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Vorwort

 

Was sind und zu welchem Ende erschafft man Weltbilder? Zu Rudolf Steiners Morphologie des philosophischen Bewusstseins

 

Von Christian Clement

SKA 4.1 (2020), VII-XXVII

Wer den Gedanken der Umbildung nicht nur der sinnlich-anschaulichen Formen ‒ bei der Goethe in Gemäßheit seines besonderen Seelencharakters stehen geblieben ist ‒, sondern auch des seelisch und geistig Erfaßbaren sich zugänglich macht, der ist bei der Anthroposophie angelangt.

 

Dass der Mensch ein Wissen von der Welt und von sich selbst notwendig mittels jener Bilder erlangt, die er sich von diesen Gegenständen macht, ist eine philosophische Binsenweisheit, die so alt ist wie die Philosophie selbst. Sie gilt, nach dem bekannten Diktum Arthur Schopenhauers, »in Beziehung auf jedes lebende Wesen […]; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewusstsein bringen kann: und thut er dies wirklich, so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten.« Ebenso fraglos ist unter Philosophen, dass dieses bilderzeugende Vermögen im Laufe der Menschheitsgeschichte die verschiedensten Arten von Weltbildern hervorgebracht hat und dass es die Aufgabe der Philosophiegeschichte ist, die Entwicklung dieser vielfachen Bilder darzustellen und zu verstehen.

Weniger konsensfähig ist in der philosophischen Debatte die Frage, ob, ebenso wie die verschiedenen historisch entstandenen Weltbilder, auch das weltbilderzeugende Vermögen selbst eine Entwicklung durchlaufen habe. Denn wenn dies der Fall wäre, dann hätte man als Philosophiehistoriker neben der eigentlichen Geschichte der Produktionen des philosophischen Bewusstseins auch und besonders die Geschichte bzw. die Evolution dieses sich entwickelnden Bewusstseins in den Blick zu nehmen.

Mit solchen Vorüberlegungen gelangen wir ins thematische Zentrum der in diesem Band zum ersten Mal kritisch herausgegebenen Schriften Rudolf Steiners zur Geschichte der Philosophie. Sie markieren die scharfe Differenz zwischen der von Steiner vertretenen evolutiven Auffassung der Philosophiegeschichte und anderen bloß historischen Ansätzen. Aus Schopenhauers Perspektive etwa wäre dessen Analyse des Erkenntnisvermögens »in Beziehung auf jedes lebende Wesen« anzuwenden, also gleichgültig, ob wir vom Weltbild eines antiken Platonikers oder demjenigen eines kritischen Idealisten im 19. Jahrhundert sprechen. Man hätte dann z. B. Platons Höhlengleichnis und Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, bei aller historischen, stilistischen und methodischen Verschiedenheit, als Darstellungen eines im Prinzip immer gleichen Vorgangs zu verstehen, durch den im erkennenden Menschen die Welt zum Bild wird. Auch die beiden von Schopenhauer als maßgebliche Vordenker bezeichneten Denker selbst, also Platon und Kant, gingen von der Prämisse aus, dass die menschliche Erkenntnis bzw. die Vernunft im Prinzip immer ‒ oder zumindest seit dem Beginn des eigentlichen philosophischen Denkens ‒ auf dieselbe Weise funktioniert hat. Ähnliches wird man auch von mancher philosophischen Strömung der Gegenwart wie etwa der analytischen Philosophie sagen können.

Für Rudolf Steiner hingegen hat das philosophische Bewusstsein selbst eine Evolutionsgeschichte, deren historische Formstufen so wesenhaft voneinander verschieden sind, wie in der Biologie etwa das Mineralreich vom Pflanzenreich und diese beiden vom Tierreich. Ideengeschichtlich wandelte Steiner damit in den Bahnen Johann Gottlieb Fichtes, Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Friedrich Wilhelm Joseph Schellings und knüpfte an die morphologische Naturbetrachtung Johann Wolfgang Goethes an. Er teilte als öffentlicher Verteidiger Ernst Haeckels dessen Überzeugung, dass dem von Charles Darwin entwickelten Evolutionsprinzip alle Bereiche des Wirklichen unterworfen sind: also nicht nur, in Sinne Goethes, die geologischen und biologischen Formen der Natur, sondern auch und besonders, wie Hegel gezeigt hatte, die Gestaltungen des menschlichen Bewusstseins. Die Formenreihe der historisch auftauchenden philosophischen Weltbilder verstand er daher als Ausdruck einer Entwicklung des sich zunehmend immer besser verstehenden ‒ und in dieser Progression zugleich sich grundlegend transformierenden ‒ menschlichen Erkenntnisvermögens. Und da in der ihn prägenden idealistischen Tradition das sich im Menschen selbst erkennende Denken gemeinhin mit dem Ausdruck ›Geist‹ bezeichnet worden ist, so nimmt auch die steinersche Wirklichkeitsbetrachtung die Form einer Wissenschaft von den Metamorphosen des Geistes an, versteht sich als eine »Geisteswissenschaft« ‒ in Anlehnung an, und zugleich in Abgrenzung von der traditionellen Bedeutung dieses Begriffes, wie er durch Wilhelm Dilthey und andere Eingang in den Wissenschaftsbetrieb gefunden hat. Der reife Steiner wollte dann seinen speziellen Ansatz als »Anthroposophie« verstanden wissen, als eine Wissenschaft des sich im Menschen selbst erkennenden Geistes.

