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Einleitung

Von Eckart Förster

SKA 4.1 (2020), XXXI-CXXII

 

 

 

I. Ein neuer Zugang zum Werk

Man muß wenigstens vorläufig als möglich annehmen, daß diejenige Weisheit, in der wir alle aufwachsen: daß nemlich Erfahrung, Beobachtung, Empirie, doch das höchste, und letzte bleibe, und daß darüber nie jemand herauskommen werde, ‒ ‒ daß, sage ich, diese Weisheit doch wohl die rechte, wahre, eigentliche Thorheit seyn dürfte [...].

(Johann Gottlieb Fichte)

Ein Buch oder zwei Bücher?

Rudolf Steiner hat Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914) immer als zweite, erweiterte Auflage seines bereits 1900/1901 erschienenen Werkes Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert bezeichnet. Schon dem Buch selbst gab er den Untertitel: »Zugleich neue Ausgabe des Werkes: Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert ergänzt durch eine Vorgeschichte über abendländische Philosophie und bis zur Gegenwart fortgesetzt«. Entsprechend heißt es in der Vorrede zu den Rätseln, es

ist der Inhalt des alten Buches im wesentlichen wörtlich beibehalten worden; […]. Die geringfügigen Änderungen, die an einzelnen Stellen vorkommen, schienen mir notwendig, nicht weil ich das Bedürfnis hatte, das eine oder andere nach fünfzehn Jahren anders darzustellen als früher, sondern weil ich fand, daß eine geänderte Ausdrucksweise durch den größeren Zusammenhang gefordert wird, in dem dieser oder jener Gedanke in dem neuen Buche erscheint, während im alten Buche von einem solchen Zusammenhange nicht die Rede war (RP[I], XVII‒XIX).

Auch später hat Steiner immer wieder von den Rätseln als einer erweiterten Neuauflage des Werkes von 1900/1901 gesprochen.

Derartige Äußerungen dürften die Herausgeber der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) veranlasst haben, Die Rätsel der Philosophie als verbindliche Ausgabe letzter Hand, nicht aber die Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert in die Gesamtausgabe aufzunehmen. Dies ist somit das einzige von Rudolf Steiner publizierte Buch, das nicht in der Gesamtausgabe enthalten ist. Sein Inhalt ist aber auch nicht anhand der Rätsel der Philosophie rekonstruierbar, da die ursprüngliche Vorrede, die Einleitung und der abschließende Ausblick eliminiert sowie die zahlreichen Auslassungen, Änderungen und Neuzusätze in dem Werk von 1914 nicht erwähnt bzw. als solche gekennzeichnet sind. Leser der Gesamtausgabe können sich daher kein eigenständiges Urteil darüber bilden, wie sich Erstausgabe und ›erweiterte Neuausgabe‹ zueinander verhalten.

Nun gibt es aber auch andere Aussagen Steiners. In einem Vortrag derselben Zeit, vom 20. Januar 1914, heißt es:

In der Neuauflage meiner ›Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert‹ habe ich versucht, dieses Buch ganz gründlich umzugestalten […]. Auch der Inhalt, der schon da war, ist vielfach umgestaltet worden (GA 151, 11).

»Geringfügige Änderungen« oder »vielfache Umgestaltungen«? Hierin braucht man nicht unbedingt einen Widerspruch zu sehen. Denn der zuletzt erwähnte Vortrag ist einer von vier Vorträgen, die während der zweiten Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Berlin, also vor Mitgliedern, gehalten wurde und in denen es um esoterische Aspekte der Philosophie ging. Von Die Rätsel der Philosophie sprach Steiner dagegen als von »einem exoterischen, für die ganze äußere Welt bestimmten Buch« (GA 161, 43).

Den Unterschied exoterisch – esoterisch hat Rudolf Steiner 1897 im Anschluss an Goethe so gefasst:

Wahrheiten, die einem ganzen Systeme von Ansichten angehören, können zumeist nur im Zusammenhange richtig verstanden und gewürdigt werden. Man nennt dann ihren tieferen Sinn, den sie für sich alleinstehend nicht haben können, den esoterischen. Der letztere wird nur dem geläufig sein, der den ganzen entsprechenden Kreis von Anschauungen kennt, dem das Einzelne angehört. Wahrheiten, die für sich, außer allem Zusammenhange verständlich sind, heißen exoterische (GA 1d, 127; Herv. E. F.).

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Gegensatz der erwähnten Äußerungen hinsichtlich der Änderungen von 1914 gegenüber dem Text von 1900/1901 auch so verstehen: rein äußerlich und für sich betrachtet (exoterisch) machen die Änderungen, die Steiner 1914 am ursprünglichen Text vornahm, einen relativ geringen Prozentsatz aus und »der Inhalt des alten Buches [ist] im wesentlichen wörtlich beibehalten worden«. Innerlich und in einem Zusammenhang betrachtet (esoterisch), von dem »im alten Buche […] nicht die Rede war«, reflektieren die vorgenommenen Änderungen, zusammen mit der vorangeschickten Entwicklungsgeschichte der Philosophie, einen anderen Ansatz, von dem Steiner nun ausgeht, so dass mit Die Rätsel der Philosophie ein »ganz gründlich«, d. i. vom Grund her, umgestaltetes, somit eigentlich ein neues Buch (ein neuer Zusammenhang) entstanden ist.

Für diese Möglichkeit müssen wir uns zumindest offenhalten. Es wird also ratsam sein, zunächst die Welt- und Lebensanschauungen für sich zu betrachten und daran anschließend zu erörtern, wie sich Die Rätsel der Philosophie dazu verhalten.

 

Die Entstehung der Welt- und Lebensanschauungen

Im Sommer 1897 war Rudolf Steiner von Weimar, wo er sieben Jahre lang an der Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mitgearbeitet hatte, nach Berlin übergesiedelt und hatte die Redaktion und (zusammen mit dem Dichter Otto Erich Hartleben) die Herausgeberschaft der literarischen Wochenschrift Magazin für Litteratur übernommen. Diese Zeitschrift sollte, ihrem Selbstverständnis nach, so etwas wie ein Spiegel und Sprachrohr der kulturellen Avantgarde der Zeit sein und der »fortschreitenden Entwicklung dienen«. Als Redakteur steuerte Steiner selbst im Laufe der Zeit eine Vielzahl von Beiträgen für das Magazin bei. Einer ist im gegenwärtigen Zusammenhang besonders bedeutsam: Die Neujahrsausgabe vom 7. Januar 1899 eröffnete Steiner mit einem Artikel, in dem er einen Rückblick auf das zu Ende gehende Jahrhundert zeichnete. Derartige Rückblicke gab es zu der Zeit bereits zahlreiche und es wurden ständig mehr. Steiner hatte aber eine besondere Perspektive im Sinn, die bereits im Titel anklang: »Neujahrsbetrachtung eines Ketzers«.

Zunächst würdigt Steiner die beispiellosen Errungenschaften, die das 19. Jahrhundert auf den Gebieten des äußeren Lebens und des Wissens hervorgebracht hatte: einerseits die technischen Neuerungen wie z. B. Eisenbahn, Dampfschifffahrt und Telefon mit ihren weitreichenden Konsequenzen für die praktische Lebensgestaltung; andererseits die Entdeckungen z. B. der Spektralanalyse, der Röntgenstrahlen oder die Evolutionstheorie, die unsere Kenntnisse von der Welt so entscheidend erweitert hätten. Doch dann fährt er fort:

Trotz aller dieser und manch anderer Errungenschaften, zum Beispiel auf dem Gebiet der Kunst, kann aber der tiefer blickende Mensch gegenwärtig doch nicht recht froh über den Bildungsinhalt der Zeit werden. Unsere höchsten geistigen Bedürfnisse verlangen nach etwas, das die Zeit nur in spärlichem Maße gibt (GA 30, 380).

Und zwar verlangten sie nach der Möglichkeit einer Auffassung der Wirklichkeit, die nicht nur den Errungenschaften der Technik und Wissenschaften Rechnung trage, sondern auch die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins und seiner Stellung in der Welt umfasse. Der Glaube an die Möglichkeit einer solchen Gesamtanschauung, welche den »höchsten geistigen Bedürfnissen« Befriedigung gewähren könne, war um die Mitte des Jahrhunderts weitgehend abhandengekommen.

In dieser Hinsicht könnte Steiner zufolge der Gegensatz zwischen Anfang und Ende des Jahrhunderts kaum größer sein: An dessen Beginn standen Denker wie Fichte und Hegel, die überzeugt waren, durch die Kraft des Denkens die Welträtsel lösen zu können und die die Bildung ihrer Zeit mit den innersten Bedürfnissen des menschlichen Geistes in Einklang zu bringen suchten. Am Ende des Jahrhunderts ist die Überzeugung von einer solchen Kraft des Denkens verloren gegangen, von solchem Einklang nichts mehr zu spüren.

Dem Drang der menschlichen Seele nach Eingliederung alles Wissens in eine Gesamtanschauung, aus der die höchsten geistigen Bedürfnisse befriedigt werden können, steht in unserer Zeit die Mutlosigkeit unseres Denkens gegenüber, welche es nicht dazu kommen läßt, eine solche Gesamtanschauung zu gewinnen. Diese Mutlosigkeit ist ein charakteristisches Merkmal des geistigen Lebens an der Jahrhundertwende. Sie trübt uns die Freude an den Errungenschaften der jüngstvergangenen Zeit (GA 30, 381).

Nur bei ganz wenigen Wissenschaftlern, wie z. B. bei Ernst Haeckel, fand Steiner die Neigung ausgeprägt, das vorhandene Wissen so zu durchdringen, dass sich daraus eine einheitliche Weltanschauung bilden lasse:

Es kommt nicht darauf an, ob man mit den Gedanken übereinstimmt, die Haeckel in seiner Schrift ›Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft‹ (Bonn 1892) entwickelt. Das Wesentliche ist, daß hier mit den Mitteln unserer Geistesbildung die Frage aufgeworfen wird: wie kann das menschliche Gemüt seine Bedürfnisse durch das moderne Wissen befriedigen? (GA 30, 382)

 

Wenige Monate vor Erscheinen der Neujahrsbetrachtung eines Ketzers, am 27. September 1898, hatte der Berliner Verleger Siegfried Cronbach (1838‒1907) den Verlag des Magazins für Litteratur übernommen. Er selbst plante zum Jahrhundertwechsel eine verlegerische Großtat: eine umfassende Rückschau auf die Entwicklung der verschiedenen Gebiete des Wissens und Lebens im vergangenen Jahrhundert in der Form eines »Sammelwerke[s] in Bänden von 10‒12 Bogen«: »Am Ende des Jahrhunderts. Hundert Jahre der Entwicklung Deutschlands auf allen Gebieten«. In der Verlagsankündigung schrieb Cronbach dazu:

Wie der Kaufmann am Schluß eines jeden Jahres seine Bilanz zieht, wie er von Zeit zu Zeit einen größeren Zeitpunkt seines Wirkens übersichtlich zusammenstellt, wägt und prüft, um zu erfahren, ob und welche Fortschritte er während dieser Zeit gemacht hat, so soll dieses Unternehmen dem großen Publikum in gemeinfasslicher Form und in großen Zügen vor Augen führen, was jedes Gebiet menschlichen Wirkens während des neuzehnten Jahrhunderts für das Ganze geleistet hat. (Verlagsankündigung: Neuerscheinungen 1898-1900)

Für das Gebiet der Weltanschauungsentwicklung während der letzten hundert Jahre konnte Cronbach Rudolf Steiner als Autor gewinnen. Am 29. April 1899 wurde ein Vertrag abgeschlossen; darin heißt es u. a.: »Herr Dr. Steiner übernimmt für diese Collection ein Bändchen betitelt: Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert«; außerdem: »Herr Dr. Steiner verpflichtet sich das Werk bis spätestens Ende September 99 abzuliefern«. Aus beidem wurde allerdings nichts. Das »Bändchen« wuchs zu zwei Bänden von insgesamt 22½ Bogen an, die das Jahrhundert in zwei etwa gleich lange Zeitabschnitte – eine »idealistische« und eine »realistische Periode« – teilte. Die Vorrede zum zweiten Band ist unterzeichnet »im Oktober 1900«.

Im Rückblick schrieb Steiner dazu später:

Ich hatte den ganzen Stoff des Buches seit lange in meiner Seele. Meine Betrachtungen der Weltanschauungen hatten in derjenigen Goethes einen persönlichen Ausgangspunkt. Der Gegensatz, in den ich Goethes Denkungsart zum Kantianismus bringen mußte, die neuen philosophischen Ansätze an der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Fichte, Schelling, Hegel: das alles war für mich der Anfang einer Epoche der Weltanschauungsentwicklung. Die geistvollen Bücher Richard Wahles, die die Auflösung alles philosophischen Weltanschauungsstrebens am Ende des neunzehnten Jahrhunderts darstellten, schlossen diese Epoche. So rundete sich das Weltanschauungsstreben des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Ganzen, das in meiner Anschauung lebte und das darzustellen ich die Gelegenheit gerne ergriff. (ML, 283)

Denn hier bot sich die Gelegenheit, das in der Neujahrsbetrachtung eines Ketzers bloß angeschnittene Thema tiefer auszuloten und einem breiteren Publikum darzustellen; vor allem aber auch, in einem »Ausblick« am Ende des Buchs den Weg aus der »Mutlosigkeit« des gegenwärtigen Denkens aufzuweisen.

Wenn Steiner vierzehn Jahre später in der Vorrede zu Die Rätsel der Philosophie erklärte, er habe damals kein »Jahrhundert-Buch« schreiben wollen, dann wird man das so verstehen dürfen, dass es ihm nicht bloß darum ging, die Rückschau auf ein vergangenes Jahrhundert zu liefern (»wie der Kaufmann am Schluß eines jeden Jahres seine Bilanz zieht«), die ähnlich auch für jedes andere geliefert werden könnte. Vielmehr ging es ihm darum, die Gelegenheit zu nutzen, das ganz Besondere dieses vergangenen Jahrhunderts und seine einzigartige Bedeutung für die Menschheitsentwicklung darzulegen. Schon in der Neujahrsbetrachtung hatte er dem »selbstverständlichen« Einwand, »daß der Ablauf eines Jahrhunderts ein rein zufälliger Einschnitt in dem Entwicklungsgange der Menschheit ist und daß bei einer andern Zeitrechnung dieser Einschnitt mit einer ganz anderen Phase ihrer Entwicklung zusammenfallen könnte«, entgegengehalten, dass es bei dem gerade zu Ende gehenden Jahrhundert einen »besonderen Grund« gebe, auf die »Errungenschaften unserer Kultur« und auf die »Richtungen«, die sie augenblicklich einschlage, »einen orientierenden Blick zu werfen« (GA 30, 379 f.).

Damit stellte sich Steiner bewusst in die Tradition von Fichtes Bestimmung des Gelehrten, dem zufolge »die wahre Bestimmung des Gelehrtenstammes« vor allem eines ist: »es ist die oberste Aufsicht über den wirklichen Fortgang des Menschengeschlechtes im allgemeinen und die stete Beförderung dieses Fortganges.« Dazu muss der Gelehrte Fichte zufolge eine dreifache Art von Wissen in sich vereinigen: er muss erstens die wahren Anlagen und Bedürfnisse des Menschen kennen; zweitens wissen, durch welche Mittel diese Anlagen entwickelt werden können; und drittens wissen, auf welcher Stufe der Kultur die Gesellschaft, deren Mitglied er ist, zu einer bestimmten Zeit steht und »welche bestimmte Stufe sie von dieser aus zu ersteigen und welcher Mittel sie sich dafür zu bedienen habe«.

25 Jahre später schrieb Steiner darüber in seinem Lebensrückblick:

Mir schwebte damals vor, wie die Jahrhundertwende ein neues geistiges Licht der Menschheit bringen müsse. Es schien mir, daß die Abgeschlossenheit des menschlichen Denkens und Wollens vom Geiste einen Höhepunkt erreicht hätte. Ein Umschlagen des Werdeganges der Menschheitsentwicklung schien mir eine Notwendigkeit (ML, 258; Herv. E. F.).

Warum? Um diese besondere Bedeutung der Zeitqualität um 1900 für Steiners Denken besser einschätzen zu können, sollen zunächst drei okkulte Zusammenhänge erwähnt werden, die in den Welt- und Lebensanschauungen nicht explizit angesprochen werden, aber doch, mehr oder weniger deutlich, den Hintergrund bilden und für dessen Verständnis von entscheidender Bedeutung sind. Alle drei sind dem heutigen gewöhnlichen Bewusstsein fremd und stellen eine grundsätzliche Herausforderung für das Verständnis des Textes dar, so dass sie hier zunächst einmal etwas ausführlicher dargestellt werden sollen.

 

Drei okkulte Hintergründe

1. Das Jahr 1899

An erster Stelle ist zu nennen die in verschiedenen Kulturen vorkommende Lehre von großen, qualitativ verschiedenen Weltaltern. Im Hinduismus, in der klassischen Antike und auch in der Theosophie des 19. Jahrhunderts findet sich die Lehre von vier großen Weltaltern unterschiedlicher Länge, die bestimmt sind durch eine zunehmende Entfremdung des Menschen von seinem göttlichen Ursprung, einer zunehmenden Verdunklung des Bewusstseins von der geistigen Welt und ihres moralischen Gesetzes. Haben die Menschen dieser Lehre zufolge zunächst in unmittelbarer Nähe zu den Göttern gelebt, so verdunkelt sich das Bewusstsein dieser Nähe im Laufe der Zeiten immer mehr, bis es weitestgehend verschwindet und der normale Mensch die geistige Welt nicht mehr erfahren kann. Das letztere, ›finstere‹ Weltalter, im Hinduismus und in der Theosophie ›Kali Yuga‹ genannt, dauert nach theosophischer Lehre von 3101 v. Chr. bis 1899 n. Chr.

Danach beginnt ein neues, ›lichtes‹ Zeitalter, in dem es allmählich wieder möglich werden wird, geistige Wahrnehmungen zu haben. In einem Vortrag vom 18. April 1910 sagte Rudolf Steiner dazu:

Das finstere Zeitalter erstreckte sich über 5000 Jahre. Wir leben daher in dem wichtigen Zeitpunkt des Endes des Kali Yuga. Seit 1899 ist die finstere Epoche, welche 3101 vor Christus begann, bereits abgelaufen, und seit diesem Zeitpunkt beginnen sich gewisse Fähigkeiten langsam zu entwickeln, die von der menschlichen Wissenschaft noch nicht erkannt werden. In unserem 20. Jahrhundert werden sich allmählich in einem Teil der Menschheit neue menschliche Seelenfähigkeiten entwickeln (GA 118, 156).

Mit der Lehre vom Ende des Kali Yuga und dem Beginn eines neuen geistigen Zeitalters war Rudolf Steiner auch zur Zeit der Abfassung der Welt- und Lebensanschauungen bestens vertraut. Seit der Mitte der 80er Jahre hatte er sich intensiv mit dem theosophischen Gedankengut auseinandergesetzt. Alfred Percy Sinnetts Buch Esoteric Buddism, das 1884 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Geheimbuddhismus erschien, las er gleich nach Erscheinen, ebenso Mabel Collins Light on the Path (Licht auf dem Weg). Vor allem beschäftigte ihn Helena Balvatskys The Secret Doctrine (Die Geheimlehre – eine deutsche Übersetzung erschien allerdings erst 1899), wo die Lehre von den vier Yugas oder Weltaltern bereits in der Einleitung erwähnt wird. Bei seinen Studien stand ihm Friedrich Eckstein zur Seite, »der ausgezeichnete Kenner jenes ›alten Wissens‹« (ML, 274), der zudem über eine umfassende Bibliothek des Okkultismus verfügte. Steiner stand mit Eckstein, dessen stupendes esoterisches Wissen er im Höchstmaße schätzte, damals in enger, freundschaftlicher Beziehung. Eckstein gründete 1887 den Wiener Zweig der Theosophischen Gesellschaft, nachdem ihm Helena Blavatsky im vorherigen Jahr persönlich eine Stiftungsurkunde dafür ausgehändigt hatte. In seiner Autobiographie schrieb Eckstein später über die Zeit mit Steiner:

Mittlerweile war ihm irgendwie zu Ohren gekommen, daß ich mit der damals viel besprochenen Madame Blavatsky und den führenden Mitgliedern der ›Theosophischen Gesellschaft‹ in Madras in Verkehr war. Dr. Steiner erklärte mir, wie sehr ihm daran liege, über diese Dinge Näheres zu erfahren und bat mich, ihn in die ›Geheimlehre‹ [von H. P. Blavatsky, E. F.] einzuweihen. Damit begann mein regelmäßiger Verkehr mit ihm, der viele Jahre währte und ihn schließlich, nach langen Wandlungen und Zwischenfällen, allmählich zur Ausgestaltung seines eigenen ›anthroposophischen‹ Systems hinführte. (Eckstein [1936], 131)

Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass Steiner sich schon lange vor den Welt- und Lebensanschauungen mit der theosophischen Lehre intensiv auseinandergesetzt hat und mit zahlreichen Vertretern der theosophischen Bewegung persönlich verkehrte.

Zweifellos ist aber auch, dass es Steiner zu der Zeit »nicht möglich [war], sich dieser Bewegung anzuschließen«, obwohl er sie, wie er betonte, »sehr genau kannte«. Er konnte das vor allem deshalb nicht, weil die Hauptvertreter dieser Bewegung mit ihrer Fixierung auf altes, östliches Weisheitsgut zugleich die Bedeutung der neuen Wissenschaftsentwicklung im Westen verkannten und herunterspielten – weil, wie er an dieser Stelle fortfährt, »das ganze Gebaren und das ganze Gehabe der Leute« nicht vereinbar war mit »einer im Sinnenleben verankerten wissenschaftlichen Exaktheit, Genauigkeit und Echtheit«, wie sie Steiner seit seinen Studientagen an der Wiener Technischen Hochschule selbstverständlich und unaufgebbar war. Noch deutlicher wird seine Einstellung in dem Artikel »Theosophen«, den er 1897 für das Magazin für Litteratur schrieb: Die Theosophen, heißt es dort,

sehen mit Achselzucken auf die ganze europäische Wissenschaft; lächeln über deren Verstandes- und Vernunftmäßigkeit und verehren die morgenländische Art des Wahrheitssuchens als die einzige. […] Welche Tiefe, welche Innerlichkeit in der angeblich dem oberflächlichen Verstande, dem äußerlichen Begriffe angehörigen Wissenschaft des Abendlandes steckt, davon haben die Theosophen keine Ahnung (GA 32, 195).

Und von den alten morgenländischen Wahrheitssuchern, auf welche die anglo-indische Theosophie zurückgeht, schreibt er: »Unsere Natur ist von der ihrigen verschieden; und deshalb muß auch der Weg ein anderer sein, auf dem wir zum Gipfel der Erkenntnis und zur Höhe einer freien Lebensführung gelangen« (GA 32, 194).

Es ist also nicht so, dass Steiner zur Zeit der Abfassung der Welt- und Lebensanschauungen die in der theosophischen Literatur enthaltenen spirituellen Inhalte grundsächlich ablehnte, sondern er lehnte zu dieser Zeit vor allem das Verhalten der Theosophen gegenüber den Erfahrungswissenschaften ab, die sie in ihrer wahren Bedeutung für den heutigen Menschen gar nicht verstanden hätten. Sie verhielten sich somit den modernen Wissenschaften gegenüber nicht anders, als die meisten Wissenschaftler sich der Theosophie gegenüber verhielten: ablehnend aus Unkenntnis.Steiner dagegen sah die Zeitforderung im »Zeitalter der Naturwissenschaften« eindeutig darin, die spirituellen Wahrheiten so zu gestalten und darzustellen, dass sie auch vor dem Forum der Wissenschaften würden bestehen können.Wenn er dann trotzdem 1902 den Vorsitz der neugegründeten deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft übernahm, so tat er das unter der ausdrücklichen Bedingung, dass er der westlichen okkulten Strömung statt der östlichen dienen werde: »ich werde mich aber nur finden lassen für eine solche Bewegung, die an den abendländischen Okkultismus und ausschließlich an diesen anknüpft und diesen fortentwickelt« (GA 254, 48). Im Laufe der Zeit wurde dann auch öffentlich immer deutlicher, in welchem Maße die von ihm vertretene, westliche Esoterik ihre Wurzeln im Rosenkreuzertum hat.

 

2. Rosenkreuzertum

Als Rudolf Steiner im Mai/Juni 1906 in Paris im Rahmen des theosophischen Kongresses einen Vortragszyklus hielt (GA 94), weilte unter den Zuhörern auch der Verfasser von Les Grands Initiés, der Dichter und Theosoph Edouard Schuré. Marie von Sivers, Steiners engste Mitarbeiterin, stand seit 1899 mit Schuré im Briefwechsel und hatte sein Le Drame Sacré d’Eleusis ins Deutsche übersetzt. Steiner lernte ihn hier persönlich kennen.

Da Schuré die Absicht hatte, Steiners Buch Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums ins Französische zu übersetzen und dazu eine Einleitung verfassen wollte, bat er Steiner, der sich vom 5.‒12. September 1907 zusammen mit Marie von Sivers bei Schuré in Barr im Elsass zu einem Besuch aufhielt, um Angaben zu seinem Entwicklungsgang. Rudolf Steiner schrieb dazu drei Texte – die sogenannten Dokumente von Barr (GA 262, 15‒27) – die er darüber hinaus in zahlreichen Gesprächen vertiefte: eine autobiographische Skizze sowie zu deren Erläuterung einen kurzen Text zum Rosenkreuzertum und einen zu den spirituellen Hintergründen der Entstehung der Theosophischen Gesellschaft.

Die Rosenkreuzerrichtung, notierte Steiner für Schuré im zweiten der Dokumente, sei das seit dem 15. Jahrhundert für den Westen definitive Initiationsprinzip. Dann fährt er fort:

In dieser Form sollte das Rosenkreuzertum die streng geheimgehaltene Schule sein zur Vorbereitung dessen, was der Esoterik öffentlich als Aufgabe zufallen müsse um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts [!], wenn die äußere Naturwissenschaft zur vorläufigen Lösung gewisser Probleme gekommen sein werde. – Als diese Probleme bezeichnete Christian Rosenkreutz:

1) Die Entdeckung der Spektralanalyse, wodurch die materielle Konstitution des Kosmos an den Tag kam.

2) Die Einführung der materiellen Evolution in die Wissenschaft vom Organischen.

3) Die Erkenntnis der Tatsache eines anderen als des gewöhnlichen Bewußtseinszustandes durch die Anerkennung des Hypnotismus und der Suggestion.

