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Vorwort

 

Von Jost Schieren

SKA 1 (2022), VII-XIV

Werk und Person Rudolf Steiners sind bis heute, beinahe hundert Jahre nach seinem Tod, umstritten. Die spirituell-esoterische Weltsicht seiner Anthroposophie erscheint vielen Zeitgenossen mit einer empirischen Naturwissenschaft unvereinbar und die von ihm selbst beanspruchte Wissenschaftlichkeit seines Werkes wird weithin als illegitim zurückgewiesen. Eines der wenigen Verdienste, das Rudolf Steiner in der gesellschaftlich-akademischen Öffentlichkeit zuerkannt wird, besteht darin, dass er als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften neben dem großen Dichter auch den Naturwissenschaftler Goethe sichtbar und einer weiteren Erschließung zugänglich gemacht hat. Obgleich seine editorische Praxis ihrerseits kritikanfällig (auch in der Selbsteinschätzung) und auch seine Goethe-Deutung sicherlich nicht unumstritten ist, so findet sich zweifelsohne in Steiners Goethe-Bezug eine zentrale Quelle zum Verständnis seiner Werkbiographie. Denn Goethe bildete nicht nur den (wissenschaftlichen) Ausgangspunkt für Steiners philosophisches Frühwerk (1882–1900), sondern sein künstlerisches und wissenschaftliches Schaffen war auch sowohl in Steiners theosophischer (1900–1914) als auch in seiner anthroposophischen Phase (1914–1925) in unterschiedlichen Akzentsetzungen der durchgängige Bezugspunkt für sein Wirken. Hiervon zeugen zum einen die monumentalen sogenannten Goetheanum-Bauten (Erstes und Zweites Goetheanum), die als Wirkens- und Versammlungsort der Anthroposophischen Gesellschaft und zudem als Aufführungsstätten für die Faustfestspiele dienten und dienen. Zum anderen leitet sich auch Steiners Kunstauffassung von seiner Interpretation der goetheschen Ästhetik ab, indem er Schönheit als ideelles Erscheinen des Sinnlichen und nicht als sinnliches Erscheinen eines Ideellen begreift. Letzteres entspricht nach Steiners Lesart eher einem idealistischen Kunstkonzept beispielsweise bei Hegel oder Schelling.

Steiner hat auf Basis dieses von Goethe inspirierten Kunstbegriffs als sozusagen Spätberufener (mit über 50 Jahren) in den Jahren 1912‒1918 eine intensive Kunsttätigkeit in den Bereichen Malerei, plastische Kunst, Literatur, Architektur, Sprache und Eurythmie entweder selbst vollzogen oder aber angeregt. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hat er begonnen, die Ideen seiner Anthroposophie in unterschiedlichen praktischen Wirkens- und Lebensfeldern zu erproben und umzusetzen. Daraus sind die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die Waldorfpädagogik und die anthroposophisch orientierte Medizin hervorgegangen, die bis heute gesellschaftlich wohl die populärsten und durchaus als erfolgreich geltenden Erscheinungsformen der Anthroposophie sind. Auch dieser für eine spirituell orientierte Weltsicht ungewöhnliche Schritt in die konkrete Lebenswirklichkeit kann als Konsequenz von Steiners Goethe-Orientierung verstanden werden. Denn Steiners Wertschätzung von Goethes Schaffensimpuls hängt mit dessen intensiver Verbindung mit der sinnlichen Erscheinungswelt zusammen.

 

