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Vorwort

 

Steiner und die theosophische Strömung

 

Von Egil Asprem

SKA 6 (2017), VII-XVII

 

 

Der vorliegende sechste Band von Christian Clements beeindruckender Reihe kritischer Ausgaben der Schriften Rudolf Steiners (SKA) bietet Einblicke in eine der umstrittensten Fragen der Steinerforschung: Inwieweit besteht ein Bruch zwischen Steiner dem Philosophen und Steiner dem Okkultisten? In welchem Maße beeinflusste und formte die Theosophie den steinerschen Versuch, seine eigene anthroposophische Denkrichtung auszubilden? Und wie ist die Mischung von Konzeptionen aus dem deutschen Idealismus, der Theosophie, den Werken Goethes und dem Kanon der christlichen Theologie zu deuten, die alle in Steiners Werk nachweisbar sind, selbst in seinen esoterischsten Texten?

Umstritten sind diese drei Fragen besonders deshalb, weil bestimmte Interessengruppen daran interessiert sind, ein ›reines‹ Bild von Steiner zu zeichnen, das ihn als einen Prototypen erscheinen lässt: etwa als ›den Philosophen‹, ›den Okkultisten‹ oder ›den spirituellen Lehrer‹. Apologeten der Anthroposophie und ihre Skeptiker, Philosophen, Theologen und Historiker haben auf verschiedene Weise versucht, Steiner als einen der ›Guten‹ oder einen der ›Bösen‹ darzustellen – je nachdem, ob es in ihren jeweiligen Ansatz passte. Hinweise auf theosophische Denkstrukturen in Steiners späterem Werk sind von einigen Anthroposophen, die eines originellen und zugleich respektablen Denkers als Gründergestalt ihrer Bewegung bedürfen, als Bedrohung wahrgenommen worden. Diese Anthroposophen neigen daher dazu, die Kontinuitäten zu betonen, die zwischen Steiner und früheren philosophischen und religiösen Traditionen bestehen, während Skeptiker vor allem auf seine Verbindungen zu okkultistischen Traditionen hinweisen sowie auf seine gescheiterten Versuche, eine gesicherte akademische Anstellung zu finden. Diese polemisch aufgeladene Situation hat denjenigen Forschern die Arbeit erschwert, deren Interesse an Steiner rein historisch ist und denen es darum geht, die geistige Welt einer bemerkenswert interessanten und einflussreichen historischen Figur nachzuzeichnen und zu verstehen.

Der einzige Weg zur Beantwortung dieser Fragen besteht darin, diese Übergangsphase Steiners im Detail zu untersuchen, d. h. die Zeit zwischen den Jahren 1901, in dem sich sein Engagement für die Theosophie vertiefte, und 1912, als er sich schließlich von der Theosophischen Gesellschaft und ihrer Präsidentin Annie Besant trennte und seine eigene Anthroposophische Gesellschaft gründete, wobei die meisten deutschen Theosophen sich ihm anschlossen. War Steiner in diese lange Dekade als freiberuflicher Schriftsteller, Dozent und ungebundener Gelehrter eingetreten, so stand er an ihrem Ende als vollgültiger ›Geheimlehrer‹ da, der eine bedeutende Organisation spirituell suchender Menschen leitete und kontrollierte. Dies war sowohl in sozialer wie in professioneller Hinsicht ein markanter Übergang. Und auch im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung der Texte, welche Steiner schrieb, auf die Orte, an denen er publizierte und auf das Publikum, an das er sich wandte, stellte diese Periode eine deutliche Veränderung dar.