Erst wenn diese materiellen Erkenntnisse innerhalb der Wissenschaft ausgereift wären, sollten gewisse rosenkreuzerische Prinzipien aus dem Geheimwissenschaftlichen in die öffentliche Mitteilung eintreten (GA 262, 23).

Eine öffentliche Quelle, auf die Rudolf Steiner sich hier bezieht, dürfte sich schwerlich finden lassen. Schließlich ist es einer »streng geheim gehaltenen Schule» wesentlich, dass ihre Inhalte nur Gegenstand mündlicher Mitteilung sind. Es könnte aber eine Verbindung bestehen zu seiner lebensbestimmenden Begegnung mit dem »Meister«, die Steiner in seiner autobiographischen Skizze für Schuré erwähnt und die um 1881/1882 stattgefunden haben müsste, als Steiner etwa 21 Jahre alt war.

Obwohl die Identität dieses Meisters in der Skizze nicht genannt wird, scheint es wahrscheinlich, dass Steiner damit die mit dem Namen Christian Rosenkreutz bezeichnete Individualität meinte, die er als einen der beiden von ihm in anderen Zusammenhängen so genannten »Meister des Westens« bezeichnete. Über die Begegnung mit diesem Meister hat Steiner Schuré außerdem mündliche Mitteilungen gemacht, der in seiner Einleitung zur französischen Ausgabe von Das Christentum als mystische Tatsache darauf eingeht und diese Begegnung schildert. Daran anschließend schreibt Schuré:

Durch seinen ersten Meister, durch die Brüderschaft, welcher er sich auf Grund seines tiefsten Wesens angeschlossen hatte, gehörte Steiner einer anderen okkulten Schule an [als die Theosophie, E. F.], nämlich der westlichen Esoterik und ganz speziell der rosenkreuzerischen. […] Als Rosenkreuzer fühlte Rudolf Steiner aufs stärkste den Unterschied zwischen den Methoden der westlichen Einweihung, die die seinige war, und der östlichen, die den Grund und Ursprung der Theosophischen Gesellschaft bildete. (ebd., 15,19)

Es ist kaum anzunehmen, dass die Charakterisierung der Meisterbegegnung als rosenkreuzerische Schulung eine Erfindung Schurés ist, denn den Text seiner Einleitung hat er vor dem Druck Steiner vorgelegt »und dieser erhob keinen Einwand«. Auch Steiners Dankesbrief im Anschluss an die Tage in Barr schneidet das Thema noch einmal an:

Und ich muss das mir von den erhabenen Meistern der Rosenkreuzerbewegung eröffnete Weisheitssgut viel schöner in diesen [in den von Schuré verfassten, E. F.] Werken finden als in denen der theosophischen Bewegung, weil es in den letztern vielfach wie in gebrochenen Strahlen erscheint, bei Ihnen sich aber rein durch die so edel-künstlerische Gestalt hindurch in seiner Wahrheit zeigt (GA 262, 167).

Soweit die Angaben zu Steiners Bericht seiner Begegnung mit dem ›Meister‹. Angesichts der Tatsache, dass es für diese Begegnung keine Zeugen oder anderweitige Belege gibt, stellt sich die Frage, wie man damit umgehen soll.

*

Methodologische Zwischenbetrachtung

Hier bieten sich grundsätzlich drei verschiedene Möglichkeiten an.

1) Man kann die Begegnung selbst in Frage stellen. Das tut z. B. ein Historiker wie Helmut Zander, der äußere Belege für seine Arbeit braucht: »wer sich hinter dem Meister verbergen könnte […] ist ganz unklar – wenn es diese Begegnung je gab«. An anderer Stelle nennt er die angebliche Meisterbegegnung eine »große Oper« der anthroposophischen Steiner-Literatur, der gegenüber es gelte, das »Vetorecht der Quellen« ins Spiel zu bringen. Zanders Auffassung nach hat Rudolf Steiner 1902 mit der »Konstruktion einer von der Theosophie unabhängigen ›theosophischen‹ Biographie« begonnen, in die er, angeregt durch die Lektüre von Schurés Les Grands Initiés, die Behauptung bzw. »Überzeugung« integrierte, selbst von einem Meister geführt zu sein.

Abgesehen davon, dass Steiner diese Meisterbegegnung schon 1890 in seinem Brief an Eckstein andeutete, hat eine solche Position die unattraktive Konsequenz, dass man zugleich die Möglichkeit unterstellen muss, dass Steiner nicht nur seinen Übersetzer (Schuré), sondern auch seine Mitarbeiterin und spätere Frau Marie von Sivers, seinen Freund (Eckstein), sowie Schüler, Zuhörer und Leser bewusst irregeführt, d. h. belogen hat. Das sollte man nicht unterstellen, solange es nicht einen zwingenden Grund dafür gibt.

2) Man kann Steiners Bericht auch ohne äußere Belege für bare Münze nehmen, z. B. aus Autoritätsglauben oder aus Verehrung für Steiner, an dessen Ehrlichkeit man nicht zweifelt. Eine solche Haltung, aus welchen Motiven sie auch entspringen mag, verbleibt notgedrungen auf der Ebene eines subjektiven Glaubens. Aus wissenschaftlicher Sicht ist sie immer unbefriedigend; außerdem steht sie im krassen Gegensatz zu Steiners schroffer Ablehnung aller unkritischen Verehrung sowie seiner an unzähligen Stellen ausgesprochenen Aufforderung: »Prüfen Sie alles!«

3) Eine dritte Option neben ungläubiger Verwerfung und gläubiger Akzeptanz ergibt sich aus der philosophischen Besinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen überhaupt. Bezeichnenderweise markiert sie einen der wenigen Punkte, über den zwischen angelsächsischer sprachanalytischer Philosophie und Hermeneutik kontinentaler Prägung grundsätzliche Einigkeit besteht: In der analytischen Philosophie spricht man vom »principle of charity« (Willard Van Orman Quine, Donald Davidson), in der Hermeneutik vom »Vorgriff der Vollkommenheit« (Hans-Georg Gadamer). Damit ist gemeint, dass es für Verstehen konstitutiv ist, einer fremden Äußerung oder einem Text so weit wie möglich zu unterstellen, dass sie rational und wahr sind. Versucht man nämlich, etwas zu verstehen, setzt man damit immer schon voraus, dass dieses sich auch verstehen lässt. Verstehen lässt sich aber nur das, was eine kohärente und wahre (d. i. »vollkommene«) Einheit von Sinn darstellt. Somit ist ›Vollkommenheit‹ von Sinn als solche zwar eine regulative Idee, der ›Vorgriff‹ darauf aber für alles Verstehen konstitutiv.

Nur unter dieser Voraussetzung des Verstehens können anschließend Gründe für einen möglichen Dissens ins Spiel gebracht werden. »Wer verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen«, schreibt Gadamer, und genauso Davidson: »The aim of interpretation is not agreement but understanding.« Verstehenwollen zwingt aber dazu, zunächst einmal die Wahrheit oder Rationalität in den Äußerungen des Anderen zu maximieren.

Das ›principle of charity‹ bzw. der ›Vorgriff der Vollkommenheit‹ kann deshalb auch als unumgängliche methodologische Forderung ausgedrückt werden, den Aussagen anderer keine Irrationalität oder Unwahrheit zu attestieren, solange eine rationale Interpretation ebenfalls möglich ist. Der Hamburger Philosoph Wolfgang Künne hat das, worum es hier geht, auf den Punkt gebracht:

Wenn wir die Äußerung eines anderen überhaupt verstehen wollen, so dürfen wir sie nicht als Ausdruck einer offenkundig falschen Meinung interpretieren. Es gibt keinen stärkeren Einwand gegen eine Interpretation als diesen: daß sie ernsthafte assertorische Äußerungen des anderen als evident falsche Behauptungen deutet. (AZfP 6,1 [1981], 11)

Die assertorischen Äußerungen des anderen als evident falsch aufzufassen impliziert eben, dass selbst der Versuch des Verstehens unterblieben ist.

Wenden wir das auf den gegenwärtigen Fall an.

Steiner berichtet gegenüber Schuré nicht einfach, dass eine Begegnung mit einem Meister stattfand. Worauf es ihm offensichtlich ankam, war, worüber gesprochen wurde. Zunächst gilt es also, das Gesagte zu verstehen. Da ich dessen Wahrheit und Rationalität erst einmal maximieren muss, um es überhaupt verstehen zu können, bedarf es Gründe, wenn ich im Folgenden vernünftigerweise davon abweichen soll. Sofern es um das Verstehen des Gesagten geht, müssen Gründe für eine Abweichung aber primär den Inhalt des Gesagten betreffen. Die Frage danach, ob die Begegnung tatsächlich genau so stattgefunden hat, wie sie beschrieben wurde, verliert in diesem Zusammenhang an Bedeutung.

Deshalb ist ein Mangel an äußeren Belegen dafür, dass die Begegnung stattgefunden hat, für sich allein auch kein Grund dafür, das Gesagte zu diskreditieren. Denn unabhängig von der Frage, ob die Begegnung selbst richtig beschrieben wurde, kann die Wahrheit dessen, was gesagt wird, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Der Wahrheitswert von Aussagen lässt sich nämlich auch an den Implikationen bzw. Konsequenzen ihres Inhalts prüfen. Das heißt, man kann fragen, was aus dem Gesagten folgen würde, wenn es wahr wäre, um daraus auf den Wahrheitswert der Aussage zurückzuschließen. Demgegenüber ist die Richtigkeit der Beschreibung der Begegnung als solcher sekundär.

Im vorliegenden Fall beträfe das die Prüfung des von Steiner berichteten notwendigen Zusammenhangs zwischen einer esoterischen Aufgabe am Ende des 19. Jahrhunderts und gewissen Erkenntnissen in den Naturwissenschaften, die auf den ersten Blick ja gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen.

Das soll hier zunächst einmal geschehen.

*

Gehen wir also vom bloß Äußerlichen zum Inhaltlichen über. In den oben zitierten, einleitenden Sätzen seiner Rosenkreuzer-Skizze für Schuré unterscheidet Rudolf Steiner dreierlei:

1) Eine öffentliche Aufgabe, die der Esoterik am Ende des 19. Jahrhunderts zufallen muss;

2) drei Probleme, die bis dahin von der äußeren Naturwissenschaft »vorläufig gelöst« sein müssen, als Bedingung der Möglichkeit der Erfüllung dieser öffentlichen Aufgabe;

3) eine nicht vor den Augen der Öffentlichkeit ablaufende Schulung gewisser Fähigkeiten, als notwendige Vorbereitung darauf, dass die in 2) genannte Möglichkeit auch ergriffen werden kann, um die in 1) genannte Aufgabe zu erfüllen.

Die geheime Schulung der benötigten Fähigkeiten ist dieser Skizze zufolge die rosenkreuzerische; die der Esoterik zufallende Aufgabe die, »um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts [dem Ende des Kali Yuga, E. F.] gewisse rosenkreuzerische Prinzipien aus dem Geheimwissenschaftlichen« öffentlich zu machen, damit das neue geistige Leben, das von nun an den Menschen herantreten soll, als solches erkannt und erfasst werden kann.

Was aber haben die drei genannten wissenschaftlichen Probleme, die alle in der Mitte des 19. Jahrhunderts einer Lösung zugeführt wurden, damit zu tun? Warum die Entdeckung der Spektralanalyse und nicht z. B. die der Röntgenstrahlen? Warum die Einführung der materiellen Evolution und nicht z. B. die Thermodynamik und der Entropiesatz?

Die Betonung auf »diese materiellen Erkenntnisse« legt nahe, dass sie in einem intimen Zusammenhang mit dem esoterischen Wissen stehen, das ab der Jahrhundertwende an die Öffentlichkeit treten sollte. Tatsächlich korrespondieren sie in auffälliger Weise mit den drei Grundkategorien okkulter Welt- und Menschheitsentwicklung, welche die Theosophie die »drei Logoi« nennt und die in christlicher Esoterik auch als ›Vater‹, ›Sohn‹ (oder ›Wort‹) und ›hl. Geist‹ bekannt sind. In Steiners Geisteswissenschaft werden sie als »Sein« (oder »Form«), »Leben« und »Bewusstsein« bezeichnet. Wie weiter unten auszuführen sein wird, vollzieht sich die Menschheitsentwicklung dieser Lehre zufolge durch sieben planetarische Verkörperungen (von denen die Erde die vierte ist), während derer die Menschheit aufeinanderfolgend jeweils sieben Bewusstseinszustände zu entwickeln hat. Jeder dieser Planeten- und Bewusstseinszustände entwickelt sich im Laufe von sieben sogenannten Lebensstufen (theosophisch: Runden), die wiederum jeweils sieben Seins- oder Formstufen (theosophisch: Globen) durchlaufen.

Eine solche Lehre müsste einem im materialistischen Weltbild des 19. Jahrhunderts verwurzelten Menschen schon im Ansatz phantastisch und unverständlich erscheinen (und bleiben), wenn nicht innerhalb der modernen wissenschaftlichen Weltanschauung selbst gewisse »materielle Erkenntnisse« als Anknüpfungspunkte bzw. Brückenprinzipien fungieren könnten, so dass Begriffe und Anschauungsweisen der physischen Welt und Begriffe und Anschauungsweisen der geistigen Welt ineinandergreifen oder zumindest kontinuierlich aneinander anschließen können. Solche Brückenstufen bilden »diese« drei genannten materiellen Erkenntnisse:

»Sein/Form«: Die Spektralanalyse mit ihrer Erkenntnis der materiellen Einheit des Universums kann die Brücke für eine Erkenntnis auch der geistigen Einheit des Universums bilden. Die alte, von Aristoteles bis in die frühe Neuzeit vertretene Auffassung, wonach irdischer und himmlischer Bereich wesentlich unterschiedlicher Natur sind, schließt eine solche Einheit grundsätzlich aus. Hatte Newton bereits einen wichtigen Schritt getan, indem er zeigte, dass die Planetenbewegungen derselben Kraft der Gravitation gehorchen, die auch auf der Erde erfahren wird, so zeigt die Spektralanalyse, dass auch die irdischen Stoffe mit dem Universum einen einheitlichen gesetzmäßigen Zusammenhang bilden.

»Bewusstsein«: Entsprechend kann die wissenschaftliche Untersuchung von ›abnormen‹ Bewusstseinszuständen wie Hypnose, Suggestion, Somnambulismus, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, eine Brückenfunktion bilden für die Lehre der Geisteswissenschaft, dass es andere, dem normalen Wachbewusstsein unter- und übergeordnete Bewusstseinszustände gibt. Obwohl Phänomene wie Hypnose, Suggestion etc. auch vorher schon bekannt waren, wurden sie von der offiziellen Wissenschaft bis dahin weitgehend ignoriert. Mit der wissenschaftlichen Untersuchung derartiger Phänomene kam die Kontinuität verschiedener Bewusstseinszustände auch von dieser Seite zunehmend in den Blick.

»Leben«: Am anschaulichsten wird die Bedeutung von Brückenprinzipien beim Evolutionsgedanken. Die geistgemäßen Vorstellungen Goethes am Anfang des Jahrhunderts über die Metamorphose der Lebewesen sowie seine Auffassung, dass ein kontinuierlicher Übergang besteht zwischen Anorganischem und Organischem, stießen damals noch weitestgehend auf Unverständnis und Ablehnung. Es galt die gegenteilige kantische Auffassung einer unüberwindlichen Grenze zwischen beiden Bereichen, so dass Organismen dem Menschen grundsätzlich unerklärlich bleiben und es folglich niemals einen »Newton des Grashalms« werde geben können. Durch die von Darwin 1859 begründete materielle Evolutionstheorie und ihre Lehre von der Entstehung der Arten und Umwandlung aller Lebewesen wurde Goethes Vorstellungsart so weit nachvollziehbar, dass ein materialistischer Wissenschaftler wie Ernst Haeckel z. B. seinen erweiterten Darwinismus in Goethe vorgebildet sehen konnte. Ihm zufolge ist Darwin der Newton des Grashalms. An Haeckel konnte dann wiederum Steiner anschließen mit seinem Versuch, aus dem naturwissenschaftlichen Evolutionsgedanken den »Geistesfunken« (ML, 287) zu schlagen: »Ich habe eine in diesem Sinne mit der Entwicklungsidee im Einklang stehende Weltanschauung in meiner ›Philosophie der Freiheit‹ darzustellen versucht«, schreibt Rudolf Steiner dazu am Ende von Welt- und Lebensanschauungen (RP[II], 208 [gestr.]). Es war deshalb nur folgerichtig, wenn er dieses Buch Ernst Haeckel widmete.

Neben der philosophischen Eingrenzungsmöglichkeit des neunzehnten Jahrhunderts durch Kant und Wahle, an deren Ende Steiner zufolge die »Mutlosigkeit des Denkens« steht, gibt es also auch eine wissenschaftliche durch Goethe und Haeckel, die ein ganz anderes geistiges Gepräge hat und Steiner zufolge ein Potential birgt, aus dieser Mutlosigkeit herauszugelangen.

Daneben gibt es noch eine dritte, tiefgründigere Eingrenzungsmöglichkeit, die nicht so leicht ins Auge springt und die man, im Gegensatz zu der philosophischen und der wissenschaftlichen, die okkulte nennen könnte. Sie ist in der »Einleitung« zunächst so angedeutet: »Man darf also wohl eine Geschichte der deutschen Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert als eine Entwicklung der Gesichtspunkte Fichtes zu denjenigen Haeckels ansehen« (RP[I],  Einleitung  1900).

 

3. Fichte und Haeckel

Haeckel spielt also eine bedeutende Rolle in Steiners Geschichte der Weltanschauungen im 19. Jahrhundert. Zwar stand er Haeckel alles andere als unkritisch gegenüber. Es ging ihm aber nicht darum, dessen Schwächen aufzuzeigen – das taten schon genügend andere – sondern dessen wahre Bedeutung ins rechte Licht zu rücken. Auch hier gibt die autobiographische Skizze, die Steiner für Edouard Schuré anfertigte, einen interessanten Hinweis darauf, warum ihm gerade Haeckels Evolutionstheorie so wichtig war. Dort heißt es:

Hätte Haeckel jemals Philosophie auch nur ein wenig studiert, in der er nicht bloß Dilettant, sondern ein Kind ist: er hätte ganz sicher aus seinen epochemachenden phylogenetischen Studien die höchsten spiritualistischen Schlüsse gezogen. – Nun ist trotz aller deutschen Philosophie, trotz aller übrigen deutschen Bildung Haeckels phylogenetischer Gedanke die bedeutendste Tat des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und es gibt keine bessere wissenschaftliche Grundlage des Okkultismus als Haeckels Lehre. Haeckels Lehre ist groß, und Haeckel der schlechteste Kommentator dieser Lehre. Nicht indem man den Zeitgenossen die Schwächen Haeckels zeigt, nützt man der Kultur, sondern indem man ihnen die Größe von Haeckels phylogenetischen Gedanken darlegt. Das tat ich in den zwei Bänden meiner ›Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert‹, die auch Haeckel gewidmet sind, und in meiner kleinen Schrift ›Haeckel und seine Gegner‹. – In der Haeckelschen Phylogenie lebt tatsächlich allein die Zeit des deutschen Geisteswesens. (Selbstzeugnisse, 93 f.)

Haeckels phylogenetischer Gedanke ist das Resultat seiner Bemühungen, anhand der individuellen Entwicklung der höheren Organismen nachzuweisen, dass sie tatsächlich von niederen Lebewesen abstammen. Dabei fand er, dass die Entwicklung eines Lebewesens (Ontogenese) die Stammesgeschichte (Phylogenese) in abgekürzter Form wiederholt. Er fasste seine Ergebnisse in dem sogenannten »biogenetischen Grundgesetz« zusammen:

Das organische Individuum […] wiederholt während seines raschen und kurzen Laufes seiner Entwicklung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicklung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.

Die moderne Entwicklungsbiologie betrachtet dies schon lange nicht mehr als Gesetz, sondern bestenfalls als eine Regel, zu der Ausnahmen bekannt sind. Auch Steiner wusste, dass Haeckels Gesetz keine uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen kann; ihm ging es aber in erster Linie um die Bedeutung des biogenetischen Gedankens für die menschliche Entwicklung. Zur selben Zeit, als er die Welt- und Lebensanschauungen abschloss, begann er auf Einladung der deutschen Theosophen Carl Lorenz Graf von Brockdorff und dessen Gemahlin Sophie von Ahlefeld (Brockdorff) einen Vortragszyklus zu halten, den er im folgenden Jahr in Buchform veröffentlichte: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung. Darin schrieb er bezüglich Haeckels:

Ich selbst stehe völlig auf dem Boden dieser Naturwissenschaft. […] Ich empfinde ein Höheres, Herrlicheres, wenn ich die Offenbarungen der ›natürlichen Schöpfungsgeschichte‹ auf mich wirken lasse, als wenn die übernatürlichen Wundergeschichten der Glaubensbekenntnisse auf mich eindringen. Ich kenne in keinem ›heiligen‹ Buche etwas, das so Erhabenes mir enthüllte, wie die ›nüchterne‹ Tatsache, daß jeder Menschenkeim im Mutterleibe aufeinanderfolgend in Kürze diejenigen Tierformen wiederholt, die seine tierischen Vorfahren durchgemacht haben (MA, 119; letzte Herv. E. F.).

Über diese »nüchterne Tatsache« hatte Haeckel z. B. in der Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen geschrieben:

Die meisten ›Gebildeten‹ haben niemals einen solchen menschlichen Keim oder Embryo gesehen und wissen nicht, dass derselbe von anderen Thier-Embryonen gar nicht zu unterscheiden ist. Dieser Keim ist anfänglich weiter nichts als ein kugeliger Zellenhaufen, dann eine einfache Hohlkugel, deren Wand eine Zellschicht bildet. Später erlangt derselbe zu einer gewissen Zeit im Wesentlichen den anatomischen Bau eines Lanzettthierchens, dann eines Fisches, noch später den typischen Körperbau von Amphibien und Säugethieren. Bei weiterer Entwicklung dieser letzteren erscheinen zuerst Formen, welche auf der tiefsten Stufe der Säugethierreihe stehen – Structuren, welche den Schnabelthieren, dann solche, welche den Beutelthieren nächst verwandt sind, und erst später solche Formen, welche die grösste Ähnlichkeit mit Affen besitzen, bis endlich zuletzt als Schluss-Resultat die eigentliche menschliche Form zum Vorschein kommt. (Haeckel [1891], 4)

Warum aber ist diese Tatsache Steiner zufolge »erhaben« und ihre Entdeckung die »bedeutendste Tat des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts«? Warum lassen sich die »höchsten spiritualistischen Schlüsse« aus dieser Tatsache ziehen? Ja, mehr noch: Warum soll es »keine bessere wissenschaftliche Grundlage des Okkultismus« als Haeckels Lehre geben?

Halten wir zunächst fest, dass mit Haeckels Forschungsresultaten ein empirischer Beleg dafür vorliegt, dass ein menschlicher Embryo, bevor er auf eine höhere Entwicklungsstufe steigen kann, zunächst eine kurze, gedrängte Wiederholung der langen Stammesgeschichte durchlaufen muss. Ein entsprechender, aufs Geistig-Seelische bezogener Gedanke von der notwendigen Wiederholung früherer Entwicklungsstufen vor jeder Höherentwicklung findet sich ansatzweise auch in der theosophischen Literatur. Vor allem aber spielt er eine zentrale Rolle in der geisteswissenschaftlichen Kosmogonie, die Steiner ab 1903 darzustellen begann und die in seiner Geheimwissenschaft im Umriß (1910) gipfelt.

Bevor ich darauf eingehe, möchte ich noch einmal zu der oben erwähnten ›Meisterbegegnung‹ zurückkehren. Neben der autobiographischen Skizze für Schuré, in der diese Begegnung erwähnt ist, gibt es noch eine etwas ausführlichere Darstellung Steiners in einem Vortrag vom 4. Februar 1913. (Aus bestimmten, hier nicht näher interessierenden Gründen spricht Steiner dabei von sich in der dritten Person.) Dort beschreibt Steiner den Meister als eine Persönlichkeit,

die sich eines Mittels bediente, um in der Seele des Knaben, der ja in der spirituellen Welt drinne stand, die regulären, systematischen Dinge anzuregen, mit denen man bekannt sein muss in der spirituellen Welt. Es bediente sich jene Persönlichkeit […] eigentlich der Werke Fichtes, um gewisse Betrachtungen daran anzuknüpfen, aus denen sich Dinge ergaben, in welchen doch die Keime zu der ›Geheimwissenschaft‹ gesucht werden könnten, die der Mann, der aus dem Knaben geworden ist, später schrieb. Und manches, aus dem die ›Geheimwissenschaft‹ geworden ist, wurde damals in Anknüpfung an Fichtes Sätze erörtert. (Selbstzeugnisse, 46 f.)

Eine ›Anknüpfung‹ an Fichte war deshalb möglich, da Steiner dessen Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre kurz zuvor, unmittelbar nach Abschluss seiner Schulzeit, intensiv studiert hatte und sogar daran gegangen war, sie in seinem Sinne umzuschreiben. Was allerdings inhaltlich mit dieser ›Anknüpfung‹ gemeint sein könnte, ist auf den ersten Blick alles andere als klar. In der Formulierung, dass die Keime zu der Geheimwissenschaft in Anknüpfung an Fichtes Sätze »gesucht werden könnten«, steckt aber auch die implizite Aufforderung zu dieser Suche (»Prüfen Sie alles!«). Meines Wissens ist sie bisher jedoch weder von Vertretern der Anthroposophie noch von deren Kritikern in befriedigender Weise aufgegriffen worden. Für eine Einschätzung der Bedeutung Fichtes im Rahmen der Welt- und Lebensanschauungen ist sie aber nicht unerheblich – genauso, wie für die Frage nach der von Steiner-Kritikern angezweifelten Authentizität der Meisterbegegnung.

Was kann also mit dieser ›Anknüpfung‹ gemeint sein? Dazu sollen zuerst die Grundgedanken der Welt- und Menschheitsentwicklung, wie sie in der Geheimwissenschaft sowie in verschiedenen Vorträgen dargelegt sind, kurz skizziert werden, soweit sie für einen Vergleich mit Fichte in Frage kommen.

