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»Mitwissenschaft der Schöpfung«:

Zur Entwicklungsgeschichte der

anthroposophischen Kosmogonie (1883–1910)

Von Christian Clement

SKA 8.2 (2018), CXXIII-CCI

 

Im Folgenden sollen die oben gegebenen knappen Hinweise über die Entstehung und Entwicklung der in diesem Band enthaltenen Schriften zur Kosmogonie (vgl. Einleitung I zu SKA 8) weitergeführt und vertieft werden. Die detaillierte Rekonstruktion der textuellen Entwicklungsgeschichte hätte das übliche Maß einer allgemeinen editorischen Einleitung überschritten und wird deswegen in diesem eigenständigen Kapitel angefügt, da es dem Herausgeber dieser Edition auf die Dokumentation und die Beleuchtung der Genese der steinerschen Texte in ganz besonderer Weise ankommt. Und auch eine Zusammenstreichung dieser Zusammenhänge auf eine rein kursorische Übersicht wäre wenig sinnvoll gewesen, da sich ein Bild der Entwicklungsgeschichte der anthroposophischen Kosmogonie ohne eingehende Detailuntersuchungen nicht zeichnen lässt, will man sich nicht in inhaltslosen Allgemeinheiten ergehen. Den schon vorhandenen, an der begrifflichen Oberfläche verbleibenden Darstellungen zur anthroposophischen Kosmogonie braucht keine weitere hinzugefügt werden. Aus diesen Gründen wurden in der Einleitung die steinerschen Texte hinreichend für ein allgemeines Verständnis kontextualisiert, während die nachstehenden Hinweise, zusammen mit den im Anhang beigefügten Quellentexten, dem besonders an Steiners Rezeption und Verwandlung der theosophischen Kosmogonie Interessierten zusätzliches Material an die Hand geben.

Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst wird die Genese der theosophischen Kosmogonie nachgezeichnet, und zwar anhand jener Quellen, auf die Rudolf Steiner bei der Ausarbeitung seiner eigenen Vorstellungen zur Welt- und Menschheitsentwicklung vor allem zurückgriff. In einem zweiten Schritt wird die steinersche Aneignung und Umformung dieses Materials in seinen drei grundlegenden Texten zur Welt- und Menschheitsentwicklung dargestellt.

 

Die Genese der theosophischen Kosmogonie

(1883–1904)

Die steinersche Kosmogonie lässt sich ideengeschichtlich nur verstehen, wenn man berücksichtigt, auf welche Vorstellungen Steiner sich in den verschiedenen Phasen seiner Theosophie-Rezeption jeweils konkret bezog, welche er adaptierte, ablehnte, umdeutete und wie er in bestimmten Konflikten zwischen konkurrierenden theosophischen Positionen Stellung bezog. Daher müssen an dieser Stelle zunächst die theosophischen Vorstellungen selbst in der Form betrachtet werden, in der sie Steiner um die Jahrhundertwende entgegentraten. Dabei stützen wir uns vor allem auf Alfred Sinnetts Geheimbuddhismus (Esoteric Buddhism, 1883), auf H. P. Blavatskys Geheimlehre (The Secret Doctrine, 1888) sowie auf zwei Schriften von William Scott-Elliot: Atlantis nach okkulten Quellen (The Story of Atlantis, 1896) und Das untergegangene Lemurien (The Lost Lemuria, 1904).

 

Alfred Sinnetts Geheimbuddhismus:

›Weltenkette‹, ›Daseinswelle‹ und ›Wurzelrassen‹

Die erste Buchveröffentlichung innerhalb der anglo-indischen Theosophie mit einer systematisch entwickelten Weltentstehungslehre war Alfred Sinnetts Werk Die esoterische Lehre oder: Geheimbuddhismus (Originaltitel: Esoteric Buddhism). Das Werk erschien 1883, nachdem Sinnett kurz zuvor schon einige seiner Ideen in Artikeln der Zeitschrift Theosophist dargestellt hatte. In der Form, wie Sinnett hier seine kosmogonischen und anthropogenetischen, aber auch seine ontologischen und anthropologischen Vorstellungen vortrug, wurden sie richtungsgebend und charakteristisch für die anglo-indische Theosophie insgesamt und somit auch für die spätere Anthroposophie. In der zuvor erschienenen Entschleierten Isis von Blavatsky (Isis Unveiled, 1877) hatte die Theosophie als Weltanschauung noch keine strenge Systematik angenommen. Die später entstandenen Texte Blavatskys hingegen, wie auch diejenigen Annie Besants, Rudolf Steiners und anderer theosophischer Autoren, folgten allesamt dem Grundriss der bei Sinnett entwickelten Systematik einer ontologischen, kosmologischen und anthropologischen Siebengliederung und dem daraus abgeleiteten Entwicklungsschema. Dem Geheimbuddhismus als Text kommt somit eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Entwicklung theosophischer und anthroposophischer Esoterik zu, die in der bestehenden Forschungsliteratur oft zugunsten der Geheimlehre Blavatskys vernachlässigt worden ist.

Durch seinen systematischen Aufbau und die schlichte populärwissenschaftliche Art der Darstellung machte das Buch theosophische Vorstellungen dem Publikum deutlich zugänglicher, als die unsystematischen und weitschweifigen, von ständigen Exkursen unterbrochenen Ausführungen in Blavatskys Entschleierter Isis dies vermocht hatten. Rudolf Steiner hat später mehrfach der Einschätzung Ausdruck gegeben, dass Sinnetts Schrift (zumindest im deutschsprachigen Raum, wo bereits 1884 eine Übersetzung vorlag) in zentraler Weise für den Zulauf verantwortlich war, dessen sich die Theosophische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten ihrer Entwicklung erfreuen konnte.

Die Schrift weist zwölf Kapitel auf, wobei die kosmogonischen und die anthropogenetischen Verstellungen nicht in eine einheitliche Darstellung zusammengefasst werden, sondern voneinander getrennt und über das ganze Buch verstreut sind und sich mit anthropologischen, ontologischen und historischen Kapiteln abwechseln.

 

Die planetarische Entwicklung nach Sinnett

Sinnetts Darlegungen weisen sich gleich im ersten Satz als eine spirituelle Antwort auf die als ›materialistisch‹ und damit ›einseitig‹ wahrgenommene moderne Naturwissenschaft aus, insbesondere als Reaktion auf die Entwicklungstheorie Charles Darwins und seiner Anhänger. Die darwinistische Erklärung der Evolution stelle, so wird ausgeführt, nur den materiellen Teil der Wirklichkeit dar und ignoriere und erniedrige damit das Geistige im Kosmos und im Menschen. Außerdem werde das geistige Leben in die getrennten Bereiche von ›Wissen‹ und ›Glauben‹ zerrissen. Daher bedürfe Naturwissenschaft einer Ergänzung und Korrektur durch ›Geheimwissenschaft‹ (schon hier also taucht dieser später von Steiner benutzte Gegenbegriff auf), in welcher Materie und Geist gleichermaßen zu ihrem Recht kämen. In diesem Zusammenhang dient die zeitgenössische Diskussion um die sogenannten ›missing links‹ in der darwinschen Evolutionskette, d. h. die archäologisch fehlenden Glieder zwischen den vormenschlichen Primaten und den ersten Menschenformen, als argumentativer Aufhänger und Illustration eines Anspruchs, nach dem Naturwissenschaft durch Geheimwissenschaft ergänzt bzw. korrigiert werden könne. Sinnett argumentiert, dass diese missing links deshalb archäologisch nicht nachgewiesen werden könnten, weil die Entwicklung der Lebensformen sich nicht ausschließlich auf der Erde vollzogen habe, sondern zeitweilig auch auf anderen ›Welten‹ bzw. ›Planeten‹, deren Entwicklung mit der Erdentwicklung in engem Zusammenhang stehe. Die Erde gehöre nämlich, so Sinnetts zentrales Postulat, zu einer ganzen ›Reihe‹ oder ›Kette‹ (chain) von Welten, deren gemeinsame Entwicklung den kosmogonischen Prozess ausmacht. Diese anderen ›Welten‹ hat man sich nach Sinnett als simultan mit der physischen Erde existierend vorzustellen; aber aus der Perspektive der Menschheit, die auf den verschiedenen Kettengliedern nach und nach ihre Evolution durchmacht, treten sie sukzessive, d. h. als verschiedene Stufen ihrer Entwicklung auf. Diese hat nach dieser Konzeption bereits drei frühere ›vorirische‹ Welten durchlaufen und wird, wenn die Entwicklung auf der Erde abgeschlossen sein wird, auf anderen Gliedern der ›Weltenkette‹ fortgesetzt werden.