Die anthroposophische Betrachtung der Philosophiegeschichte wendet also, wie Steiner sich verschiedentlich ausdrückte, die von Goethe, Darwin und Haeckel anhand der Naturphänomene entwickelte evolutive bzw. morphologische Betrachtungsweise auf die Phänomene der Geistesgeschichte an und sucht dabei die strenge Methodik und Systematik des naturwissenschaftlichen Denkens auf ihrem (geisteswissenschaftlichen) Gebiet beizubehalten. Von diesem Standpunkt aus kommt Steiner zu der Feststellung, dass die Art, wie etwa der antike Philosoph sich sein Bild von der Welt machte, eine grundlegend andere war als diejenige des mittelalterlichen oder zeitgenössischen Denkers. Und dass in den verschiedenen historischen Entwicklungsphasen auch das Verhältnis des denkenden Ich zu den von ihm hervorgebrachten Gedanken, das seelische Grundbedürfnis, welches dieses Denken zu befriedigen hatte und überhaupt der Reifungsgrad des denkenden Ich in diesen verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils so wesenhaft voneinander unterschieden waren, wie sich etwa Form und Entwicklungsgrad eines Schmetterlings von denen der Raupe und der Puppe unterscheiden. Eine in diesem Sinne geisteswissenschaftlich vertiefte Philosophiegeschichte wird so bei Steiner zu einer Geschichte deutlich zu unterscheidender Metamorphosen des Geistes bzw. des sich selbst erkennenden Bewusstseins, in deren Verlauf sich der Mensch bzw. das Ich, trotz und gerade in der Erfahrung seiner Vereinzelung und Entfremdung im empirischen Bewusstsein, schrittweise zur Erkenntnis seiner zugleich individuellen und transpersonalen Wesenheit und damit zum Bewusstsein seiner Freiheit durcharbeitet.

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Schon diese knappe Charakterisierung des steinerschen Ansatzes lässt erkennen, dass auch für die Texte dieses Bandes gilt, worauf in früheren Einleitungen dieser Edition immer wieder hingewiesen worden ist: dass sich das steinersche Denken ideengeschichtlich nur dann aufschließt, wenn man es in seinem Hervorgehen aus den Systementwürfen des deutschen Idealismus zu verstehen sucht ‒ und dabei besonders diejenigen Punkte in den Blick nimmt, an denen Steiner von Fichte, Hegel und Schelling ausgehend über diese hinaus zu gelangen suchte, indem er deren Philosopheme an naturwissenschaftliche Vorstellungen einerseits (Stichwort: Evolutionstheorie) und an mystisch-esoterische Traditionen wie die Theosophie andererseits anknüpfte. So weist das steinersche Entwicklungsmodell einerseits unverkennbar hegelianische Züge auf. Die vier grundlegenden Verwandlungen des philosophischen Bewusstseins etwa, die Steiner für die Entwicklung der abendländischen Philosophie von den griechischen Naturphilosophen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts konstatiert, erinnern in mancher Hinsicht zunächst an die vier Stufen, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes unterschieden hatte (Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, Geist). Und doch stellt das steinersche Entwicklungsmodell andererseits ein von Hegel deutlich verschiedenes dar, indem es unverkennbar von theosophischen und entwicklungstheoretischen Vorstellungen geprägt ist. Für diese musste er dann, indem er sich zunehmend von der anglo-indischen Theosophie zu distanzierten suchte, neue sprachliche Ausdrucksformen formen. So charakterisierte er etwa den Anfang des philosophischen Bewusstseins unter den griechischen Naturphilosophen als Übergang vom Zeitalter einer im Menschen sich entwickelnden »Empfindungsseele« zu demjenigen einer »Verstandesseele«. Gemeint ist damit der Übergang vom mythischen Weltbild, das für Steiner Ausdruck der Tätigkeit der sogenannten Empfindungsseele und daher durch eine Bildhaftigkeit und Ganzheitlichkeit geprägt ist, die noch keine klare Trennung der Wirklichkeit in ›Innenwelt‹ und ›Außenwelt‹ kennt, zu den mehr gedanklich geprägten Weltbildern des »Verstandesseelen-Zeitalters«. Erst in dieser Entwicklungsphase, in der nicht mehr die Bildhaftigkeit, sondern eine mittels der Bilder gewonnene Gedankenhaftigkeit die nunmehr erzeugten Weltbilder prägt, entstehen nach Steiner die eigentlichen Formen jenes Bewusstseins, die mit Recht philosophisch bzw. wissenschaftlich genannt werden können.

Die zunehmende Ausbildung und Schulung des Gedankenlebens während dieser Phase erzeugt, so Steiner weiter, im Bewusstsein eine zunehmende subjektive Trennung des erkennenden Ich von der erkannten Wirklichkeit. Das im Denken erstarkende Ich, das sich als Empfindungsseele noch als verbunden mit der ihm im Weltbild entgegentretenden Wirklichkeit empfindet, erlebt sich durch die Verstandestätigkeit zunehmend als selbständig und als getrennt von dieser. Aber während die so langsam entstehende ›Außenwelt‹ dem Ich immer fremder wird, lernt es sich als Verstandesseele selbst immer besser kennen und entdeckt schließlich auf dem Grund seiner selbst die Freiheit als Kern und Ausdruck seines innersten Wesens. Und so führt dieser Entwicklungsprozess in Steiners Darstellung zu einer weiteren Metamorphose des Erkenntnisvermögens, deren neue Errungenschaften er mit dem Begriff »Bewusstseinsseele« zu fassen sucht. Diese Phase, in der sich das erkennende Ich als ganz und gar eingeschlossen in seine gedankliche Tätigkeit und als vollends getrennt von dem durch seine Tätigkeit erzeugten Weltbild erlebt, ist dann diejenige, in der die dramatischen Weltanschauungskämpfe des 19. Jahrhunderts sich abspielen, die den größten Teil des steinerschen Buches und in der ersten Auflage sein ausschließliches Thema ausmachen. Es ist die Phase, in der sich die Weltbilder Fichtes und Haeckels, also die radikale Ich-Philosophie des deutschen Idealismus und der ebenso radikale Materialismus der naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorie als Antipoden gegenüberstehen, die zwar in ihrer Weltdeutung fundamental voneinander abweichen, die aber zugleich ‒ im Hinblick auf ihre Entstehungsbedingungen im menschlichen Bewusstsein ‒ voneinander abhängen und sich gegenseitig bedingen.