Die Entwicklung des Menschen verläuft demzufolge in sieben Phasen, den sogenannten ›Planetenzuständen‹. Die ›Erde‹ ist dabei der vierte dieser Zustände. Im Einklang mit der okkulten Tradition bezeichnet Steiner die drei unserer Erde vorausgegangenen planetarischen Verkörperungen als ›Alter Saturn‹, ›Alte Sonne‹, ›Alter Mond‹. Auf die Erde werden später drei weitere Planetenzustände folgen. Während jeder der planetarischen Verkörperungen hat der Mensch einen bestimmten Bewusstseinszustand zu entwickeln. Die bisherige Entwicklung verdankt sich den Gaben hochstehender geistiger Wesen, die für die Menschwerdung von ihrer eigenen Substanz abgaben:

1) Der Alte Saturn wird von Steiner so beschrieben, dass geistige Wesen der ersten Hierarchie (»Geister des Willens«, in christlich-esoterischer Terminologie: Throne) ihr eigenes Wesen opfern, das von über ihnen stehenden Wesenheiten (»Geister der Harmonie« oder Cherubim) empfangen wird. Durch dieses Zusammenwirken entstehen neue Wesen (»Geister der Persönlichkeit« oder Archai, Urbeginne), die ganz aus Zeit bestehen: »Durch das Opfer, das die Geister des Willens den Cherubim bringen, wird die Zeit geboren. Aber die Zeit ist jetzt nicht die abstrakte Zeit, von der wir gewöhnlich sprechen, sondern sie ist selbständige Wesenheit. Jetzt kann man anfangen zu reden von etwas, was beginnt« (GA 132, 19; Herv. E. F.).

Durch das Opfer der Throne entstehen zugleich die ersten Anlagen zum physischen Leib des Menschen. Der Bewusstseinszustand, der solchen Menschenkeimen zugeschrieben werden kann, ist Steiner zufolge niedriger als im traumlosen Tiefschlaf, eine Art »Trancezustand« oder »Allbewußtsein« (GA 89, 136).

Der Alte Saturn durchläuft (wie alle Planetenzustände) sieben verschiedene Phasen oder »Lebenszustände«; jeder Lebenszustand geht durch sieben »Formzustände«. Danach tritt ein Ruhezustand ein, während dessen der Alte Saturn in einen rein geistigen Zustand übergeht. Danach beginnt eine neue Verkörperung, die »Alte Sonne«.

2) Auf der Alten Sonne geht die Tätigkeit der Throne und Cherubim weiter, zudem greifen aber auch andere Wesenheiten ein und führen die Entwicklung fort. Damit das möglich wird, müssen zuerst die auf dem Saturn erreichten Stufen wiederholt werden, um sich der neuen Situation anpassen zu können. Das im gegenwärtigen Zusammenhang Entscheidende ist, dass auf der Alten Sonne die »Geister der Weisheit« oder Kyriotetes ihr Wesen ausströmen lassen und die vorhandene Opfersubstanz beleben und in sie weisheitsvolle Ordnung hineinschaffen. Da nun alles der Zeit unterworfen ist, wird das so Gegebene entgegengenommen, bewahrt und in einer späteren Zeit von anderen Wesen (Archangeloi) zurückgestrahlt. Dazu schreibt Steiner:

Ihr [der Geister der Weisheit, Kyriotetes, E.F.] eigenes Wesen wurde, indem sie es hingegeben haben, zum Geschenk an den Makrokosmos, da war es ihr Inneres. Jetzt strahlt es zurück: ihr eigenes Wesen tritt ihnen von außen entgegen. Sie sehen ihr eigenes Inneres in die ganze Welt verteilt und widergestrahlt von außen als Licht, als die Widerspiegelung ihres eigenen Wesens. – Inneres und Äußeres sind die zwei Gegensätze, die uns jetzt entgegentreten. Das Frühere und Spätere verwandelt sich und wird so, daß es sich verwandelt in Inneres und Äußeres. Der ›Raum‹ ist geboren (GA 132, 35; Herv. E. F.).

Durch die Taten der Geister der Weisheit erhalten die Menschenkeime einen Äther- oder Lebensleib, der zugleich die bisherige Leibesanlage umwandelt und auf eine höhere Stufe hebt. Steiner vergleicht den Bewusstseinszustand, der für diese Menschenvorgänger charakteristisch ist, mit einer Art traumlosen Schlafbewusstseins.

3) Danach tritt wieder eine Ruhepause ein, in welcher der Planet in einen rein geistigen Zustand übergeht, bevor er in seine dritte Verkörperung eintritt, »Alter Mond« genannt. Erneut müssen zuerst alle bisher erreichten Zustände wiederholt werden, bevor die eigentlichen, für diese planetarische Verkörperung charakteristischen Entwicklungsstufen eintreten können. Durch besondere geistige Vorgänge, auf die hier nicht näher eingegangen werden muss, entstehen auf dem Alten Mond Formen von Innenleben, die von den »Geistern der Bewegung« oder Dynamis, die nun wirksam werden, in Fluss gebracht und in Bewegung gesetzt werden.

Für den Menschenvorgänger, der auf dieser Planetenstufe durch das Opfer der Dynamis einen Astral- oder Empfindungsleib als drittes Wesensglied bekommt, bedeutet dies, dass er eine Art Vorstellungs- oder Bilderbewusstsein entwickeln kann, das Steiner in etwa mit unserem Traumbewusstsein vergleicht.

4) Danach tritt wieder ein Rückgang in einen rein geistigen Zustand ein, bevor die nächste planetarische Verkörperung entspringt: die »Erde«, auf der das helle Tages- oder Gegenstandsbewusstsein zu entwickeln ist. Hier erhalten die Menschenvorläufer als Gabe der »Geister der Form« (Exusiai, hebräisch: Elohim) ihr viertes Wesensglied, das »Ich«.

Bevor das geschehen kann, werden zunächst in den drei ersten irdischen Phasen – den sogenannten ›polarischen‹, ›hyperboräischen‹ und ›lemurischen‹ Zeitaltern – die früher auf Altem Saturn, Alter Sonne und Altem Mond durchgemachten Zustände wiederholt; doch wieder nicht als bloße Wiederholung, sondern es werden dabei die früheren Phasen der menschlichen Verkörperung sowie die entsprechenden menschlichen Bewusstseinszustände so wiederholt, dass die im eigentlichen Sinne irdische Entwicklung stattfinden kann. Es mag hier reichen, die kurze Zusammenfassung aus Steiners Vortrag vom 2. November 1903 wiederzugeben:

In der ersten Wurzelrasse wurde das Empfindungsvermögen, in der zweiten das Anschauungsvermögen, in der dritten das Vorstellungsvermögen ausgebildet, und erst die vierte Wurzelrasse konnte die Vorstellungen behalten und hat dadurch das Gedächtnis ausgebildet (GA 88, 203).

Erst damit kann das eigentlich Neue – die Ausbildung des Selbstbewusstseins und der Freiheit – beginnen. Denn nur ein Mensch, der Vorstellungen hat, kann die Erinnerung an etwas ausbilden, das er angeschaut hat. (Was angeschaut wird, kann nicht zugleich erinnert werden.) Und erst der erinnernde, Vorstellungen reproduzierende Mensch kann sich im Wechsel dieser Vorstellungen als etwas Identisches und Bleibendes erfahren. Dies ist wiederum die Bedingung dafür, sich als ein selbständiges Wesen von seiner Umwelt zu unterscheiden und sich als ein Ich kennen zu lernen. Die Fähigkeit, zu sich ›Ich‹ zu sagen, setzt also Erinnerungsfähigkeit voraus, diese setzt Vorstellungen voraus, diese setzen Anschauungen voraus, diese Empfindungsfähigkeit.

So weit die Grundgedanken der bisherigen kosmischen und menschlichen Evolution, wie Steiner sie 1910 in der Geheimwissenschaft im Umriß darstellte. Die Einzelheiten waren ihm dreißig Jahre früher bei der ersten Begegnung mit dem Meister mit Sicherheit noch nicht gegenwärtig; seiner eigenen Aussage zufolge wurden ja damals erst »die Keime« zu diesem Werk gelegt »und manches, aus dem die ›Geheimwissenschaft‹ geworden ist, wurde damals in Anknüpfung an Fichtes Sätze erörtert«. Gehen wir also zu Fichte über, um diese Aussage verstehen zu können.

Fichtes epochale Leistung gegenüber früheren Theoretikern des Ich-Bewusstseins, wie etwa Descartes oder Kant, besteht in der Einsicht, dass der Satz ›ich bin‹ eine ganz andere Art des Seins ausdrückt als jeder ›Es ist‹-Satz über ein Ding oder ein Ereignis in der Welt. Während alle anderen Dinge oder Ereignisse, derer ich mir bewusst werden kann, ein Sein haben, das nicht von mir abhängt, so dass es mir in einer Anschauung gegeben werden muss, wenn ich dieses erkennen soll, kann ein Wissen vom ›Ich‹ in keiner Weise von außen kommen. Niemand kann mich mit ›Ich‹ bezeichnen oder für mich ›Ich‹ sagen. Aller Inhalt, alles Sein kommt dem Ich nur insofern zu, als es solches durch eigene Tätigkeit hervorgebracht hat. In Fichtes Terminologie: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein« (FW I, 98).

Das Ich ist demnach nur durch sich selbst das, was es ist. Da es aber, wenn es sich seiner nicht bewusst werden könnte, kein Ich wäre, so muss es auch für sich sein, was es ist: Selbstbewusstsein. Mit anderen Worten: Alles, was das Ich tut, um sich selbst zu setzen, muss es in einem weiteren Schritt ins Bewusstsein heben, indem es reflektiert auf das, was es im vorherigen Schritt tat. Dadurch wird die erste Tätigkeit bewusst, aber nun ist die zweite Handlung, die Handlung der Reflexion, unbewusst. Sie muss in einem nächsten Schritt durch erneute Reflexion ebenfalls ins Bewusstsein gehoben werden – und so weiter, bis alle Schritte im Bewusstsein vorkommen. Das selbstbewusste Ich, dadurch, dass es Tätigkeit und Bewusstsein seiner Tätigkeit ist, hat also eine Genese, eine Geschichte hinter sich, die Fichte unter dem Namen »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« (FW I, 222) in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre beschreibt. Die dabei vollzogenen Schritte können kurz so zusammengefasst werden:

1) Das Ich setzt sich selbst, d. h. es ist ursprünglich reine Tätigkeit. Dessen könnte es sich nicht bewusst werden, wenn sich die Tätigkeit ins Unendliche verlieren würde. Sie trifft also auf etwas, das die Tätigkeit aufhält und von dem sie zurückgeworfen wird. Das soll ins Bewusstsein gehoben werden. Dazu oszilliert das Ich zwischen beiden Richtungen und gebiert aus beiden etwas Gemeinsames, von dem nun alles Bewusstsein ausgehen kann: das »Gefühl« eines »Nicht-könnens« (FW I, 289), von gehemmter Tätigkeit. Auf dieser ersten Stufe, da es sich nur des Produkts seiner Tätigkeit bewusst sein kann, ist das Ich also ganz »Gefühl« bzw. »Empfindung« (FW I, 339).

2) Nun soll es sich nicht nur des Produkts, sondern auch seiner Tätigkeit bewusst werden; d. h. es soll sich als empfindend bewusst werden. Dazu muss es das Produkt (das Gefühl) bestimmen. Da alle Bestimmtheit einen Gegensatz voraussetzt – etwas ist nur A, insofern es nicht B ist, oder in der Sprache der Philosophen: omnis determinatio est negatio – muss dem zu Bestimmenden etwas entgegengesetzt werden können, von dem es sich unterscheidet. Soll also das Ich das Gefühl des Gehemmtseins bestimmen, muss es diesem das entgegensetzen, was dieses selbst nicht ist: ein Hemmendes, einen »Grund dieser Beschränkung« (FW I, 290). Produkt der Reflexion auf die Empfindung ist also ein Begrenzendes, ein Nicht-Ich.

Das Ich kann sich nun als empfindend bewusst werden, da es sich etwas entgegensetzen kann, das es begrenzt, etwas »ausser« dem Ich (ebd.). (Damit ist zugleich der Grund gelegt für die Unterscheidung außen – innen.) Da es sich nun aber nicht der Handlung des Entgegensetzens bewusst ist, sondern nur ein Bewusstsein hat von dessen Produkt, geht es ganz in diesem auf: Es ist »Anschauung« (FW I, 349) von etwas, nicht mehr bloße Empfindung.

3) Nun soll sich das Ich wieder seiner Tätigkeit bewusst werden, also des Setzens des angeschauten Nicht-Ichs; d. h. es soll dieses als sein Produkt bewusst werden. Ist etwas eigenes Produkt, könnte es auch anders sein. Das Angeschaute muss also die Elemente des Anderen (Äußeres) und des eigenen Tuns (Inneres) in sich vereinen, muss zugleich begrenzt und frei sein. Mit anderen Worten: Es ist »Bild« (FW I, 317, 374) oder Vorstellung eines Nicht-Ichs.

Schon hier wird deutlich, dass in der Selbstsetzung des Ichs mit den Stufen Empfindung, Anschauung, Vorstellung die ersten drei Stufen der von Steiner beschriebenen Menschheitsentwicklung auf der Erde, die ihrerseits eine Rekapitulation der drei vorherigen planetarischen Stufen beinhalteten, in Kurzform wiederholt werden. Nun kann beginnen, was der Erdentwicklung eigen ist und als Neues zum Bisherigen hinzukommt.

4) Auf der nächsten Stufe soll die vorstellende, Bild-schaffende Tätigkeit (Einbildungskraft) bewusst werden. Da sie eine Anschauungen nachbildende Tätigkeit ist, setzt auch sie sich, wie die Anschauungen selbst, ins Unbestimmte fort. Sie muss also, um bestimmt werden zu können, zum Stehen gebracht und fixiert werden, so dass sie sich von anderem unterscheiden lässt.

Das geschieht dadurch, dass Vorstellungen in einen Begriff zusammengefasst und ihr Wechsel damit zum Stillstand gebracht wird. Die Einbildungskraft wird also als »Verstand« (FW I, 233), d. h. als Begriffsvermögen, bewusst.

5) Nun muss durch eine erneute Reflexion die unbewusste Handlung des Fixierens von Vorstellungen (Begriffsbildung) bestimmt werden. Da, um einen Begriff zu bilden, nicht nur gewisse Vorstellungen zusammengefasst, sondern andere, von denen dabei abstrahiert wird, ausgeschlossen werden müssen, kommt damit die Spontaneität der Reflexion selbst zum Bewusstsein.

Das Produkt dieser neuen Reflexion ist somit das Bewusstsein der Freiheit, etwas festhalten und zugleich von anderem abstrahieren zu können, bestimmte Merkmale verbinden und andere ausschließen zu können. Dies ist die eigentümliche Fähigkeit des Denkens. Fichte nennt sie »Urtheilskraft« (FW I, 242).

6) Auch sie muss schließlich als solche noch ins Bewusstsein gehoben werden, also durch Reflexion bestimmt und somit unterschieden werden. Die Möglichkeit, von einem bestimmten Objekt zu abstrahieren, wird aber bewusst vor dem Hintergrund, von allen Objekten überhaupt zu abstrahieren. Dieses absolute Abstraktionsvermögen nennt Fichte »Vernunft« (FW I, 244).

Das Vermögen, von allem Objektiven zu abstrahieren, ist zugleich die »Quelle alles Selbstbewusstsein«, in welchem sich das Ich von allem unterscheidet, was nicht es selbst ist:

Alles, von welchem ich abstrahiren, was ich wegdenken kann […] ist nicht mein Ich, und ich setze es meinem Ich bloss dadurch entgegen, dass ich es betrachte, als ein solches, das ich wegdenken kann. Je mehreres ein bestimmtes Individuum sich wegdenken kann, desto mehr nähert sein empirisches Selbstbewusstseyn sich dem reinen (FW I, 244).

Damit wird deutlich geworden sein, warum, um »die regulären, systematischen Dinge anzuregen, mit denen man bekannt sein muss in der spirituellen Welt«, dies mit Hilfe von »Fichtes Sätzen« geschehen konnte: Jeder einzelne Mensch, bevor er sich seines Ichs bewusst sein kann, durchläuft in nuce noch einmal die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit, wie sie von Rudolf Steiner in der Geheimwissenschaft beschrieben worden ist. Dies ist in der folgenden Tabelle zusammengefasst:

Auch von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre hätte Steiner also sagen können, was er 1905 über Haeckels Forschungsresultate äußerte: dass sie »sozusagen das erste Kapitel der Theosophie« (GA 34, 231) bilden könnten. Beide, Fichte am Anfang des 19. Jahrhunderts und Haeckel an dessen Ende, stehen ihm zufolge an der ›Schwelle zur geistigen Welt‹. Fichte durchbricht erstmals die kantischen Erkenntnisgrenzen, wonach die übersinnliche Welt unerkennbar ist, und eröffnet einen Weg in die übersinnliche Welt. Er selbst hat die von ihm begründete Wissenschaftslehre so charakterisiert: »[E]ben in der Erforschung der für Kant unerforschlichen Wurzel, in welcher die sinnliche und die übersinnliche Welt zusammenhängt, dann in der wirklichen und begreiflichen Ableitung beider Welten aus Einem Prinzip, besteht ihr Wesen« (FW X, 104).

Eine solche Ableitung hat er aber nur für das Ich gegeben, worauf schon Schelling insistierte. Von einer wirklichen und begreiflichen Erkenntnis der geistigen Wurzeln der physischen Welt kann bei Fichte noch keine Rede sein. Dazu war ein ganz anderer Schritt in der Bewusstseinsentwicklung nötig: Erst nach der beispiellosen Schulung der Beobachtungsfähigkeit durch die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, erst nach dem bis dahin ungeahnten Eindringen in die Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt und der Entdeckung der natürlichen Evolution, besonders aber im Anschluss an Haeckel, ist Steiner zufolge eine genuine Basis für diese Möglichkeit gegeben:

Es ist trotz aller Fehler, die von Haeckel gemacht worden sind, für die sinnlich-physische Welt ein Standpunkt erreicht, der innerhalb dieser Welt festgehalten werden muß, wenn man von einem sicheren Boden in die geistige Welt eindringen will. Man muss exakt lernen, wie man zu forschen hat, zum Beispiel in der Zoologie, um nicht in Phantastik zu verfallen, sondern um den Phänomenen in ihrer Reinheit nachzugehen (GA 78, 72).

Im ›Zeitalter der Naturwissenschaft‹ muss eine Esoterik, die den Zeitanforderungen gerecht werden will, auch vor dem Forum der Wissenschaft, sofern diese sich selbst versteht, bestehen können.

Zwischen Fichte und Haeckel liegen nun die Jahrzehnte dieses tiefgehenden Bewusstseinswandels, den Steiner in Welt- und Lebensanschauungen im Einzelnen darzustellen sucht.

 

 

Der Gang der Darstellung in Welt- und Lebensanschauungen

Band I

In »Vorrede« und »Einleitung« steckt Rudolf Steiner zunächst den Rahmen ab, innerhalb dessen er den Entwicklungsgang der Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert nachzeichnen will: von der Zeit, da die führenden Geister, ganz auf die Kraft des Denkens vertrauend, versuchten, »aus sich selbst heraus die Wahrheit zu holen«, bis zum Ende des Jahrhunderts, das von der Gewissheit geprägt ist, dass nur durch die »Beobachtung der Thatsachen« (RP[I], Einleitung 1900) die großen Fragen des Daseins gelöst werden können.

Dazwischen liegt nach Steiner ein radikaler Bruch, der sich nicht zuletzt einer immer genauer werdenden Naturbeobachtung verdankt. Dadurch wurden Fortschritte der Erfahrungswissenschaften eingeleitet, die am Ausgang des Jahrhunderts noch ungeahnt waren und die es zugleich unmöglich machten, weiter so vorzugehen, »wie Fichte die Naturerkenntnis behandelt hat« (RP[I], Einleitung 1900). Die neuen, auf diesen Fortschritten basierenden, am naturwissenschaftlichen Methodenideal orientierten Weltanschauungen materialistischer Provenienz traten damit in scharfen Gegensatz zu den philosophischen und theologischen Anschauungen, die über Jahrhunderte hinweg die Gesamtauffassung der Wirklichkeit geprägt und begründet hatten. Da in seinen Weltanschauungen letztlich dasjenige zum Ausdruck komme, »wodurch sich der Mensch erst seinen wahren Wert geben will« (ebd., d), habe es nicht ausbleiben können, dass es besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu leidenschaftlichen Kämpfen auf weltanschaulichem Gebiet kam.

[D]ie Entwicklung der Welt- und Lebensanschauungen von Goethe und Kant bis zu Darwin und Haeckel [...] stellt sich als ein gewaltiges Ringen des menschlichen Geistes dar, das im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mit der kühnsten Entfaltung der Denkkraft behufs Lösung der großen Rätselfragen des Daseins begann und das in der Vertiefung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit eine vorläufige Befriedigung sucht (RP(I), Vorrede 1900).

Diesen Entwicklungsgang, dieses gewaltige Ringen des menschlichen Geistes nachzuzeichnen, ist Steiners Absicht in den Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert.

 

Das Zeitalter Kants und Goethes

Da die bedeutendsten Geister um 1800 zu Kant und Goethe wie zu Leitsternen aufblickten, nimmt Steiners Weltanschauungsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts von diesen ihren Ausgang. Für ihn sind Kant und Goethe zwei geistige Antipoden, die mit ihren ganz unterschiedlichen Sichtweisen auf die Natur und den Menschen als die bedeutendsten Vertreter des Dualismus und des Monismus ihrer Zeit dastehen und den Rahmen für die weitere Entwicklung der Weltanschauungen vorgeben.

Kant hatte eine Revolution in der Philosophie vollbracht, hinter die man nach Meinung vieler seiner Zeitgenossen – vgl. etwa die diesbezügliche Aussage Wilhelm von Humboldts (RP[II], 83) – nie wieder werde zurückgehen können. Aber der Preis für diese Revolution war Steiner zufolge ein hoher: Kant teilte die Welt in eine erkennbare, von mechanischen Gesetzen regierte Welt der Sinne und eine zugrundeliegende übersinnliche, grundsätzlich unerkennbare Welt ein. Die höhere Weltordnung fiel damit aus der Natur heraus und wurde ganz auf eine rein moralische Grundlage gestellt, Naturordnung und moralische Weltordnung fielen damit vollständig auseinander. Auf diese Weise habe Kant den alten Gegensatz von Wissen und Glauben zementiert: »Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.« Zu demjenigen, was sich der menschlichen Erkenntnis notwendig entzieht, gehören Kant zufolge aber nicht nur solche übersinnlichen Dinge wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, sondern auch das Lebendige, das Organische als solches, so dass er die Überzeugung aussprach, einen ›Newton des Grashalms‹ könne es niemals geben.

Daneben steht für Steiner Goethe als der maßgebende Repräsentant einer einheitlichen Weltauffassung, der die Wirklichkeit als ungetrennte Einheit von Geist und Natur empfand. Für Goethe gab es keinen Bruch, keine Grenzlinie zwischen dem Anorganischen und dem Organischen, genauso wenig, wie zwischen dem Natürlichen und dem Sittlichen.

Goethe ist eben der Ansicht, daß in dem subjektiven menschlichen Erkenntnisvermögen nicht bloß der Geist als solcher sich ausspricht, sondern daß die Natur es selbst ist, die sich in dem Menschen ein Organ geschaffen hat, durch das sie ihre Geheimnisse offenbar werden läßt. Es spricht gar nicht der Mensch über die Natur; sondern die Natur spricht im Menschen über sich selbst (RP[I], 101).

Auf dem durch diese beiden Geister abgesteckten Feld läuft nach Steiner die Entwicklung zunächst ab. Im Gegensatz zu Kant, der seine Gedanken in strenger, schulgemäßer Form präsentierte, finden sich in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften wenig methodologische Reflexionen auf die Grundlagen seiner Lehre. »Deshalb findet seine Vorstellungsart nur allmählich Eingang in die Entwicklung der Weltanschauung; und im Eingang des Jahrhunderts ist es zunächst Kant, mit dem sich die Geister auseinanderzusetzen versuchten« (RP[I], 109).

Fichte war der erste, der im Ausgang von Kant die kantischen Erkenntnisgrenzen erkennend zu durchstossen suchte: Im sich selbst setzenden Ich erblickte Fichte den archimedischen Punkt der Philosophie. Da das Ich, um sich als ein Bestimmtes zu setzen, sich das, was es nicht ist, entgegensetzen muss, wird auch das Nicht-Ich, die erkennbare Außenwelt, ins Ich verlegt, ihr Dasein wird ein ihr vom Ich beigelegtes:

Auf diese Weise verlor für Fichte die Welt außer dem ›Ich‹ ihr selbständiges Dasein [...]. Wo nun eine solche selbständige Außenwelt nicht vorhanden gedacht wird, da ist es auch begreiflich, daß das Interesse an dem Wissen, an der Erkenntnis dieser Außenwelt aufhört. Damit ist das Interesse an dem eigentlichen Wissen überhaupt erloschen (RP[I], 115).

Nur im lebendigen Handeln geht Fichte zufolge das Ich über sich selbst hinaus: Seine Taten lösen sich unweigerlich vom Ich und werden Bestandteil einer von ihm unabhängigen, einer moralischen Weltordnung. Dieser galt Fichtes tiefstes Interesse. Da sie nicht Gegenstand des Wissens sein kann, müssen sie geglaubt werden. »Wie Kant das Wissen entthront hat, um für den Glauben Platz zu bekommen, so hat Fichte das Erkennen für wertlos erklärt, um für das lebendige Handeln, für die moralische That freie Bahn vor sich zu haben« (120).

 

Die Klassiker der Welt- und Lebensanschauung

Mit Schelling trat die vom Ich unabhängige Außenwelt wieder in ihr Recht, allerdings noch ganz im Geiste des Idealismus. Er wollte für die Natur tun, was Fichte für das Ich getan hatte, nämlich die Natur in ihrem Werden begreifen. Statt die Natur ins Ich hineinzunehmen, suchte Schelling das Ich über die ganze Natur auszubreiten: »Über die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen« (RP[I], 139) war sein Grundsatz. Steiner zufolge sind für Schelling die Ideen, die er in den Naturvorgängen suchte, als deren Wesen die wahren schöpferischen Kräfte dieser Naturvorgänge selbst; die naturphilosophische Betrachtung ist somit eine Wiederholung des ursprünglichen göttlichen Schaffens. Dazu schreibt er:

Schelling fühlt sich also, wenn er sich der Betrachtung der Welterscheinungen hingiebt, gar nicht als Einzelwesen. Er erscheint sich wie ein Teil, ein Glied Gottes. Er denkt nicht, sondern Gott denkt in ihm: Gott beschaut in ihm seine eigene schöpferische Thätigkeit (144).