Die verschiedenen Glieder dieser Weltenkette werden nach Sinnett allesamt von den sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befindlichen geistigen Individualitäten, den sogenannten ›Monaden‹, durchlaufen. Indem diese sich aufgrund ihrer bisherigen Entwicklung in unterschiedlicher Weise entwickelt haben, bilden sie die verschiedenen Naturreiche. Einige stehen auf der Stufe von Mineralien und Metallen (stones and metals), höherstehende bilden das Pflanzenreich, noch höhere das Tierreich. Darüber stehen die menschlichen Monaden, über denen dann noch höhere Wesensklassen stehen. Und auch unterhalb des Mineralreiches gibt es tieferstehende Klassen von Monaden, etwa die sogenannten ›Elementarwesen‹. Jede Wesensklasse steht nach Sinnett auf ihrer Stufe, weil sie sämtliche unter ihr liegenden Naturreiche auf früheren Welten bereits durchlaufen hat.

Mit der Daseinswelle wandert auch die Menschheit ›von Welt zu Welt‹, d. h. von einem Entwicklungsstadium zum nächsten, aber nicht ins Unendliche, sondern in aufsteigenden Zirkeln. Nach dem Durchlauf aller sieben Glieder der zur Erde gehörenden Weltenkette, die Sinnett auch als Globen (globes) bezeichnet und zunächst nur schematisch mit Großbuchstaben von A bis G benennt, kehrt der Entwicklungsprozess bzw. die ›Daseins‹- oder ›Lebenswelle‹ wieder zum ersten Planeten der Kette, zum Globus A zurück. Ein solcher voller Kreislauf durch die Weltenkette wird im Geheimbuddhismus auch als eine ›Runde‹ (round) bezeichnet. Die Absolvierung einer ›Runde‹ bringt nach Sinnett für die sich entwickelnden Wesen eine Höherentwicklung mit sich, weshalb diese sich bei der Rückkehr zu einem früher bereits besuchten Globus auf einer höheren Stufe der Entwicklung desselben wiederfinden. Die evolutive Kreisbewegung ist somit im Geheimbuddhismus zugleich eine horizontale Reise durch die ›Globen‹ und eine vertikale durch die ›Runden‹; der kosmogonische Prozess wird vorgestellt als zugleich zirkulär (was dem archaischen und dem östlichen Denken mehr entspricht) und linear (wie das moderne westliche Denken), was im Bild der sich aufwärts windenden Schraube illustriert wird. Daneben vergleicht Sinnett die ›Reise‹ der Wesen durch die Glieder der Weltenkette auch mit dem Besuch einer Reihe von kreisförmig angeordneten Türmen, in denen man aber jedesmal, wenn man einen früher bereits besuchten Turm wiederum erreicht, diesen diesmal auf einer höheren Etage betritt. Die Anzahl der auf jedem Globus zu durchlaufenden Stufen wird, wie die Anzahl der Globen selbst, auf sieben beziffert. Am Anfang stehen drei sogenannte Elementarreiche, dann folgen das ›Gesteinsreich‹ (bzw. ›Mineralreich‹), das ›Pflanzenreich‹, das ›Tierreich‹ und schließlich das ›Menschenreich‹. Diese sieben Reiche haben, so will es Sinnetts Konzeption, alle Wesen auf allen sieben Globen zu durchlaufen.

Mit den Namen seiner Welten geht Sinnett spärlich um. Neben der Erde identifiziert er nur den dieser vorhergehenden Globus (vorhergehend in der Ordnung, in der die Wesen die Globen durchschreiten) als ›Merkur‹ und den nachfolgenden als ›Mars‹. Alle anderen Welten der gegenwärtig zur Erde gehörenden Weltenkette seien, so erfährt man, derzeit physisch nicht sichtbar. Sonne, Mond und die übrigen sichtbaren Planeten des gegenwärtigen Sonnensystems stellen somit im Geheimbuddhismus keine Glieder der irdischen Weltenkette dar, sondern gehören zu anderen chains.

Zu diesem allgemeinen Schema der Weltentwicklung kommt dann noch ein weiteres wichtiges Detail hinzu. Sinnett beschreibt nämlich, wie die verschiedenen Globen und letztlich die gesamte Weltenkette, nachdem die Daseinswelle durch sie hindurchgegangen ist, in einen passiven Zustand bzw. in eine Art ›Schlaf‹ verfallen. Die aktiven bzw. schöpferischen Phasen bezeichnet er in Anknüpfung an buddhistische und hinduistische Kosmologien als ein Manvantara. Ein Manvantara umfasst also die Gesamtheit aller Runden einer Schöpfungsperiode, vergleichbar einem Äon nach gnostischem Verständnis. Die oben erwähnte Phase der Passivität bzw. des Schlafes zwischen dem Ende eines Manvantara und dem Beginn eines neuen, den sogenannten ›Weltenschlaf‹, bezeichnet er als ein Pralaya. Nicht nur die zur Erde gehörige Weltenkette, sondern alle Welten innerhalb des Universums gehen nach Sinnett durch diesen immerwährenden Zirkel von Wach- und Schlafzuständen. In einem anderen Bild spricht er auch von einem dem menschlichen Reinkarnationszirkel vergleichbaren ›Sterben‹ und ›Wiedergeboren-Werden‹ der Weltenketten.

 

Die Menschheitsentwicklung nach Sinnett

In dieses allgemeine Schema der Entwicklung der Erde und des Universums fügt Sinnett im vierten Kapitel des Geheimbuddhismus seine Vorstellungen zur Entwicklung des Menschen. Die Menschheit befindet sich nach dieser Konzeption gegenwärtig in der vierten ›Runde‹ des vierten ›Globus‹ bzw. der Erde, d. h. ziemlich genau in der Mitte der Entwicklung der gegenwärtigen Kette. Es ist ihr vierter ›Besuch‹ auf dem Erdglobus, und ihre Entwicklung spielt sich diesmal auf der Ebene des vierten Naturreiches (des Mineralreiches) ab. Seine früher auf der Erde absolvierten Entwicklungsphasen vollzogen sich in den unteren drei ›Elementarreichen‹ und können somit nach Sinnett nicht als physische Inkarnationen im eigentlichen Sinne angesehen werden. Dieses vierte oder mineralische Naturreich selbst aber hat, wie aus Obigem hervorgeht, auf den Globen A bis C ebenfalls bereits drei Stufen der Entwicklung durchgemacht und ist dabei aus einer ursprünglich ›geistigen‹ bzw. ›ätherischen‹ Form durch zunehmende Verdichtung erst zu demjenigen physisch-materiellen Reich geworden, in dem die gegenwärtige Menschheit lebt und körperliche Form annehmen kann.

Eine der Weltentwicklung vergleichbare parabolische ›Kurve‹ macht nach Darstellung des Geheimbuddhismus auch die physische Menschenform durch. Deren Runden auf Globus A verlaufen ebenfalls rein geistig, in Form einer riesenhaften ätherischen Leiblichkeit. Auf den Globen B und C wird dieser Leib physisch immer dichter, kleiner und kompakter, während der Mensch an Selbstbewusstsein und an Intelligenz graduell zunimmt, dabei aber aus seiner ursprünglich engen Verbindung mit dem Geistigen mehr und mehr herausfällt. Mit der Ankunft auf dem vierten Globus nimmt der menschliche Körper langsam die physische Form an, die er gegenwärtig trägt. Jetzt erlernt er auch das Sprechen und das Denken und bildet dadurch langsam das ›Ich‹ aus, welches sich in einem fortwährenden Kampf gegen das physische Element befindet. Dieser Kampf dauert nach Sinnett fort während der Reise der Menschheit durch den fünften, sechsten und siebten Globus und weiter in die fünfte Runde. In der sechsten Runde hingegen beginne das innere, geistige Wesen im Menschen über das physische zu obsiegen und die Herrschaft darüber zu erlangen. Über die siebte Runde schweigt der Geheimbuddismus sich weitgehend aus, beschreibt sie nur andeutungsweise als eine solche, in welcher der Mensch einen ›gottähnlichen‹ Zustand erlange.

Innerhalb dieses groben Schemas des Eintauchens einer ursprünglich geistigen Menschheit in die Materialität und dem graduellen Wiederaufsteigen aus derselben in eine vergeistigte Zukunft wird dann weiter differenziert: Wie jede Weltenkette sieben ›Globen‹ und jeder Globus sieben ›Runden‹ durchläuft, so ist auch jede Runde wiederum siebenfach gegliedert. So durchläuft nach diesem Modell die Menschheit in ihrer gegenwärtigen vierten Runde sieben distinkte Entwicklungsstufen, die sogenannten ›Haupt‹- oder ›Wurzelrassen‹ (root races). Innerhalb dieser befindet sich nach Sinnetts Darstellung die gegenwärtige Menschheit auf der fünften Stufe.