Zugleich aber deutet sich für Steiner in diesen geistigen Kämpfen bereits eine weitere Metamorphose des Bewusstseins an, deren Hervortreten die Weltbilder der kommenden Jahrhunderte prägen wird: Es ist die Geburt des sogenannten »Geistselbst« aus der reif gewordenen Bewusstseinsseele. Als Geistselbst durchbricht nach dieser Vorstellung das Ich die von ihm selbst geschaffene Isolation in der eigenen Innerlichkeit und findet sich wieder wesenhaft verbunden mit dem, was es da im Weltbild als scheinbar selbständige Außenwelt vor sich hinstellt, um sich an ihm seiner selbst bewusst werden zu können. Das von Steiner gezeichnete anthroposophische Bild von der Welt hat seiner Auffassung nach die Aufgabe, Beispiel und Vorgeschmack jener kommenden Bewusstseinsstufe zu sein, in der das gereifte Geistselbst die Gedankenentwicklung und damit das menschliche Kulturleben so maßgeblich bestimmen wird, wie die Bewusstseinsseele das gegenwärtige.

Anthroposophie wie Steiner sie versteht wäre somit einerseits zu charakterisieren als Versuch, schon jetzt gemäß einer sich erst noch entwickelnden Stufe des philosophischen Bewusstseins zu denken. Zugleich aber kann sie gesehen werden als Versuch einer Überwindung des eigentlich philosophischen Denkens und als paradigmatischer Vorblick auf eine ›nachphilosophische‹ Bewusstseinskultur. Denn diese neuerliche Metamorphose des Bewusstseins ist nach Steiners Ansicht dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Elemente, die während der ›vorphilosophischen‹ Phase der Empfindungsseele charakteristisch waren und im Verlauf der Entwicklung des philosophischen Bewusstseins in den Hintergrund treten mussten, nun wieder hervortreten und in das neue Bewusstsein reintegriert werden: Die Weltbilder der Zukunft werden also wieder bildhafter und ganzheitlicher werden, meint Steiner, und das Ich wird sich mit der Wirklichkeit, die es sich als Weltbild selbst gegenüberstellt, wieder wesenhafter verbunden fühlen können als gegenwärtig. Gleichzeitig aber werde es in diese Verwandlung auch die in der Zwischenzeit erworbenen neuen Eigenschaften, d. h. die durch die Gedankenhaftigkeit erworbene Klarheit und Sicherheit sowie die im Selbstbewusstsein erworbene Stärkung des Ichs mit seinem Freiheitsbewusstsein, mit hineinnehmen können.

Während die steinersche Entwicklungstheorie des Bewusstseins strukturell einen ausgesprochen hegelianischen Eindruck macht, so weisen ihre methodischen Voraussetzungen deutlich auf die fichtesche Wissenschaftslehre. Dies wird von Eckart Förster in seiner Einleitung unten ausführlich dargestellt, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden muss. Ihr Ausblick in die Zukunft hingegen ähnelt demjenigen, den Schelling in seiner Spätphase als den Übergang der »negativen« in eine »positive« Philosophie beschrieben hatte. Wie ein gutes Jahrhundert zuvor der Schöpfer der klassischen Naturphilosophie, so war auch Steiner davon überzeugt, dass schon das vorphilosophische Bewusstsein eine Ahnung von dieser seiner künftigen Entwicklung hatte und dass es diese lange vor ihrer tatsächlichen historischen Aktualisierung in charakteristische mythische Bilder gebracht hat, wie etwa in das biblische Bild der Menschheitsentwicklung vom ›Sündenfall‹ bis zur ›Auferstehung‹: Ursprünglich vereinigt mit dem geistigen Grund seines Seins, fällt der Mensch ‒ bzw. das sich entwickelnde Ich ‒ im Bewusstsein aus dieser Einheit für eine Zeitlang heraus, um sich in diesem spirituellen Exil, dieser kognitiven Trennung von seinem wahren Wesen, jenes Selbstbewusstsein und jene Freiheit zu erobern, mit deren Hilfe es sich dann, als nunmehr verwandeltes, die verlorene Einheit mit dem Kosmos ‒ das ›Himmelreich‹ der religiösen Vorstellungswelt ‒ wiedererobern kann. Und wie schon für Schelling so wird auch nach Steiner erst das nachphilosophische Bewusstsein, allerdings mit den im philosophischen Zeitalter erworbenen Mitteln, die Bildwelten des mythischen Bewusstseins als Prophetien seines eigenen Werdens angemessen verstehen lernen.