Während Steiners Expedition in die esoterische Welt schon früher begonnen hatte, nämlich mit seinen Schriften über Mystik in den Jahren 1901 und 1902 (vgl. Band 5 dieser Edition), sind es die Texte des vorliegenden Bandes, welche den Schlüssel zu seiner okkulten Verwandlung beinhalten. Sie dokumentieren nicht nur eine, sondern zwei Wandlungen in Steiners Werdegang. Die Theosophie beinhaltet Steiners eigene Darstellung theosophischer Lehren und dokumentiert sein Verständnis des Okkultismus und der Theosophie um 1904. Das Fragment Anthroposophie von 1910 hingegen offenbart eine zweite Verwandlung, wenn auch eine graduelle, hin zu einer von der Theosophie unabhängigen Anthroposophie. Weil diese Werke im Kontext eines tiefen und intensiven Engagements mit den Ideen und dem Milieu der Theosophie entwickelt wurden, erlauben sie uns, Steiner in der Geschichte der abendländischen Esoterik zu verorten – insbesonders innerhalb der theosophischen Strömung – und die Originalität seiner Ideen sowie seine Anleihen bei und seine Überschneidungen bzw. Meinungsverschiedenheiten mit anderen Persönlichkeiten dieser Zeit zu bewerten. Meine Aufgabe als Historiker der Esoterik soll im Folgenden sein, diesen weiteren Kontext andeutungsweise abzustecken.

 

Steiner in der Geschichte der (Post-)Theosophie

Aus der Perspektive einer Geschichte des Okkultismus ist der späte Steiner ein post-theosophischer Autor. Als solcher gehört er zu einer internationalen Gruppe von Autoren, die stark von der Theosophie beeinflusst waren, besonders während der expansiven zweiten Generation dieser Strömung (von etwa 1891 bis in die 1930er Jahre), sich zugleich aber von deren hauptsächlichen Institutionen abwandten und mittels ihrer Innovationskraft neue Synthesen von Ideen, Praktiken und Organisationen hervorbrachten. Beispiele solcher Autoren sind Nicholas (1874–1947) und Helena Roerich (1879–1955) in Russland bzw. im Baltikum, eine Reihe von Schriftstellern in den Vereinigten Staaten, besonders Alice Bailey (1880–1949, die Begründerin der Arcane School und des Lucis Trust), Guy W. Ballard (1878–1939) und Edna Anne Wheeler (1886–1971, die Gründer der I AM Activity) und Edgar Cayce (der ›schlafende Prophet‹, 1877–1945). Auch ›perennialistische‹ und ›traditionalistische‹ Autoren in West- und Zentraleuropa können aufgeführt werden, besonders René Guénon (1886–1951) sowie der zurückhaltende ›Messias‹ der zweiten Theosophen-Generation, Jiddu Krishnamurti (1895–1986), der später ein unabhängiger spiritueller Lehrer wurde und von Ojai in Kalifornien aus die entstehende New Age Bewegung der 1960er und 1970er Jahre beeinflusste. Trotz aller offensichtlichen Unterschiede schrieben all diese Autoren in einer Umgebung, in der die Theosophie der zweiten Generation etwas war, worauf man als Okkultist (oder als ›spiritueller‹ Schriftsteller) reagieren musste, und zwar aus der Perspektive einer Bekanntheit (wenn nicht sogar Übereinstimmung) mit den Schlüsselwerken Blavatskys, Sinnetts, Besants, Leadbeaters und der übrigen Theosophen. Die Bezeichnung ›post-theosophisch‹ ist somit eine historische Kategorie, die etwas über Chronologie und ideellen Einfluss aussagt, aber nicht notwendigerweise eine Identifikation von Seiten dieser Autoren selbst beinhaltet und auch kein bestimmtes Arrangement von Glaubensansichten bei den verschiedenen Personen impliziert.