Anders stellte sich für Hegel das Verhältnis von Einzelmensch und Urwesen dar. Hegel sah im reinen Denken die höchste Tätigkeit des Menschen, in welchem zugleich der objektive Gehalt der Welt zum Vorschein komme. Der Weltprozess ist ihm zufolge fortschreitende Gedankenentwicklung: In den äußeren Dingen ist der Gedanke noch auf unbewusste Weise tätig, erst im menschlichen Bewusstsein schaut er sich selbst an, ist auf sich selbst gerichtet – zuerst in der Kunst, dann in der Religion, schließlich in der Philosophie, wo er sich selbst erfasst. Damit komme der Gedanke zum Abschluss seiner Entwicklung:

Er fragt nicht mehr nach einer Übereinstimmung mit etwas anderem. Er hat es nur mit sich allein zu thun (169).

[D]adurch vermochte diese Weltanschauung den Menschen so hoch zu stellen, weil sie in ihm verwirklicht sein läßt, was als Urkraft, als Urwesen aller Welt zu Grunde liegt; was seine Verwirklichung durch den ganzen Stufengang aller übrigen Erscheinungen vorbereitet, aber erst im Menschen erreicht. Goethe und Hegel stimmen in dieser Vorstellung vollständig miteinander überein. Was der erstere aus dem Anschauen der Natur und des Geistes heraus gewonnen hat, das spricht der letztere auf Grund des hellen, reinen Denkens aus. (173)

 

Reaktionäre Weltanschauungen

Über die in diesem Kapitel behandelten Persönlichkeiten schreibt Rudolf Steiner: »Man sieht es ganz deutlich: alle diese Denker sind bemüht, das Denken und seinen Gegenstand, die reine Idee, zu überwinden. Sie wollen dieses Denken nicht als die höchste Geistesäußerung des Menschen gelten lassen« (RP[I], 195).

So unterschiedliche Philosophen wie z. B. Johann Friedrich Herbart, Immanuel Hermann Fichte und Franz von Baader waren sich in der Gegnerschaft zu Hegels auf reinem Denken aufbauendem System einig. Sie hätten nicht akzeptieren können, schreibt Steiner, dass das göttliche Wesen im menschlichen Denken zu finden und erkennbar sei. »Sie waren bestrebt, an die Stelle des grauen, austernhaften, reinen Gedankens Hegels ein lebenserfülltes, persönliches Urwesen, einen individuellen Gott zu setzen. [...] Dadurch nähern sich diese Denker der christlichen Offenbahrungslehre« (192).

Eine anders geartete, aber gleichfalls reaktionäre Denkrichtung sieht Steiner in Schopenhauers Philosophie ausgebildet, dem das hegelsche System ebenfalls ein Gräuel war. Schopenhauer ging auf Kant zurück, aber seine pessimistische Lebenseinstellung ließ eine andere Sicht der Dinge entstehen, als sie sich bei Kant findet. Schopenhauer sei es nicht darum gegangen, die Welt zu erkennen, weil er sie für erkennenswert betrachtet, schreibt Steiner, sondern darum, »in der Betrachtung der Dinge sich ein Mittel zu schaffen, sie zu ertragen« (181). So wurde ihm das unseren Vorstellungen zugrundeliegende, kantische Ding an sich zum blinden, vernunftlosen Willen, der als Ursein, als ewiges Streben nach Dasein alles hervorbringt, was ist, einschließlich der menschlichen Vernunft. Auch sie ist somit Ergebnis der Unvernunft. Die asketische Abtötung des Willens, da sie allein Vertilgung des Unvernünftigen in der Welt bedeute, wurde ihm daher zum Ideal seiner pessimistischen Lebenseinstellung.

 

Die radikalen Weltanschauungen

Die Vertreter der radikalen Weltanschauung führten den Kampf gegen die idealistische Auffassung, die in Hegels Geistlehre kulminierte, in ganz anderer Form durch: auf psychologischem Feld (Ludwig Feuerbach), auf geschichtswissenschaftlichem Feld (David Friedrich Strauss), rein kritizistisch (Bruno Bauer), oder totalisierend (Max Stirner). Rudolf Steiner hat besonders Stirner zu dieser Zeit hochgeschätzt als einen Denker, der die den Menschen verknechtenden Illusionen mit letzter Konsequenz bekämpft habe und der »vermochte, vermittelst des Denkens wirklich zur Freiheit zu kommen« (RP[I],213 [gestr.]).

Die bedeutendste Rolle in diesem Kapitel spielt aber Feuerbach, der Steiner zufolge auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft wiederholte, was durch Caspar Friedrich Wolff ein Jahrhundert früher in der Wissenschaft von den Lebewesen vollzogen wurde: der Übergang von der Präformationslehre, wonach die Form eines Organismus seit Schöpfungsbeginn festgelegt und in dessen Keim bereits vollkommen vorgeformt (›eingeschachtelt‹) ist, zur Epigenesis, der zufolge die Entwicklung eines Organismus eine Kette von Neubildungen ist. »Diese Ansicht macht erst die Vorstellung eines wirklichen Werdens möglich. Denn sie erklärt, daß etwas entsteht, was noch nicht dagewesen ist, also im wahren Sinne ›wird‹« (198).

Etwas Entsprechendes sieht Steiner auch bei Feuerbach am Werk:

Der Protest Ludwig Feuerbachs gegen die Weltanschauung Hegels beruht darauf, daß er ein Vorhandensein des Geistes vor seinem wirklichen Auftreten in dem Menschen ebenso wenig anerkennen konnte, wie Wolff zuzugeben imstande war, daß die Teile des lebendigen Organismus schon im Ei vorgebildet seien. Wie dieser in den Organen des Lebewesens Neubildungen sah, so Feuerbach in dem individuellen Geiste des Menschen (199).

Feuerbach hatte Hegels philosophische Theologie säkularisiert und in Anthropologie transformiert: Für ihn ist das Wesen Gottes eine Projektion des Menschen, in der dieser den Gedanken seines eigenen Wesens gereinigt und von den Schranken des individuellen Menschseins befreit, verobjektiviert und in eine jenseitige Welt versetzt. Gottes Wesen ist für Feuerbach damit nichts anderes als das Wesen Mensch in seiner Vollkommenheit gedacht und vergegenständlicht. Steiner schreibt dazu:

Jegliches geistige Urwesen muß der Mensch aus seiner Phantasie heraus erst erschaffen; die Dinge und Vorgänge der Welt geben keine Veranlassung, ein solches anzunehmen. Nicht das geistige Urwesen, in dem die Dinge eingeschachtelt liegen, hat den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, sondern der Mensch hat sich nach seinem eigenen Wesen das Phantasiebild eines solchen Urwesens geformt. Das ist Feuerbachs Überzeugung (200).

Für Steiner hat sich damit der Entwicklungsgedanke auch in der Geisteswissenschaft an die Stelle der Schöpfungsgeschichte gesetzt.

 

Band II

Der Kampf um den Geist

Im zweiten Band thematisiert Rudolf Steiner die »realistische Phase« der Weltanschauungsentwicklung im 19. Jahrhundert. Das erste Kapitel behandelt die »Kämpfer für eine der Natur abgelauschten Weltanschauung« (RP[II], 22) – allen voran Ludwig Büchner, Carl Vogt und Jacob Moleschott.

Was sie herbeiführen wollten, war nichts geringeres als eine durchgreifende Umgestaltung aller bisherigen philosophisch-theologischen Welt- und Lebensanschauungen auf Grund moderner Wissenschaft und Naturerkenntnis (21).

Dieser Frontalangriff auf die bisherigen Weltanschauungen hat bekanntlich weiteste Kreise erschüttert und zu leidenschaftlichen Kämpfen geführt. Steiners Darstellung zielt auf das Positive und Zeitgemäße dieser Bewegung und würdigt den Mut, mit dem diese Materialisten in radikaler Weise auf die materiellen Bedingungen allen Daseins hingewiesen haben. Die Einzelwissenschaften hatten inzwischen so tiefe Einblicke in die Natur der Materie erbracht – die künstliche Herstellung des Harnstoffes durch Friedrich Wöhler, die Entdeckung der Pflanzenzellen durch Matthias Jacob Schleiden, u. v. a. m. –, dass im Vergleich damit philosophische Vorstellungen über das Wesen der Materie wie etwa Paul-Henri Thiry d’Holbachs (23) oder Hegels (26) als abstrakt und wirklichkeitsleer erscheinen mussten. In diesem Punkt steht Steiner ganz auf der Seite der Materialisten. Cum grano salis dürfte für alle in diesem Kapitel behandelten Materialisten gelten, was er ein Jahr zuvor in seinem Nachruf auf den am 30. April 1899 verstorbenen Ludwig Büchner im Magazin für Litteratur geschrieben hatte:

Es soll nicht geläugnet werden, daß Ludwig Büchner ein einseitiger Denker ist und daß man auch bei voller Zustimmung zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaft zu tieferen Vorstellungen kommen kann, als es seiner auf grobe Linien veranlagte Ideenrichtung möglich war. Aber es muß zugleich betont werden, daß diese Ideenrichtung mit den Empfindungen, die sie im Gefolge hat, unserem modernen Seelenleben unendlich viel näher steht als die philosophischen Gedankengebäude, die mit ihren höheren Erkenntnisquellen die überlebten Vorstellungen früherer Zeiten künstlich retten wollen. […] Die feinsten Ideen moderner Philosophen, die die Welt aus einem besonderen Geistwesen herleiten, erscheinen antediluvianisch gegenüber den groben und derben Gedankengängen dieses Materialisten. […] Ohne Verständnis der naturwissenschaftlichen Resultate und der Methoden, durch welche diese Resultate gewonnen werden, ist heute keine Weltanschauung möglich. Und daß Büchner dies erkannt hat, daß er auf Grund dieser Methoden und Resultate eine Weltanschauung zu gewinnen trachtete, ist sein nicht wegzuleugnendes Verdienst. Was er getan hat, ist viel wichtiger als alles, was der Neukantianismus und was Naturforscher vom Schlage Du Bois-Reymonds mit Reden wie die über ›Die Grenzen des Naturerkennens‹ geleistet haben (GA 30, 384‒389).

Was die materialistische Naturerkenntnis allerdings nicht zufriedenstellend erklären konnte und was ihr von ihren Kritikern immer wieder vorgehalten wurde, war die scheinbare Zweckmäßigkeit im biologischen Bereich, die schon für Kant die organischen Wesen unbegreiflich gemacht hatte. Diese Situation änderte sich 1859 durch die Publikation von Darwins Über die Entstehung der Arten.

 

Darwinismus und Weltanschauung

Darwins Theorie der Entstehung der Arten durch variable Anpassung, natürliche Selektion und Vererbung erlaubte es nach Steiner erstmals, jede teleologische Deutungsweise des Organischen aus deren Erklärung auszuschließen und damit den Dualismus von wissenschaftlicher Seite zu überwinden. Die Zweckmäßigkeit lebendiger Gebilde konnte nun auf die gleiche naturgesetzliche Weise erklärt werden, wie unorganische Phänomene. Dadurch erhielt der moderne Begriff der Entwicklung erstmals ein wirkliches, gesetzmäßiges Fundament, was Steiner so beschreibt:

Die moderne Entwickelungsidee verwarf alle Neigung der Erkenntnis, in dem Früheren bereits das Spätere zu sehen. Für sie war ja in keiner Weise das Spätere im Früheren enthalten. Dagegen bildete sich in ihr immer mehr der Grundsatz aus, in dem Späteren das Frühere zu suchen. [...] Man darf geradezu von einer Umkehrung der Richtung des Erklärungsbedürfnisses sprechen (RP[II], 54).

War es noch Darwins ausdrückliches Ziel gewesen, eine rein wissenschaftliche, keine weltanschauliche Theorie vorzulegen, ging Haeckel daran, aus dessen Theorie, angereichert durch eine Vielzahl hinzugefundener Tatsachen, eine umfassende monistische Weltanschauung auszubilden. Dazu zog er Steiner zufolge aus den Tatsachen die »Ideen, die das menschliche Erklärungsbedürfnis befriedigen sollen. Er ist von der unerschütterlichen Überzeugung durchdrungen, daß der Mensch für alle seine Seelenbedürfnisse aus diesen Thatsachen und diesen Ideen volle Befriedigung gewinnen kann« (58).

Dass Steiner in dieser Richtung eine fruchtbare Ergänzung und Erweiterung der goetheschen Naturauffassung sah, lässt sich bis in seinen Sprachgebrauch verfolgen. Über Lorenz Oken, der bereits in gewisser Weise den phylogenetischen Gedanken antizipiert hatte, schreibt er in goethescher Manier, dass dieser »geniale Denker [...] eine große Idee auf Grund eines glücklichen Aperçus« ahnte (55). Und von Haeckel heißt es, dass dessen Bedürfnis, die großen Weltanschauungsfragen mit wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen zu verbinden, ihn zu einer derjenigen Tatsachen führte, »von denen Goethe sagte, daß sie prägnante Punkte bezeichen, an denen die Natur die Grundideen zu ihrer Erklärung freiwillig hergiebt und uns entgegenträgt« (60).

 

Die Welt als Illusion

Hatten die ersten beiden Kapitel des zweiten Bandes Entwicklungen nachgezeichnet, die Steiner als grundsätzlich positiv ansah, da sie den übergeordneten Anforderungen einer ›fortschreitenden Entwicklung‹ entsprachen, kommen in den folgenden zwei Kapiteln Auffassungen zur Darstellung, die diesen Anforderungen seiner Ansicht nach weitgehend entgegenstehen (und deren negative Einschätzung bereits in den Kapitelüberschriften anklingt). Dabei steht an erster Stelle ein beginnender Verlust des Wahrheitsgefühls und die Überzeugung, dass »über den wahren Wesenskern der Welt nicht das geringste gewußt werden kann« (RP[II], 90).

Die wissenschaftlichen Arbeiten solcher Forscher wie Johannes Müller, Hermann von Helmholz, Matthias Jakob Schleiden und anderer hatten inzwischen die Überzeugung gefestigt, dass unsere Sinneswahrnehmungen rein subjektive, durch unsere Organisation bedingte Erlebnisse seien, die bestenfalls Zeichencharakter (Helmholz) haben können und von denen sich die wahre Natur der Dinge nicht erschließen lasse. Über sie können wir grundsätzlich nichts wissen: Wir sind so organisiert, dass wir nicht sagen können, wie die Welt unabhängig von unserer Organisation ist.

Diese agnostische Grundannahme »wirklich zu Ende zu denken« (84), ist Steiner zufolge das Verdienst von Friedrich Albert Lange. Denn auch unsere Organisation, auch unsere Sinne und unser Gehirn, so Lange, kennen wir nur durch Beobachtung und folglich nur, wie sie erscheinen, nicht wie sie in Wirklichkeit sind. Unsere wirkliche Organisation muss uns genauso unbekannt bleiben wie die wirklichen Außendinge: Wir haben es nur mit ihren Produkten zu tun.

Das materialistische wissenschaftliche Weltbild ist nach Lange deshalb eine Dichtung der Sinne und des Verstandes. Der konsequente Materialismus geht ihm zufolge damit in einen Idealismus über. Da dieser aber an die menschliche Organisation gebunden sei, dichte im wissenschaftlichen Weltbild die ganze menschliche Gattung, während in den idealistischen Systemen der Vergangenheit, da sie über die gattungsmäßige Sinnes- und Verstandesdichtung hinausgingen, die einzelnen Individuen dichteten. Da eine Dichtung nicht ›wahrer‹ sei als die andere, entscheide zwischen ihnen letztlich ihr Wert für das Leben. »Das Leben wird nicht an den Ideen gewertet, sondern die Ideen werden an ihrer Fruchtbarkeit für das Leben bewertet« (91).

Dass dieses folgenschwere Resultat nicht etwa eine nur Lange eigene oder typisch deutsche Auffassung ist, sondern einer »tief in der Weltanschauungsentwicklung der neueren Zeit wurzelnden Gedankenneigung« (ebd.) entspricht, sollen Steiners Betrachtung der gleichzeitigen philosophischen Positionen in England und – im nächsten Kapitel – in Frankreich belegen.

 

Die Weltanschauung des Tatsachenfanatismus

In Frankreich hat im 19. Jahrhundert vor allem August Comte eine rein positivistische Weltanschauung auf streng wissenschaftlicher Basis aufzubauen versucht; er bildet in diesem Kapitel einen der Mittelpunkte, um den sich andere Denker gruppieren. Da in Comte vieles nachgewirkt habe, was im vorausgegangenen Jahrhundert in Frankreich gedacht wurde und das sich sowohl von der deutschen als auch von der englischen Gedankenentwicklung in grundsätzlichen Fragen unterscheide, geht Steiner zunächst ins 18. Jahrhundert zurück und gibt einen detaillierten Überblick über die hier in Frage kommenden französischen Denker. Erst danach kehrt er zu Comtes Grundanliegen zurück, nämlich in einer ausschließlich wissenschaftlichen, streng positivistischen Betrachtung der Tatsachen zu einer Erklärung sowohl der natürlichen als auch gesellschaftlichen Phänomene zu gelangen. Die Soziologie, die bei ihm zur Basiswissenschaft avanciert, sollte die wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit umfassen und in einem zusammenhängenden Ganzen darstellen.

Dem Philosophen stellte Comte keine andere Aufgabe als die einer solchen orientierenden Zusammenstellung. [...] Damit war in schärfster Weise die Meinung zum Ausdruck gekommen, daß allein die Wissenschaften, mit ihrer Beobachtung der Wirklichkeit, mit ihren Methoden, mitzusprechen haben, wenn es sich um den Ausbau der Weltanschauung handelt (RP[II], 127 f.).

Die Philosophie degeneriert damit erstmals in der Geschichte zur bloßen Wissenschaftstheorie.

In Deutschland sieht Steiner diese These von der alleinigen Berechtigung des wissenschaftlichen Denkens vor allem von Eugen Dühring verfochten. Dabei habe dieser der von Darwin vertretenen Evolutionstheorie ablehnend gegenüber gestanden: »Nicht auf das Werden in der Natur, sondern auf die festen Gestaltungen, welche die Natur herausarbeitet durch Kombination ihrer Kräfte, geht Dühring los« (132 f.). Ein ähnlicher »Thatsachenfanatismus« komme auch in den Auffassungen Julius Heinrich von Kirchmanns zum Tragen, wonach allein das wirklich ist, was wahrgenommen werden kann: »Man verlor in weiten Kreisen den Faden, der von der wissenschaftlichen Tatsachen-Kenntnis zu einer befriedigenden Gesamtanschauung der Welt führte. Eine gewisse Ratlosigkeit in Weltanschauungsfragen bemächtigte sich Vieler« (136).

Auch die Versuche der Neukantianer, durch Rückgang auf Kant die Tragweite der menschlichen Erkenntnisfähigkeit noch einmal neu auszuloten, konnten nach Steiner trotz manchen gedanklichen Scharfsinns diese Tendenz nur verstärken. In dem oben bereits erwähnten, 1894 erschienenen Buch Wahles Das Ganze der Philosophie und ihr Ende scheint diese Tendenz auf radikale Weise zu ihrer logischen Konklusion gebracht: »Wahles Buch ist eines der bedeutsamsten Symptome der Weltanschauungsentwicklung im neunzehnten Jahrhundert. Die Vertrauenlosigkeit gegenüber dem Erkennen, die von Kant ihren Ausgangspunkt nimmt, endet mit dem vollständigen Bankerott an aller Weltanschauung« (120).

 

Moderne idealistische Weltanschauungen

Daneben gab es allerdings in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einige Denker wie Hermann Lotze, Gustav Theodor Fechner und Eduard von Hartmann, die suchten, die naturwissenschaftliche Vorstellungsart mit den idealistischen Traditionen der ersten Jahrzehnte zu verbinden. Für Lotze z. B. sind die Naturgesetze letztlich der äußere Ausdruck einer allwaltenden ethischen Gesetzmäßigkeit der Welt, ein von »einer Persönlichkeit gesetzter moralischer Zweck«, auf den die Welt hinstrebt (RP[II], 140). Für Fechner ist alles Körperliche und das ganze Universum zugleich ein Geistiges, Beseeltes, nur werde es im einen Fall von außen betrachtet, im anderen Fall von innen. Und von Hartmann sieht, ähnlich wie Schopenhauer vor ihm, in den Dingen der Welt und deren rationalem Ideengehalt einen unbewussten, vernunftlosen Willen am Werk, dessen Herrschaft sich in dem Vorhandensein der Schmerzen ausdrücke, die alle Wesen quälen: »Als eine allmähliche Vernichtung des unvernünftigen Willens durch die vernünftige Ideenwelt sieht daher Hartmann den Weltprozeß an« (148).

Die Besonderheit dieser Denker liegt nach Steiner vor allem darin, dass sie auf Grund ihrer Überlegungen zwar zur Anerkennung einer nicht-sinnlichen, ideellen Wirklichkeit geführt wurden, diese aber nirgends adäquat hätten erfassen können. Auch in diesem Kapitel geht er bereits über eine bloße Darstellung der Weltanschauungsentwicklung hinaus und bringt die eigene Position ins Spiel, der zufolge der gemeinsame Hauptfehler der behandelten Philosophen darin liegt, dass sie nicht in der Lage sind, das Denken in seiner nicht-sinnlichen Reinheit anzuschauen, sondern es wie von außen betrachten und zur Sache machen und sich damit den Zugang zu einer genuinen Erkenntnis der geistigen Wirklichkeit verbauen: »Es hängt alle höhere Weltanschauung davon ab, das Denken selbst zu fühlen, es zu erleben« (154 [gestr].). Mit Verweis auf seine eigene Philosophie der Freiheit schreibt er dazu: »Niemand kann ein ›Wesen‹ des Denkens finden, der dieses ›Wesen‹ nicht in dem Denken selbst sieht, oder erlebt« (ebd.).

 

Der moderne Mensch

Unter dieser, einem Buchtitel von Bartholomäus Carneri entnommenen Überschrift charakterisiert Steiner schließlich anhand einiger exemplarischer Denker die Situation, in der sich ein mit Weltanschauungsfragen ringender Mensch am Ende des 19. Jahrhunderts befunden habe.

Carneri hatte den Darwinismus zur Grundlage einer ethischen Weltanschauung gemacht. Für ihn war auch das Sittliche ein Produkt der natürlichen Evolution, ein vom Menschen auf Grund seines Triebes nach Glückseligkeit geschaffenes Bild seines ihm möglichen Glücks und damit der Ideale seines Handelns. Das sittlich ›Gute‹ und die ›Fortentwicklung‹ fielen bei ihm in eins: »Die Vorstellungsart Carneris ist ganz im Sinne der Entwicklungsidee, die nicht das Spätere im Früheren schon vorgebildet sein läßt; sondern der das Spätere eine wirkliche Neubildung ist« (RP[II], 166).

Warum aber bleibt eine Lebensform nicht auf einer bestimmten Stufe stehen, wenn sie im Kampf ums Dasein schwächere Formen aus dem Feld geschlagen hat und ihre Bedürfnisse befriedigt sind, sondern strebt nach Vervollkommnung? Diese Frage suchte William Henry Rolph dadurch zu beantworten, dass er den Daseinskampf durch den »Kampf um Mehrerwerb« ersetzte und die »Lebensmehrung«, den Trieb, mehr zu erwerben als zur Erhaltung des Status quo nötig ist, zum Grundprinzip aller Lebewesen erklärte.

Bei Friedrich Nietzsche bildete sich diese Idee zu der vom ›Willen zur Macht‹ alles Lebendigen fort. Aber auch Carneris Gedanke, dass die sittlichen Ideen von Gut und Böse Evolutionsprodukte sind, erfuhr in Nietzsche, besonders in Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral, weitere Ausgestaltung. Schließlich erlebte Langes Überzeugung, wonach unser Bild der Wirklichkeit eine Dichtung ist, über deren Wert das Leben entscheiden muss, in Nietzsches Umwertung aller Werte mit seiner »Kriegserklärung gegen den Begriff der Wahrheit« (RP[II],168 [gestr.]) eine gewichtige Renaissance.

Daneben steht für Steiner wie ein Gegenbild die materialistische Geschichts- und Lebensanschauung, wie sie vor allem Karl Marx formuliert hat: »Er hat der Idee jeden Anteil an der geschichtlichen Entwicklung abgesprochen« (172). In der Soziologie der Zeit habe eine solche Auffassung die Grundlage für die Erklärung allen geistigen Lebens und der menschlichen Kulturentwicklung gebildet:

Sie nimmt den Menschen in keiner Richtung als Einzelwesen, sondern als ein Glied der sozialen Entwicklung. Wie der Mensch vorstellt, erkennt, handelt, fühlt: das alles wird als ein Ergebnis socialer Mächte aufgefaßt, unter deren Einfluß der Einzelne steht (173).

 

Ausblick

Der abschließende, kurz gefasste »Ausblick« mit seinen Verweisen auf Steiners 1894 erschienene Philosophie der Freiheit kann als eine Antwort auf die bereits in den Neujahrsbetrachtungen eines Ketzers konstatierte »Mutlosigkeit des Denkens« am Ausgang des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Die Grundlage der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist, so Steiner, die Entwicklungsidee. Wer in ihrem Sinne denke, müsse »auch in den Hervorbringungen des Geistes vollkommene Neubildungen« (RP[II], Ausblick 1901) sehen. Das gelte für das individuelle Erkennen und Handeln gleichermaßen: »Durch sein Erkennen setzt der Mensch die vor dem Erkennen liegenden Vorkommnisse fort: aber er holt aus ihnen nichts heraus« (ebd.). Wirkliches Erkennen spiegele nicht die äußeren Dinge bloß wider, sondern bilde Ideen als deren Wesen hinzu. Und entsprechend müsse auch für das individuelle Handeln gelten, dass dessen letzte Grundmotive nicht aus den Dingen geschöpft, sondern als Neubildungen der Welt hinzugefügt werden müssen.

Eine solche, »mit der Entwickelungsidee im Einklang stehende Weltanschauung« (ebd.) darzustellen, hatte Steiner sich in der Philosophie der Freiheit zur Aufgabe gemacht. Leser der Welt- und Lebensanschauungen, die nach einer auch die höchsten geistigen Bedürfnisse befriedigenden, wissenschaftlich fundierten Gesamtschau der Wirklichkeit suchen, könnten ihm zufolge dort also entscheidende Anregungen finden.