Bliebe man allerdings bei dieser allgemeinen Charakteristik stehen, so würde Steiners Modell der Bewusstseinsentwicklung sich nicht wesentlich von jenen philosophischen Geschichtskonzeptionen unterscheiden, welche schon von den Denkern des deutschen Idealismus, ja bereits seit der Aufklärung (etwa in Gotthold Ephraim Lessings Erziehung des Menschengeschlechts) entwickelt worden waren. Die anthroposophische Bewusstseinstheorie unterscheidet sich aber insofern grundlegend von diesen Modellen, als sie (in Anknüpfung an theosophische Vorstellungen) postuliert, dass dieser Prozess der sich entwickelnden Selbstvergewisserung des denkenden Ich kein linearer ist, und auch kein bloß dialektischer im Sinne idealistischen Philosophierens, sondern ein progressiv-zirkulärer, in periodischen Zyklen in sich selbst zurücklaufender. Man könnte auch, in Anknüpfung an einen Ausdruck Steiners, von einem Prozess der »Umstülpung« sprechen, in dessen Verlauf ›Inneres‹ in ›Äußeres‹ umgestülpt wird, und umgekehrt. Nachdem nämlich, so Steiners Auffassung, das Ich sich als bzw. mittels der Verstandesseelentätigkeit im Denken weitgehend entwickelt und jene Bewusstseinsklarheit ausgebildet hat, welche die antike Philosophie prägt, geht die Entwicklung nicht linear in die Ausbildung der Bewusstseinsseele über, sondern das eigentliche Gedankenleben zieht sich für eine Weile in die Region des un- bzw. halbbewussten Gefühlslebens zurück und entfaltet seine Wirkung gewissermaßen unterhalb der Schwelle des Gedanklichen. Durch diese Umstülpung der seelisch-geistigen Konstitution des Menschen, dieses zeitweilige Abtauchen des bewussten Ich aus dem klaren Gedankenleben in halb- und unbewusste seelische Regionen, entsteht für Steiner der eigentümliche philosophische und religiöse Charakter der Spätantike und des frühen Mittelalters. Und erst nachdem in der frühen Neuzeit das Ich aus diesem ›Abstieg‹ in die Tiefen des gefühlshaften Erlebens gewissermaßen wieder auftaucht bzw. sich ›ausstülpt‹, kann sich die Geburt der Bewusstseinsseele vollziehen. Das Ich dehnt sich nach diesem Denkmodell also gewissermaßen in der antiken Philosophie über die seelische Wesenheit des Menschen in eine transpersonale Gedankenwelt aus, um sich dann für eine Zeit lang in das Seelische zurückzuziehen, sozusagen zu kontrahieren ‒ »wie der Pflanzenkeim im Schoß der Erde« (RP[I], XXV) ‒ um dann als so gereiftes und transformiertes wiederum nach Ausdehnung über das rein seelische Erleben hinaus zu streben.

Im Blick auf die Zukunft ergibt sich aus dieser Betrachtungsweise die Erwartung, dass auch das Denken als solches, wie es der gegenwärtige auf der Bildungshöhe der Zeit stehende Mensch erlebt, in diesem Durchgang durch die Seele und durch das Ich, sich zu einer weiteren Daseinsform entwickeln und somit ganz neuartige Wege ermöglichen wird, in denen der Mensch sich als Erkennender zu sich selbst und zur Wirklichkeit stellen kann. Hieraus erklärt sich letztlich auch Steiners auffälliges Interesse an »Welt- und Lebensanschauungen«: Ein bestimmtes Weltbild ist für ihn nicht bloß Produkt der menschlichen Denktätigkeit, sondern zugleich Medium bzw. Organ der Evolution des Bewusstseins. In der und durch die Produktion seiner Weltbilder erkennt der Mensch nicht nur die ›Welt‹ und ›sich selbst‹, sondern hebt in diesem Prozess die Wirklichkeit selbst, die in allen Ich- und Weltbildern sich ausdrückt, auf neue und höhere Stufen des Daseins.

Man wird somit Steiners Vorstellungen über die Entwicklung des (philosophischen) Bewusstseins nicht gerecht werden können, wenn man es ausschließlich aus der Tradition der idealistischen Vorbilder zu verstehen sucht, die es natürlich stark geprägt haben. Man wird auch und besonders diese Versuche eines doppelten Brückenschlages vom Idealismus hin zur Naturwissenschaft und zur Mystik ins Auge fassen müssen, um ihr hermeneutisch gerecht werden zu können. Und man wird die gedanklichen Wurzeln dieser Vorstellungen, neben den bereits erwähnten Einflüssen, vor allem in der goetheschen Morphologie zu suchen haben, mit welcher der frühe Steiner sich ebenso intensiv und engagiert beschäftigt hat (oft bis hin zur Selbstidentifikation) wie mit dem deutschen Idealismus, der Theosophie und dem Haeckelianismus. In dem Gedanken eines zyklenhaft sich selbst transzendierenden und dann wieder in sich zurückziehenden Menschenwesens, welches dem steinerschen Entstehungsmodell der verschiedenen Metamorphosen des Bewusstseins zugrunde liegt, kann man deutliche Ähnlichkeiten zu Goethes Beschreibung der Pflanzenmetamorphose als eines Zyklus von Ausdehnungs- und Kontraktionsprozessen finden, auch wenn Steiners geistige und seelische Umstülpungsprozesse deutlich komplexer sind als die goetheschen Ausdehnungen und Zusammenziehungen der Pflanze: Wie für Goethe die einzelnen Metamorphosen des Ur-Organs ›Blatt‹ anhand dieses Gesetzes zur lebendigen Gestalt der Pflanze führen, so ergeben für Steiner die zyklischen Ein- und Ausstülpungen des menschlichen Wesens in seine verschiedenen (leiblichen, seelischen und geistigen) Metamorphosen in ihrer Gesamtheit die Entwicklungsgestalt des Menschen – welche im anthroposophischen Denken zugleich, wie 1910 von Steiner in seiner Geheimwissenschaft im Umriss dargestellt, die grundlegende Entwicklungsgestalt des (ebenfalls physischen, seelischen und geistigen) Kosmos ist.