Jede der sinnettschen Hauptrassen durchläuft nun wiederum sieben Stufen, die sogenannten ›Stamm-‹ oder ›Unterrassen‹ (subdivisional races). Als Beispiele von Unterrassen der gegenwärtigen fünften Hauptrasse, die nicht eigens benannt, sondern nur indirekt als ›nachatlantische‹ charakterisiert wird, werden eine (erste) ›asiatisch-arische‹ (aryan asiatics), eine ›ägyptische‹ sowie (als siebte und letzte) eine Rasse ›der weißen Eroberer‹ (white conquerers) genannt. Innerhalb jeder dieser Kulturentwicklungsstufen unterscheidet Sinnett wiederum je sieben ›Zweigrassen‹ (branch races). Er nennt die römische und die griechische Kulturepoche als zwei solcher untergeordneten Entwicklungsstufen innerhalb der gegenwärtigen (der fünften bzw. nachatlantischen) Stammrasse.

Insgesamt kommt also das Entwicklungsmodell des Geheimbuddhismus auf nicht weniger als 343 ›Rassenzustände‹, welche die Menschheit auf der Erde zu durchlaufen hat. In jedem derselben macht der Mensch nach Sinnett wiederum mehrfache Reinkarnationen durch. Da er für jede Zweigrasse mindestens zwei Inkarnationen ansetzt (eine männliche und eine weibliche), um das jeweilige Erfahrungspotential jeder Stufe voll auszuschöpfen (und aufgrund einiger weiterer hier nicht wesentlicher Bedingungen) sind rund 800 Inkarnationen erforderlich, um das volle Spektrum menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten während der vierten Runde zu durchlaufen.

Mit diesem Sinnettschen Modell ist im Wesentlichen das Grundgerüst theosophischer Kosmogonie und Anthropogenese gegeben, so wie diese sich später bei Blavatsky, bei Scott-Elliot und in den Texten dieses Bandes darstellen, wenn auch im Detail und in der Deutung nachhaltige Änderungen und Erweiterungen vorgenommen werden. Diesen Adaptionsvorgang bei Steiner näher zu betrachten ist aber erst sinnvoll, wenn man eine Vorstellung davon hat, wie Blavatsky diese Konzeption in ihrer Geheimlehre aufgegriffen und modifiziert hat.

 

H. P. Blavatskys Geheimlehre:

›Kosmische Vorfahren‹, ›himmlische Hierarchien‹

und der androgyne Ursprung der Menschheit

Helena Petrowna Blavatsky griff in ihrer Geheimlehre (The Secret Doctrine, 1888) das oben skizzierte Modell Sinnetts auf und adaptierte es in seinen wesentlichen Strukturen und Begrifflichkeiten, nahm jedoch einige einschneidende Modifikationen und Erweiterungen vor. Darüber hinaus formulierte sie eine Reihe von allgemeinen Kritikpunkten an ihrem Vorläufer. Blavatsky beklagte z. B., die sinnettsche Darstellung sei teilweise fehlerhaft, an vielen Stellen missverständlich und »zu materialistisch« – eine Kritik, der sich später auch Steiner angeschlossen hat (vgl. etwa GA 254, 37). Sinnett habe aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Bildung die Anweisungen der ›Mahatmas‹ in vielen Fällen zu mechanisch aufgefasst und dadurch verzerrt. Blavatsky kritisierte ferner, dass Sinnetts Buch den Eindruck entstehen lasse, dass Theosophie und naturwissenschaftlicher Darwinismus im Grunde miteinander vereinbar seien. Dagegen pochte sie auf einen grundsätzlichen Unterschied, ja fundamentalen Gegensatz zwischen der Entwicklungslehre Darwins und derjenigen der Theosophie. Ihre Kritik kristallisiert sich in der provokanten Aussage, dass nach theosophischer Anschauung der Mensch keineswegs ›vom Affen abstamme‹, sondern umgekehrt der Mensch die Erde als erstes Lebewesen betreten habe und somit die Affen (und die Tierwelt insgesamt) in gewisser Hinsicht als ›vom Menschen abstammend‹ zu betrachten seien.

 

Die Weltentwicklung nach Blavatsky

Im Hinblick auf die Kosmogonie korrigiert Blavatsky zunächst Sinnetts Darstellung der ›Globen‹. Im Geheimbuddhismus könne man den Eindruck gewinnen, so ihre Kritik, als wären mit den ›Globen‹ gleichzeitig an unterschiedlichen Orten im physischen Universum bestehende Welten gemeint. In Wirklichkeit seien darunter jedoch verschiedene Seinsebenen ein und derselben Welt zu verstehen. Blavatsky stellt die Globen nicht länger nebeneinander vor, sondern ineinander geschachtelt – wie eine Matroschka gewissermaßen –, wobei aber immer nur der jeweils vierte Globus physisch materialisiert und somit sinnlich wahrnehmbar ist. (Sinnetts Annahme dreier sichtbarer Globen innerhalb der Erdenkette wird damit für falsch erklärt.) Ferner fasst Blavatsky anders als Sinnett die Erde nicht als einen Globus innerhalb einer Siebenerkette auf, sondern als eigenständige Kette mit sieben Globen.

Dementsprechend verlaufen die verschiedenen Runden der Entwicklung in der Geheimlehre auch nicht ›horizontal‹ von einer Welt zur nächsten, sondern gewissermaßen ›vertikal‹ durch die sieben Entwicklungsstadien bzw. Seinsebenen einer einzigen Welt. Bei Sinnett wanderte z. B. die ›Daseinswelle‹ von der untersten Ebene des Merkur zu derjenigen der Erde und dann weiter zu derjenigen des Mars; bei Blavatsky geht die Entwicklung von der untersten ›elementarischen‹ Ebene des Erdendasein zur nächsthöheren irdischen usw., bis die Evolution auf der Erde abgeschlossen ist. Anschließend geht, wie bei Sinnett, die gesamte Erdenkette in ein Pralaya über, aus dem dann eine neue Weltenkette erwacht und ein neues Manvantara beginnt. Auf diese Weise werden in der Geheimlehre die Grundstruktur und die Komplexität der sinnettschen Konzeption bewahrt, aber das Bild der Welt- und Menschheitsentwicklung wird einfacher, überschaubarer und entspricht zugleich mehr der Linearität modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungsdenkens. Die anfang- und endlosen Entwicklungszirkel Sinnetts bestehen zwar weiter, aber nur im Hinblick auf die Weltenketten, während die Entwicklung einzelner Welten und auch diejenige der Menschheit relativ linear verläuft, nämlich in Perioden statt in Zirkeln. – Dieser blavatskyschen Konzeption folgt im Wesentlichen auch Rudolf Steiner, der dabei allerdings die Begriffe ›Kette‹, ›Globus‹ und ›Runde‹ nochmals umdeutet bzw. später ganz fallenlässt und stattdessen von ›Bewusstseins‹-, ›Lebens‹- und ›Formzuständen‹ spricht. Außerdem konzentriert sich Steiner ausschließlich auf die Entwicklung der Erde und der Menschheit; von sonstigen Weltenketten und -systemen, die nicht direkt mit der Erdentwicklung verbunden sind, ist bei ihm nicht mehr die Rede. Und auch die verschiedenen Natur- und Hierarchienreiche werden in seiner anthropozentrischen Perspektive nur insofern betrachtet, als sie Teil bzw. Aspekt der Menschheitsentwicklung sind.

Blavatsky revidiert ferner Sinnetts Anschauung dahingehend, dass sie die vor der gegenwärtigen Erde liegende Stufe der Weltentwicklung nicht mehr als ›Mars‹ bezeichnet, sondern als ›esoterischen Mond‹. Dieser esoterische Mond, so heißt es in der Geheimlehre, sei als planetarischer ›Vorfahr‹ bzw. als ›Mutter‹ der Erde anzusehen – und daher nicht mit dem gegenwärtig so genannten Trabanten der Erde zu verwechseln. Denn dieser konstituiert nach Blavatsky nur ein physisches Überbleibsel jener Zeit, als es die physische Erde noch nicht gab und die Weltentwicklung auf dem ›eigentlichen‹ bzw. ›esoterischen‹ Mond verlief. Blavatskys ›esoterischer Mond‹ ist also eigentlich so etwas wie eine frühe Entwicklungsstufe der Erde. Die Darstellung dieser ›lunaren‹ Periode nimmt in der Geheimlehre eine wichtige Rolle ein. Zum einen ist es diejenige Welt, in welcher die gegenwärtig auf der Erde verkörperten Menschen sich bis zur Tierstufe entwickelten. Zum andern spielen gewisse Wesen, die während der Mondzeit bereits ihre ›Menschheitsstufe‹ erreichten – die sogenannten ›lunaren Pitris‹, ›Herren des Mondes‹ oder einfach ›Väter‹ –, später eine entscheidende Rolle in der Erdentwicklung.