II. Eine Philosophiegeschichte in geisteswissenschaftlicher Absicht

 

So ist die Philosophie heute auf einem Holzwege, wenn sie

das Erkennen nur untersucht in bezug auf das Auffassen der Außenwelt.

Denn das Wesentliche ist, daß das Erkennen eine im Menschen

gestaltende Kraft ist und das andere geradezu als Nebenwirkung auftritt.

                                                          

       (GA 73a, 401)

Zwischen Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert

und Die Rätsel der Philosophie

Ein Vierteljahrhundert später, in seiner unvollendeten Autobiographie Mein Lebensgang, blickt Rudolf Steiner auf die Zeit der Abfassung von Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert zurück:

Ich sah in dem Denken, das aus der Naturerkenntnis folgen kann – aber damals nicht folgte – die Grundlage, auf der die Menschen die Einsicht in die Geistwelt erlangen konnten. Ich betonte deshalb scharf die Erkenntnis der Naturgrundlage, die zur Geisterkenntnis führen kann (ML, 255; Herv. E. F.).

Auf einige der Gründe, warum Steiner zufolge damals aus der Naturerkenntnis der Weg zur Geisterkenntnis nicht folgte, wird später zurückzukommen sein. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist es von Interesse, dass er den Welt- und Lebensanschauungen in seiner eigenen Entwicklung einen besonderen Stellenwert zuschreibt:

Wenn ich auf dieses Buch zurückblicke, so scheint mir mein Lebensgang gerade an ihm sich symptomatisch auszudrücken. [...] Ich bewegte mich so vorwärts, daß ich zu dem, was in meiner Seele lebte, neue Gebiete hinzufand. Und ein besonders regsames Hinzufinden auf geistigem Gebiete fand bald nach der Bearbeitung der ›Welt- und Lebensanschauungen‹ statt (ML, 284).

Während dieser hatte ich noch die naturwissenschaftliche Anschauung vor dem Seelenauge, die aus der Darwin’schen Denkart hervorgegangen war. Aber diese galt mir nur als eine in der Natur vorhandene sinnfällige Tatsachenreihe. Innerhalb dieser Tatsachenreihe waren für mich geistige Impulse tätig, wie sie Goethe in seiner Metamorphoseidee vorschwebten. [...] Das alles war von mir in ideellem Inhalte noch gedacht, zur imaginativen Anschauung arbeitete ich mich erst später durch. Erst diese Anschauung brachte mir die Erkenntnis, daß in Urzeiten in geistiger Realität ganz anderes Wesenhaftes vorhanden war als die einfachsten Organismen. [...] Als ich dann später die zweite Auflage des Buches bearbeitete, da war in meiner Seele schon die Erkenntnis von der wahren Entwicklung. [...] Das Erleben der Begriffe, der Ideen führte mich aus dem Ideellen in das Geistig-Reale (ebd.).

Dieses nach 1901 sich zunehmend ausbildende, erlebnishafte Erkennen des Geistig-Realen, das in den Ideen wirkt, markiert zugleich den Übergang von Steiners philosophisch ausgerichteten Arbeiten zu den geisteswissenschaftlichen, später anthroposophisch genannten Werken. Jetzt begann er, die für eine solche Erkenntnis der geistigen Wirklichkeiten notwendigen Erkenntnismethoden, die er als Imagination, Inspiration und Intuition bezeichnete, auszuarbeiten und bekannt zu machen. Vor allem aber begann er, Ergebnisse dieser geisteswissenschaftlichen Forschungen zu veröffentlichen: in Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904), in Aus der Akasha Chronik (1904‒1908) und schließlich in dem Hauptwerk Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910), das die in den frühen Gesprächen mit dem Meister angelegten »Keime zu der ›Geheimwissenschaft‹« entwickelt und die bereits oben angesprochene Welt- und Menschheitsentwicklung durch die vier bisherigen planetarischen Verkörperungen (Alter Saturn, Alte Sonne, Alter Mond und Erde) ausführlich darstellt.

Dieses »Hinzufinden auf geistigem Gebiet«, genauer: das Hinausgehen über das Gedanklich-Ideelle zum darin wirksamen Wesenhaften, Geistig-Realen, wird auch für das Verständnis der Rätsel der Philosophie im Gegensatz zu den Welt- und Lebensanschauungen von Bedeutung sein.

 

Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft

Es ist bereits erwähnt worden, dass Steiner 1902 die Leitung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft unter der ausdrücklichen Bedingung übernommen hatte, dass er der westlichen okkulten Strömung statt der östlichen dienen werde. Mit den Büchern Theosophie und Die Geheimwissenschaft hatte er das, was von Blavatsky und anderen als Theosophie vertreten wurde und sich an die östliche esoterische Tradition anschloss – die Theosophische Gesellschaft hatte deshalb ihr Hauptquartier 1882 nach Adyar in Indien verlegt –, aus eigener geisteswissenschaftlicher Forschung neu erschlossen, korrigiert und vertieft. Vor allem hatte er aber auch die Erkenntnismethoden bekannt gemacht, die es jedem bei entsprechender Schulung erlauben würden, solche Erfahrungen selbst zu machen. Damit wurden die grundsätzlichen Gegensätze zwischen der deutschen Sektion und der übrigen Theosophischen Gesellschaft auch öffentlich immer deutlicher.

Zu zusätzlichen Spannungen, die schließlich zum Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft führten, kam es, als diese in dem 14-Jährigen indischen Knaben Jiddu Krishnamurti den »Träger« des zukünftigen »Weltheilands« zu erkennen glaubte und Annie Besant 1911 den »Orden des Sterns im Osten« zu dessen Unterstützung gründete und die Zugehörigkeit zu diesem Orden zur Pflicht aller Theosophen erklärte. Nachdem Steiner sich zunächst zu diesen Vorgängen nicht geäußert hatte, eskalierten die Differenzen im Jahr 1912. Als der Vorstand der deutschen Sektion Annie Besant, die seit 1907 die Leitung der Theosophischen Gesellschaft innehatte, zum Rücktritt aufforderte, schloss diese im Januar 1913 die deutsche Sektion kurzerhand aus der Theosophischen Gesellschaft aus, indem sie die Stiftungsurkunde zurückzog.

Schon kurz darauf, vom 3. bis 8. Februar 1913, fand in Berlin die erste Generalversammlung der neugegründeten Anthroposophischen Gesellschaft statt. In seinem Eröffnungsvortrag »Das Wesen der Anthroposophie« suchte Steiner deutlich zu machen, dass die Anthroposophie nicht aus einer Willkür oder aus subjektiven Interessen entsprungen sei, sondern sich als Notwendigkeit aus der Forderung der Zeit ergebe.

Auf diesen Vortrag soll hier zunächst etwas näher eingegangen werden.

 

»Das Wesen der Anthroposophie«

Zunächst weist Rudolf Steiner darauf hin, dass die Anthroposophie, die von nun an »abseits gehen und neben« der Theosophie zu wirken habe, ihre Aufgabe allein darin sehen muss, dasjenige zu liefern, was »dem Geistesleben der fortschreitenden Menschheit eingefügt werden muß« (61), wenn diese sich regelmäßig-fortschreitend weiterentwickeln soll. Dazu könne es nicht reichen, abstrakte Ideale über die Menschheitsentwicklung zu entwerfen. Vielmehr müsse von einem Verständnis dessen, was deren Gang zugrunde liegt, wie er bisher war und wie er fortfahren muss, ausgegangen werden. Anders gesagt, es muss von »Tatsachen« ausgegangen werden, in denen die Quellen des fortschreitenden Lebens selbst zum Ausdruck kommen: »Derjenige, der tatsächlich der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit dienen will, der muß das, was er geben will, herausholen aus den Quellen, aus denen das fortschreitende Leben der Menschheit selbst fließt« (64).

Die zunächst überraschende ›Tatsache‹, die Steiner dafür in diesem Vortrag als ein Beispiel wählt, ist das Vorhandensein eines Liebesgedichts, aus dem er als charakteristisch die folgenden Zeilen zitiert:

Bei ihrem Anblick scheinen Atemzüge

Des Paradieses sanft mich zu umfächeln;

Die Liebe selbst schenkt ihr dieses Lächeln,

Und was ihr Auge sagt, ist keine Lüge.

Dieses Liebesgedicht wurde um etwa 1310 n. Chr. geschrieben. Es stammt von Dante Alighieri, dem großen Dichter der Divina Commedia. Das Besondere und Überraschende daran ist, dass die angerufene Geliebte, die »donna gentile«, der der Autor höchste Glückseligkeit verdankt, die »Filosofia« ist. Worauf es Steiner in diesem Zusammenhang aber vor allem ankommt – die ›Tatsache‹ im eigentlichen Sinn – ist, dass Dante noch einer derjenigen Menschen war, »welcher ein ebenso konkretes, leidenschaftliches, persönliches, unmittelbar seelisches Verhältnis empfinden konnte zur Dame Philosophie wie der moderne Mensch zu einer Dame im Fleisch« (69).

Das ist uns heute natürlich von Grund auf fremd geworden. Aber auch die Griechen kannten ein solch konkretes, rein persönliches Verhältnis zur Philosophie (noch) nicht. Die Griechen empfanden die ›Sophia‹ – die kosmische Weisheit, die Weisheit an sich – zwar als eine Wesenheit, die aus dem Übersinnlichen ins irdische Dasein hereinwirkt, aber als eine ganz objektive Wesenheit, »sozusagen als eine elementarische Kraft« (70).

Die Darstellungen der ›Philosophia‹, die als ein konkretes, göttliches Wesen an den Menschen als Einzelnen herantritt, beginnen etwa um das 5. Jahrhundert n. Chr., zuerst bei den Dichtern (»als Amme, als Wohltäterin, als Führerin und dergleichen« [70]), etwas später dann auch durch die Maler. In der Neuzeit ist dieses persönliche Verhältnis wieder abhandengekommen:

Die Philosophie ist nicht mehr das Weib, das sie bei Dante und noch bei zahlreichen anderen war, die im Dante-Zeitalter lebten. Die Philosophie ist heute so, daß wir sagen können: Gerade in der Gestalt, in der sie uns im 19. Jahrhundert in ihrer höchsten Entwicklung entgegentritt als Ideenphilosophie, als Begriffsphilosophie, als Philosophie der Objekte, gerade in dieser Gestalt zeigt sie uns, daß sie ihre Rolle in der Geistesgeschichte der Menschheit ausgespielt hat (75).

Wie ist diese ›Tatsache‹ zu verstehen bzw. was liegt der beschriebenen Entwicklung zugrunde? Was sich in dieser Entwicklung spiegelt, so Steiner, ist die Ausbildung verschiedener Seelenglieder in der fortlaufenden Menschheitsentwicklung. Hier sei zunächst noch einmal an einen Satz von 1903 erinnert, der oben (Anm. 75) im Zusammenhang mit Haeckel bereits erwähnt wurde:

 

Wie der Naturforscher zu den Tierformen geht, aus denen sich andere entwickelt haben, um diese anderen zu verstehen, so sollte der Seelenforscher, der sich auf den Boden dieser Naturforschung stellt, zu der Seelenform gehen, aus der sich eine andere entwickelt hat, um die letztere zu verstehen (GA 34, 87).

In der 1904 erschienenen Schrift Theosophie hatte Steiner dann eine Darstellung der verschiedenen menschlichen Wesensglieder gegeben: drei leibliche (physischer Leib, Äther- oder Lebensleib, Astral- oder Empfindungsleib), drei seelische (Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele, Bewusstseinsseele) und drei bisher nur in der Anlage vorhandene, in der Zukunft zu entwickelnde geistige Glieder (Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch). Die drei Seelenglieder entwickeln sich dieser Lehre zufolge primär zwischen dem 21. und 42. Lebensjahr in ungefähr siebenjährigen Abschnitten. Der einzelne Mensch wiederholt damit in kurzer, individualisierter Form, was sich in der Menschheitsgeschichte in langen Zeiträumen entwickelte.

Menschheitsgeschichtlich wurde die Empfindungsseele Steiner zufolge in der chaldäisch-ägyptischen Kulturepoche ausgebildet. Aus dieser entwickelte sich ihrerseits die griechische Kultur, die die Verstandes- oder Gemütsseele ausbildete. Während die Empfindungsseele auf die Eindrücke, die sie von außen empfängt, mit inneren, bildhaften Empfindungen reagiert, aber sich zugleich noch ganz eingebunden in den kosmischen Zusammenhang fühlt, als Glied im Weltenorganismus, geht die Verstandesseele darüber hinaus und stellt sich der Außenwelt bewusst gegenüber. Sie fragt nach Ursachen und Erklärungen, bildet Verstandesbegriffe aus, sucht Zusammenhänge zu erkennen und strebt nach Wahrheit. Geschichtlich betrachtet beginnt dies mit dem Auftreten des Denkens als allgemeiner Menschenfähigkeit in Griechenland zwischen dem 8. und 6. vorchristlichen Jahrhundert.

Die Verstandesseele ist an etwas hingegeben, das sie denkend zu erfahren sucht. Das gilt auch für die kosmische Weisheit, die ›Sophia‹. Der Grieche, so Steiner, insofern er in der Verstandesseele lebte, hatte »keine Veranlassung, das unmittelbare, persönliche Verhältnis seines Bewußtseins zu dieser objektiven Wesensheit zum Ausdruck zu bringen. Und das mußte geschehen, indem der Übergang nach und nach vorbereitet wurde zu einem neuen Zeitalter, dem Zeitalter der Bewußtseinsseele« (74). Sie beginnt damit aber auch, sich in ein unmittelbares Verhältnis zur ›Sophia‹ zu bringen.

Das Bewusstseinsseelenzeitalter, das sich ab dem 15. Jahrhundert auszubilden beginnt, ist zugleich die Zeit der Eroberung des Ich-Bewusstseins einerseits, der aufkommenden Naturwissenschaften andererseits. Die Seele ergreift sich nun selbst in ihrer eigenen Wesenheit, löst sich aus dem objektiven Weltbild heraus und erfährt sich als abgesondert von der ganzen Natur, inklusive der eigenen Leiblichkeit, und verschmilzt mit dem Bewusstsein (Descartes’ cogitationes). Die Natur erscheint entseelt. Die ›Philosophia‹ ist ebenfalls ganz aus der Umwelt verschwunden, ist gewissermaßen ins Innere des Menschen eingezogen: Philosophie wird nur noch als menschliche Tätigkeit erlebt; sie ist das, was die Philosophen machen, wenn sie philosophieren. Die Annahme einer kosmischen Weisheit wird zur Glaubens- und Privatangelegenheit.

Damit ist die Entwicklung des Menschen natürlich nicht abgeschlossen. Soll diese regelmäßig, seinen Anlagen entsprechend fortschreiten, muss der Mensch Steiner zufolge im Zeitalter der Bewusstseinsseele den Weg finden zur Ausbildung des nächsten Wesensglieds, durch welches er wieder seinen Zusammenhang mit dem Kosmos erfahren und sich als geistiges Selbst und als »Ausdruck der Welt« (GA 26, 117) erkennen lernt: das »Geistselbst«. In ähnlicher Weise, wie innerhalb der Verstandesseelenkultur auf die Vorbereitung der Bewusstseinsseele hingearbeitet wurde, so stehen wir Steiner zufolge gegenwärtig in dem Zeitalter, das die Entwicklung des Geistselbst vorbereiten muss:

Was muß sich entwickeln? Das muß sich entwickeln, daß eine ›Sophia‹ wieder selbstverständlich da ist, aber: der Mensch hat diese ›Sophia‹ auf seine Bewußtseinsseele zu beziehen, sie an den Menschen unmittelbar heranzubringen. Das geschieht während des Zeitalters der Bewusstseinsseele. Daher ist diese ›Sophia‹ die Wesenheit geworden, die den Menschen erklärt. Nachdem sie eingezogen ist in das Menschenwesen, muß sie mitnehmen des Menschen Wesen, mit dem sie so innig verbunden war, daß auf sie ein so schönes Liebesgedicht gemacht werden konnte, wie das von Dante. Sie wird wiederum sich loslösen, aber mitnehmen das, was der Mensch ist. Und sie wird sich hinstellen, objektiv – jetzt nicht bloß als ›Sophia‹, sondern als ›Anthroposophia‹, als diejenige ›Sophia‹, die, nachdem sie durchgegangen ist durch die Menschenseele, dieses Wesen des Menschen aufgenommen hat, es fortan in sich trägt und sich ebenso vor den erkennenden Menschen stellt wie einstmals die Sophia, das objektive Wesen, das bei den Griechen gelebt hat (77).

Dieser durch die Zeitqualität bedingten Entwicklungsaufgabe, der die Theosophische Gesellschaft nicht gerecht wurde und die auch in ihrem Rahmen zunehmend unrealisierbar geworden war, suchte Steiner fortan mit der Anthroposophie zu dienen. Nachdem die Philosophie ihre Erziehungsaufgabe am Menschen erfüllt hat, ihn aus der Unselbständigkeit der Empfindungsseele zur Entwicklung der Verstandes- und Bewusstseinsseele geführt und damit das Selbstbewusstsein, die Ausbildung der Ich-Kraft und des Bewusstseins der eigenen Freiheit ermöglicht hat, kommt der Anthroposophie als Lehre vom ganzen (d. i. leiblichen, seelischen und geistigen) Menschen, die »den Menschen erklärt« und sein eigenes Wesen vor ihn hinstellt, die Aufgabe zu, ihm die weiteren, seinem Wesen entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen zu führen. Denn während die drei Seelenglieder wie die leiblichen Glieder gewissermaßen (natur)gegeben sind und sich ohne eigenen Willensentschluss entwickelt haben, müssen die folgenden Glieder durch einen freien Entschluss des Einzelnen und aus bewusster Eigentätigkeit ausgebildet werden. Dies wird folglich ausbleiben, wenn dem Einzelnen die Einsicht in seine entwicklungsgeschichtliche Situation mangelt.

 

Die Entstehung der Rätsel der Philosophie

Zur selben Zeit, als die erste Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft stattfand, am 7. Februar 1913, schrieb Otto Süssapfel, der Schwiegersohn des Verlegers Cronbach, der nach dessen Tod im Jahre 1907 die Leitung des Verlags übernommen hatte, an Rudolf Steiner:

Da die Vorräte Ihres Werkes ›Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert‹ zur Neige gehen, so wird die Frage einer Neuauflage akut. Es dürfte kaum ratsam sein, das Buch in derselben Form neu aufzulegen, weil ja das 19. Jahrhundert nun seit mehr als 12 Jahren beendet ist. – Wie denken Sie über eine veränderte und vermehrte Neuauflage, welche die Welt- und Lebensanschauungen von Urbeginn an bis auf die heutige Zeit in knapper und volkstümlicher Weise behandelt? Oder halten Sie es für richtiger, die neue Ausgabe etwa wie folgt zu betiteln: ›Die Welt- und Lebensanschauungen seit dem Jahre 1800 fortgeführt bis zur Gegenwart‹ sodass dann die neue Auflage genau mit demselben Zeitpunkt einsetzen würde, wie das bisherige Buch. Würden Sie in der Lage sein, die eine oder andere Neubearbeitung jetzt vorzunehmen, und wenn ja, bis wann ungefähr würden Sie das Manuskript liefern können. (Vertrag, Rudolf Steiner Archiv)

Da Süssapfel keine Antwort erhielt, schrieb er am 27. März 1913 erneut. Als auch dieses Schreiben ohne Antwort bleibt, schreibt er am 8. April 1913 noch einmal »Eingeschrieben mit Rückschein, um auf diese Weise zu erreichen, dass Sie persönlich den Brief in Empfang nehmen müssen.«

Das Ausbleiben einer Antwort auf die Anfrage des Verlegers dürfte dadurch bedingt gewesen sein, dass Steiner nach Abschluss der ersten Generalversammlung auf zahlreichen Vortragsreisen im In- und Ausland unterwegs war. Als er dann Mitte Juni für zwei Wochen in Berlin ist, kommt es am 18. Juni zu einem Gespräch mit dem Verleger, welches dieser schriftlich zusammengefasst hat:

Hierdurch bestätige ich die heute mündlich zwischen uns getroffenen Vereinbarungen wie folgt: Sie sehen die jetzige Ausgabe Ihres Werkes ›Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert‹ gründlich durch, vervollständigen sie durch eine Einleitung und einen bis auf den heutigen Tag fortgeführten Schluss und liefern das gesamte Manuskript bis spätestens den 30. September dieses Jahres ab. – Etwa die Hälfte des Manuskripts soll schon etwa Ende August zu meiner Verfügung sein. (ebd.)

Dieses Abkommen erwies sich allerdings als zu optimistisch. Denn schon kurz darauf begannen in München die Probearbeiten für Steiners viertes Mysteriendrama, das im August aufgeführt wurde (begleitet von Vorträgen Steiners). Zugleich liefen die Vorarbeiten für den Bau des Goetheanums in Dornach bei Basel, dessen Grundsteinlegung am 20. September erfolgte. Aus der Schweiz reiste Steiner direkt nach Skandinavien, wo er zahlreiche Vorträge an verschiedenen Orten hielt. Von dort am 17. Oktober nach Berlin zurückgekehrt, »zog sich Steiner für kurze Zeit zu einer wichtigen Arbeit zurück und ließ seine Schüler bitten, ihn nicht zu besuchen«. Bei dieser ›wichtigen Arbeit‹ dürfte es sich um Die Rätsel der Philosophie gehandelt haben. In einem Vortrag vom 21. Oktober führt Steiner dazu aus:

Sehen Sie, es ist jetzt notwendig geworden, daß ich die zweite Auflage meines Buches ›Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert‹ fertigstelle. Nun war dieses Buch, als es seinerzeit erschien, ein ›Jahrhundertbuch‹, ein Rückblick auf das verflossene Jahrhundert. Eine zweite Auflage kann natürlich nicht dasselbe sein, denn es hat keinen Sinn, im Jahre 1913 einen Rückblick auf das vorherige Jahrhundert zu schreiben. So mußte denn dieses Buch vielfach in seiner äußeren Fassung umgestaltet werden. Unter anderem sah ich mich auch veranlaßt, eine lange Ausführung als Einleitung zu geben, die einen Überblick von den ältesten griechischen Zeiten bis eben zum 19. Jahrhundert vermitteln soll. So war ich gerade in dieser Zeit genötigt, auch in dieser mehr philosophischen Weise, an meinem Blick vorüberziehen zu lassen die Weltanschauungen von Thales, von Pherekydes aus Syros und so weiter – eben mehr vom philosophischen Standpunkt aus – bis herein in unsere Zeit. Da hat man nicht nur das Spirituelle vor sich, sondern das, was geschichtliche Überlieferung ist; und ich habe mir geradezu die Aufgabe gestellt, nur das zu schildern, was sich auf den philosophischen Fortschritt bezieht und alle religiösen Impulse auszuschließen. (GA 148, 110 f.)

Zwei Tage später ist Steiner bereits wieder auf dem Weg nach Dornach. Das Übermaß an Tätigkeiten und Verpflichtungen scheint eine Fertigstellung des Textes zum geplanten Zeitpunkt verhindert zu haben, denn am 7. Februar 1914 mahnt der Verleger, dass bisher erst ein Bogen des Manuskripts abgeliefert sei. So erscheint der erste Band der Rätsel der Philosophie schließlich im Juli des Jahres, der zweite Band im Oktober.

Dass Rudolf Steiner trotz aller Belastungen den Vorschlag des Verlegers zu einer Erweiterung der Welt- und Lebensanschauungen aufnahm, dürfte nicht zuletzt seinen Grund darin haben, dass ihm damit die Gelegenheit gegeben war, die in dem Eröffnungsvortrag der ersten Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft gegebene Skizze der philosophischen Entwicklung der Menschheit, der er für das Verständnis der Zeitforderung der Gegenwart eine so erhebliche Bedeutung zumaß, auszuführen und somit die Geschichte der Philosophie von diesem Gesichtspunkt aus für eine interessierte Leserschaft darzustellen: »Man kann hoffen, daß sich aus dieser Betrachtung Ergebnisse gewinnen lassen über den Charakter der menschlichen Seelenentwickelung« (RP[I], XXI).

Doch sehen sich Geschichten der Philosophie eigentümlichen Problemen ausgesetzt, auf die kurz eingegangen werden muss.

 

»Eine Geschichte zu schreiben ist immer eine bedenkliche Sache«

Philosophiegeschichten im heutigen Sinn gibt es noch nicht lange – sie sind ein Produkt der jüngeren Vergangenheit und setzen einen neuen Begriff von ›Geschichte‹ voraus, den es vorher so nicht gab: einen Wechsel von Geschichten (historiae) im Plural, zu der Geschichte im Singular. Der Historiker Reinhart Koselleck hat diesen Begriffswandel so charakterisiert:

Zuvor gab es eine Vielzahl von Geschichten, die grundsätzlich einander ähneln oder sich gar wiederholen mochten; Geschichten mit bestimmten handelnden oder leidenden Subjekten, oder, in der Erzählung, mit bestimmbaren Objekten. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es eine ›Geschichte schlechthin‹, die ihr eigenes Subjekt und Objekt zu sein schien. […] Ihr korrespondiert räumlich die eine Weltgeschichte. Zeitlich entspricht ihr die Einmaligkeit des Fortschritts, der erst mit der ›Geschichte‹ zugleich auf seinen Begriff gebracht wurde.

Das gilt auch für die Philosophie. Das bekannteste Beispiel einer Historienerzählung im alten Sinn ist Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Ab dem 17. und dann besonders im 18. Jahrhundert entstehen in schneller Folge Geschichten der Philosophie im neuen Sinn, in denen diese selbst einheitliches Subjekt der Darstellung wird. So gab es bereits eine ganze Zahl solcher Werke, als Georg Gustav Fülleborn 1791 eine Fachzeitschrift begründete, Beyträge zur Geschichte der Philosophie, die sich eigens damit beschäftigte, wie denn eine Geschichte der Philosophie überhaupt zu schreiben sei.

Die Beyträge wurden eröffnet mit einem programmatischen Aufsatz von Karl Leonhard Reinhold: »Ueber den Begriff der Geschichte der Philosophie«, in welchem dieser die bisher erschienenen Philosophiegeschichten einer grundsätzlichen Kritik unterzog. Sie liefern Reinhold zufolge nur die Materialien für eine Geschichte, geben aber keine Rekonstruktion der Gründe, die zur Annahme oder Verwerfung der einzelnen Systeme führen mussten. Ohne solche inneren Gründe stellt sich die Abfolge der Philosophien aber »mehr als Geschichte der menschlichen Thorheit, dann als Geschichte der Weltweisheit« dar. Und Reinhold zufolge kann eine echte Geschichte der Philosophie überhaupt nicht geschrieben werden, solange man nicht weiß, was Philosophie wirklich ist: »Die Frage: Was ist Geschichte der Philosophie? ist so lange unbeantwortlich, als man nicht über die Frage: Was ist Philosophie? mit sich selbst einig geworden ist.« Darüber besteht aber, wie er ausführlich zeigt, gar keine Einigkeit. Einen wirklichen Begriff der Philosophie gibt es noch nicht, ihn zu finden ist Aufgabe der Zukunft. Das ist seine Herausforderung.