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Das oben skizzierte Modell einer anthroposophisch orientierten Geschichte der Philosophie bzw. des Bewusstseins tritt in deutlicher Gestalt freilich erst in der Neufassung des Werkes hervor, die Steiner 1914 unter dem Titel Die Rätsel der Philosophie herausgab. In der Erstfassung des Buches, die um die Jahrhundertwende unter dem Titel Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert erschienen war, hatte Steiner sich auf die Schilderung der Weltbilder des 19. Jahrhunderts beschränkt. Daher spielt auch das Die Rätsel der Philosophie charakterisierende Modell der Metamorphosen des Bewusstseins in den Welt- und Lebensanschauungen noch keine herrschende Rolle. Es deutet sich aber in Spuren hier und da bereits deutlich an, ebenso wie andere charakteristische theosophische und anthroposophische Denkmuster, die Steiner erst später ausführlich entwickelt. Insofern kann man schon diese Schrift von 1900/1901 in ganz eminentem Sinne als ein Werk des Übergangs von der Philosophie zur Theosophie bei Steiner verstehen (und nicht erst die gewöhnlich so gedeuteten Schriften von 1901 und 1902: Die Mystik im Aufgange und Das Christentum als mystische Tatsache). Zwar spricht Steiner hier seine Leserschaft formal noch als Philosoph und Gelehrter im akademischen Sinne an, aber er denkt und argumentiert in vielerlei Hinsicht bereits im Sinne seiner späteren theosophischen bzw. anthroposophischen Weltanschauung. Und da er zugleich als Akademiker und als Anthroposoph spricht, so nimmt es nicht Wunder, dass das eigentliche Kernthema seines Buches gar nicht so sehr die Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts ist, sondern, neben der eigentlichen Bewusstseinsentwicklung im Allgemeinen, ganz besonders auch das Verhältnis zwischen den akademischen Natur- und Geisteswissenschaften seiner Zeit und einer auf geistiger Erfahrung beruhenden Wirklichkeitsbetrachtung.

In der Art und Weise, wie Steiner dieses Verhältnis in den vorliegenden Texten behandelt, kann man einmal mehr den Einfluss morphologischer Vorstellungen im Sinne Goethes und eine Anwendung derselben auf geistige Phänomene beobachten. Goethe hat bekanntlich neben das oben angedeutete Gesetz von der ›Kontraktion und Ausdehnung‹ des primären Pflanzenorgans dasjenige von ›Polarität und Steigerung‹ als zweites Hauptgesetz der Morphologie gestellt. Liest man von hier aus Steiners Beschreibung des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft in den Welt- und Lebensanschauungen, so zeigt sich, dass er dieses Verhältnis in eben solchem Sinne als ein solches von Polarität und Steigerung versteht, wie die Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins als eine solche von Kontraktion und Ausdehnung.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens sei uns gestattet, noch einmal ein mythisches Bild zur Hilfe zu nehmen. Im 13. Kapitel der Johannesoffenbarung schildert der Apokalyptiker eine offenkundig krisenhafte Situation innerhalb der Menschheitsgeschichte. Diese wird bildhaft durch das Auftauchen zweier Wesen oder »Tiere« illustriert, aus deren Zusammenwirken ein »Bild« (eidolon) hervorgeht, welches das Denken und Handeln der gesamten Menschheit in einschneidender Weise verändert. Das eine dieser Tiere, so erfahren wir da, erhebt sich aus dem Element des Wassers und zieht durch sein Erscheinen die ganze Menschheit in seinen Bann. Seine Wirksamkeit besteht darin, dass es den Kampf aufnimmt gegen alles, was bisher als wertvoll und heilig galt: den Kampf gegen Gott, gegen den Himmel als dessen Wohnstätte und gegen alle Wesen, die sonst noch in diesem Himmel wohnen. Und obwohl dieses Tier offenbar alle Werte und Gewissheiten zerstört, welche die bisherige Welt bestimmten, unterwerfen sich die Menschen seiner Macht, ja beten es an und rufen aus: »Wer ist dem Tier gleich, und wer kann den Kampf gegen es aufnehmen?« (Off. 13:4b).

In der weiteren Darstellung wird nun deutlich, dass dieses ›Tier aus dem Wasser‹ im Verbund wirkt mit einem zweiten Wesen, welches aus dem Element der Erde aufsteigt. Erst dieses zweite Tier ermöglicht dem ersten die volle Entfaltung seiner Wirksamkeit, indem es nämlich dessen Macht vor den Augen der Menschen ausübt, d. h. dessen Wirksamkeit überhaupt erst sichtbar macht und somit in die konkrete Lebenswirklichkeit bringt. Ferner erfahren wir, wie durch das zweite Tier ein »Bild« aufgerichtet wird (Off. 13:14) und was dieses Bild in der Menschheit bewirkt. Es wird nämlich im Tempel aufgestellt und somit unmittelbar an jene Stelle gesetzt, die vorher Gott eingenommen hatte. Nicht mehr der in keine Vorstellung zu fassende Geist, sondern eben dieses sinnlich fassbare Bild wird von jetzt an, in einer Art Umkehrung des alttestamentarischen Tanzes um das goldene Kalb (vgl. 2. Mos. 32), von den Menschen verehrt und angebetet. Denjenigen, welche sich weigern, dieses Bild anzuerkennen, droht in der Schilderung des Apokalyptikers der Tod als Strafe; denjenigen hingegen, die sich dem Bild des Tieres hingeben und seine Autorität anerkennen, wird das »Zeichen des Tieres« (Off. 13:16) auf Hände und Stirn geprägt. All ihr Denken und Handeln, so wird man die Symbolik wohl zu verstehen haben, ist durch jenes Wesen geprägt, dessen ›Bild‹ sie sich verschrieben haben.