Post-theosophische Autoren zeigen verschiedene Grade des Engagements mit der organisierten Theosophie – und erhebliche Unterschiede in ihrer Bereitschaft, einen theosophischen Einfluss einzugestehen. Steiner zum Beispiel, wie auch Bailey und die Roerichs waren alle direkt in die Institutionen der Theosophischen Gesellschaft Adyar involviert, während Edgar Cayce zu keiner Zeit mit einer theosophischen Organisation verbunden gewesen zu sein scheint. Cayce leugnete zudem, trotz des offensichtlich theosophischen Flairs seiner ›hellsichtigen Offenbarungen‹ über Atlantis, Reinkarnation, Karma und verwandte Themen, jemals irgendetwas aus einer bestehenden Quelle entnommen zu haben. Für den Erforscher des Okkultismus beruht das Urteil darüber, wie ein bestimmter Autor seine Beziehung zur Theosophie gestaltet, vor allem darauf, wie diese historische Gestalt von einem Diskurs, in dem um Ansprüche auf Wissen, Authentizität und spirituelle Autorität gerungen wird, sich einerseits abgrenzt und sich zugleich in diesem positioniert. Wenn ein Autor einen theosophischen Einfluss ablehnt oder andere sich als Theosophen verstehende Figuren als ›oberflächlich‹ oder gar als Vertreter einer modernen ›Gegen-Einweihung‹ angreift (wie im Fall von Guénon), so schließt ihn das nicht automatisch aus der Post-Theosophie aus. Vielmehr ist es ein deutliches Zeichen für den fortbestehenden Einfluss der Theosophie in diesem intellektuellen Umfeld. Es spielt auch keine Rolle, ob ein Autor aus weiteren Quellen schöpft oder innovative Elemente beisteuert. Tatsächlich ist diese Vermischung verschiedener Elemente, im Verein mit einer oft bequemen ›Quellenvergessenheit‹, zentral für die Dynamik doktrineller Innovation innerhalb des Okkultismus. Dies war offensichtlich schon der Fall bei Blavatsky, die sich in umfassender Weise aus wissenschaftlichen, okkultistischen und philosophischen Quellen bediente (wobei sie den Text bisweilen wörtlich übernahm) und dann das Ergebnis als ›zeitlose Weisheit‹ oder als autoritatives Meisterwort präsentierte.

Allgemein gilt, dass ein Klima von Innovation herrschte, das bestimmt war vom Inhalt bereits veröffentlichter theosophischer Texte, von situativer Relevanz und von individueller Kreativität. Im Okkultismus treten charakteristischerweise immer regionale Varianten gleichartiger Themen auf, und zwar als Ergebnis einer von Ort zu Ort unterschiedlichen Beschaffenheit des zirkulierenden Materials und unterschiedlicher, durch jeweilige politische und soziale Kontexte bedingter Schwerpunktsetzungen. So tendieren post-theosophische Autoren in Amerika dazu, sich stark auf die sogenannte ›New Thought‹ Bewegung mit deren beinahe solipsistischer Betonung eines ›Geist-schafft-Welt‹-Idealismus zu berufen, während die ›Agni Yoga‹ Bewegung der Roerichs, die im Kontext des Imperialismus und der Revolution in Russland entstand, eine stärkere kulturgeographische Ausrichtung und eine Faszination mit zentralasiatischen Traditionen aufweist. Steiner hingegen zeigt ein besonderes Interesse für ›teutonische‹ Mystik und für den Kanon der deutschen Philosophie, aber auch, während des ersten Weltkriegs, ein wachsendes Interesse an nationalen Themen. ›Post-Theosophie‹ bezeichnet also ein breites Spektrum von Strömungen, von denen jede ihr lokales Ambiente und ihre besonderen Schwerpunkte aufweist. Wenn wir Steiner in diesem breiteren historischen Trend einer sich aufspaltenden und diversifizierenden theosophischen Strömung verorten, interessiert vor allem die Art, wie er theosophische Elemente veränderte und wie diese Innovationen sich in Steiners eigene intellektuelle und biographische Entwicklung einordnen lassen sowie in weitere soziale, kulturelle und politische Kontexte, innerhalb derer er schrieb. Dieses akademische Kerninteresse ist in der gegenwärtigen, von polemischen Streitigkeiten über Kontinuitäten oder Brüche zwischen Steiners ›philosophischer‹ und ›okkulter‹ Phase geprägten Denkens, aus den Augen verloren worden. Beide sind eindeutig vorhanden; aber die eigentliche Frage ist doch die, wie diese besondere Entwicklung die neuartigen okkultistischen Ideen zu erklären hilft, die in Steiners post-theosophischen Schriften zu finden sind.