Über die nach dem allgemeinen Schema Sinnetts vorauszusetzenden zwei weiteren Phasen, die vor dem ›Mond‹- und dem ›Erden‹-Stadium liegen, macht Blavatsky keine näheren Angaben – außer natürlich die, dass auf diesen ›prälunaren‹ Welten die Menschheit ihre ›mineralische‹ und eine ›vegetative‹ Stufe durchläuft bzw. erst ›Stein‹ und dann ›Pflanze‹ ist. Auch über die drei nachirdischen Perioden finden sich bei Blavatsky nur wenige detaillierte Angaben. An einer Stelle spricht die Geheimlehre von einer ›Venus‹-Weltenkette, ohne diese freilich genauer zu spezifizieren. Und woanders erwähnt sie einen Planeten namens ›Vulcan‹, der zwischen dem Mond und dem Merkur anzusiedeln, gegenwärtig aber noch nicht entdeckt sei. Rudolf Steiner hat später das blavatskysche Konzept des ›esoterischen Mondes‹ als Erdenvorfahr aufgegriffen und die Begriffe ›Venus‹ und ›Vulcan‹ in seinem Entwicklungsmodell für die sechste und siebte Stufe der Erdentwicklung verwendet. Für seine Bezeichnung der ersten und zweiten Stufe als ›Saturn‹ und ›Sonne‹ hingegen finden sich bei Blavatsky keine direkten Vorbilder, ebensowenig wie für seine Charakterisierung der fünften Phase als ›künftiger Jupiter‹.

Dass Blavatsky (wie später auch Steiner) die sinnettsche Vorstellung von Manvantaras und Pralajas aufgegriffen hat, wurde oben bereits erwähnt. Zusätzlich zu dieser Konzeption kommt in der Geheimlehre der Gedanke, dass innerhalb der Abfolge der verschiedenen Welten oder Entwicklungsphasen ein neues Stadium immer mit der Wiederholung bzw. Rekapitulation der früheren beginnt (GL II, 50). Wie später bei Steiner steht somit auch schon bei Blavatsky am Anfang einer jeden Weltphase ein Vorgang, welcher analog zu dem von Ernst Haeckel formulierten biogenetischen Grundgesetz verläuft: Wie nach Haeckel jedes Lebewesen während seiner Embryonalphase die gesamte Formentwicklung seiner Art rekapituliert, so wiederholt hier jede neu auftretende Entwicklungsstufe der Welt zunächst alle früher bereits durchlaufenen Evolutionsstufen bevor sie in ihrer Entwicklung weiterschreitet. Steiner hat dieses Element des kosmogonischen Prozesses allerdings deutlich stärker betont und detaillierter ausgearbeitet als Blavatsky.

Wie die Vorstellung von aktiven und passiven Phasen der Weltentwicklung übernimmt Blavatsky von Sinnett auch die grundsätzliche Zuordnung der Welt-Perioden zu den Phasen des graduellen Aufstiegs der Menschheit durch die Naturreiche. D. h. auf den ersten beiden (nicht benannten) Stufen machen die Menschen auch nach der Geheimlehre zunächst eine mineralische und eine pflanzliche Entwicklungsstufe durch. Auf dem früheren Mond hingegen entwickeln sie sich zu einer der gegenwärtigen Tierheit vergleichbaren Stufe und werden erst auf der vierten Stufe eigentliche Menschen. Oft zitiert sie den Satz, der ihr als kabbalistisches Motto gilt: dass nach der theosophischen Entwicklungslehre der Mensch zunächst »ein Stein wird, dann eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch, ein Geist und schließlich Gott« (GL II, 196).

 

Blavatskys Einführung einer Hierarchienlehre

in die Kosmogonie

Nun hat Blavatsky die im Geheimbuddhismus dargestellte Kosmogonie nicht nur adaptiert und modifiziert, sondern in einigen Punkten auch wesentlich erweitert. Eine der weitreichendsten Erweiterungen ist die Einführung einer Hierarchienlehre, wobei sie auf Vorstellungen aus buddhistischen und hinduistischen Traditionen zurückgriff. Die Geheimlehre erwähnt an vielen Stellen eine siebenfache (bisweilen auch zwölffache) Hierarchie geistiger Wesen, deren Tätigkeit als treibende Kraft hinter den mannigfachen kosmogonischen Entwicklungen stehe. Blavatskys allgemeinster Begriff für solche Wesen ist Dhyanis, ähnlich wie in der christlichen Hierarchienlehre die verschiedenen Klassen geistiger Wesen allesamt als ›Engelschöre‹ bezeichnet werden, obwohl im engeren Sinne nur deren unterster Rang den Namen ›Engel‹ trägt. Hinzu zu diesen geistigen Hierarchien und den auf der Erde inkarnierten Wesen (Mineralien, Pflanzen, Tiere, Menschen) kommen dann noch die sogenannten ›Elementarwesen‹ als dritte große Wesenskategorie. Diese rangieren im Entwicklungsprozess gewissermaßen ›unterhalb‹ der vier irdischen Naturreiche (Mineral, Pflanze, Tier, Mensch), so wie die geistigen Hierarchien ›oberhalb‹ derselben lokalisiert sind.

Weitere Wesensgruppen kommen hinzu, indem Blavatsky postuliert, dass in die Entwicklung der gegenwärtig auf der Erde vorhandenen Minerale, Pflanzen, Tiere und Menschen gewisse andere Wesen eingreifen, die schon auf früheren Welten diese Stufen durchlaufen haben (und somit ›fortgeschrittener‹ sind als die Erdenbewohner), ihre damalige Entwicklung aber in gewisser Hinsicht nicht vollständig abgeschlossen haben und daher nicht in die nächsthöhere Hierarchienkategorie aufgestiegen sind. Die bedeutendste Gruppe solcher Wesen sind die sogenannten ›Väter‹ oder ›Menschenvorfahren‹ (sanskrit: Pitris), welche in ›lunare‹ und ›solare‹ untergliedert werden. Darunter versteht Blavatsky Wesen, die bereits auf der Mond-Stufe (bzw., so darf von der Bezeichnung her wohl angenommen werden, auf einer Sonnen-Stufe) ihre Menschheitsstufe durchgemacht haben. Diese Pitris spielen im zweiten Band der Geheimlehre eine bedeutsame Rolle in der Entwicklung der frühen Menschheitsstufen: Sie werden als deren ›Schöpfer‹ bezeichnet, weil sie durch Projektion bzw. ›Ausatmen‹ ihrer eigenen Astralität in den Stoff der entstehenden Erde (vgl. GL II, 90) die Grundlage für die Entwicklung des menschlichen Organismus legen. Genauer gesagt: die lunaren Pitris arbeiten an den niederen menschlichen Wesensgliedern oder Leibern, während die (höherstehenden) solaren Pitris ihn später mit Manas (Verstand) und dem ›Ich‹ ausstatten und ihn so erst eigentlich zum Menschen machen.

Konkret sieht dies folgendermaßen aus: Die sogenannten solaren Pitris oder ›Sonnenengel‹ statten den Menschen mit dem ›Ich‹ aus, indem sie ihr eigenes geistiges Wesen in den Menschen gewissermaßen ›einhauchen‹ bzw. ihnen ihr Geistiges für eine Weile zur Verfügung stellen – bis diese Menschen selbst zu geistigen Wesen werden bzw. ein eigenes ›Ich‹ ausbilden können. Auf ähnliche Weise hatten schon vorher die lunaren Pitris die leibliche Hülle des Menschen veredelt. Wiederum andere Klassen von Pitris begeben durch solches Ausströmen ihres eigenen Wesens den Menschen mit dem ›Gemüt‹ und mit anderen Wesensgliedern (GL II, 93).

Ein weiterer neuer Aspekt der blavatskyschen Kosmogonie gegenüber Sinnett ist das Konzept der demiurgischen Schöpfung. Schon Plato unterschied bekanntlich im Timaios zwischen dem eigentlichen Weltschöpfer, welcher den Plan der Schöpfung entwirft, und dem Demiurgen oder Baumeister, welcher den Plan praktisch ausführt. In der Geheimlehre findet sich eine ähnliche Konzeption, indem die in die Welt- und Menschenentwicklung eingreifenden Pitris ihre Instruktionen von noch höheren Geistwesen erhalten. In Blavatskys Terminologie sind dies die Dhyani Choans oder ›Planetengeister‹. Eine jede sich entwickelnde Welt bzw. Weltenkette steht nach der Geheimlehre unter der Leitung eines solchen Planetengeistes, der den unter ihm stehenden Hierarchien ihre Anweisungen gibt. Die Dhyani Choans selbst, von denen es erwartungsgemäß wiederum sieben gibt, stehen ihrerseits wieder unter der Leitung bzw. sind Ausdruck einer noch höheren Ebene der Geistigkeit: dem dreifaltigen und zugleich all-einen ›Schöpfer‹, ›Logos‹ oder ›Weltgesetz‹. So kommt, bei aller hierarchischen Vielfalt, in der Kosmogonie Blavatskys ihr prinzipieller Monismus durchaus wieder zum Tragen. Die Mannigfaltigkeit der geistigen Hierarchien wurzelt und ruht ebenso in einer alles umfassenden Seinseinheit wie die siebengliedrigen Weltenketten, Globen und Runden, die Seinsebenen, die Rassen- und Kulturstufen und die menschlichen Wesensglieder.