Sinnliche Erscheinungswelt

Goethe hatte von Kindheit an eine religiös-pantheistisch anmutende Beziehung zur Natur. Mit Beginn der Weimarer Zeit 1775, insbesondere nach der ersten Harzreise im November 1777 hat Goethe regelmäßige Naturstudien betrieben. Einen entscheidenden Durchbruch vollzog er mit der Italien-Reise 1786‒1788. Die Vegetation des mediterranen Klimas regte ihn zu umfassenden Pflanzenbeobachtungen namentlich in den botanischen Gärten in Padua und Palermo an. Eine auf sinnlicher Anschauung basierte verstehende und begriffliche Durchdringung der Erscheinungswelt erschien für Goethe in Italien leichter möglich. In sein Reisetagebuch schreibt er schon zu Beginn der Reise: »Wie glücklich mich meine Art, die Welt anzusehen, macht ist unsäglich und was ich täglich lerne! und wie doch mir fast keine Existenz ein Räthsel ist. Es spricht eben alles zu mir und zeigt sich mir an.« Und an Herder schreibt er wenig später: »Meine Übung, alle Dinge wie sie sind zu sehen und zu lesen, meine Treue, das Auge Licht seyn zu lassen, meine völlige Entäusserung von aller Prätention, machen mich hier höchst im Stillen glücklich.«

Diese als unmittelbar erfahrene verstehende Durchdringung der sinnlichen Erscheinungswelt kennzeichnet Goethes wissenschaftliches Bestreben. Er grenzt sich damit von der Philosophie des deutschen Idealismus und auch insbesondere von Immanuel Kant ab. Als Schiller ihm in dem berühmten ersten Gespräch am 20. Juli 1794 auf Goethes Darlegungen zur Urpflanze (entsprechend Goethes Aufzeichnungen) entgegnet: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee«, erwidert Goethe: »Das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.« Goethe kritisierte eine rein ideen- und theoriebezogene Naturwissenschaft. Die rationale Vernunftorientierung der Aufklärung empfand er als einseitig und in der Konsequenz zu subjektorientiert. Die sogenannte kopernikanische Wende Immanuel Kants, die besagt, dass nicht das Subjekt in seinem Erkenntnisbemühen sich an den Objekten orientiert, sondern die Objekte sich den Auffassungsformen des Subjektes einfügen, erschien Goethe als Absonderung von der Natur. Über den zur Zeit ihrer ersten Begegnung an Kant orientierten Schiller schrieb Goethe:

Die Kantische Philosophie, welche das Subject so hoch erhebt, indem sie es einzuengen scheint, hatte er mit Freuden in sich aufgenommen, sie entwickelte das Außerordentliche was die Natur in sein Wesen gelegt, und er, im höchsten Gefühl der Freiheit und Selbstbestimmung, war undankbar gegen die große Mutter, die ihn gewiß nicht stiefmütterlich behandelte. (WA II/11, 15)

Der Subjektgewinn einer ideen- und vernunftorientierten Philosophie führt zum Objektverlust. Die Natur, wie Goethe sie suchte, ist dem Zugriff dieser Philosophie entzogen. Kant schreibt entsprechend in der Kritik der reinen Vernunft:

Denn Gesetze existieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen so fern es Sinne hat. Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt. (AA III, 127)

Der Zusammenhang der Dinge, die ›Gesetze der Verknüpfung‹ werden demnach den Dingen allein vom Subjekt vorgeschrieben. Ihr immanenter Zusammenhang (›Ding an sich‹) bleibt prinzipiell ›unerkannt‹. Goethes Erkenntnisanliegen, wie er es auch im Faust zum Ausdruck bringt: »[…] daß ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält«, bleibt gegenüber einer solchen Erkenntnisbegrenzung unbefriedigt. Allerdings begibt sich Goethe mit dieser Auffassung nicht in einen absoluten Gegensatz zur kantischen Philosophie. Er anerkennt die Bedeutung Kants zweifelsohne. Es heißt bei ihm:

Kants System ist nicht umgestoßen. Dieses System oder vielmehr diese Methode besteht darin, Subjekt und Objekt zu unterscheiden; das Ich, das von einer beurteilten Sache urteilt mit dieser Überlegung, das bin doch immer ich der urteilt. (GG II, 402)

Die kantische Philosophie hat den naiven Realismus überwunden, der davon ausgeht, es existiere eine Wirklichkeit außerhalb des menschlichen Bewusstseins, die davon unabhängig ist und sich im menschlichen Erkennen einfachhin abbildet. Kant hat auf die Beteiligung des Subjektes beim Zustandekommen von Erkenntnis aufmerksam gemacht. Dies sieht auch Goethe so:

Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn; [...] sie kommt aber nie zum Objekt, dieses müssen wir so gut, wie der gemeine Menschenverstand zugeben, um am unwandelbaren Verhältnis zu ihm die Freude des Lebens zu genießen. (WA IV/48, 82)

Goethes Einschätzung der kantischen Philosophie, dass sie nicht zum Objekt komme, entspricht der Selbsteinschätzung Kants, dass das ›Ding an sich‹ unerkannt bleibe. Während Kant diese Begrenztheit des menschlichen Erkennens akzeptiert und verteidigt, gibt Goethe sich nicht mit ihr zufrieden. Seine Methode der anschauenden Urteilskraft soll ihm einen Weg bahnen, den Zusammenhang der Dinge in den Dingen selbst anschaulich erfahrbar zu machen. Dabei geht es ihm nicht um eine absolute Letzterkenntnis, wie sie der idealistischen Philosophie Schellings und Hegels zu eigen ist. Goethe setzt der prinzipiellen Unerkennbarkeit der Natur nicht eine absolute Erkenntnisform gegenüber, sondern bleibt sich in einem modernen Sinne der Prozessualität, Temporalität, Partialität, Selektivität und Konstruktivität eines jeden einzelnen Erkenntnisaktes bewusst. Deshalb spricht er von dem Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt. Denn wenn der Erkenntnisvorgang einen experimentellen Charakter hat, so ist er notwendig ergebnisoffen und die prinzipielle Erkennbarkeit bzw. Unerkennbarkeit des Objektes bleibt unentschieden. In diesem relativierenden Erkenntnishabitus zeigt sich Goethe als Wissenschaftler der Moderne und nicht als ein religiöse Sehnsüchte bedienender Mystiker, als der er oft apostrophiert wird. Ein entscheidender Schritt Goethes besteht darin, dass er die raum-zeitliche Statik des menschlichen Erkennens, an die jeder Erkenntnisakt gebunden ist, und auf die auch Kant aufmerksam gemacht hat, erkenntnisdynamisch zu überwinden trachtet. Denn faktisch ist jeder menschliche Erkenntnisakt an das Hier und Jetzt gebunden und ist damit gegenüber dem Raum-Zeit-Kontinuum der Objekte immer selektiv, partial und temporär.

In Italien hat Goethe dann am Beispiel der südlichen Vegetation die bis dahin der nördlicheren Klimazone geschuldete jahreszeitliche Sukzession simultan erfahren können. Dies ist für ihn der Schlüssel, die Statik des eigenen Erkenntnisvermögens zu dynamisieren und zu prozessualisieren, und dieses sukzessive den lebendigen Prozessen der Pflanzenwelt anzupassen. Die methodischen Schritte hierfür bestehen in der fortwährenden vergleichenden Beobachtung, der Wiederholung und insbesondere der Reihenbildung. Goethes Erkenntnishoffnung ist darauf gerichtet, den eigenen Erkenntnisprozess dem Naturprozess schrittweise anzuverwandeln: »[...], daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten.« Es geht Goethe demnach um eine Selbstqualifizierung des Subjektes an den Objekten, um eine Synchronisierung und Synthese von Erkenntnisprozess und Naturprozess im Sinne einer Fähigkeitenbildung des anschauenden Erkennens. Dieser Ansatz interessierte Rudolf Steiner.

 

Erfahrung als Prinzip der Wissenschaft

Rudolf Steiner hat anhand von Goethe seine eigene Erkenntnistheorie entwickelt. Die Verpflichtung als Herausgeber für Goethes naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Nationalliteratur und später in der Weimarer Ausgabe, die ihm durch seinen Professor an der Technischen Universität in Wien und Mentor Karl-Julius Schröer vermittelt worden ist, nahm er nicht im Sinne einer bibliographisch kritisch-akkuraten und detailorientierten editorischen Praxis war, sondern ihm ging es mehr darum, den Erkenntnishabitus von Goethe, dessen Weltsicht und Ideenbildung nachzuvollziehen und sichtbar zu machen. Auch schrieb er den konkreten wissenschaftlichen Leistungen Goethes keine große Bedeutung zu. Zwar gilt Goethe bis heute »als Vorläufer der Wissenschaft vom Lebendigen und als Mitbegründer der vergleichenden Morphologie«, aber auch dies hat eher eine wissenschaftshistorische und allenfalls biologie-didaktische Relevanz. Bedeutsamer als die Ergebnisse von Goethes wissenschaftlicher Praxis ist für Steiner seine angewandte Methode. So schreibt er in einem Brief an Friedrich Theodor Vischer entsprechend,