 

Post-theosophische Elemente:

einige vergleichende Bemerkungen

Ein komparativer Ansatz kann daher hilfreich sein. Während alle post-theosophischen Autoren anscheinend ein Interesse an Themen wie Karma, Reinkarnation, Hellsichtigkeit und ›feinstofflichen Körpern‹ bzw. ›Wesensgliedern‹ hatten, lassen sich einige interessante Unterschiede in der Schwerpunktsetzung feststellen. Vielleicht die bemerkenswerteste davon ist, dass Autoren wie Bailey, die Roerichs, Ballard und Wheeler eine starke Betonung auf ›hochentwickelte Meister‹ als Quelle ›höheren‹ Wissens legten und ein großes eschatologisches Interesse an einem kommenden ›New Age‹ zeigten (besonders sichtbar bei Bailey, der Ahnmutter der New Age Bewegung, und zu einem Extrem geführt in der post-theosophischen ›Summit Lighthouse‹ Bewegung von Mark und Elizabeth Clare Prophet, die 1975 zur Geburt der apokalyptischen ›Church Universal and Triumphant‹ führte); Steiner hingegen war an keiner dieser beiden Vorstellungen sonderlich interessiert. Stattdessen lag seine spezifische Innovation innerhalb der theosophischen Lehre, wie der Untertitel des vorliegenden Bandes zeigt, vor allem im Bereich seiner Anthropologie – d. h. seiner Vorstellungen über die menschlichen ›Wesensglieder‹ und die verborgenen Fähigkeiten, die in einer solchen ›okkulten Physiologie‹ impliziert waren. Verbunden mit diesem Schwerpunkt war ein anderer wichtiger Kontrast: Während die meisten post-theosophischen Autoren zu einer gewissen Abstraktheit tendierten und ausführlich über kosmologische Zyklen und metaphysische Systeme referierten, war der Großteil von Steiners theosophisch inspirierten Schriften auf eine esoterische Epistemologie ausgerichtet – d. h. auf die Frage, wie man »Erkenntnisse der höheren Welten« erlangen kann, und weniger darauf, wie diese ›höheren Welten‹ aussehen oder wie sie entstanden sein könnten.

Damit sollen natürlich keine absoluten Unterschiede benannt werden, denn auch bei Steiner finden sich ausführliche Passagen über abstrakte Lehrpunkte. Aber wenn man den Aufbau von Steiners kurzer Einleitung in die Theosophie betrachtet, fällt eine Schwerpunktsetzung auf esoterischer Anthropologie und Epistemologie ebenso deutlich auf wie der relative Mangel an Interesse für großangelegte kosmologische Theorie. Das Buch beginnt in der Einleitung mit einem ausgeprägt erkenntnistheoretischen Ton, dringt dann im ersten Kapitel in den Aufbau des menschlichen Wesens ein, fährt fort mit den Zyklen von Geburt, Leben, Tod und Reinkarnation, diskutiert dann die kosmologische Unterscheidung unterschiedlicher ›Welten‹ ausschließlich im Zusammenhang mit der Entwicklung von Leib, Seele und Geist (bleibt also immer in der ›Anthropologie‹ verwurzelt statt in der ›Kosmologie‹ im eigentlichen Sinn) und endet mit einem Kapitel über den ›Pfad der Erkenntnis‹. So weist die Theosophie auf Steiners vielleicht einflussreichsten Lehrtext hin, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, der sich in Band 7 der SKA findet, und weniger auf die besonderen Aussagen über das Leben während der von Steiner als ›atlantisch‹ bezeichneten Zeit oder auf die kosmogonisch-anthropogenen Prozesse, die Steiner in Werken wie Aus der Akasha-Chronik und Die Geheimwissenschaft im Umriss dargestellt hat.