Durch Blavatskys Einführung einer elaborierten Hierarchienlehre in die Kosmologie wurde das an sich schon komplexe Kosmologie-Modell Sinnetts noch einmal deutlich verkompliziert und vervielschichtigt. Kosmogonische Prozesse sind in der Geheimlehre stets in zweifacher Hinsicht zu deuten, nämlich einerseits als äußerliche (physische, ätherische, astrale usw.) ›Vorgänge‹ und andererseits als ›Taten‹ der Dhyanis und Pitris. Ferner ermöglichte diese Erweiterung Blavatsky, bestimmte Entwicklungsvorgänge als Ergebnis eines Retardierens bzw. Zurückbleibens bestimmter Wesenheiten zu erklären. So beschreibt sie, wie gewisse Wesen auf der Leiter ihrer natürlichen Entwicklung auf bestimmten Welten die für sie vorgesehenen Entwicklungsziele nicht erreichen. Indem diese Wesen dann, im Fortgang der ›Lebenswelle‹, in eine neue Welt gewissermaßen ›hineingespült‹ werden, bilden sie dort ein zurückgebliebenes, anachronistisches Element und wirken auf die sich regelmäßig entwickelnden Wesen in bestimmter Weise ein. Sie hindern und stören die reguläre Evolution, wirken aber zugleich gerade dadurch als Katalysator für neue Entwicklungen.

 

Die Menschheitsentwicklung nach Blavatsky

Während die Geheimlehre die sinnettsche Konzeption der ›Weltenkette‹ tiefgreifend umdeutete und mit der Hierarchien-Konzeption ein völlig neues Element in das theosophische Denken einführte, welches im Geheimbuddhismus fehlt, knüpfte das Werk im Hinblick auf die Menschheitsentwicklung deutlich enger an Sinnetts Darstellung an. Es übernahm dessen Lehre von den sieben Hauptrassen, Unterrassen und Zweigrassen ohne nennenswerte Modifikationen, einschließlich der Vorstellungen über ›Lemurien‹ und ›Atlantis‹, reicherte aber dieses schlichte Grundschema mit einer Vielzahl neuer Details an, die sie aus westlichen und östlichen Mythologien entnimmt. Deren wichtigste sollen im Folgenden kurz angedeutet werden.

Zunächst vergibt Blavatsky einige neue Namen, etwa indem sie die den ›Lemuriern‹ und ›Atlantiern‹ vorangehenden Stufen der Menschheitsentwicklung als die ›göttliche‹ oder ›adamische‹ und als die ›hyperboräische‹ kennzeichnet. Deren allgemeine Charakterisierung durch Sinnett wird beibehalten, aber um einige wichtige Details ergänzt. Bedeutendster Zusatz ist die These, dass die erste noch gewissermaßen unkörperliche Menschheitsstufe zugleich eine ungeschlechtliche gewesen sei, welche deshalb ihre Nachkommen nicht durch Zeugung hervorbrachte, sondern durch ein ›Aushauchen‹ oder ›Abspalten‹ ihres Eigenwesens. Die später auftretende sexuelle Zeugung sowie die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen entstehen nach Blavatsky erst durch einen langen mehrstufigen Prozess. In der Art und Weise, wie die Geheimlehre all diese Prozesse darstellt, zeigen sich unübersehbare Parallelen zu Ernst Haeckels Darstellung der Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit in der frühen Erdgeschichte (vgl. GL II, 175 ff.). Blavatskys Anschauungen über die allerfrüheste Menschheitsentwicklung können in gewisser Hinsicht als eine ins Esoterische gewendete Übetragung der haeckelschen Vorstellungen über die Entwicklung der Fortpflanzung in der Pflanzen- und Tierwelt verstanden werden.

Ebenfalls neu bei Blavatsky ist die Darstellung mehrerer vergeblicher Versuche der sich zunehmend materialisierenden Erde, aus sich selbst heraus – also ohne Hilfestellung durch hierarchische Geistwesen – einen geeigneten physischen Leib für die Inkarnation der quasi-göttlichen ›Selbstgeborenen‹ hervorzubringen. Dies misslingt jedoch und führt zu verschiedenen Arten von ›Fehlgeburten‹, zu monströsen Tiermenschen, welche unfähig zu höherer Entwicklung sind. Die Inkarnation der auf passende Leiber wartenden menschlichen Monaden gelingt erst, als die oben erwähnten Pitris in die Entwicklung eingreifen und die physischen Leiber der künftigen Erdbewohner in der oben beschriebenen Weise vorbereiten (GL II, 55 ff.). So kommt es, dass in der Geheimlehre die eigentliche Inkarnation der dafür bereitstehenden Monaden in einem physischen Leib wie auch die Geschlechtertrennung erst während der lemurischen Zeit erfolgen. Erst jetzt kann nach Blavatsky im eigentlichen Sinne von ›Menschen‹ auf der Erde gesprochen werden; in den zwei vorhergehenden Perioden waren sozusagen nur die entsprechenden Wesensglieder der über dem Menschen stehenden Wesen (Pitris) in den menschlichen Leibern inkarniert.

 

Die ›lemurische‹ Periode nach Blavatsky

Das charakteristischste und einschneidendste Ereignis für die Menschheit der lemurischen Periode ist nach der Geheimlehre die bereits erwähnte Geschlechtertrennung. Erst jetzt teilt sich nach Blavatsky die während der ersten zwei Epochen noch ungeschlechtliche und dann androgyne Menschheit in weibliche und männliche Individuen. Die lemurischen Menschen werden, wie bei Sinnett, als von großer ätherischer Körperlichkeit und hoher Spiritualität, aber niedriger Bewusstheit und Intelligenz beschrieben. Sie bilden kein abstraktes Gegenstandsbewusstsein aus, wie es die heutige Menschheit auszeichnet, sondern leben in einer intuitiven Hellsichtigkeit.

Ein weiteres wichtiges Ereignis gleich zu Beginn der lemurischen Zeit beschreibt Blavatsky als sogenannten ›Fall der Engel‹ oder ›Sturz in den Abgrund‹. Wie bereits erwähnt inkarnieren sich zunächst nicht Menschen-Monaden, sondern die lunaren Pitris in den lemurischen Menschenleibern, um deren Entwicklung zur Zweigeschlechtlichkeit zu ermöglichen. Für diese Wesen auf ihrer hohen Entwicklungsstufe bedeutet dies aber einen ›Sturz‹ in den Abgrund der Materialität, über die sie durch ihre reguläre Entwicklung bereits erhaben sind. Eine Gruppe der zu dieser ›Erdenmission‹ bestimmten Pitris weigert sich aber und bleibt zurück, da sie überzeugt sind, dass der menschliche Leib noch nicht weit genug entwickelt ist. Dies ist nach Blavatsky der in vielen Mythologien als ›Ungehorsam‹ oder ›Rebellion‹ der Engel dargestellte Akt. In der Geheimlehre stellt er sich jedoch als notwendige Tat, ja als Opferdienst dar, denn er ermöglicht es den zurückbleibenden Pitris, zu einem späteren Zeitpunkt umso hilfreicher in die Menschheitsentwicklung einzugreifen. Blavatsky stellt gewissermaßen den christlich-biblischen Mythos vom ›Streit im Himmel‹ (vgl. Off. 12:7) und dem dadurch bewirkten ›Sturz Luzifers und seiner Scharen‹ auf den Kopf. Denn die ›Rebellen‹ sind in Blavatskys Version nicht die auf die Erde gestoßenen Engel, sondern die im ›Himmel‹ zurückgebliebenen, während ›Luzifer‹, der Anführer der herabsteigenden Gruppe, nicht als Widersacher, sondern als opferwilliger Helfer der Menschheit, als eine Art Prometheus erscheint, welcher das Licht des Verstandes in die Menschenwelt bringt.