dass ich in erster Linie einen Beitrag zur Erkenntnistheorie und keinesfalls einen solchen zur Goetheforschung habe geben wollen. Von Goethes Weltanschauung waren für mich nicht dessen positive Aufstellungen maßgebend, sondern die Tendenz seiner Weltbetrachtungsweise. (GA 38, 141)

Diese ›Weltbetrachtungsweise‹ Goethes zeichnet sich dadurch aus, dass er es vermeidet, begrifflich-ideelle Zusammenhänge in die Einzeltatsachen der Erfahrung hineinzulegen, auch nicht, indem er auf Basis vorgefasster Theorien die Einzelerfahrungen selektiv auswertet, um diese Theorien dann von Seiten der Erfahrung zu belegen. Goethe versucht sich der Erfahrungsseite unmittelbar zuzuwenden, er behandelt Ideen und Begriffe im kantischen Sinne ›kritisch‹ und ist bemüht, dass jeweilige Erfahrungsfeld so umfassend wie möglich zu durchschreiten. Steiner schreibt:

Nichts lag Goethe ferner, als in bewußter Weise von allgemeinen Begriffen auszugehen. Er geht immer von konkreten Thatsachen aus, vergleicht sie, ordnet sie. Darüber geht ihm die Ideen-Grundlage auf. [...] In der Tatsache, der wir beobachtend gegenübertreten, steckt schon das Wahre, die Idee. (EG, 97)

Dieser erfahrungsorientierte Ansatz Goethes faszinierte Steiner, da er darin das Signum eines modernen naturwissenschaftlichen Bewusstseins erblickte. Der Erkenntnisvorgang im Sinne Goethes ist aber weder einseitig empirisch noch einseitig idealistisch, er hält die Balance zwischen einem ideenlosen Empirismus und einem erfahrungsabstinenten Idealismus. Auf dieser Basis kann sich das Subjekt im Sinne einer kontinuierlichen Selbstqualifizierung unmittelbar mit der Erfahrungswelt verbinden.

In seiner Schrift Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung entwickelt Steiner entsprechend ein erfahrungsorientiertes Erkenntniskonzept. Er geht in seinem weiteren philosophisch-anthroposophischen Werdegang über die Orientierung Goethes an der sinnlichen Erscheinungswelt hinaus und wendet das anhand Goethes entwickelte Erfahrungsprinzip auch auf Bewusstseinsvorgänge an. Dieser philosophische Schritt, den er im Titel seiner Hauptschrift Die Philosophie der Freiheit als »seelische Beobachtung« bezeichnet, führt zu einer Beobachtung und Erfahrung des eigenen Denkvorgangs und damit zu einer in Steiners Sinne unmittelbaren Geistgewissheit. Der esoterisch-spirituelle Weg Rudolf Steiners von 1900 an beruht dann ebenfalls darauf, dass im Sinne einer Selbstqualifizierung des Subjektes weitere Erfahrungsräume auch spiritueller Art erschlossen werden können. Steiner wendet demnach die goethesche Methode des anschauenden Erkennens nach innen, um Bewusstseinsvorgänge phänomenologisch zu erschließen.