Man könnte, im Sinne Steiners, diesen apokalyptischen Bericht als bildhafte bzw. empfindungsseelenhafte Prophetie jener krisenhaften Wandlungen des menschlichen Bewusstseins verstehen, die in den Welt- und Lebensanschauungen als Begleiterscheinungen der Geburt des Geistselbst geschildert werden. Hat Steiner doch selbst immer wieder das Auslaufen der modernen Naturwissenschaft in die darwinsche und haeckelsche Entwicklungslehre gegen Mitte des 19. Jahrhunderts als Aufrichtung eines neuen Gedanken-Bildes von der Welt charakterisiert, welches an die Stelle eines früheren Bildes von dieser Welt trat, und zwar an die Stelle eines von religiösen und idealistischen Vorstellungen geprägten Bildes, in dem Natur bzw. Wirklichkeit nicht verstanden wurde als Summe und Resultat aller im Universum vor sich gehenden mechanisch-materiellen Prozesse, sondern als äußerer Ausdruck einer anderen, unsichtbaren Welt, als geschaffen, getragen und erhalten von Gott bzw. vom Geist als dem Schöpfer, Inbegriff und Zentrum allen Seins. Und wie der Apokalyptiker das »Bild des Tieres« als etwas schildert, dessen suggestiver Macht die meisten Menschen nichts entgegenzusetzen haben, so beschreibt auch Steiner diese Kulmination der modernen Naturwissenschaft als ein geistiges Naturereignis, welches über die denkende Menschheit hereinbrach und diese mit unwiderstehlicher Gewalt dazu zwang, alte Vorstellungen abzulegen und Welt und Leben nunmehr durch die Optik des neuen Weltbildes anzusehen ‒ auch wenn diese Menschen mit ihren Gefühlen und Hoffnungen weiterhin an dem alten, geistig-religiösen Bild der Welt hingen.

Und noch eine Parallele zwischen Steiners Schilderung der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts und dem apokalyptischen Bericht aus der Johannesoffenbarung muss auffallen: So wie das ›Tier aus der Erde‹ seine Wirksamkeit nur entfalten kann in Kooperation mit dem Auftauchen des anderen Tieres aus dem ›Wasser‹, so steht auch für Steiner das Auftreten des Gott und Geist aus der Welt vertreibenden naturwissenschaftlichen Weltbildes in dialektischem Zusammenhang mit einem anderen, unmittelbar zuvor auftretenden ›Bild‹ von der Welt: und zwar dem Weltbild des deutschen Idealismus, wie dieses sich, initiiert durch die kantsche Revolution der Philosophie, in der Wirksamkeit Fichtes, Schellings, Hegels und ihrer Nachfolger während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltet hatte. Obwohl Steiner einerseits diese beiden Weltbilder chronologisch nacheinander auftreten lässt und die Blüte des deutschen Idealismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verortet, die Entfaltung der modernen Naturwissenschaft hingegen in deren zweite Hälfte, so erscheinen sie doch, wie die beiden Tiere der Apokalypse, als innig zusammenhängend, ja einander bedingend, wie die zwei Seiten bzw. Extreme eines bedeutsamen Entwicklungsmomentes in der Geschichte des menschlichen Bewusstseins. Der besonders in der Person Fichtes personifizierte kühne Versuch des deutschen Idealismus, die gesamte Natur, d. h. die äußere Welt der Objekte in Zeit und Raum, im Ich aufgehen zu lassen bzw. sie aus diesem Ich hervorgehend zu denken, erscheint in Steiners Darstellung gewissermaßen als das notwendige Gegenbild, ja als notwendige Vorarbeit jenes umgekehrten Versuchs der modernen Naturwissenschaft, personifiziert in der Gestalt Haeckels und der modernen Entwicklungslehre, alles Geistige, Seelische, Religiöse und Kulturelle als solches in der materiellen Natur aufgehen zu lassen bzw. es aus dieser Natur hervorgehend zu verstehen.

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Dieser (wiederum aus dem deutschen Idealismus herkommende) Gedanke eines notwendigen Auseinanderfallens des Weltbildes in ein geistgemäßes und ein naturgemäßes Bild von der Welt, deren Dialektik die Polarität beider Weltanschauungen ins Extrem treibt und damit die Geburt einer neuen, gesteigerten Form des Bewusstseins vorbereitet, findet sich auch in einem anderen Werk Steiners, welches fast zeitgleich mit den Welt- und Lebensanschauungen entstanden ist und im Jahr 1901 als Buch erschien: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens. In dieser Schrift richtet Steiner den Blick nicht auf das 19. Jahrhundert, sondern auf das ausgehende Mittelalter und die frühe Neuzeit. Diese Periode interessiert ihn als diejenige Zeit, in welcher die ersten Anfänge jenes Denkens liegen, dass später zur modernen Naturwissenschaft geführt hat. Auch in dieser Periode seines ersten Entstehens, so Steiners Argumentation in diesem Buch, habe das naturwissenschaftliche Denken ein unmittelbares geist-orientiertes Gegenbild gehabt, und zwar in Form der deutschen Mystik von Meister Eckhart bis Angelus Silesius. Steiner sieht, bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit, einen inneren Zusammenhang zwischen Mystik und Proto-Naturwissenschaft vom 12. bis zum 16. Jahrhundert darin, dass beide einer anthropomorphischen Vorstellungsart entgegenarbeiteten, die sich unter ›Gott‹ bzw. ›Geist‹ nichts anderes vorstellen konnte, als einen in den ›Himmel‹ bzw. hinter die Natur als deren Schöpfer und Erhalter projizierten Menschengeist. Die Mystik habe dies getan, indem sie zeigte, dass die Wirklichkeit dessen, was man sich da unter dem Begriff ›Gott‹ oder ›Geist‹ vorstellte und irgendwo außerhalb des Menschen vorstellte (und so zu einem Ding unter Dingen machte), nirgendwo zu finden ist als in der inneren Selbsterfahrung des Menschen; die frühe Naturwissenschaft hingegen, indem sie ein Bild von der Natur entwarf, dass eines solchen anthropomorphischen Schöpfergottes zu ihrer Erklärung nicht mehr bedurfte.