Der ›misslungenen ersten Schöpfung‹ und dem ›Fall der Engel‹ wird dann ein drittes bedeutsames Ereignis zur Seite gestellt. Blavatsky nennt es die ›erste Sünde der Menschheit‹, meint damit aber noch nicht dasjenige, was ihrer Ansicht nach in der biblischen Geschichte von der ›Vertreibung aus dem Paradies‹ geschildert wird. (Dieser ›Fall Adams‹ ereignet sich ihrer Meinung nach erst während der ›atlantischen‹ Epoche). Die Geheimlehre beschreibt, wie einige der zum Zweck der ›Entwicklungshilfe‹ in lemurischen Leibern inkarnierten ›übermenschlichen‹ Pitris sich mit solchen Wesen sexuell einließen, welche noch auf einer tierischen bzw. tiermenschlichen Stufe standen. Dadurch sei eine zurückgebliebene Klasse von Tiermenschen entstanden, welche der regulären Entwicklung der Erde im Wege stand. Besonders interessant an dieser Episode ist die Hypothese Blavatskys, dass bestimmte gegenwärtige Affenarten als Nachkommen der durch diesen in der Bibel nicht erwähnten ›Sündenfall‹ erzeugten Tiermenschen anzusehen sind: eine provokative Illustration ihrer gegen Darwin gerichteten These, dass nach theosophischem Verständnis der ›Affe vom Menschen abstammt‹ und nicht umgekehrt.

Was die kulturelle Entwicklung der Lemurier angeht, so schildert Blavatsky, dass diese Menschheit zu ihrer Blütezeit in der Lage gewesen sei, Städte zu bauen. Ferner seien auch Künste und Wissenschaften betrieben worden, es habe Architektur, Mathematik und andere Fertigkeiten gegeben (GL, II, 331). Nähere Einzelheiten gibt sie jedoch nicht, und verglichen mit den später gegebenen ausführlichen Schilderungen Scott-Elliots über Lemurien gibt die Geheimlehre nicht viel mehr als einige vage Andeutungen. Geographisch lokalisiert Blavatsky die Lemurier auf einem gigantischen Kontinent, der sich von Madagaskar bis Ceylon erstreckt habe (GL II, 338). Dieser Kontinent wird gegen Ende der lemurischen Zeit durch unterirdische und vulkanische Aktivität zerstört, wodurch das Ende dieser Menschheitsepoche eingeleitet wird. Gewisse hoch entwickelte Teile der lemurischen Bevölkerung werden jedoch von einem weisen Führer, einem ›Manu‹, rechtzeitig in sichere Gebiete geführt. Aus diesen Überlebenden entwickelt sich dann nach der Geheimlehre die vierte, die ›atlantische‹ Menschheit.

 

Die ›atlantische‹ Periode nach Blavatsky

War das bedeutendste Ergebnis der lemurischen Zeit die Geschlechtertrennung gewesen, so schildert Blavatsky als zentrale Errungenschaft der atlantischen Zeit die Ausbildung des sogenannten Bilderbewusstseins. Dieses Bilderbewusstsein steht zwischen dem instinktiven schlafartigen Bewusstsein der Lemurier und dem gegenwärtigen Wachbewusstsein, kann also in gewisser Hinsicht dem Traumbewusstsein verglichen werden. Blavatskys Atlantier ist gegenüber dem Lemurier gewissermaßen um eine Stufe ›wacher‹, aber nicht so wach, dass er in einer Welt von scharf umrissenen Objekten und Raum und Zeit leben würde wie der heutige Mensch. Er lebt vielmehr vollbewusst in einer Welt von Bildern, ähnlich derjenigen, in welcher der heutige Mensch halbbewusst während des Träumens lebt. Durch diese war er der Welt der geistigen Wesen und seinen ›Vätern‹ bewusstseinsmäßig weniger verbunden als der Lemurier, aber immer noch mehr als die gegenwärtige Menschheit, für die solches Erleben nahezu völlig unbewusst geworden ist. – Auch die Sprache entwickelt sich nach Blavatsky in dieser vierten Epoche (GL II, 208 f.).

In geistiger Hinsicht ereignet sich nach Blavatsky in der atlantischen Zeit ein ähnlicher ›Sündenfall‹ wie in der lemurischen. Wieder wird der Vorfall im Bild des Verkehrs mit illegitimen Geschlechtspartnern beschrieben. Aber diesmal sind es nicht die in Menschenleibern inkarnierten Pitris, sondern die mittlerweise selbständig gewordenen Menschen selbst, die sich Frauen nehmen, welche ihnen zwar schön erscheinen, die aber in physischer Hinsicht hinter der regulären Menschheitsentwicklung zurückgeblieben sind. Aus diesen irregulären Verbindungen geht, so berichtet die Geheimlehre, ein Geschlecht hervor, welches in den verschiedenen Mythologien (und auch im Alten Testament, vgl. Gen. 6:4) als das Geschlecht der ›Riesen‹ auftaucht. – Der Vorgang wird aber auch in anderen Bildern beschrieben. So finde, schreibt Blavatsky, in der atlantischen Zeit eine zunehmende Verehrung, ja Vergötterung des physischen Leibes statt. Die nun endlich voll inkarnierten Menschen verlieben sich sozusagen in narzisstischer Weise in ihre eigene Leiblichkeit (GL II, 298). Eine dritte Schilderung dieser Entwicklung beschreibt, wie die Atlantier das Geheimnis der in der physischen Natur wirksamen ›Lebenskraft‹ entdecken und diese Lebenskraft auch technisch zu nutzen wissen; dann aber das neu entdeckte Geheimnis missbrauchen, indem sie es zu egoistischen und rein materiellen Zwecken verwenden und es so »in niedrige und tierische Regionen herabziehen« (GL II, 226). Wie aber immer das Geschehen geschildert wird, als Ergebnis spaltet sich in der Geheimlehre die atlantische Menschheit in zwei Gruppen: in ein physisch großgewachsenes, aggressives Geschlecht, welches sich besonders auf kriegerische Auseinandersetzungen, auf Expansion und Kolonisation konzentriert, und ein mehr introvertiertes, intellektuelles und spirituell ausgerichtetes Geschlecht. In den Mythologien der Völker seien dies die ›Gottessöhne‹ und die ›Söhne der Riesen‹, die sich in ständigem Konflikt mit Menschen und Göttern befinden (GL II, 388).

Geographisch lokalisiert die Geheimlehre den Kontinent der Atlantier in der Gegend des Nord- und Südatlantik (GL II, 423). Wie Lemurien durch Erdbeben und Vulkane, so wird Atlantis bei Blavatsky durch eine Überschwemmungskatastrophe zerstört. Wieder bewahrt ein ›Manu‹ eine ausgewählte Gruppe von Atlantiern durch rechtzeitige Emigration vor dieser Katastrophe und legt mit diesen Überlebenden die Grundlage für die Entwicklung der folgenden, fünften Menschheitsepoche. In der biblischen Erzählung von Noah sieht sie einen Niederschlag dieser Geschehnisse. Wie schon im Falle Lemuriens, sieht Blavatsky auch in der atlantische Katastrophe nicht so sehr das Ergebnis des oben beschriebenen Falles der Menschheit und der damit verbundenen moralischen Verirrungen (wie spätere Theosophen und auch Rudolf Steiner die Sachlage bewertet haben), sondern als karmische Notwendigkeit und schlichten Ausdruck des Gesetzes der Wandlung und Periodizität (GL II, 428).

In dieses schon reiche und komplexe Bild fügt Blavatsky dann noch ein weiteres Detail ein, indem sie davon berichtet, dass sich während der lemurischen und der atlantischen Periode sogenannte ›Eingeweihte‹ bzw. ›Initiierte‹ unter der Menschheit befunden hätten, welche deren physische Entwicklung steuerten und deren materielle und geistige Kultur als spirituelle Lehrer oder ›Gottkönige‹ leiteten und inspirierten. Dies waren nach Darstellung der Geheimlehre wiederum Fälle von geistigen Wesen, von Dhyanis oder Pitris, die sich in menschlichen Körpern inkarnierten, um die Menschheitsentwicklung voranzutreiben. – Sowohl Scott-Elliot als auch Steiner haben dieses Motiv der atlantischen ›Eingeweihten‹ später aufgegriffen und auf ganz unterschiedliche Weise gemäß ihrer Konzeptionen ausgestaltet.