1815 hat Christian A. Brandis in seiner Schrift Von dem Begriff der Geschichte der Philosophie Reinholds Herausforderung mit dem Hinweis beantwortet: »dass auf eine Geschichte der Philosophie auf immer Verzicht geleistet werden müsste«, wenn zuerst ein allgemeingültiger Begriff der Philosophie gefunden werden müsse. Denn in Wahrheit hat Reinhold nur das Problem auf eine andere Ebene verschoben. Wenn die Frage, was in eine Philosophiegeschichte aufgenommen werden soll, nicht geklärt werden kann, bevor man einen allgemein gültigen Begriff der Philosophie hat, dann entsteht nun die Frage, wie ein solcher Begriff überhaupt gewonnen werden kann. Wäre er aus der Geschichte der Philosophie selbst gewonnen, so wäre dies offensichtlich zirkulär. Wie sollte er aber sonst gewonnen werden? Es scheint, als ob Reinholds Problem unlösbar ist.

Nun gab es allerdings bereits zu Reinholds und Brandis’ Zeit Philosophen, die überzeugt waren, im Besitz des richtigen Philosophiebegriffs zu sein, z. B. Kant, der dazu schrieb: »Eine Geschichte der Philosophie ist von so besondrer Art daß darin nichts von dem erzählt werden kann was geschehen ist ohne vorher zu wissen was hätte geschehen sollen mithin auch was geschehen kann.« Das glaubte Kant zu wissen. Philosophie ist seiner Auffassung nach die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft. Sie ist erstmals adäquat dargestellt in seinen drei Kritiken: Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft. Die bisherige Philosophie wird damit zur Vorgeschichte der eigenen Philosophie.

Ähnliches gilt auch für Hegel, um noch ein zweites Beispiel zu nennen. Hegel war davon überzeugt, dass Philosophie die Verständigung der Vernunft mit sich selbst ist. Ab 1805 trug er eine Geschichte der Philosophie vor, die er als Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes deutete – ein Prozess, der nun in Hegels System statt in dem kantischen kulminierte und zum Abschluss kam. Auch diese Deutung hat nur die bereits Konvertierten überzeugt und erschien vor allem denen, die nach Hegel kamen, zunehmend nur noch als historische Kuriosität.

Heute ist jede Art apriorischer Philosophiegeschichtsschreibung in Misskredit gekommen und gilt als grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Neuere Philosophiegeschichten legen deshalb nur noch ganz äußerliche Kriterien der Epocheneinteilung an – z. B. Altertum, Mittelalter, Neuzeit; oder Altertum und Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart – und streben, das erwähnte Problem der Auswahl durch mögliche Vollständigkeit zu umgehen, wobei der historisch gewachsene oder überlieferte Philosophiebegriff zugrunde gelegt wird.

Nun fällt sofort auf, dass es Steiner in den Rätseln der Philosophie nicht um Vollständigkeit geht. Wie er in der Vorrede schreibt:

Man wird in diesem Buche manches vermissen, was man vielleicht in einer ›Geschichte der Philosophie‹ suchen könnte, z. B. die Ansichten Hobbes und vieler anderer. Mir kam es aber nicht an auf eine Anführung aller philosophischer Meinungen, sondern auf die Darstellung des Entwicklungsganges der philosophischen Fragen (RP[I], XVIII).

 Damit stellt sich die Frage nach dem Auswahlkriterium bzw. danach, welcher Begriff von Philosophie hier zugrunde gelegt wird.

 

»Alles kommt in der Wissenschaft [...] auf ein Gewahrwerden dessen [an],

was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt«

Nun gehört Steiner zweifelsohne ebenfalls in die Reihe derer, die von einem bestimmten Philosophiebegriff ausgehen und entsprechend ihre geschichtliche Auswahl treffen. Dass dieser Philosophiebegriff beansprucht, Resultat übersinnlicher Forschung zu sein, ist bereits oben angeklungen (»Da hat man nicht nur das Spirituelle vor sich, sondern das, was geschichtliche Überlieferung ist«). Trotzdem würde man den Rätseln der Philosophie nicht gerecht werden, wenn man sie in die Reihe apriorischer Geschichtskonstruktionen einreihen würde.

 

Der Schreiber dieses Buches glaubt, daß ihn keine Art von Voreingenommenheit zu einer willkürlichen Konstruktion des geschichtlichen Werdens verführt habe, sondern daß die Tatsachen zwingen, Ergebnisse der angedeuteten Art anzuerkennen. (RP[I], XXII)

Auch hier ist es also Steiners Selbstverständnis, dass in dem Buch zunächst ›Tatsachen‹ beschrieben werden, die es möglich machen, bei vorurteilsfreier Beobachtung selbst zu finden, was hinter den Tatsachen wirkt und der Entwicklung zugrunde liegt. Unschwer lässt sich darin eine Anwendung der morphologischen Methode Goethes auf die philosophische Gedankenentwicklung erkennen, so dass ich die Behauptung wagen möchte: Sollte sich diese Übertragung der Methode als erfolgreich erweisen, dann verhalten sich Die Rätsel der Philosophie zu den heute üblichen philosophiegeschichtlichen Darstellungen wie Goethes Metamorphose der Pflanzen zu den linnéschen Klassifikationssystemen der Pflanzen.

Goethe, unzufrieden mit den rein auf äußerlichen Merkmalen und Eigenschaften basierenden Klassifikationsmethoden seiner Zeit, suchte in der Metamorphose der Pflanzen dasjenige zu erkennen, was Pflanzen zu Pflanzen macht, was ihnen als Pflanzen gemeinsam ist, so dass sie ein eigenes Naturreich bilden. Dabei kam es ihm darauf an, frei von jeglicher Spekulation nur durch genaueste, denkende Betrachtung der Erscheinungen – was er »zarte Empirie« nannte – vorzugehen. Indem er besonders auf die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen des Lebenszyklus einjähriger Blütenpflanzen achtete, bemerkte er eine sich darin vollziehende fortschreitende Metamorphose eines (nicht sinnlich wahrnehmbaren) ›Organs‹, die sich in einem dreifachen Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung vollzieht.

Für Steiner ergibt sich bei entsprechender genauer Betrachtung der bisherigen philosophischen Gedankenentwicklung, dass sich diese in vier Epochen von ungefähr sieben bis acht Jahrhunderten vollzogen hat, die sich so charakteristisch voneinander unterscheiden, »wie man die Unterschiede der Arten eines Naturreiches findet« (RP[I], XXI). Diese ›Tatsache‹, wird sie als solche anerkannt, kann Steiner zufolge den Beweis erbringen für das Vorhandensein objektiver und von den Menschen ganz unabhängiger geistiger Impulse, die sich im Lauf der Zeit selbst fortentwickeln:

In jeder dieser Epochen waltet unter der Oberfläche der äußeren Geschichte ein anderer geistiger Impuls, der gewissermaßen in die menschlichen Persönlichkeiten einstrahlt, und der mit seiner eigenen Fortentwicklung diejenige des menschlichen Philosophierens bewirkt (RP[I], XXII).

Diese für Steiner fundamentale Tatsache der vier qualitativ verschiedenen Epochen hat er deshalb bereits am Anfang der Rätsel im Kapitel »Zur Orientierung über die Leitlinien der Darstellung« zusammenfassend vorgestellt. Verliert sich der Blick nicht in den mannigfaltigen historischen Einzelheiten, sondern achtet man auf das Ganze der bisherigen philosophischen Entwicklung und darauf, ob es sich dabei um eine bloß kumulative Folge von Positionen handelt oder ob sich in dieser Entwicklung epochale Einschnitte gezeitigt haben, dann lassen sich Steiner zufolge vier Epochen unterscheiden, die er folgendermaßen charakterisiert:

1) Die erste Epoche ist die des »erwachenden Gedankenlebens« im griechischen Altertum, welche das vorherige Bilderbewusstsein ablöst. Der Gedanke, dessen Ort das Begrifflich-Allgemeine ist statt des bildhaft Einzelnen, löst den Denkenden allmählich aus der erlebten Einheit mit der Welt heraus. »Da der Gedanke in seiner Bildlosigkeit in ihr [der Seele] erwacht, fühlt sie die Trennung von Welt und Seele. Der Gedanke wird ihr Erzieher zur Selbständigkeit. [...] Die Loslösung der Seele von der Welt beginnt erst; sie ist noch nicht vollzogen« (RP[I], XXIII f.; Herv. E. F.). Denn einerseits fühlt sich der Grieche noch ganz eins mit seiner Leiblichkeit und dadurch unmittelbar mit der Natur verbunden. Andererseits erlebt er Steiner zufolge die Gedanken, anders als in späteren Zeiten, wie eine Art Wahrnehmung in und an den Dingen, so dass er sich durch den Gedanken zugleich noch mit den Quellen des Daseins verbunden fühlen konnte. »Die Seele erlebt zwar den Gedanken in sich; sie muß aber der Ansicht sein, daß sie ihn aus der Welt empfangen hat, daher kann sie von dem Gedankenerleben die Enthüllung der Welträtsel erwarten« (RP[I], XXIV). Diese Epoche endet, wenn das Gedankenleben »seine Kraft nach dieser Richtung erschöpft« (RP[I], XXVII) hat.

2) Die zweite Epoche wird von Steiner als die des »Erwachens des Selbstbewusstseins« (RP[I], XXIV) bezeichnet. Sie setzt mit dem Beginn des Christentums ein und endet etwa in der Zeit von Johannes Scotus Erigena. Das Christentum ergreift den Einzelnen im Innersten seiner Seele und lässt diese sich als ganz auf sich gestellt erleben. Der Mensch sieht sich nun als Geschöpf vor Gott und im Stand der Sünde; er erfährt sich damit als Einzelner, als Selbst: »Es wird erst jetzt der Mensch im wahren Sinne des Wortes den ganzen Umfang seines Seelenlebens als ›Ich‹ gewahr« (ebd.). Die Seele erlebt,

daß sie eine eigene, auf einem inneren Schwerpunkt ruhende Welt ist. Das Selbstbewußtsein wird zunächst erlebt, noch nicht gedanklich erfaßt. Der Gedanke entwickelt sich weiter im Verborgenen in der Wärme des religiösen Bewußtseins (RP[I], XXV).

Zunehmend beginnt der Mensch, den Gedanken als Erzeugnis des eigenen inneren Wesens zu empfinden. Seinen Impetus und seine Kraft gewinnt das philosophische Denken in dieser Epoche primär aus dem Glauben: Untergetaucht in religiöse Vorstellungen versucht es, die aus religiösen Quellen gewonnene Anschauungen über die Stellung des Menschen in der Welt zum Ausdruck zu bringen.

3) Die dritte Epoche hat ein anderes Gepräge: »Die führenden Philosophen fühlen die Kraft des Gedankenlebens wieder erwachen« (ebd.). Die innerlich erfahrene Selbständigkeit ist nun befestigt; der denkende Mensch ist sich seines Gedankenlebens als sein eigenes Erzeugnis bewusst. Damit tritt das Bedürfnis auf, es in seinem Verhältnis zur Welt zu erkennen und es auf seinen Wirklichkeitscharakter hin zu prüfen.

Wie kann in dem Gedankenleben sich etwas aussprechen, was nicht bloß von der Seele erdacht ist? Das wird die Frage der Philosophen dieses Zeitalters. Die Geistesströmungen des Nominalismus, des Realismus, der Scholastik, der mittelalterlichen Mystik: sie offenbaren diesen Grundcharakter der Philosophie dieses Zeitalters (RP[I], XXV f.).

4) Die vierte Epoche beginnt etwa mit dem 16. Jahrhundert. Der Charakter des philosophischen Strebens ist jetzt ein wesentlich anderer. Die innere gedankliche Arbeit während der vergangenen Epoche hat das Selbstbewusstsein gefestigt:

Man hat gelernt, das Gedankenleben mit dem Wesen der Seele verbunden zu fühlen und in dieser Verbindung eine innere Sicherheit des Daseins zu empfinden. Wie ein mächtiger Stern leuchtet am Geisteshimmel als Wahrzeichen für diese Entwicklungsstufe das Wort ›Ich denke, also bin ich‹, das Descartes (1596‒1650) ausspricht (RP[I], XXVI).

Zugleich erfährt sich die denkende Seele als von der Welt getrennt: Eine Weltanschauung muss folglich von nun an ganz aus dem Ich gerechtfertigt werden. Daneben treten zunehmend die neuen Naturwissenschaften, die alles Subjektive, alles im Selbst Erlebte systematisch aus ihrem Weltbild auszuschließen streben.

Diese Epoche ist zugleich die Epoche, in der wir uns selbst befinden: »Unsere Gegenwart bildet erst ungefähr die Mitte dieses Zeitalters. Die Ausführungen dieses Buches sollen zeigen, wie weit die philosophische Erkenntnis im Erfassen eines Weltbildes gelangt ist, innerhalb dessen die selbstbewußte Seele für sich einen solch sicheren Platz findet, daß sie ihren Sinn und ihre Bedeutung im Dasein verstehen kann« (RP[I], XXVI f.).

So weit die vorangeschickten Charakterisierungen der vier Epochen, wie sie den Rätseln der Philosophie zugrunde liegen. Dass diese »naturgemäß auf mannigfaltigen Widerstand stoßen müssen«, war Steiner völlig klar. In der Vorrede zur Neuauflage von 1918 schreibt er dazu:

Sie werden bei einer ersten Betrachtung so erscheinen, als ob ich sie als ›Einfall‹ erlebt hätte und durch sie die ganze Darstellung der Philosophiegeschichte in phantastischer Art vergewaltigen wollte. Ich kann nur hoffen, daß man doch finden werde, diese Ideen seien nicht vorher ausgedacht und dann der Betrachtung des philosophischen Werdegangs aufgedrängt, sondern sie seien so gewonnen, wie der Naturforscher seine Gesetze findet. Sie sind aus der Beobachtung der philosophischen Gedankenentwicklung herausgeflossen (RP[I], XV).

In der Hoffnung, »daß man doch finden werde«, dass diese Ideen nicht ausgedacht sind, sondern den Tatsachen entsprechen, kommt wieder die implizite, für Steiner aber essentielle und unaufgebbare Aufforderung zum Ausdruck, das Dargestellte einer unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen. Das soll hier wenigstens noch ansatzweise versucht werden. (Dass es sich dabei nur um einen ersten Schritt handeln kann, bei dem notgedrungen viele Einzelheiten unberücksichtigt bleiben müssen, braucht wohl kaum extra betont zu werden.)

 

Die erste Epoche:

»Die Weltanschauung der griechischen Denker«

Zuerst sind die Behauptungen Steiners zu prüfen, a) dass der Grieche »den Gedanken in einer anderen Art als der gegenwärtige Mensch« erlebte, nämlich so, »wie man gegenwärtig eine Wahrnehmung empfindet«. Und b): »Deshalb bleibt der Gedanke in dieser Zeit noch das Band, das die Seele mit der Welt verbindet« (RP[I], XXIII f.).

Der erste Satz ist für einen heutigen, in der kantischen Tradition stehenden Philosophen zunächst einmal kaum nachvollziehbar. Diese Tradition basiert ganz auf der Voraussetzung, dass Wahrnehmung und Denken, Sinnlichkeit und Verstand, zwei grundsätzlich verschiedene »Stämme der menschlichen Erkenntnis« sind, die funktional durch die Unterscheidung »gegeben« und »gedacht« bestimmt sind und die ihre Funktionen nicht vertauschen können. Man wird dem griechischen Denken in seiner Eigenart sicherlich kaum gerecht werden, wenn man nicht bereit ist, diese heutige Sicht zunächst einmal zu suspendieren. Mehr noch: Nicht minder wichtig dürfte es sein, das alte Denken nicht automatisch unter die uns Heutigen selbstverständliche Dichotomie von Subjektivem und Objektivem, von Seele und Natur, zu zwingen. »Wer die althellenischen Denker verstehen will, muß fähig sein, selbst archaisch zu denken, das Körperliche und das Seelische als Einheit zu fassen.«

Dass in der griechischen Sprache der Begriff des Denkens (νοεῖν) eine enge Beziehung zum Begriff des Sehens hat, ist wiederholt und von verschiedenen Autoren betont worden. Kurt von Fritz hat darüber hinaus in einer Reihe grundlegender Studien gezeigt, dass, wenn z. B. bei Homer Geist bzw. Denken von sinnlicher Wahrnehmung, νοῦς von αἴσθησις, unterschieden wird, dies

nicht als Ergebnis eines Denkprozesses empfunden [wird], geschweige denn als der Prozeß selbst, sondern vielmehr als eine Art geistiger Wahrnehmung, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Mit anderen Worten, es konnte in gewisser Weise als eine Art von sechstem Sinn erscheinen, der tiefer in die Natur der wahrgenommenen Gegenstände eindringt als die anderen Sinne (von Fritz [1943], 269).

Die Struktur des Seienden wird vom νοῦς direkt erfasst (›wahrgenommen‹), nicht mittels eines Reflexionsprozesses erschlossen.

Ein schönes Beispiel für viele ist Ilias III, 396 ff., wo Helena beim Anblick einer greisen, wollespinnenden Besucherin plötzlich erschrickt, da sie »erkannte« (ἐνόησε), dass diese nicht eine alte Frau ist, sondern eine Göttin. Sie erschließt das aber nicht mittels eines diskursiven Denkprozesses, sondern wird es am Gegenstand selbst gewahr, indem sie durch die vordergründige sinnliche Gegebenheit gewissermaßen hindurchzugreifen vermag und deren Wahrheit zu erfassen in der Lage ist.

Mit anderen Worten, in all diesen Fällen ist das bestimmte Objekt nur der Anlaß, durch den eine Person plötzlich die volle Bedeutung einer Situation erkennt. [...] Jede volle Erkenntnis einer Situation schließt eine geistige Schau ein, die nicht nur tiefer dringt, sondern auch ›weiter sieht‹, sowohl räumlich wie zeitlich, als unsere Augen (ebd., 259, 272).

Die Wahrheit wird plötzlich und direkt ›gesehen‹, in einer Art Intuition oder Tiefenwahrnehmung im oder am Gegenstand, nicht als Resultat eines Reflexionsprozesses erkannt.

Auch bei den vorsokratischen Philosophen steht der νοῦς in engem Bezug zur sinnlichen Wahrnehmung, was von Fritz in zahlreichen Einzeluntersuchungen nachweist. Anders als bei Homer geht es diesen – an denen der Übergang vom Bildbewusstsein zum Gedankenerleben zunehmend greifbar wird – allerdings weniger um das wahre Erfassen bestimmter einzelner Situationen, als um die Einsicht in das Gemeinsame, das die einzelnen Dinge und Situationen umfasst, das Gesetz, das in allem waltet. Bei Heraklit heißt es entsprechend: »Wenn man mit Verstand reden will, muss man sich wappnen mit diesem allen Gemeinsamen, wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch stärker«. Und: »Gemeinsam ist allen das Denken«. Bei ihm kommt es also darauf an, durch die sinnlichen Gegensätze (z. B. Tag/Nacht, trocken/feucht, alt/jung usw.), die den meisten Menschen als letzte Wirklichkeiten gelten, hindurchzuschauen auf das zugrunde liegende Eine, auf den λόγος (vgl. Frag. 50).

Zu Heraklit schreibt von Fritz zusammenfassend:

der λόγος enthält die Wahrheit, aber sie kann nur von dem verstanden werden, der sie ›sieht‹ – natürlich mit seinem νόος, aber durch seine Augen. Es besteht noch die gleiche enge Beziehung zwischen Sehen und Intuition, die wir bei Homer gefunden haben, freilich auf verschiedener Ebene (ebd., 299).

Mit Parmenides kommt dann erstmals etwas Neues hinzu, das nicht mehr verloren gehen wird: eine Erweiterung der Funktion des νοῦς um Elemente des Urteilens und Schließens. Parmenides war »der erste, der bewußt logisches Schließen in die Tätigkeit des νόος einbezogen hat« (315). Die ursprüngliche Bedeutung des direkten Kontakts mit der Wirklichkeit scheint aber auch bei Parmenides erhalten zu bleiben. Sie dürfte den Hintergrund für Parmenides’ Grundsatz liefern, dass nur Seiendes gedacht werden kann, Nichtseiendes nicht gedacht werden kann: »Denn dasselbe kann gedacht werden und sein [τò γὰρ αὐτò νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι].« In dem großen Forschungsüberblick zu Parmenides, den Manfred Kraus für den »neuen Überweg« verfasste, heißt es zu diesem Grundgedanken des Parmenides: »Daraus darf nicht geschlossen werden, dass das Sein in irgendeiner Weise durch das Denken bestimmt sei, sondern vielmehr umgekehrt, dass Denken bzw. Erkennen auf eine objektive Grundlage im Seienden angewiesen ist.«

Bei Platon hat sich die Differenzierung von Denken und Wahrnehmen weiterentwickelt. Für ihn bezieht sich das philosophische Denken nicht auf denselben Gegenstand, wie die sinnliche Wahrnehmung, die nur Veränderliches liefert, sondern auf unwandelbare Ideen, die dem Sinnlichen zugrunde liegen und es als deren Wesen und wahre Ursachen von innen heraus regeln. Aber auch in dieser Unterscheidung geht bei Platon der Wahrnehmungscharakter des Denkens selbst nicht verloren, sondern wird eigens betont: »Mich dünkt, ich müsse zu den Gedanken meine Zuflucht nehmen und in diesen das wahre Wesen der Dinge schauen [σκοπεῖν, ›ausspähen‹]« (Phaidon 99 e). Und das Denken, wie Platon in Politeia 508 b 12 ff. erläutert, bezieht sich dabei strukturell nicht anders auf seine Gegenstände (die Ideen), als das sinnliche Sehen sich auf seine Gegenstände bezieht, nämlich unmittelbar und direkt.

Einen wichtigen Hinweis auf den Wahrnehmungscharakter des griechischen Denkens gibt auch Aristoteles im dritten Buch von De anima. Die Alten, schreibt er dort, hätten behauptet, dass Einsehen (ϕρονεῖν) und Wahrnehmen dasselbe seien (De anima 427 a 21 f., vgl. auch Metaphysik 1009 b 12 ff.).

Einerseits stimmt er zu, dass Denken und Einsehen eine Art Wahrnehmen sind; bei beiden unterscheidet die Seele nämlich etwas und erkennt etwas vom Seienden (De anima 427 a 19‒22). Andererseits hält er genauere Differenzierungen für nötig: Denken findet sich nur beim Menschen, Wahrnehmung dagegen auch bei den Tieren. Außerdem können wir uns im Denken irren, während elementare Wahrnehmungen (z. B. dass etwas Farbe oder Ton ist) für Aristoteles immer wahr sind. Vor allem aber vermisst Aristoteles bei den Alten eine nicht-körperliche Erklärung des höheren Denkvermögens, die er selbst für notwendig hält, da das nicht-leibgebundene Denken, anders als das leibgebundene Denken in Gestalt von Vorstellungen oder Annahmen, ihm das eigentliche νοεῖν und der höchste Teil der Seele ist. Und dieses νοεῖν ist auch bei ihm auf seine Gegenstände (νοητά) so direkt und unmittelbar bezogen wie die sinnliche Wahrnehmung auf ihre.

Für Aristoteles gibt es folglich Übergänge und Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Denken, aber noch keine kategoriale Verschiedenheit. In einer neueren, umfassenden Studie zu dessen Sinneslehre findet sich das so ausgedrückt: »Denken ist für Aristoteles fürwahr ein auf höherer Weise geschehendes Wahrnehmen. Das νοεῖν ist strukturell nichts anderes als ein höheres αἰσθάνεσθαι.«

Damit dürfte sich Steiners erste Aussage weitgehend bestätigen, dass der Grieche den Gedanken empfand, wie man gegenwärtig eine Wahrnehmung empfindet, als aus der Welt geschöpft und gegeben. Aber auch deren Fortsetzung, wonach »der Gedanke in dieser Zeit noch das Band [bleibt], das die Seele mit der Welt verbindet« (RP[I], XXIV), kann eine indirekte Bestätigung erhalten durch die Tatsache, dass es bei den Griechen zwar bereits verschiedene Formen des Skeptizismus gibt, aber noch keinen Skeptizismus, der die Realität der Außenwelt in Zweifel zieht. Ein solcher Skeptizismus, der von Descartes bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder vertreten wurde, ist dem griechischen Denken noch wesensfremd.

Das griechische Wort σκéψις bedeutet ›Untersuchung‹, ›Beobachtung‹. Es leitet sich von dem Verb σκéπτεσθαι – ›schauen‹, ›spähen‹ – ab. Genauer ist der Skeptiker jemand, der aus der methodisch angestellten Beobachtung der »Gleichwertigkeit« entgegengesetzter Wahrnehmungen und Argumente – derselbe Turm erscheint von fern rund, von nahem viereckig; Schnee ist weiß, Schnee ist gefrorenes Wasser, Wasser ist dunkel, also ist Schnee auch dunkel – zur Suspendierung des Urteils gelangt. Dabei wird die Realität z. B. des Turms oder des Schnees nicht in Frage gestellt; vielmehr sind es ja gerade diese selbst, die uns unter verschiedenen Gesichtspunkten unterschiedlich erscheinen. Das ›Band der Seele mit der Welt‹ durch den Gedanken ist also auch im hellenistischen Skeptizismus noch nicht gerissen. Während aber die meisten denkenden Menschen durch solche Fälle »beunruhigt« und »ratlos« werden, kann der Skeptiker, indem er sich jeden Urteils gegenüber den Dingen enthält, zur Seelenruhe gelangen. Der antike Skeptizismus ist somit praxisorientiert; er strebt eine ›naturgemäße‹ praktische Lebensform an, ähnlich wie Epikureismus und Stoa. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet er sich damit wesentlich vom neuzeitlichen Skeptizismus, der ausschließlich erkenntnistheoretisch motiviert ist und einen ›Riss‹ des Bandes der Seele mit der Welt voraussetzt. (Dazu unten mehr.)