Das Merkmal einer solchen selbstqualifizierenden Erfahrungsorientierung besteht darin, dass das Subjekt seine statischen Grenzen nach und nach überschreiten kann. Es tritt aus sich heraus und verbindet sich in Goethes Sinne mit der natürlichen Welt und, in der Fortführung des Gedankenganges Rudolf Steiners, auch mit der geistigen Welt. Steiner hat in diesem Sinne einen entwicklungsdynamischen und transformatorischen Erkenntnisbegriff von Goethe abgeleitet, der den statischen cartesianischen Dualismus von Objekt und Subjekt, der bis heute das naturwissenschaftlich-technizistische Weltbild prägt, überwinden soll.

Darin kann bezogen auf die hier vorliegende Veröffentlichung des ersten Bandes der SKA neben dem werkbiographischen Wert einer historischen Steiner-Forschung auch der systematische und aktuelle Wert des erkenntnistheoretischen Ansatzes von Steiners Goethe-Interpretation gesehen werden. Das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart hat in den Technikfolgen einen vermutlich irreparablen ökologischen Schaden menschheitsgeschichtlich einmaligen Ausmaßes gezeitigt. Das moderne Bewusstsein hat die Beziehung zur natürlichen Um- und Mitwelt verloren. Die Natur dient lediglich als Ressource, um einen maximal materiell gesicherten Lebensstandard zu gewährleisten. Goethes Wort, dass wir im »Gefühl der Freiheit und Selbstbestimmung […] undankbar […] gegen die große Mutter« Natur geworden seien, hat rückblickend einen prophetischen Charakter. Vor diesem Hintergrund muss sich das naturwissenschaftliche Erkennen bei allen Einzelerfolgen die Kritik und Frage nach seiner ethischen Berechtigung gefallen lassen. Georg Picht stellt in diesem Sinne heraus:

Die Menschheit ist heute in Gefahr, durch ihre Wissenschaft von der Natur den Bereich der Natur, in dem sie lebt und der ihrem Zugriff ausgesetzt ist, zu zerstören. Eine Erkenntnis, die sich dadurch bezeugt, daß sie das, was erkannt werden soll, vernichtet, kann nicht wahr sein. Deswegen sind wir heute gezwungen, die Wahrheit unserer Naturerkenntnis in Frage zu stellen. (Picht [1993], 80)

Mit Blick auf diese Herausforderung einer kritischen Revision des gegenwärtigen reduktionistischen Wissenschaftsbegriffs gewinnt die steinersche Goethe-Deutung an Aktualität. Sie hinterfragt die Allmacht des in der Aufklärung generierten vernünftigen Subjektes, das die Verbindung zu der natürlichen Welt verloren zu haben scheint. Eine solche Aufklärungskritik ist sicherlich nicht neu, sie taucht in der postmodernen Philosophie von Michel Foucault auf und wurde zuletzt von Hartmut Rosa deutlich formuliert:

[…], dass in der dominanten naturalistisch-rationalistischen Selbstinterpretation der Moderne das Subjekt allmählich zu einem nur noch punktförmigen Selbst schrumpfe. Alle Beziehungen und sogar alle Qualitäten werden ihm äußerlich; es distanziert sich von seinen Bedürfnissen, körperlichen Qualitäten und temporären Überzeugungen ebenso wie von seinen Gemeinschaftsbeziehungen und Handlungsvollzügen. Sie alle haben keine konstitutive, sondern nur noch instrumentelle Bedeutung für das naturalistisch geprägte Subjekt. (Rosa [2016]), 63.

Rosa versucht, das Subjekt nicht in Distanz und in der Gegenüberstellung zum Objekt, sondern in der Beziehung (Resonanz) zu begreifen. Einem solchen Erkenntnisanliegen erscheint der goethesch-steinersche Ansatz ebenfalls verpflichtet, indem Naturerkenntnis nicht zum Instrument technizistischer Machtverfügung verwendet wird, sondern zur Erfahrung einer sich fortschreitenden partizipativen Näherung an den Naturprozess qualifiziert. Dies führt in der Konsequenz zu einer dringend nötigen neuen ökologischen Ethik, die Mensch und Natur ganzheitlich umfasst. Dies ist ein wertvoller Bildungsaspekt von Goethes und Steiners Erkenntnisimpuls, der mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart künftig hoffentlich mehr Beachtung und Wertschätzung finden wird.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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