Geradeso wie nach den Welt- und Lebensanschauungen der deutsche Idealismus und die Entwicklungstheorie im 19. Jahrhundert, so arbeiteten nach der Mystik-Schrift also bereits in der frühen Neuzeit Mystik und Proto-Naturwissenschaft sich gegenseitig zu, nach dem Prinzip von Polarität und Steigerung, um gemeinschaftlich den anthropomorphisch gedachten Gott bzw. Geist aus der Weltanschauung zu vertreiben, und bereiteten so den Boden für eine sachgemäßere Erkenntnis des Geistigen. Und auch für die Blüte der Verstandesseele zur Zeit der griechischen Philosophie fällt in Steiners Darstellung die Entwicklung in den auffälligen und wirkmächtigen Gegensatz von Platonismus und Aristotelismus. Platon ist für Steiner ein Mystiker, der die geistige Erfahrung in die Sprache der Verstandesseele zu übersetzen sucht, während er Aristoteles als Wissenschaftler sieht, der sich von der Erkenntnis der sinnlichen Welt her den platonischen Erfahrungen zu nähern sucht. Steiner ist an dieser wechselseitigen Dynamik insofern besonders interessiert, als er anhand ihrer zu zeigen versucht, dass zu allen Zeiten die naturwissenschaftliche ›Vertreibung des Geistes aus der Welt‹ keineswegs zu einer geistverleugnenden Weltanschauung führte; sondern dass im Gegenteil gerade das von einem falschen, anthropomorphistischen Geistverständnis befreite Naturbild das Bedürfnis erzeugte, den wirklichen Geist tatsächlich zu finden und zu erleben, indem ein ent-geistetes Naturbild den Menschen dazu treibt, diesen Geist vor allem in jener Tätigkeit zu suchen, durch welche er selbst ‒ bzw. welche in seinem Bewusstsein ‒ diese Entgöttlichung vollzieht.

In der Bildsprache des Apokalyptikers ausgedrückt könnte man sagen: Der Sturz Gottes und die Errichtung eines gottlosen Naturbildes, wie es die beiden Tiere unter der Menschheit anrichten, illustrieren aus anthroposophischer Sicht zwar einerseits eine Krise und Katastrophe, andererseits aber eben nur die Krise einer überlebten Bewusstseinshaltung, deren Auflösung dem Menschen zugleich die Chance eröffnet, ein neues und wirklichkeitsgemäßeres Verhältnis zu Geist, Natur und somit zu sich selbst auszubilden. Den Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit sei dies, so Steiner, noch nicht möglich geworden, weil in dieser Zeit das naturwissenschaftliche Weltbild noch nicht ausgeprägt genug war, um mit den alten religiösen Vorstellungen in ernsthafte Konkurrenz zu treten. Heute jedoch würden gerade diese Mystiker »rückhaltlos mit denen übereinstimmen, die den Geist als Tatsache nicht in der Wurzel der Natur, sondern in ihrer Frucht suchen« (MA, 119), denn die mystische Erfahrung selbst, für die der im Innern erfahrene Geist erlebte Realität ist, führe so zu einem Verständnis der Bedeutung und Notwendigkeit von Naturwissenschaft ‒ wie auch umgekehrt die Naturwissenschaft den Weg in die mystische Erfahrung weise. In den Rätseln der Philosophie finden wir diesen Gedanken wieder im Anfangssatz des Kapitels über die Weltanschauungen der frühen Neuzeit: »Dem Aufblühen der Naturwissenschaften in der neueren Zeit liegt dasselbe Suchen wie J[acob] Böhmes Mystik zugrunde« (RP[I], 53). Dieselbe wechselwirksame Dynamik zwischen Geist- und Naturbild sieht das Buch aber auch im 19. Jahrhundert am Werk, in dem der Hegelianismus als Wegbereiter des Materialismus gewirkt habe: »Die Weltanschauung wurde durch das, was Hegel aus dem Geiste gemacht hatte, zu den Gedanken an den materiellen Ursprung des Geistes hingedrängt« (RP[II], 43). Und im Blick auf jüngste wissenschaftliche Entwicklungen heißt es am Ende des zweiten Bandes: »Der Relativitätstheorie für die physische Welt wird man nicht entkommen; man wird aber eben dadurch in die Geist-Erkenntnis getrieben werden« (RP[II], 207).