 

Die zweite Epoche:

»Das Gedankenleben vom Beginn der christlichen Zeitrechnung

bis zu Johannes Scotus oder Erigena«

Dass mit dem aufkommenden Christentum eine neue Epoche der Philosophie beginnt, bedeutet natürlich nicht, dass fortan alle Philosophie christlich ist. Der Neuplatonismus, entstanden in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende, war es nur zum Teil, und die platonische Akademie, die erst 529 n. Chr. durch Kaiser Justinian geschlossen wurde, ist nie christlich geworden. Aber während in dem Fortwirken des antiken Geistesguts die alten Denker interpretiert, erläutert und umgestaltet wurden – Plotin, der Begründer des Neuplatonismus, verstand sich selbst als Interpreten Platons –, kommt mit dem Christentum etwas ganz Neues in die Welt, das es so vorher nicht gab: Der christliche Denker erfährt sich nun vor Gott und als dessen Geschöpf, aber im Stand der Sünde, woraus er nur durch Christus erlöst werden kann, der »für unsere Sünden gestorben« ist (1. Kor. 15,3).

Diese ›neue Wahrheit‹ ist durch Offenbarung gegeben, nicht durch Philosophie erkannt. Sie kann nur geglaubt werden. In der antiken Philosophie ging es dagegen um Wissen, um begründete Erkenntnis. Eine ›geglaubte Wahrheit‹ müsste aus ihrer Sicht als »Torheit« gelten. Viele der christlichen Philosophen strebten deshalb, was ihnen zu glauben geboten war, mit Hilfe philosophischer Argumente zu bekräftigen, gegen andere Religionen wie die Gnosis zu rechtfertigen und dessen Wahrheit philosophisch zu erläutern. Die Autorität der Offenbarung bildet dabei Anfang und Ausgangspunkt für alle rationalen Erläuterungen; der feste Glaube an die Offenbarung – nicht mehr der Wahrnehmungscharakter der Gedanken – gibt dem Denken seine Sicherheit. Crede, ut intelligas, ›glaube, damit du verstehen mögest‹, heißt es z. B. bei Augustinus. »Wenn also Glaube nicht etwas anderes wäre als Einsehen [intellegere] und nicht zuerst zu glauben wäre, was wir Großes und Göttliches einsehen wollen, dann hätte der Prophet umsonst gesagt: ›Wenn ihr nicht glaubt, dann werdet ihr nicht einsehen‹ (Jes. 7,9 LXX).« Insofern hat Steiner also Recht, wenn er von den christlichen Denkern dieser Epoche sagt, der Gedanke werde ihnen ein »bloßes Mittel« (RP[I], XXV), um die Anschauungen auszudrücken, die aus religiösen Quellen über das Verhältnis des Menschen zur Welt gewonnen wurden.

Wie steht es mit seiner Aussage:

Das Selbstbewußtsein erwacht erst jetzt in einer Art innerhalb der Menschheit, welche dem eigentlichen Wesen dieses Selbstbewußtseins entspricht. Was Menschen vorher erlebten, waren doch nur die Vorboten dessen, was man im tiefsten Sinne innerlich erlebtes Selbstbewußtsein nennen sollte (RP[I], XXIV).

Auch für diese Aussage gibt es Bestätigungen vonseiten der akademischen Forschung.

Wohl findet sich auch im Neuplatonismus die Wendung nach innen, die Aufmerksamkeit der Seele auf sich selbst, um dort das Göttliche zu finden. Was sie dort erkennen kann ist aber die intelligible Welt, der sie sich selbst verdankt, den νοῦς oder das Reich platonischer Ideen. Diese ist also noch kein Innerliches, was nur dem Einzelnen zugänglich und eigen wäre, kein subjektiver und ›privater‹ seelischer Innenraum. Ein inneres Selbst in diesem Sinn gibt es erst seit Augustinus.

Vor seiner Konvertierung zum Christentum war Augustinus neun Jahre Manichäer und somit Anhänger einer dualistischen Religion, der zufolge ein gutes und ein böses kosmisches Prinzip, beide ewig und ungeschaffen, um die Vorherrschaft in der Welt kämpfen. Ein Theodizeeproblem kennt der Manichäismus nicht, da das weltliche Böse nicht auf das gute Prinzip zurückgeht, sondern auf dessen Gegenmacht. Als bekehrter Christ, der an die Schöpfung der Welt aus dem Nichts (creatio ex nihilo) durch einen allmächtigen und allguten Gott glaubt, musste sich Augustinus der Tatsache der Existenz des Bösen und des Leidens in der Welt dagegen als ein fundamentales Problem seines neuen Glaubens stellen.

Augustinus’ De libero arbitrio beginnt mit der Frage, »ob nicht Gott der Urheber des Übels [malum] ist« (lib. arb. I, 1,1). Um diese Frage zu beantworten, musste er das Verhältnis der Seele zu Gott neu bestimmen. Da nach christlicher Lehre (Erstes Konzil von Nicäa) alles Seiende entweder Schöpfer oder Geschaffenes ist, kann die Seele nur Letzteres sein – und nicht mit ihrem höheren Teil identisch mit dem unwandelbaren Göttlichen sein, wie noch im Neuplatonismus. Sie ist, wie alles Geschaffene, wandelbar und veränderlich, kann sich vom göttlichen Ursprung und Gebot abwenden und sich den sinnlichen und wandelbaren Dinge hingeben: »[E]in verkehrter und ungeordneter Geist läuft ihnen nach und unterwirft sich ihnen, denen er doch nach göttlicher Ordnung und nach göttlichem Recht vorgesetzt ist, um sie nach seinem Befehl zu lenken« (lib. arb. I, 35, 116).

Augustinus löst das Theodizeeproblem dadurch, dass er dem Menschen einen von Gott gegebenen, sowohl vom Intellekt als auch von den Emotionen unterschiedenen Willen zuschreibt. Den kann dieser – auch gegen besseres Wissen – für seine eigenen, niedrigeren Zwecke missbrauchen, statt ihn dem göttlichen Willen unterzuordnen. Damit wird er sündig und bringt Böses und Unordnung in die Welt, für welche Leiden der göttliche Ausgleich ist. Mit der Abkehr vom gemeinsamen Ursprung aller Menschen und dem Missbrauch des Willens für eigene Begierden sondert sich die Seele aber zugleich von allen anderen Seelen ab und schafft damit einen nur ihr zugänglichen, seelischen Innenraum. Augustinus’ Begriff des frei wählenden Willens, den es so vor ihm nicht gab, sowie der durch diese freie Wahl erst ermöglichten ›Sünde‹, führen in ihrer Zusammenschließung zu einer Auffassung von einem inneren, privaten ›Selbst‹, die wohl mit Steiner so beschrieben werden kann: »Es wird erst jetzt der Mensch im wahren Sinne des Wortes den ganzen Umfang seines Seelenlebens als ›Ich‹ gewahr« (RP[I], XXIV).

 

Die dritte Epoche:

»Die Weltanschauungen im Mittelalter«

Die zeitliche Eingrenzung des Mittelalters – ein erst in der Renaissance aufkommender Begriff – ist heutzutage höchst kontrovers: Die Vorschläge gehen bei Historikern von völliger Abschaffung des Begriffs bis zu seiner Ausdehnung bis ins 19. Jahrhundert. In der Philosophie wurde als ›Mittelalter‹ in der Regel der Zeitraum vom ›Ende der Antike‹ bis zum ›Beginn der Neuzeit‹ abgegrenzt, wobei zum Teil ganz äußerliche Kriterien – etwa der Fall des weströmischen Reichs (476 n. Chr.) und die Eroberung Konstantinopels (1453 n. Chr.) – zugrunde gelegt wurden. Interessanterweise hat aber in den letzten Jahrzehnten auch die analytisch orientierte Philosophie, die mittlerweile ihr ursprüngliches Desinteresse an historischen Fragen weitgehend abgelegt hat, die mittelalterliche Philosophie für sich entdeckt. Sie sieht nämlich in den mittelalterlichen Erörterungen in Logik und Sprachphilosophie, der Metaphysik und Erkenntnistheorie bedeutsame Parallelen zu eigenen Überlegungen und Methodeninteressen in diesen Gebieten. Da die dabei in Frage kommenden Gedankenentwicklungen etwa um 800 einsetzen, wird dies als Anfang der im eigentlichen Sinne mittelalterlichen Philosophie genommen. So könnte man sagen, dass die analytische Gegenwartsphilosophie, wenn auch von anderen Voraussetzungen her kommend, Steiners Überzeugung teilt, dass etwa im 9. Jahrhundert eine neue Epoche einsetzt, in der die führenden Philosophen »die Kraft des Gedankenlebens wieder erwachen« fühlen (RP[I], XXV).

Dass es dabei ein leitendes Interesse der Philosophen war, die nun als eigene innere Erzeugnisse bewussten Gedanken auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu prüfen und damit deren Berechtigung zu beweisen, ist vielleicht hinreichend unkontrovers, um hier näher untersucht werden zu müssen. Der sogenannte Universalienstreit – die mehrere Jahrhunderte andauernden Debatten darüber, ob es Allgemeines (Universalien) wirklich gibt oder ob nur Einzeldinge existieren und unsere Allgemeinbegriffe lediglich abstrakte Namen (nomen) sind – ist wohl das bekannteste Beispiel dafür.

Ich möchte an dieser Stelle deshalb einen allgemeineren Einwand, der sich gegen eine Epocheneinteilung im steinerschen Sinn machen ließe, aufgreifen: den Einwand, dass maßgebende Denker einer Epoche wie der des Mittelalters bereits Vorläufer in früheren Zeiten hatten und deshalb mit ihnen nicht wirklich Neues beginnt. Dafür drei Beispiele:

1) Fast alle neueren Darstellungen des mittelalterlichen Universalienstreits beginnen mit vor-mittelalterlichen Denkern: wenn nicht mit Platon und Aristoteles, dann zumindest mit Porphyrios und Boethius. So heißt z. B. der erste Band einer weitverbreiteten Sammlung der Texte zum Universalienstreit: »Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik«. Der Plotin-Schüler Porphyrios, der bestrebt war, Platon und Aristoteles zu harmonisieren und ihre Gegensätze zu versöhnen, hatte im 3. Jahrhundert eine Einleitungsschrift zu den »Kategorien« des Aristoteles geschrieben (Isagoge), worin er Fragen aufwarf, die er selbst nicht beantworten wollte:

[…] [S]ind die Genera und Spezies wirklich da oder befinden sie sich nur in den bloßen Gedanken; wenn sie wirklich da sind, sind sie dann Körper oder unkörperlich; sind sie von den Sinnendingen losgetrennt oder existieren sie wirklich in ihnen und in bezug auf sie? Jetzt aber werde ich dir zeigen, wie die Alten, unter ihnen vor allem die Vertreter des Peripatos [d. h. der Schule des Aristoteles; E. F.], diese [...] unter mehr logischem Aspekt aufgefaßt haben. (Wöhler [1992], 3)

Am Anfang des 6. Jahrhunderts hat dann Boethius, der selbst alle Werke Platons und Aristoteles’ ins Lateinische übersetzen wollte, Porphyrius’ Isagoge kommentiert und ist auf dessen Fragen eingegangen. Seiner Meinung nach sind die Universalien in den Sinnendingen, werden aber vom Geist ohne diese erkannt. Dazu führt er aus, dass für Platon Universalien real sind und außerhalb der Körper existieren, für Aristoteles als allgemeine Dinge gedacht werden, jedoch in den sinnlichen Dingen wirklich existieren.

Ich halte es für nicht angebracht, über deren Auffassungen ein entscheidendes Urteil zu fällen, denn das geht die höhere Philosophie an. Dennoch sind wir intensiver der Auffassung des Aristoteles gefolgt, jedoch nicht darum, weil wir diese am meisten gutheißen, sondern darum, weil dieses Werk über die ›Kategorien‹ geschrieben wurde, deren Autor Aristoteles ist. (ebd., 31)

Was an der Zurückhaltung beider Denker m. E. deutlich zum Ausdruck kommt, ist die Tatsache, dass es zu dieser Zeit vor allem darum ging, die vorliegenden (religiösen oder philosophischen) Quellen zu prüfen, zu kommentieren und zu erläutern – im vorliegenden Fall z. B. die Verträglichkeit der platonischen und aristotelischen Positionen bezüglich der Universalien oder Ideen: Sind sie ante res (Platon) oder in rebus (Aristoteles)?

Wenn dagegen Wilhelm von Ockham im Mittelalter ebenfalls einen Kommentar zur Isagoge schreibt, ist für ihn Aristoteles nur noch ein Sprungbrett für die Entwicklung der eigenen nominalistischen Position, um den Wirklichkeitsgehalt der realistischen Positionen zu unterminieren. Nominalismus oder die im Mittelalter so genannte »via moderna«, der zufolge Universalien bloße ›Namen‹ sind, denen nichts in der Wirklichkeit entspricht, scheint es erst ab Roscelin von Compiègne (1050‒1120) zu geben.

2) Ebenso könnte es scheinen, Steiners Behauptung, dass man erst in der dritten, mittelalterlichen Epoche das Bedürfnis empfand, die nun als subjektiv erlebten Gedanken auf ihren Realitätsgehalt hin zu prüfen, durch einen Verweis auf den augustinischen ›Gottesbeweis‹ in De libero arbitrio hinfällig wird. Eine sorgfältige Untersuchung zeigt aber m. E., dass dort von einem selbständigen Beweis der objektiven Realität der Gottesvorstellung keine Rede sein kann. Zunächst ist zu beachten, dass Augustinus’ Argument in die Theodizeeproblematik eingebettet ist, von der oben bereits die Rede war. Sie stellt sich nur für den, der von der Existenz des christlichen Gottes überzeugt ist. Das erste Buch von De libero arbitrio hatte darum den Nachweis zu erbringen gesucht, dass nicht Gott für das Böse verantwortlich ist, sondern der Mensch, der seinen von Gott gegebenen freien Wille missbraucht und sündigt. Damit entsteht das eigentliche Problem, das Augustinus’ Gesprächspartner Evodius am Beginn des zweiten Buchs so formuliert: »Wenn es möglich ist, dann erkläre mir jetzt, warum Gott dem Menschen die freie Entscheidung des Willens gegeben hat, denn hätte er sie nicht bekommen, dann könnte er gewiß nicht sündigen« (lib. arb. II, 1, 1). Um diese Frage zu beantworten, muss aber nicht nur Gottes Existenz geglaubt, sondern dessen Wesen oder Natur »gefunden« (inveniendum), d. h. eingesehen werden.

Entsprechend schreibt Augustinus: »[N]iemand wird fähig, Gott zu finden [inveniendo deo], der nicht zuvor glaubt, was er später erkennen wird« (lib. arb. II, 6, 18). Dass Gott existiert, halten er und sein Gesprächspartner deshalb »im Glauben unerschütterlich fest« (lib. arb. II, 5, 12). Dann suchen sie zu erkennen, was das inhaltlich bedeutet. Sie fragen folglich nicht, ob Gott wirklich existiert, sondern »wie man einsichtig [manifestus] machen kann, daß es Gott gibt; dann, ob alles von ihm kommt, was und insofern es ein Gut ist; schließlich, ob der freie Wille zu den Gütern zu zählen ist. Wenn wir das wissen, wird meiner Meinung nach hinreichend klar werden, ob er dem Menschen zu Recht gegeben ist« (lib. arb. II, 7, 20).

Dazu wird zuerst bestimmt, dass Gott dasjenige Seiende ist, das vortrefflicher ist als die menschliche Vernunft (ratio), und dem gegenüber es selbst nichts Höheres gibt (lib. arb. II, 14, 54). Dann argumentiert Augustinus, dass die Wahrheit, da sie unwandelbar ist, höher steht als die Vernunft, die wandelbar ist und mal mehr und mal weniger von der Wahrheit einsieht. Damit ist aber bereits manifestus, dass es Gott gibt: »Denn wenn es etwas Vorzüglicheres [als die Wahrheit] gibt, dann ist eher dies Gott; wenn aber nicht, dann ist schon die Wahrheit selbst Gott. Ob es dieses Höhere also gibt oder nicht – du kannst nicht leugnen, daß Gott ist« (lib. arb. II, 39, 153).

Gott ist also das höchste unwandelbare Gut. Insofern nichts Veränderliches sein kann, ohne an unwandelbarer Form teilzuhaben, ist er zugleich Grund allen endlichen Seins. »Daher kann es kein Gut geben, wie groß oder wie winzig auch immer, außer durch Gott« (lib. arb. II, 46, 176). Und der freie Wille ist selbst zu den Gütern zu rechnen, auch wenn er sündhaft missbraucht werden kann, da er zur Erringung der Tugend notwendig ist. Damit ist auch manifestus, warum Gott den Menschen einen freien Willen gegeben hat.

Augustinus geht es also um eine Explikation des Inhalts der Gottesvorstellung mit dem Ziel der Rechtfertigung Gottes. Etwas ganz anderes liegt vor im 1077/1078 geschriebenen Proslogion des Anselm von Canterbury. Anselm fragt, ob sich nicht vielleicht »ein Argument [unum argumentum] finden lasse, das keines anderen als seiner allein bedürfe, um sich zu beweisen, und das allein genüge, um sicherzustellen, dass Gott wahrhaft ist«. Dazu geht er nicht von der Existenz Gottes aus, sondern von dem Tor, der in seinem Herzen sagt: »Es ist kein Gott« (Ps. 14,1 und 53,1). Nun argumentiert Anselm folgendermaßen: Da der Tor versteht – zumindest, wenn man es ihm sagt – dass mit Gott etwas gemeint ist, »über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann«, existiert dies in seinem Verstand, auch wenn er nicht versteht, dass es so etwas wirklich gibt. Würde es nur im Verstand existieren, könnte etwas Größeres gedacht werden, nämlich was nicht nur im Verstand, sondern auch in der Wirklichkeit existiert.

Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, im Verstande allein ist, so ist eben das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, dasjenige, über das hinaus Größeres gedacht werden kann. Das aber kann mit Sicherheit nicht der Fall sein. Es existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sowohl im Verstande als auch in der Wirklichkeit. (Anselm von Canterbury [2005], 23)

Hier geht es also, anders als bei Augustinus, darum, ob man durch den Gedanken allein (»sola ratione«) zeigen kann, dass der Gottesvorstellung etwas in der Wirklichkeit korrespondiert. Wird dazu von Anselm noch die christliche Vorstellung von Gott als dem, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, für seinen Beweis herangezogen, so hat Thomas von Aquin in seiner Summa contra gentiles bald darauf Gottes Existenz ganz unabhängig von christlichen Vorstellungen zu beweisen gesucht.

In beiden Fällen scheinen also die Tatsachen selbst es nahezulegen, an der Unterscheidung zwischen Denken als ›Mittel‹, um das Geglaubte einsichtig zu machen, und einem erwachten Bewusstsein der Subjektivität des eigenen Gedankens und der daraus sich ergebenden Realitätsproblematik, als Differenz zwischen zweiter und dritter Epoche festzuhalten.

3) Das drittes Beispiel kann uns zugleich zur vierten Epoche hinüberleiten. Bereits Zeitgenossen von Descartes wie z. B. Marin Mersenne, Andreas Colvius und Antoine Arnauld machten diesen darauf aufmerksam, dass sich sein ›cogito‹-Argument (»cogito, ergo sum«) bereits bei Augustinus (»Si enim fallor, sum«) findet. Descartes gab vor, keine Kenntnis von Augustinus gehabt zu haben; wie dem auch sei, die Debatten über Ähnlichkeit oder Differenz der jeweiligen Argumente sind bis heute nicht verstummt.

Ohne auf Einzelheiten der Diskussionen einzugehen, möchte ich einen Aspekt des augustinischen Gedankengangs etwas genauer betrachten. Er schreibt:

Damit wir den Anfang beim Offensichtlichsten nehmen, frage ich dich zuerst, ob du selbst bist [utrum tu ipse sis]. Oder fürchtest du vielleicht, dich in dieser Frage zu täuschen? Wenn es dich nicht selbst gäbe, könntest du dich jedenfalls ganz und gar nicht täuschen. (lib. arb. II, 7).

Das gibt ihm sein Gesprächspartner unumwunden zu und so weit klingt es tatsächlich ganz cartesianisch. Doch dann fährt Augustinus fort:

Da also offensichtlich ist, daß du bist, und es für dich nicht offensichtlich sein könnte, wenn du nicht lebtest [nisi viveres], ist auch offensichtlich, daß du lebst. Siehst du ein, daß dies zwei unbestreitbare Wahrheiten sind? ‒ Ich sehe es durchaus ein. – Also ist auch ein drittes offensichtlich, daß du einsiehst? – Es ist offensichtlich (ebd).

Bei Augustinus gibt es also ein notwendiges Verbindungsglied zwischen Denken und Sein, nämlich Leben: »wer getäuscht wird, lebt [qui fallitur vivit]«, heißt es entsprechend in De trinitate 15, 12, 21, und wer lebt, ist natürlich auch. Die drei stehen also, was die Gewissheit anbelangt, auf einer Stufe. Was hier deutlich hervorleuchtet, ist die neuplatonische Seinsordnung, die den Hintergrund von Augustinus’ Argument bildet: der absteigenden Ordnung vom Einen (Gott), zum Geist (Nous), zur Seele, zum Sinnesgegenstand entspricht die aufsteigende Ordnung vom Niederen zum Höheren, vom Unvollkommeneren zum Vollkommeneren, wobei der höhere Seinsgrad notwendigerweise immer den niederen einschließt, so dass sie in einem Folgeverhältnis zueinander stehen:

Wenn es um diese drei geht: sein, leben, einsehen, dann ist auch der Stein, und das Vieh lebt, aber ich glaube nicht, daß der Stein lebt oder das Vieh einsieht. Wer aber einsieht, von dem gilt mit Sicherheit, daß er auch ist und lebt [...]. Wir halten auch fest, daß das, was der Mensch neben den beiden anderen hat, nämlich das Einsehen [intellegere], das Bessere von jene dreien ist, aus dessen Besitz sowohl das Sein als auch das Leben folgt (Ebd.; Herv. E. F.).

Aber das folgt eben nicht notwendig und – wie wir gleich sehen werden – für Descartes überhaupt nicht, sondern es gilt nur zufolge der als selbstverständlich vorausgesetzten, christlich interpretierten neuplatonischen Seinsordnung. Augustinus hat seinem ›cogito‹-Gedanken auch keinerlei Begründungsfunktion für die Philosophie zugedacht; er macht ihn nicht zum Fundament seiner Philosophie, wie das bei Descartes der Fall sein wird.

Augustins Horizont ist die im Christentum neu verstandene Welt, nicht das aus der Welt gelöste, in sich selbst beruhende Bewußtsein, wie es sich von Descartes an immer mehr, trotz des anfänglichen Fortdauerns metaphysischer Problematik, als die eigentliche Grundlage alles Denkens herausstellt. (Krüger [1962], 11)

Die vierte Epoche:

»Die Weltanschauung des jüngsten Zeitalters

der Gedankenentwickelung«

Was ist mit dem ›aus der Welt gelösten, in sich selbst beruhenden Bewusstsein‹ gemeint? Dabei sind m. E. vor allem zwei Dinge zu beachten:

1) Descartes’ neuer Seelenbegriff. Bis ins späte Mittelalter galt der antike Seelenbegriff als maßgeblich, wonach die Seele ein selbstbewegendes, belebendes Prinzip ist. Aristoteles hatte die Seele als das Prinzip (ἀρχή) der Lebewesen definiert (De anima, I 1, 402 a 6 f.) und dabei vegetative, sensitive und denkende Seele unterschieden: die erste kommt den Pflanzen, die erste und zweite kommen den Tieren, alle drei dem Menschen zu.

Im 16. Jahrhundert hatten Fortschritte in der Uhrmacherkunst wie die Erfindung tragbarer Uhren, die nicht mehr mit Pendel und Gewicht, sondern mit Federn angetrieben wurden, dazu geführt, dass eine Vielzahl von menschen- und tierförmigen Automaten gebaut wurden, die nach gleichen Prinzipien angetrieben wurden, deren Mechanismus aber im Inneren der Figuren versteckt und darum nicht sichtbar war. Sie konnten herumgehen, die Augen verdrehen, Arme bewegen, Trommel schlagen und vieles mehr.

Mögen Betrachter solcher sich selbst bewegender Figuren diese anfänglich noch für Lebewesen gehalten haben, so schloss Descartes bereits umgekehrt: Lebewesen sind nichts anderes als natürliche Maschinen. Für deren Erklärung sind auch nur mechanische, hydraulische und chemische Prinzipien nötig; also grundsätzlich keine anderen, als für unbelebte Körper:

Dies wird dem keineswegs sonderbar vorkommen, der weiß, wie viele verschiedene Automaten oder bewegungsfähige Maschinen menschliche Geschicklichkeit zustandebringen kann, und dies unter Verwendung nur sehr weniger Einzelteile verglichen mit der großen Anzahl von Knochen, Muskeln, Nerven, Arterien, Venen und all den anderen Bestandteilen, die sich im Leibe jedes Tieres finden. Er wird diesen Leib für eine Maschine ansehen, die aus den Händen Gottes kommt und daher unvergleichlich besser konstruiert ist und weit wunderbarere Getriebe in sich birgt als jede Maschine, die der Mensch erfinden kann. (Descartes [1961], 91)

Rein physiologische Beschreibungen des menschlichen Körpers und seiner Funktionen hat Descartes im Traité de l’homme (1632), im fünften Teil des Discours de la méthode (1637) sowie in La description du corps humain (1648) vorgelegt. In Letzterem schreibt er:

Tatsächlich kann man wohl Schwierigkeit haben zu glauben, daß allein der Zustand der Organe hinreicht, um in uns all die Bewegungen zu erzeugen, die nicht durch unser Denken bestimmt werden. Deshalb ist es hier mein Vorhaben, dies zu beweisen und die ganze Maschine unseres Körpers so darzulegen, daß wir nicht mehr Anlaß zu der Annahme haben, daß es unsere Seele ist, welche in ihr die Bewegungen hervorruft, die nach unserer Erfahrung nicht durch unseren Willen gelenkt werden, als Anlaß anzunehmen, daß es in einer Uhr eine Seele gibt, welche die Stunden anzeigt. (Descartes [1969], 141)

Damit bleibt von den aristotelischen Seelengliedern nur noch der denkende Teil übrig, mit dem Descartes nun die Seele als ganze identifiziert: »[Ich] lege nichts von dem der Seele bei [...] außer allein das, was Denken ist. [...] [I]ch betrachte den Geist nicht als Teil der Seele, sondern als die gesamte Seele, die denkt.« Für Descartes gibt es somit nur noch zwei inkommensurable Arten von Substanzen: denkende und ausgedehnte, res cogitans und res extensa, wobei der ersten ausschließlich Bewusstseinszustände (cogitationes) zukommen, der zweiten nur ›geometrische‹ Eigenschaften wie Bewegung, Größe, Form, Zusammensetzung der Teile. Das Seelenbewusstsein hat sich in Selbstbewusstsein gewandelt (vgl. RP[II], 110 f.)