Anknüpfend an diese Bemerkungen wäre zu fragen, wie Steiners Gedanken über diese anthropologischen und epistemologischen Fragen sich zu allgemeinen Entwicklungen in der Geschichte des Okkultismus verhalten. Während Clement zu diesem Thema in seiner substantiellen und ausführlichen Einleitung manches zu sagen hat, soll hier dennoch die Gelegenheit ergriffen werden, einige Gedanken über Steiners Rolle in der historischen Entwicklung theosophischer Vorstellungen über die Gliederung des Menschenwesens und die Erlangung ›höherer Erkenntnis‹ zu entwickeln.

 

Wesensglieder und Erkenntnis höherer Welten:

zwei Beiträge zur Geschichte der modernen Esoterik

Die Theosophie hat einen großen Einfluss auf die anthropologischen und epistemologischen Vorstellungen ›alternativer‹ spiritueller Bewegungen bis heute gehabt. Zentral innerhalb dieser gemeinschaftlichen Annahmen sind die Vorstellungen über feinstoffliche ›Leiber‹ bzw. ›Wesensglieder‹ und über die Fähigkeit des ›Hellsehens‹. Beide haben durch Theosophen der zweiten Generation signifikante Umarbeitungen und Vereinheitlichungen erfahren, insbesonders durch Besant und Leadbeater. Auch Steiner hat in diesen zwei Schlüsselbereichen einige originelle Neuerungen beigesteuert, die über die eigentliche anthroposophische Bewegung hinaus dauernden Einfluss hatten.

Theosophische Lehren über feinstoffliche Leiber bzw. Wesensglieder bildeten sich während der ersten drei Jahrzehnte der Bewegung aus. Angefangen mit Blavatskys Isis Unveiled (1877), wurzelten sie ursprünglich in neuplatonischen Modellen, die mit einer dreigliedrigen Anthropologie operierten: Der physische Leib enthielt einen vermittelnden ›siderischen‹, ›astralen‹ oder ›ätherischen‹ Leib (in diesem Kontext allesamt synonym), welche die göttliche Seele oder den augoeides umhüllen sollten. Variationen dieses Themas, wie sie sich bei spätantiken Autoren wie Proklus, Iamblichus und Porphyrus finden, lieferten den grundlegenden Rahmen der frühen theosophischen Konzeptionen. Allerdings erhöhte sich die Anzahl der Leiber, indem die theosophischen Autoren begannen, auch indische Quellen zu erforschen. Das erste klare Beispiel dieser Art findet sich in einem Artikel in The Theosophist von 1881, in dem A. O. Hume (1821–1912) Wissensinhalte offenbarte, die angeblich von ›Meister‹ Koot Hoomi stammten und mit einem System von sieben feinstofflichen Leibern operierten. Dieses Muster wurde von Alfred Sinnett (1840–1921) in seinem einflussreichen Buch Esoteric Buddhism erweitert. In der von Sinnett popularisierten Version besteht der physische Leib aus zwei Teilen, dem rupa oder materiellen Leib und dem prana oder jiva-Leib, welcher die vitalen Kräfte der Lebewesen vermittelt. Zu diesen kommt eine Reihe noch feinerer Leiber: der Astralleib (linga sharira) sowie die Prinzipien von kama, manas und buddhi, gekrönt von atma, dem reinen Geistleib. Diese Ordnung wurde dann in Blavatskys Secret Doctrine von 1888 kanonisiert.