 

Gegenwart und Zukunft der Menschheitsentwicklung

nach Blavatsky

Das nach dem Untergang von Atlantis auftretende fünfte Geschlecht, welches zugleich die gegenwärtig das Evolutionsgeschehen bestimmende Menschenart ist, nennt Blavatsky auch das ›nachatlantische‹ bzw. das ›arische‹. Dessen Hauptziel ist gemäß der Geheimlehre die Entwicklung des wachen Gegenstandsbewusstseins, des abstrakten Denkens und des individuellen ›Ich‹. Diese Errungenschaften werden allerdings mit dem vollständigen Verlust jener Hellsichtigkeit erkauft, welche die Lemurier und in geringerem Maße auch die Atlantier auszeichnet. Die sechste künftige Menschheitsstufe benennt Blavatsky ebensowenig wie Sinnett, bringt sie aber wie dieser geographisch mit dem amerikanischen Kontinent in Verbindung. In ihr soll die Menschheit bestimmte hellseherische Fähigkeiten, welche die Atlantier noch besaßen und die der gegenwärtigen Menschheit abhanden gekommen sind, wieder erwerben können, nunmehr aber integriert in das mittlerweile ausgebildete Ich-Bewusstsein. Eine siebte Menschheitsart wird ›Rasse der Buddhas‹ genannt; in ihr entwickelt sich der Mensch nach Blavatsky wieder zu jener höheren Geistigkeit hinauf, von welcher sie ursprünglich, vor ihrem Abstieg in die Materialität, ausgegangen ist.

William Scott-Ellis:

Weitere Details über Atlantis und Lemuria

Mit dem Geheimbuddhismus Sinnetts und der Geheimlehre Blavatskys waren die wesentlichen Anknüpfungspunkte für die Steinerschen Vorstellungen über Welt- und Menschheitsentwicklung gegeben. Im Hinblick auf seine Schilderung der lemurischen und der atlantischen Welt muss allerdings an dieser Stelle noch eine weitere theosophische Quelle betrachtet werden, weil diese die steinersche Darstellung in seiner Chronik nachhaltig geprägt hat. Es sind dies die Bücher von William Scott-Ellis: The Story of Atlantis von 1896 (dt.: Die Geschichte der Atlantis) und The Lost Lemuria von 1904 (dt.: Das untergegangene Lemurien).

Die Bücher von Scott-Ellis zeichnen sich dadurch aus, dass er deren Inhalt nicht, wie Sinnett und Blavatsky, ausschließlich auf die ›Meister‹ und auf geheimnisvolle tibetische Bücher zurückführt, sondern sich außerdem auf die hellsichtigen Schauungen eines gewöhnlichen Menschen und Zeitgenossen beruft, und zwar des Theosophen Charles Leadbeater. Dessen Mitautorschaft wird zwar in den Texten nicht ausdrücklich genannt, war aber in theosophischen Kreisen damals allgemein bekannt. Von Leadbeaters Schilderungen ausgehend berichtete Scott-Elliot über die prähistorische Menschheit in einer Weise, die an Konkretheit und Detailfülle alles bisher über Lemuria und Atlantis Geschriebene in den Schatten stellte. Aus den abstrakten Entwicklungsmodellen Sinnetts und Blavatskys wurde bei Scott-Elliot ein lebendiges Bild lemurischer und atlantischer ›Lebenswirklichkeit‹ – das freilich gerade durch seine Konkretion die eigene Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Denn die Berichte Scott-Elliots sind unverkennbar Projektionen des sozialen und kulturellen Umfelds ihrer Verfasser auf die Leinwand der Prähistorie; sie zeigen unverkennbar, dass hier Menschen der Kolonialzeit schreiben, die zugleich Freimaurer und Theosophen waren und für die ›Atlantis‹ als Projektionsfläche ihres Selbstverständnisses, ihrer Kritik an der Gegenwart und ihrer Sehnsüchte diente. Ihre ›Atlantier‹ kannten die Koedukation und die Gleichstellung der Frau, hatten sozialistisch anmutende Sozial- und Erziehungsprogramme, konnten unedle Metalle in Gold verwandeln, unterhielten Geheimgesellschaften und waren Vegetarier. Das Odium des Mysteriums, welches Sinnetts und Blavatskys meist nur andeutungshafte Versuche einer Imaginierung der Urgeschichte der Menschheit umgibt, schlägt bei Scott-Elliot in die Prosaität eines Baedeker-Berichtes um, der in seinem Bemühen um Konkretheit bisweilen auch ins ungewollt Komische abgleitet. Ein Beispiel unter vielen ist jene Passage, wo der Autor sich ausmalt, wie die Atlantier ihre hellseherischen Fähigkeiten dazu benutzten, sich bei Geschäftsabschlüssen telepathisch der Kreditwürdigkeit ihres Gegenübers zu versichern. Eine andere Passage imaginiert ein koedukatives Erziehungswesen, dessen Schüler – vor immerhin etwa 1 Million Jahren – ein System von Grundschulen, Gymnasien und Hochschulen durchliefen, lesen und schreiben konnten, die Buchherstellung kannten und deren Ausbildung vom Staat finanziert wurde. Die atlantischen Mysterien erscheinen bei Scott-Elliot als Geheimgesellschaften freimaurerischer Prägung, samt Logen und Graden. Die Beschreibung der Physis der verschiedenen atlantischen Rassen hingegen spiegelt die Begrifflichkeit der Rassentheorien des 19. Jahrhunderts wider und die Schilderung der fünften atlantischen Rasse, der sogenannten ›Ursemiten‹, kann als Musterbeispiel einer Projektion antisemitischer Stereotypen in die Prähistorie gelesen werden.

Indem sich Scott-Elliots Schilderungen nicht nur auf ›Meisterbriefe‹ und tibetische Texte beriefen, sondern auf die Visionen Leadbeaters, manifestierten sie eine Verschiebung in der Gewichtung der Quellen theosophischen Wissens. Innerhalb der theosophischen Bewegung hatte sich nach und nach die Vorstellung von einem Schulungsweg gebildet, durch den jeder Mensch durch systematisches Training zu hellsichtigen Erfahrungen kommen könne. Damit war die Theosophie als Lehrinhalt nicht mehr ausschließlich, wie bei Blavatsky und Sinnett, auf mysteriöse ›Meister‹ und altertümliche Manuskripte angewiesen. Ihre Entwicklung stand nun jedem offen, der die Fähigkeit solcher Hellsichtigkeit für sich beanspruchte. Außerdem wandelte sich die Theosophie selbst von einem bloßen System von ›Wahrheiten‹ zu einem Instrument der Erkenntnisschulung. Denn das Studium theosophischer Vorstellungen wurde mehr und mehr als Voraussetzung und Katalysator der Entwicklung hellsichtiger Fähigkeiten betrachtet. Beide Voraussetzungen waren für die Art der steinerschen Theosophierezeption und für deren Akzeptanz innerhalb der theosophischen Bewegung von großer Bedeutung.

In ihrer Schilderung der lemurischen und atlantischen Kultur folgen die Texte Scott-Elliotts im Wesentlichen der bei Sinnett und Blavatsky vorgegebenen allgemeinen Schematik und übernehmen auch die wesentlichen Angaben über die allgemeine Verfassung dieser Perioden, die geographische Lage ihrer Kontinente und die Bezeichnungen der Hauptrassen. Während aber bei Sinnett und Blavatsky die eigentlich esoterische Darstellung stets Hand in Hand gegangen war mit polemischen und apologetischen Exkursen in religionsgeschichtliche und naturwissenschaftliche Diskurse, werden diese beiden Bereiche bei Scott-Elliot deutlich voneinander getrennt. Der erste Teil eines jeden der beiden Bücher beschäftigt sich überwiegend mit geographischen, geologischen, biologischen, sprachkundlichen, ethnologischen und anthropologischen Befunden der Gegenwartsforschung, welche nach Meinung von Scott-Elliot eine Bestätigung dafür abgeben, dass es einen lemurischen und einen atlantischen Kontinent tatsächlich gegeben hat oder zumindest gegeben haben könnte. Insbesondere für das Vorhandensein von ›Lemurien‹ zitiert er ausführlich aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte Haeckels, der darin über einen gleichnamigen versunkenen Kontinent spekuliert und diesen als mögliche Wiege der Menschheit angesehen hatte. Erst nach dieser allgemeinwissenschaftlichen Propädeutik gehen die Bücher zur Schilderung der Prähistorie über.

Das Interesse Sinnetts, Blavatskys und Scott-Elliots, ihre esoterischen Inhalte vor dem Stand der damaligen Naturwissenschaft zu rechtfertigen und sie in diese einzubetten, stellt ein typisches Charakteristikum anglo-indischer Theosophie dar. Die Anbindung von Esoterik an die Naturwissenschaft wurde grundsätzlich für möglich gehalten und stets aktiv gesucht. Wo die beiden Bereiche zusammenzugehen schienen, da wurden gern die naturwissenschaftlichen Ergebnisse als Bestätigung oder gar Beweis esoterischer Lehren angeführt; wo sie nicht zusammenzubringen waren, da musste die Naturwissenschaft eben falsch liegen. Im Gegensatz dazu hat Rudolf Steiner als Esoteriker, wie oben bereits angedeutet, stets eine fundamentale methodische und hermeneutische Gegensätzlichkeit zwischen esoterischer Geisteswissenschaft und den etablierten Natur- und Geisteswissenschaften betont. Esoterik wie er sie verstand sollte zwar auch empirisch fundiert und methodisch ausgerichtet sein wie die etablierten Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaft, sollte aber aufgrund der besonderen Natur ihres Gegenstandes einer ganz eigenen ›inneren‹ Empirik und ganz eigenen methodischen und hermeneutischen Gesetzen folgen. Die Vorstellung von einer nahtlosen Integration von esoterischer Geisteswissenschaft in Naturwissenschaft oder umgekehrt, wie sie bei den anglo-indischen Theosophen immer wieder zu beobachten ist, hielt er – darin wiederum in der Tradition des deutschen Idealismus – für naiv. Daher finden sich in den Texten dieses Bandes kaum vergleichbare Anbiederungen seiner Esoterik an die Naturwissenschaften.