2) Descartes’ Wahrnehmungstheorie. In der Antike dominierte eine Emissionstheorie der Wahrnehmung, wonach ein Sehstrahl vom Auge ausgeht, der den gesehenen Gegenstand gewissermaßen abtastet. »Es sei angenommen, dass die Dinge gesehen werden, auf welche die Sehstrahlen fallen, und die Dinge nicht gesehen werden, auf welche die Sehstrahlen nicht fallen«, heißt z. B. das dritte Postulat von Euklids Optik. Probleme mit den Emissionstheorien der Wahrnehmung führten in der arabischen Rezeption der antiken Autoren schließlich bei Alhazen (965‒1039 n. Chr.) zu einer Revolution in der Optik. Ihm zufolge besteht der Sehvorgang darin, dass von jedem Punkt eines wahrnehmbaren Gegenstandes ein Lichtstrahl ausgeht, der auf das Auge trifft und dort ein Bild zeitigt. Mittelalterliche Autoren wie Roger Bacon, Witelo und John Pecham versuchten noch, die neue Theorie mit der aristotelischen Auffassung vom Sehvorgang zu verbinden – mit Descartes werden alle derartigen Versuche endgültig verabschiedet.

Wie bereits Galileo Galilei vor ihm unterscheidet auch Descartes die sogenannten primären, körpereigenen Qualitäten (Bewegung, Zahl, Größe, Form, Zusammensetzung der Teile) von den sekundären, vom Beobachter wahrgenommenen Sinnesqualitäten (Farbe, Ton, Geruch, Geschmack, Wärme oder Kälte). Die Farbe, die wir sehen, die Wärme, die wir spüren, sind demnach lediglich subjektive Vorstellung in uns, die in der Außenwelt gar nicht vorhanden sind. Dort gibt es nur die primären Qualitäten sowie deren Dispositionen, bestimmte Vorstellungen im Beobachter hervorzurufen. In der Außenwelt gibt es z. B. bestimmte Bewegungen von Teilchen, im davon affizierten Subjekt dagegen die qualitative Empfindung von Wärme. Die sekundären Qualitäten sind also nur im Subjekt, aber wo genau? Für Galileo sind sie noch im lebendigen Sinnesorgan, im »corpore animato e sensitivo«, instantiiert, wo sie von der sensitiven Seele wahrgenommen werden (sentendo l’ anima sensitiva). Da Descartes aber den menschlichen Körper als natürliche Maschine (res extensa) betrachtet und es »in keiner Weise erforderlich [ist], für diese [die Maschine] eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Bewegungs- und Lebensprinzip anzunehmen als [...] sich in unbeseelten Körpern befinden«, kann er die Sinnesqualitäten nur der res cogitans zuschreiben – sie sind Vorstellungen oder, in damaliger Terminologie, »Ideen«, die wir »in unseren Gedanken haben [idée que nous avons en notre pensée]«.

Durch Descartes’ neue Konzeption der Seele qua Bewusstsein und der Trennung der Empfindungen von den körperlichen Sinnesorganen wird erstmals in der Geschichte der Philosophie ein genereller Außenweltskeptizismus möglich: Wir könnten uns sinnlicher Qualitäten bewusst sein und glauben wahrzunehmen, während die materielle Welt in Wirklichkeit gar nicht existiert, – eine Möglichkeit, die Descartes in den Meditationen durchspielt und die er nur durch den ›Beweis‹ abwenden kann, dass Gott uns nicht täuscht.

Dieser Beweis hat schon viele seiner Zeitgenossen nicht mehr überzeugt. Was aber blieb, ist die absolute, im methodischen Zweifel errungene Selbstgewissheit des denkenden Ich. Für Descartes avanciert sie damit zum Fundament seiner ganzen Philosophie, auf der auch jedwelche Erkenntnis der vom Ich unterschiedenen Welt aufbauen muss. Ihm zufolge müssen alle Erkenntnisse, auf die sich ein sicheres Urteil stützen kann, die gleiche Klarheit und Deutlichkeit aufweisen, wie die Erkenntnis vom Ich. Das ist in der Mathematik der Fall. An den Phänomenen der äußeren Wirklichkeit lässt sich das aber nur realisieren, sofern diese auf Ausdehnung und Bewegung zurückgeführt werden können und damit einer mathematischen Beschreibung zugänglich sind, wie das für Descartes im Rahmen einer mechanistischen Wissenschaft der Fall ist. Seelische Phänomene, Bewusstseinszustände, sind dagegen nicht mathematisierbar.

Die sich in der Folge ausbildenden modernen Naturwissenschaften, obwohl sie die Inhalte der cartesianischen Physik bald hinter sich ließen, haben sich dieses Weltbild insofern auf die Fahnen geschrieben, als sie ihre Objektivität gerade dadurch zu erreichen suchen, dass sie methodisch und systematisch alles Subjektive, alles, was das selbstbewusste Ich in sich erlebt, ausschließen. Rudolf Steiner hat dazu geschrieben:

Mit Descartes kündigt sich die Umwandlung der Seelenorganisation an, welche das Naturbild und die Schöpfungen des Selbstbewußtseins auseinanderzieht. [...] Das Naturbild der neueren Zeit zwingt das menschliche Selbstbewußtsein, sich mit dem Gedanken außerhalb der Welt zu fühlen. [...] [E]s sucht fortan das Selbstbewußtsein aus seinen eigenen Kräften dasjenige zu holen, was ein Weltanschauungsbild mit Hilfe des Gedankens gestalten kann (RP[I], 60‒62).

Welche mannigfaltigen Formen dieses Streben in der Folge angenommen hat, ist Thema dieses sowie der daran anschließenden Kapitel der Rätsel der Philosophie, welche zugleich den Inhalt der Welt- und Lebensanschauungen ausmachten. Der veränderten Situation entsprechend hat Steiner diese Kapitel in unterschiedlichem Maße umgestaltet.

 

Die Änderungen in der Neuausgabe

Schaut man sich die zahlreichen Änderungen, die Rudolf Steiner 1914 am ursprünglichen Text der Welt- und Lebensanschauungen vornahm, genauer an, so fällt Licht auf die eingangs zitierten Bemerkungen, dass einerseits an einigen Stellen »geringfügige Änderungen« nötig gewesen wären, andererseits der schon vorhandene Inhalt »vielfach umgestaltet« worden sei.

Da das neue Buch mit der philosophischen Entwicklung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert beginnt, werden die in den ersten Kapiteln der Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert gegebenen Hinweise auf frühere Denker wie z. B. Descartes, Spinoza, Leibniz und Wolff überflüssig und können gestrichen werden (z. B. RP[I], 83). Zugleich sollen kurze Einschiebungen im Text den Zusammenhang beleuchten, der zwischen den früheren Epochen der Gedankenentwicklung und der gegenwärtigen Epoche besteht, wobei der Blick nicht nur zurück, sondern mitunter auch schon nach vorne gerichtet ist (z. B. RP[I], 99 f., 107, 119 f., 129 f., 134, 161, 207 f.).

Zudem ist Steiner bemüht, den vorhandenen Text zu straffen und Passagen zu eliminieren, die von der Aufmerksamkeit auf diesen Zusammenhang ablenken könnten. Hierzu gehören z. B. biographische Details der behandelten Personen, weitläufige Ausflüge in die französische Ideengeschichte vor Comte, aber auch solche angesichts der gespannten politischen Verhältnisse in Europa nun leicht missverständliche Äußerungen wie z. B. RP(I) 119 und 166. Zudem ersetzt Steiner polemische Ausdrücke wie »Thatsachenfanatismus« durch neutralere Formulierungen, entschiedene Zustimmung ausdrückende durch wertfreie Wendungen und verzichtet weitgehend auf eigene Widerlegungen bestimmter Positionen. Es sollen jetzt die Tatsachen allein und für sich selbst sprechen.

Können Eingriffe dieser Art als »geringfügige Änderungen« der Darstellung bezeichnet werden, die durch den größeren Zusammenhang bedingt sind, so machen einerseits die veränderte Themenstellung, andererseits die Erweiterung der Betrachtung über das Jahr 1900 hinaus es erforderlich, dass auch der bereits vorhandene Inhalt, und zwar besonders der des zweiten Bandes der Welt- und Lebensanschauungen, »vielfach umgestaltet« werden musste.

Von der ursprünglichen Form dieser Kapitel in den Welt- und Lebensanschauungen schrieb Steiner in Mein Lebensgang:

Ich verfaßte gerade den zweiten Band dieses Buches so, daß in einer vergeistigten Gestalt des im Lichte der Goethe’schen Weltanschauung gesehenen Darwinismus und Haeckelismus der Ausgangspunkt einer geistigen Vertiefung in die Weltgeheimnisse gegeben sein sollte (ML, 285).

Wie oben bereits erwähnt, hatte sich die Hoffnung, dass sich ein an der haeckelschen Naturanschauung geschultes Denken zur Einsicht in die geistige Welt fortbilden würde, nicht erfüllt.

Nicht zuletzt deshalb wählte Steiner 1914 in den Rätseln einen anderen Weg. Statt Naturerkenntnis und Weltanschauung steht nun mit der Geschichte der Philosophie die menschliche Seelenentwicklung (RP[I], XXI) im Mittelpunkt, um daran zu zeigen, wie sich aus einem tieferen Verständnis dieser Entwicklung eine Einsicht in die Notwendigkeit der Erkenntnis der geistigen Welt als nächster Schritt ergeben könnte. Immer wieder wird deshalb auch auf geistige Impulse hingewiesen, die unter der Oberfläche des äußeren philosophischen Geschehens wirksam sind.

Wie die Geschichte der Philosophie zeigt, hat sich der Gedanke als Erzieher der Seele zur Selbständigkeit erwiesen. Durch vier Epochen führte er den Menschen von einer erlebten Einheit der Seele mit der Natur, wobei der Gedanke zunächst noch wie eine Wahrnehmung von außen wirkt, zum Erleben des Gedankens als seines eigenen Erzeugnisses, das er dann in seinem Wesen durchzuarbeiten beginnt, bis dahin, dass sich im gefestigten Selbstbewusstsein die Seele in ihrem eigenen inneren Wesen ergreift, sich damit aber auch einem Bild von der Natur gegenübergestellt findet, das von diesem Selbstbewusstsein nichts mehr aufnehmen will.

Und die selbstbewußte Seele steht vor diesem Naturbilde mit der Empfindung: wie gelange ich zu einem Weltbilde, in dem die Innenwelt mit ihrer wahren Wesenheit und die Natur zugleich sicher verankert sind? Der Impuls, der aus dieser Frage stammt, beherrscht – den Philosophen mehr oder weniger bewußt – die philosophische Entwicklung seit dem Beginn der vierten Epoche. […] Der zweite [Band der Rätsel der Philosophie] wird diese Entwicklung bis zur Gegenwart verfolgen und am Schlusse zeigen, wie die bisherige philosophische Entwicklung die Seele auf Ausblicke in ein werdendes menschliches Erkenntnisleben hinweist, durch welches die Seele ein Weltbild aus ihrem Selbstbewußtsein entfalten kann, in dem ihre eigene wahre Wesenheit zugleich mit dem Bilde der Natur, das die neuere Entwicklung gebracht hat, vorgestellt werden kann (RP[I], XXVIII).

Zu diesem Zweck gestaltet Steiner zunächst den Inhalt der ersten drei Kapitel des zweiten Bandes in entscheidenden Punkten um, wobei er wiederholt an Hegel anknüpft.

Dieser hatte nämlich Steiner zufolge gezeigt, dass sich die Seele nur so lange von der Welt getrennt fühlen muss, wie sie den Gedanken bloß in seiner subjektiven Form, als diskursiven Gedanken erkennt:

Sie fühlt sich aber mit ihr wieder vereinigt, indem sie im Gedanken den Urquell der Welt entdeckt. [...] Es kann als das Große, das Unwiderlegliche der Hegelschen Weltanschauung empfunden werden, daß die Seele, wenn sie sich zu dem wahren Gedanken erhebt, sich in das Schöpferische des Daseins entrückt fühlt (RP[II], 4, 8).

Hegel selbst wollte damit die Philosophie im gewissen Sinn wieder zu ihrem Ursprung zurückgeführt und deren Geschichte zu einem Abschluss gebracht haben.

Diejenigen, die nach ihm kamen, mussten diesen Abschluss aber als eine Sackgasse erleben.

Nach den tieferen geschichtlichen Impulsen drängte die neue Zeit dazu, nicht nur den Gedanken zu erleben, sondern für das selbstbewußte Ich eine Vorstellung zu finden, durch die man sagen konnte: Dieses Ich steht fest im Weltengefüge darinnen. Dadurch, daß man es als Ergebnis stofflicher Vorgänge dachte, hatte man dies in einer der Zeitbildung verständlichen Art erreicht. Auch in den Verläumdungen der geistigen Wesenheit des selbstbewußten Ich durch den Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts liegt noch der Impuls des Suchens nach dem Wesen dieses Ich (RP[II], 43).

Warum Steiner der Rückblick auf Hegel trotzdem wichtig ist, zeigen auch die neuen Schlusspassagen von »Darwinismus und Weltanschauung«. Haeckels monistisches Gedankengebäude, dem zufolge auch die Seele in Wahrheit eine Naturerscheinung ist, kann, so Steiner, »gewissermaßen als Gegengabe von Seiten der Naturwissenschaft an die Hegelsche Weltanschauung [...], die in ihrem Gedankengemälde nichts aus der Natur, und alles aus der Seele geschöpft haben will« (RP[II], 73), gedeutet werden. Durch einen fiktiven Dialog zwischen Hegel und Haeckel sucht er zu zeigen, dass Hegels Geistmonismus dem ganz auf Naturbeobachtung aufbauenden Monismus Haeckels nichts Befriedigendes entgegensetzen kann, solange man auf dem Feld bleibt, auf dem die Naturwissenschaften stehen:

Insofern tritt diese Naturanschauung in dem Gange der Weltanschauungsentwickelung bedeutsam auf. Sie beweist, daß Philosophie sich ein Feld schaffen muß, das, über die an der Natur gewonnenen Gedanken hinaus, in dem schöpferischen Gebiete des Gedankenlebens liegt (RP[II], 74).

Später präzisiert Steiner das dahingehend, »daß der Gang der philosophischen Arbeit hindrängt nach einer Anschauung, die nicht im gewöhnlichen Bewußtsein errungen werden kann« (RP[II], 225).

Das neu verfasste Ende von »Die Welt als Illusion« erhellt, mit welchen Schwierigkeiten die Philosophie des 19. Jahrhunderts dabei zu ringen hatte. Diese ›Illusion‹ entspringt einerseits der mit Descartes beginnenden Reduktion der Seele auf das Bewusstsein, andererseits der Überzeugung, dass wahrgenommene Dinge nur ›Vorstellungen‹ im Bewusstsein sind, deren wahre Ursachen daraus nicht erkannt werden können. Da das Bewusstsein sich nicht überspringen und sich gewissermaßen außerhalb seiner selbst stellen kann, scheint das selbstbewusste Ich mit seinen Erlebnissen in seiner eigenen Welt eingeschlossen zu sein.

Diese intellektuelle, scharfsinnig erzeugte Illusion kann so lange nicht zerstört werden, wenn sie einmal gebildet ist, als das ›Ich‹ nicht in sich selbst etwas findet, von dem es weiß, daß es, obwohl es im Bewußtsein abgebildet ist, doch außerhalb des subjektiven Bewußtseins sein Wesen hat. [...] Es muß in sich etwas finden, daß es außerhalb seiner selbst führt (RP[II], 111).

Da es sich bei dieser ›Illusion‹ letztlich um eine wissenschaftlich fundierte Ausgestaltung der kantischen Auffassung vom unerkennbaren Ding an sich handelt, gehören auch die Bemühungen der Neukantianer hierhin, durch Rückgang auf Kant einen möglichen Ausweg aus diesem Engpass zu finden und Aufklärung über die Stellung des Menschen in der Welt zu erlangen. Deren Darstellung wird deshalb aus dem ursprünglichen Kapitel »Die Weltanschauung des Thatsachenfanatismus« herausgelöst und bildet nun ein eigenes Kapitel: »Nachklänge der Kantischen Vorstellungsart«. Das ursprüngliche Kapitel, jetzt »Weltanschauungen der wissenschaftlichen Tatsächlichkeit« genannt, ist damit denen vorbehalten, die ausschließlich auf der Basis der strengen Wissenschaft versuchten, »eine Gesamtansicht über die Welt und das Leben« (RP[II], 121) auszubilden.

Auch die beiden letzten Kapitel sind gründlich überarbeitet. Besonders bedeutsam ist dabei die Erweiterung der Darstellung über 1900/1901 hinaus bis auf das Jahr 1914. Daran kann deutlich werden, wie damals zwei einander entgegengesetzte Weltanschauungstendenzen am Wirken waren, die gewissermaßen um die Vorherrschaft stritten.

Viele der neuesten Gedankenrichtungen stellen sich als Versuche dar, in dem selbstbewußten Ich, daß sich mit dem Verlaufe der Philosophieentwicklung immer mehr losgelöst von der Welt empfindet, etwas zu suchen, das wieder zur Verbindung mit ihr führt. Diltheys, Euckens, Windelbands, Rickerts und anderer Vorstellungen sind solche Versuche innerhalb der Philosophie der Gegenwart, welche den Anforderungen der Naturerkenntnis und der Betrachtung des seelischen Erlebens so Rechnung tragen wollen, daß neben der Naturwissenschaft eine Geisteswissenschaft möglich erscheint (RP[II], 197).

Abgesehen vielleicht von Dilthey und Ernst Cassirer spielen diese Denker in der heutigen Philosophie kaum noch eine Rolle. Ganz anders verhält es sich dagegen mit einer Denkrichtung, die sich ebenfalls um die Jahrhundertwende ausgebildet hat und die seither zu einer fast alle Kulturbereiche durchdringenden Strömung geworden ist: der Pragmatismus.

Pragmatismus ist die Auffassung, der zufolge die Bedeutung von Ausdrücken und die Wahrheit von Sätzen allein durch ihre praktischen Konsequenzen zu bestimmen sind. Die Realität zwingt uns keine bestimmte Deutung auf; wir entscheiden, wie sie zu interpretieren ist. Der Pragmatist sucht folglich nicht nach Gründen von Wahrheit in einer theorieunabhängigen Wirklichkeit, sondern fragt, was für einen konkreten praktischen Unterschied es machen würde, wenn seine Theorie wahr und ihr Konkurrent unwahr wäre. Eine Theorie ist daran zu messen, ob sie fruchtbar und nützlich für das Leben ist.

Den fruchtbarsten Zugang zur Wirklichkeit liefern dieser Auffassung zufolge die Erfahrungswissenschaften, deren beispiellose Erfolge die Tragkraft der von ihnen angewandten Methoden belegen. Ihnen muss sich deshalb auch die Philosophie anpassen: Sie muss folglich naturalistisch sein und in evolutionstheoretischen Kategorien denken; kein Satz kann absolut sicher und unkorrigierbar sein (Fallibilismus); eine ›Wesens‹-Erkenntnis gibt es nicht. Rudolf Steiner schreibt dazu:

Die Macht der äußeren Tatsachen über den Menschen ist überstark geworden; das Bewußtsein, im Eigenleben des Denkens ein Licht zu finden, das letzte Daseinsfragen beleuchtet, ist auf den Nullpunkt herabgesunken. Im Pragmatismus ist die Leistung der neueren Weltanschauungsentwicklung am meisten davon entfernt, was der Geist dieser Entwicklung fordert: mit dem selbstbewußten Ich denkend in die Welttiefen sich zu finden, in denen sich dieses Ich so mit dem Quellpunkt des Daseins verbunden fühlt wie das griechische Forschen durch den wahrgenommenen Gedanken (RP[II], 177).

In einem Vortrag vom 6. November 1913, während der Ausarbeitung der Rätsel der Philosophie, hat Steiner den Pragmatismus deshalb auch als »Antisophie« bezeichnet:

[D]ieser Pragmatismus ist durchaus Antisophie – ist Antisophie aus dem Grunde, weil er alle Vorstellungen, die sich die Seele über etwas machen kann, was außerhalb der Sinnenwelt liegt, unter dem Gesichtspunkt des praktischen Wertes und des Nutzens für die Sinneswelt betrachtet. Das ist das Bedeutsame, [...] daß sich gegen unsere Gegenwart zu etwas in die Menschenseelen hineindrängt wie ein Überhandnehmen der antisophischen Stimmung (GA 63, 60 f.).

Es ist bereits angeklungen, wie sich diese Denkrichtung bei Friedrich Albert Lange und anderen vorbereitete. Dass es sich dabei nicht um ein deutsches Phänomen handelte, hatte Steiner bereits in den Welt- und Lebensanschauungen zu zeigen gesucht. Genauso wenig ist der moderne Pragmatismus ein rein amerikanisches Phänomen. Obwohl von Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey begründet, kam die pragmatische Denkweise fast gleichzeitig in England (F. C. S. Schiller), Deutschland (Hans Vaihinger) und Österreich (Ernst Mach) zum Durchbruch. Wie Steiner in den Rätseln betont, ist der Pragmatismus letzten Endes Zeichen des gewaltigen »Druck[s], welchen die naturwissenschaftliche Denkart seit ihrem Emporblühen auf die Geister ausgeübt hat. Und als Grund für diesen Druck erkennt man die Fruchtbarkeit, die Tragkraft dieser Denkungsart« (RP[II], 175).

Seither hat sich dieser Druck noch verstärkt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt die theoretische Physik als im Wesentlichen vollendet, da deren Grundgesetze alle bekannt wären. So riet der Physiker Philipp von Jolly dem jungen Max Planck 1874 vom Studium der Physik ab, da es in deren Feld nichts Bedeutendes mehr zu entdecken gäbe. Dem Rat folgte Planck nicht; und im Jahr 1900 präsentierte er die richtige Formel für das Energiespektrum des schwarzen Strahlers und führte das elementare Wirkungsquantum ein, womit nach Übereinkunft der Physiker das Zeitalter der Quantenphysik begann. Daneben traten 1905 bahnbrechende Arbeiten von Albert Einstein, u. a. zur Deutung des Photoeffekts und zur speziellen Relativitätstheorie, so dass am Anfang des 20. Jahrhunderts »auf dem Gebiete der Physik die denkbar größte Revolution« (GA 73a, 28) eingeleitet wurde. Da gegenüber den neuen Beobachtungsdaten die Vorstellungsarten der klassischen Physik versagten, wurden grundsätzlich andersartige Beschreibungsmethoden der Naturvorgänge nötig.

In einem Vortrag vom 24. März 1920 sagte Steiner dazu:

Eine eigentümliche Methode hat sich gerade in der Physik der neueren Zeit eingeschlichen. Man nennt sie die statistische Methode. [...] Aber die Methode hat nur den wesentlichen Mangel, daß sie gar nichts über das Wesen desjenigen besagt, wofür diese Methode eingespannt ist. […] So sind wir auf dem äußeren, naturwissenschaftlichen Gebiete gewissermaßen zum Bleiben an der Oberfläche der Dinge verurteilt (GA 73a, 30).

Das ist auch der Tenor des Zusatzes, den er in der Neuauflage der Rätsel von 1924 dem Kapitel »Der moderne Mensch und seine Weltanschauungen« hinzufügte. Will sich der moderne Mensch angesichts der neueren Entwicklungen nicht »wie in einer seelischen Ohnmacht verlieren, so wird er das ›In-sich-Wesenhafte‹ fortan nicht im Bereich der Natur suchen dürfen, sondern in der Erhebung über die Natur im Reiche des Geistes« (RP[II], 207).

Darum ist für Steiner auch in der Gegenwart das Studium der »menschlichen Seelenentwicklung« in der Geschichte der Philosophie alles andere als überholt und anachronistisch; vielmehr ist es von einzigartiger Bedeutung. 1914, in der überarbeiteten Fassung des Kapitels »Der Kampf um den Geist«, schreibt er im Zusammenhang mit Hegel:

Ist es denn undenkbar, daß alle Verwendung des Gedankens zur Erklärung der Welt im Sinne der äußeren Wissenschaft nur gewissermaßen eine Verwendung des Gedankens ist, die einen Nebenweg der Entwicklung verfolgt, wie im Gebrauch des Pflanzensamens zur Nahrung ein Nebenweg gegenüber der fortlaufenden Entwicklung liegt? [...] Der Gedanke könnte fordern, daß er als lebendiger Keim erfaßt und unter gewissen Bedingungen in der Seele zur Entfaltung gebracht werde, damit er über das Weltbild Hegels hinaus zu einer Weltanschauung führe, in der sich die Seele, ihrem Wesen nach, erst erkennen könne und mit der sie sich erst wahrhaft in die Außenwelt versetzt fühlen könne (RP[II], 10 f.).

Ist dies undenkbar oder denkbar? Für den heutigen Leser von Steiners Die Rätsel der Philosophie dürfte die eigentliche Herausforderung darin bestehen, sich dieser Frage zu stellen. Denn letztlich besteht sie in der Aufforderung, die beschriebene Möglichkeit nicht nur unbefangen und vorurteilsfrei zu durchdenken, sondern anhand eines mitdenkenden Nachvollzugs der bisherigen philosophischen Gedankenentwicklung als deren eigenes Ziel zu erleben:

Für seine Betrachtung zeigt sich in der Philosophiegeschichte seit dem Aufleuchten des Gedankens im Griechentum der Weg, um philosophisch zu der Überzeugung zu kommen, daß man das wahre Seelenwesen findet, wenn man die gewöhnlichen Seelenerlebnisse als Oberfläche betrachtet, unter die hinabgestiegen werden muß. […] Durch solche Innenarbeit kann die Menschenseele erreichen, was von der Philosophie angestrebt wird. Die Bedeutung der letztern ist deshalb wahrlich nicht gering, weil sie auf dem Wege, den ihre Bearbeiter zumeist gehen, nicht zu dem kommen kann, was sie erreichen will. Denn wesentlicher als die philosophischen Ergebnisse selbst sind die Kräfte der Seele, welche sich in der philosophischen Arbeit erringen lassen (RP[II], 229, 232).

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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