Durch Annie Besant kam es jedoch bald nach Blavatskys Tod zu einer begrifflichen wie terminologischen Neuausrichtung. In einer Aufsatzserie mit dem Titel Man and His Bodies, der zuerst in der Zeitschrift Lucifer im Februar 1896 und später in diesem Jahr als Buch erschien, machte Besant es sich zum Ziel, die Sprache zur Beschreibung der sieben feinen Leiber zu vereinfachen und zu glätten. Außerdem betonte sie denjenigen Aspekt, den sie damals für eine klare Verbindung mit der wissenschaftlichen Avantgarde der Zeit hielt: die Ätherphysik. Während sie die Sanskrit-Bezeichnungen für die ›höheren‹ Wesensglieder beibehielt, bemühte sich Besant darum, für die niederen englische Bezeichnungen zu finden, um »für den Anfänger aus unserer Literatur den Stolperstein der Sanskrit-Terminologie zu entfernen«. Dies bezog sich insbesonders auf denjenigen ›Leib‹ mit der offenbar größten Relevanz für den Neuling: den sthûla sharîra, der von jetzt an ›ätherisches Doppel‹ hieß. Diese Änderung ist deshalb von Bedeutung, weil sie es Besant erlaubte, Beziehungen zur Physik des Äthers und des Elektromagnetismus herzustellen, welche damals mit vergleichbaren Konzepten operierte und die Existenz eines physisch nicht nachweisbaren ›ätherischen‹ Gegenstücks konkreter physikalischer Objekte annahm, welches der Träger elektromagnetischer Prozesse sein sollte. Zugleich knüpften auf diese Weise die theosophischen Lehren auch an die damals hervortretenden Theorien der ›psychischen Forschung‹ an, welche zusätzliche Möglichkeiten wissenschaftlicher Bestätigung boten – was als solches ein zentrales Interesse unter Theosophen der zweiten Generation war.

Wie Clement in seiner Einleitung zeigt, basierten Steiners Anschauungen über die Wesensglieder auf dieser sich verändernden theosophischen Strömung und trugen zugleich zu ihr bei. Der Einfluss von Besants ›scientistischem‹ Schema von 1896 ist in der Theosophie nachweisbar, wenn etwa Steiner ihre Rede vom ›Ätherleib‹ als Bezeichnung für den ›vitalen Leib‹ (der zuvor in der Sanskrit-Terminologie als prana bekannt war) übernahm und ihn vom ›Astralleib‹ unterschied. Aber auch hier lassen sich bemerkenswerte Unterschiede aufweisen. Obwohl Steiner sich auf die bei Theosophen verbreitete siebengliedrige Aufteilung des Menschen bezieht, bevorzugt er doch die ältere (neuplatonische) Dreigliederung des Menschen, die er als ›Leib‹, ›Seele‹ und ›Geist‹ fasst. Die Siebenheit ist diesem grundlegenderen Schema untergeordnet und dient nur dazu, feinere Unterscheidungen innerhalb der Kategorien des Leiblichen oder des Seelischen zu machen. Letztendlich kommt Steiner in seiner Anthroposophie zu einer viergliederigen Aufteilung, deren Niederschlag sich auch, worauf Clement hinweist, in der Theosophie von 1910 zeigt. Diese Festlegung der Wesensglieder auf vier – ein physisches, ein ätherisches (verbunden mit der Lebenskraft), ein astrales (verbunden mit Gefühl, Empfindung und Vorstellung) und ein höheres, geistiges ›Ich‹ (verbunden mit abstraktem Denken, vernünftigem Urteilen und Selbstbewusstsein) – kann somit als eine der Beträge Steiners zum post-theosophischen Okkultismus gelten. Diese Unterteilung lässt sich mit intuitiven (und weitgehend aristotelischen) ontologischen Kategorien wie ›mineralisch‹, ›pflanzlich‹, ›tierisch‹, ›menschlich‹ besser vermitteln als mit der platonischen Dreiheit und der theosophischen Siebenheit und ist von zentraler Bedeutung für ein breites Spektrum anthroposophischer Praxisanwendungen – etwa für das der Waldorfpädagogik zugrundeliegende Entwicklungsmodell (welches auf der Vorstellung der vier Wesensglieder im heranwachsenden Kind beruht), für die Grundlagen der Eurhythmie (in welcher physischer Leib und Ätherleib synchronisiert werden sollen) oder sogar für die biodynamische Landwirtschaft. Steiners entsprechende Darstellungen sind somit exemplarisch für die Übertragung theosophischer Vorstellungen über Wesensglieder auf praktische Lebensbereiche.

