wahrheiten, sondern als ein ›Organ‹, mit dessen Hilfe man die Welt in einer bestimmten Weise anschauen kann, um dann mit den aus dieser erneuten und bereicherten Perspektive gemachten Erfahrungen so umzugehen, wie es einem freien und individualisierten Menschen zukommt – und wie er selbst es in seinem Umgang mit Nietzsche, Goethe, Haeckel und anderen Denkern, ja in seiner ganzen Haltung gegenüber der Wirklichkeit vorgemacht hat, nämlich als »Herr der Ideen«, der seine persönlichsten inneren Erlebnisse (sowie das daraus erfließende Handeln) als jenes Organ versteht, durch das die Welt sich nicht nur selbst erkennt, sondern sich auch ihre eigene Zukunftsgestalt erschafft.

Dass Rudolf Steiner, trotz solch emphatischer Ideen über die Bedeutung des unabhängigen, an keiner Tradition oder Autorität hängenden Individuums auf der einen Seite, auf der anderen den treuherzigen ›Glauben‹ an seine Person und seine Weltanschauung als so problematisch denn doch nicht immer empfand, dass er als Esoteriker und spirituelle Führergestalt die ihm von der theosophischen und dann von der anthroposophischen Gesellschaft aufgedrängte Rolle eines ›Guru‹ und ›Propheten‹ irgendwann auch annahm und sich entsprechend gebärdete, muss an dieser Stelle freilich ebenfalls vermerkt werden. Auch wird, aus der Erfahrung der Moderne heraus, an sein Denken die Frage zu stellen sein, ob nicht jeder von Identität ausgehende und auf Totalität abzielende Erkenntnis-Begriff, mag er sich noch so individualistisch und freiheitlich geben, als solcher notwendig in sein Gegenteil umschlagen und ideelle Herrschaftsstrukturen hervorbringen muss, die dann notwendig auch reelle Abhängigkeiten erzeugen. Dass Steiner, als der dialektisch geschulte Denker, der er war, über die Gefahren und Schattenseiten seiner Konzeptionen von Individualität, Identität und Totalität nicht ebenso nachhaltig reflektiert hat wie über die darin liegenden Chancen und Möglichkeiten, ist aus heutiger Perspektive ‒ bei aller Anerkennung für seine denkerische Leistung und für die kulturelle Innovationskraft seiner Ideen und Initiativen ‒ bedauerlich und ein zentraler Problempunkt seines Werkes und seiner Wirkung.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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