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Im Lichte dieser Betrachtungen über den inneren Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlicher und geistig orientierter (heute würden wir wohl eher sagen: spiritueller) Weltanschauung und -erfahrung erweist sich die von Anthroposophen wie von Kritikern Steiners immer wieder vorgebrachte Vorstellung, Steiner habe seine Anthroposophie an die Stelle der modernen Naturwissenschaft als eines materialistischen und daher falschen Weltbildes stellen wollen, als höchst fragwürdig. Ausgehend von Steiners eigenen Voraussetzungen erscheint es sinnvoller vorauszusetzen, dass seiner Auffassung nach Anthroposophie als ein aus geistiger Erfahrung hervorgehendes Weltbild nicht an die Stelle der Naturwissenschaft zu treten hat, sondern vielmehr an deren Seite. Wie im Zeitalter der Verstandesseele und dann der Bewusstseinsseele, so wird man aus anthroposophischer Perspektive sagen können, muss auch im Zeitalter des Geistselbst sowohl ein ›geistgemäßes‹ als auch ein ›naturgemäßes‹ Weltbild entstehen, weil diese Dialektik dem Wesen des Bewusstseins selbst entspricht. Dieses kann ja nach Steiner gar nicht anders erkennen ‒ und daher sich nicht anders entwickeln ‒, als indem es die einheitliche Wirklichkeit in eine innere und eine äußere Welt, in ein Subjekt und ein Objekt zerreißt, um dann in der Vermittlung dieses selbstgeschaffenen Gegensatzes sich seiner eigenen Tätigkeit bewusst zu werden und sich zu höheren Stufen zu entwickeln. Der Versuch, diese Gegensätze denkend wieder zu vereinigen, muss nach dieser Vorstellung notwendig in den verschiedenen Denkerpersönlichkeiten zu zwei entgegengesetzten Weltbildern führen: zu einem, welches den Menschen und folglich auch das Ich und dessen Tätigkeiten aus der Entwicklung der sinnlich wahrzunehmenden Welt heraus zu erklären sucht, und zu einem entgegengesetzten, welches die gesamte raum-zeitliche Welt als Erkenntnisphänomen begreift und diese somit umgekehrt aus dem Ich ableitet. Wieder wäre hier auf Schelling hinzuweisen, der in seinen frühen Texten in ganz ähnlicher Weise argumentierte: dass es nämlich notwendig eine »dogmatische« (naturalistische) und eine »kritische« (idealistische) Philosophie geben müsse. Und auch der späte Schelling hatte diese Argumentationsfigur in Hinblick auf das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie noch einmal vorgebracht: beide müssten entstehen und müssten einander widersprechen, denn sie böten erst in diesem Widerspruch den Rahmen eines wirklichkeitsgemäßen Philosophierens.

In ganz ähnlicher Weise muss es auch nach Steiners gedanklichen Voraussetzungen stets eine der jeweiligen Stufe der Bewusstseinsentwicklung angemessene Naturwissenschaft und zugleich eine entsprechende Geisteswissenschaft geben. Nur als eine solche konnte er die im Schlusskapitel der Rätsel skizzierte Anthroposophie verstanden sehen wollen, d. h. als keimhafte Vorblüte einer künftigen ›geistselbst-gemäßen‹ Geisteswissenschaft, von der man zugleich wird erwarten müssen, dass ihr eine ebenbürtige künftige Naturwissenschaft zur Seite stehen wird. Unzweideutig heißt es dazu in den Rätseln, dass das Ziel der angestrebten Geisteswissenschaft darin bestehe, »in dem inneren Erleben der Menschenseele etwas zu finden, das in solcher Art sich offenbart, dass ihm im neueren Weltbilde der Platz von der Naturerkenntnis nicht streitig gemacht werden kann« (RP[II], IX). Und von dieser künftigen Naturwissenschaft erhofft er sich ausdrücklich, dass diese willens und fähig sein möge, »in ihr Weltbild aufzunehmen, was die Seele in ihrer inneren Welt erlebt« (ebd., VIII). Darum also scheint es Steiner letztendlich zu gehen: dass eine künftige Naturwissenschaft in der Lage sein muss, die Ergebnisse geistiger und seelischer Erfahrung in ihr Paradigma zu integrieren, wie auch umgekehrt die Aufgabe einer lebensfähigen Geisteswissenschaft (bzw. einer Mystik, einer Philosophie, einer Esoterik) darin besteht, die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung anzuerkennen und in sich aufzunehmen, ohne jeweils das eigentümliche Gepräge zu verlieren.

In der Anlage und der Zielrichtung von Steiners Schriften der Jahre 1900 und 1901 kann man also bereits Spuren jener Konzeption von anthroposophischer Geschichtsbetrachtung sehen, die er 1914 in der unter dem Titel Die Rätsel der Philosophie erschienenen Neuauflage der Welt- und Lebensanschauungen ausführlich entwickelt und dann auch beim Namen nennt. Auch über diesen Punkt informiert Eckart Försters Einleitung unten eingehender, weshalb ich an dieser Stelle meine hinleitenden Bemerkungen abschließen möchte, verbunden mit dem Wunsch, dass diese erste textkritische Ausgabe der philosophiegeschichtlichen Schriften Steiners in der Forschung eine willkommene Aufnahme finden und zu einer breiteren Kenntnisnahme und einer intensiveren Beschäftigung mit diesem bisher viel zu wenig beachteten Segment des steinerschen Œuvre führen möge. Es liegt ein zentraler Schlüssel zum steinerschen Denken, auch und besonders zu seiner Esoterik, im Verständnis von dessen Verwurzelung im deutschen Idealismus ‒ wenn bei solchem Zugang der Blick auch auf Steiners kreativen Umgang mit dieser Tradition gerichtet wird und auf seine Versuche, diese Philosophie sowohl mit naturwissenschaftlichem als auch mit mystisch-esoterischem Denken zu vermitteln. Und diesen Schlüssel reicht Steiner uns in besonderer Weise da, wo er sich wie in den Texten dieses Bandes mit der Entwicklungsgeschichte der Weltbilder auseinandersetzt.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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