Der Vergleich zwischen den Texten Steiners und Besants über die Wesensglieder enthüllt auch einen grundlegenden epistemologischen Unterschied zwischen beiden. Wenn Steiner über den Ätherleib spricht, der charakteristisch für Lebewesen ist (also etwa die Pflanze vom Kristall unterscheidet), weist er darauf hin, dass dieser nichts zu tun habe mit dem »hypothetischen Äther« der Physiker. Diese Aussage steht in deutlichem Kontrast zu Besants Versuch, die beiden Konzeptionen gleichzusetzen. Sie illustriert einen markanten Unterschied in der Art und Weise, wie Steiner und Besant zur Wissenschaft standen und vor allem wie sie das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und ›Geisteswissenschaft‹ sahen. Besant repräsentierte eine Haltung des ›erweiterten Naturalismus‹, der charakteristisch für den Okkultismus (und die psychische Forschung) im englischsprachigen Raum dieser Zeit ist und der eine grundsätzliche Einheit der Wissenschaft und eine Kontinuität der Natur postulierte. Praktisch bedeutete dies, dass es keine Trennung zwischen Physischem, Psychischem und Geistigem geben sollte und dass in all diesen Bereichen prinzipiell dieselben Erkenntnismethoden anwendbar sind. Steiners Perspektive hingegen entsprach dem erkenntnistheoretischen Kritizismus des nachkantischen deutschen Idealismus, der damals in der akademischen Wissenschaft (und im Okkultismus) des englischsprachigen Raums zumeist nicht besonders gut verstanden oder geradezu abgelehnt wurde. So schreibt Steiner, in gewisser Weise an Swedenborg gemahnend, dass der Mensch zugleich in drei verschiedenen Welten lebe – einer physischen, einer psychischen (seelischen) und einer geistigen –, deren Erkenntnis jeweils einer eigenen Methode und sogar eigener ›Organe‹ der Wahrnehmung bedürfe. Dies zeigt sich etwa darin, dass Steiner im allerersten Satz der Theosophie Fichte zitiert, dessen Autorität die Notwendigkeit der Entwicklung eines »neuen inneren Wahrnehmungsorgans« verbürgt, dessen man bedürfe, um eine ganz neue Welt wahrzunehmen.

 

Ergebnisse

Vergleicht man die in diesem Band versammelten Texte einerseits mit den theosophischen Schriften, auf die Steiner sich bezog, und andererseits mit den Aussagen anderer post-theosophischer Autoren, gewinnt man einen besseren Eindruck von der Rolle, die Steiner in der Geschichte des modernen Okkultismus spielte. Es ist zum einen die Rolle eines Popularisierers, der ein übermäßig kompliziertes und verkopftes System adaptiert, simplifiziert und in ein praktisch anwendbares und fassliches verwandelt, es in eine verständliche Sprache übersetzt und in einem breiten Spektrum praktischer Umsetzungen zur Anwendung bringt, welche im Rahmen der internationalen anthroposophischen Bewegung weite Verbreitung gefunden haben. Aber es ist zugleich die Rolle des Philosophen, der das okkulte Material in einen spezifischen intellektuellen Kontext integriert. Steiner und die britischen Okkultisten beziehen sich nicht zufällig auf unterschiedliche Autoritäten; indem Darwin, Huxley, Tyndall und Spencer durch Denker wie Goethe, Fichte, Schopenhauer und Schiller ersetzt werden, geschieht zugleich etwas mit dem Inhalt. Steiners Anthroposophie ist somit ein Umbau des theosophischen Okkultismus aus der Perspektive der Philosophie des deutschen Idealismus, so wie seine theosophischen Quellen die Signatur des wissenschaftlichen Naturalismus der viktorianischen Ära aufweisen. Steiners theosophisches Werk stellt somit für eine Forschung, die sich um ein Verständnis der regionalen Variationen und Adaptionen des modernen Okkultismus interessiert, einen wichtigen Vergleichsgegenstand dar.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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