Scott-Elliots Schilderung der Lemurier enthält nahezu alle wichtigen Details prähistorischer Geschichte, die sich schon in der Geheimlehre finden: das Eingreifen der Pitris oder ›Schöpfer‹ in die menschliche Entwicklung, die Evolution von der Ungeschlechtlichkeit über die Zweigeschlechtlichkeit zur Eingeschlechtlichkeit, den ›Sündenfall‹, die Charakterisierung der Lemurier als erste Menschen und das Wirken von ›Eingeweihten‹ in ihrer Kultur. Was er dazu noch hinzufügt, ist zwar mannigfach und detailreich, bringt aber kaum Neues hinsichtlich der seelisch-geistigen Entwicklung der Menschheit. Seine vielen Details sind vielmehr ausgesprochen profan und drehen sich allesamt um das äußerliche Leben: um Essen und Trinken, Hausbau, Jagd, Politik, Erziehung, Kriegführung und dergleichen. Andere Details betreffen das physische Äußere der Lemurier, etwa die Tatsache, dass sich ihre Augen so weit auseinander befanden, dass sie nach beiden Seiten sehen konnten. Scott-Elliot beschreibt ferner ein ›drittes Auge‹ am Hinterkopf der Lemurier und erwähnt deren hervorstehende Hacken, wodurch sie angeblich vorwärts und rückwärts laufen konnten.

Für Scott-Elliots Schilderung der Atlantier gilt Ähnliches: Auch hier sind alle zentralen Aspekte seelischer und geistiger Entwicklung bereits bei Blavatsky zu finden (etwa die Einrichtung atlantischer Mysterien, der Verrat von deren Geheimnissen, die Vermischung mit Tiermenschen und die Bildung einer Rasse von ›Riesen‹). Was er hinzufügt, sind im Wesentlichen detailreiche Schilderungen des alltäglichen Lebens. Relevant für die steinersche Rezeption von Scott-Ellis sind vor allem zwei Aspekte. Zum einen greift Steiner die Namen der atlantischen Unterrassen auf, wie Scott-Ellis sie schilderte (Rmoahals, Tlavatli, Tolteken, Turanier, Ur-Semiten, Akkadier und Mongolen), sowie dessen allgemeine Schilderung des Charakters dieser Gruppierungen und dessen Systematik der nachatlantischen Unterrassen. Zum anderen bezog sich Steiner in verschiedenen Einzelheiten eindeutig auf Scott-Elliots Schilderung der kulturellen, sozialen und anthropologischen Eigenheiten der prähistorischen Völker. Dabei interessiert er sich allerdings deutlich weniger für dasjenige, was die Briten Scott-Elliot und Leadbeater anscheinend besonders faszinierte – deren militärische Unternehmungen, Migrationen und Kolonialisierungen sowie deren technologische Errungenschaften –, sondern vor allem für Aspekte der Kunst, Religion und Wissenschaft. Und selbst da, wo er Scott-Elliots Hinweise auf die Aquatechnologie und die Luftschifffahrt der Atlantier aufgreift, sind diese für ihn nicht als solche von Bedeutung, sondern dienen der Illustration der geistigen und seelischen Entwicklung der Lemurier und Atlantier.

 

Von der theosophischen zur

anthroposophischen Kosmogonie (1904–1910)

Aufbauend auf den obigen Untersuchungen sei im Folgenden dargestellt, wie Rudolf Steiner die von Sinnett, Blavatsky und Scott-Elliot vorgegebenen Inhalte in seinen eigenen Texten aufgriff, deutete und teilweise verwandelte. Dabei dokumentiert die Entwicklung der entsprechenden Texte die zunehmende Emanzipation Steiners von seinen theosophischen Vorbildern und die inhaltliche und sprachliche Ausbildung seiner eigenen anthroposophischen Esoterik.

Die ersten Texte dieser neuen Phase, die in einer solchen Betrachtung in Frage kommen, sind Nachschriften einer Reihe von Vorträgen, die Steiner in der Zeit zwischen seinem Eintritt in die Theosophische Gesellschaft und der Veröffentlichung seiner Theosophie im Jahre 1904 gehalten hat. Diese Vorträge (enthalten in den Bänden 88 und 89 der Gesamtausgabe) sind nur in Form sehr unvollkommener, von Teilnehmern aus dem Gedächtnis verfasster Zusammenfassungen erhalten und geben nicht verlässlich die Gedanken oder gar den Wortlaut Steiners wieder, müssen aber trotz dieser Einschränkung als interessante Textzeugen für den Prozess der Aneignung und Interpretation theosophischer Kosmogonie durch Steiner gelten. Das gleiche gilt auch für zwei im folgenden Jahr gehaltene Vortragszyklen. Der erste Zyklus umfasste drei Vorträge (vom 26. Mai bis zum 9. Juni 1904 in Berlin) und ist in der heutigen GA betitelt als Drei Vorträge über Kosmogonie (GA 89, 81–122). Der zweite größere Zyklus umfasste zwölf Vorträge (GA 89, 123–205) und erstreckte sich vom 17. Oktober bis zum 10. November 1904. Der heutige Titel lautet: Zwölf Vorträge über die planetarische Entwicklung. Die Nachschriften dieser Vorträge enthalten, im Vergleich mit den Vorträgen des Vorjahres, deutlich mehr Neupositionierungen Steiners gegenüber Blavatsky und Sinnett. Aber auch sie zeigen insgesamt einen Rudolf Steiner, der sich bestimmte theosophische Vorstellungen und Bezeichnungen aus der Geheimlehre aneignet und diese seinen eigenen Vorstellungen entsprechend vorsichtig modifiziert, erweitert und interpretiert. Ein eigenständiger Ansatz zu einer esoterischen Kosmogonie scheint in den Vorträgen von 1903 und 1904 nur ansatzweise auf. Dies änderte sich erst mit dem kosmogonischen Fragment von 1903/04, welches sich in Steiners Nachlass gefunden hat. Mit diesen soll daher unsere eigentliche Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der steinerschen Weltentstehungslehre beginnen.

 

Das Fragment einer theosophischen Kosmogonie von 1903/04

An Steiners frühem kosmogonischen Fragment fällt zunächst auf, dass es nicht mit einer Schilderung der ältesten Menschheitsstufen beginnt (wie die Chronik) oder mit der Darstellung des physischen Urzustandes der Welt (wie die Geheimwissenschaft), sondern mit einer allgemeinen Theorie von sieben Bewusstseinsstufen, wie Steiner sie aus der theosophischen Literatur kannte. Jede dieser Bewusstseinsstufen wird dann wiederum in je sieben sogenannte ›Lebensstufen‹ und diese wiederum in je sieben ›Formzustände‹ untergliedert. Dieses immer noch sehr theosophisch anmutende Modell der fortschreitenden Siebengliederungen, welches Steiner in zwei Vorträgen von 22. und 25. Oktober 1904 erstmals öffentlich thematisiert hat, bildet jetzt den methodischen Rahmen, in den die konkreten kosmogonischen Inhalte eingegliedert werden. Ähnlich ist Steiner auch im zweiten Teil Chronik noch vorgegangen, während er das Modell in der Geheimwissenschaft weitgehend aufgab.

Ebenso bezeichnend für den philosophischen Charakter des Fragments wie der bewusstseinstheoretische Einstieg in die kosmogonische Thematik ist die Tatsache, dass gleich im ersten Satz der Darstellung eine grundsätzlich transzendentalphilosophische Richtung gegeben wird:

Das Dasein des gegenwärtigen Menschen verläuft nicht bloß in einem, sondern in mehreren Bewußtseinszuständen. Der gewöhnliche ist derjenige, in dem sich der Mensch befindet von dem Erwachen bis zum Einschlafen. Er nimmt in diesem Zustande die Dinge durch seine Sinne wahr und bildet sich aus den Sinneswahrnehmungen Vorstellungen. Dadurch ist für ihn die physische Welt vorhanden. (FK, 1)

Die Worte »für ihn« machen deutlich: die theosophische Ontologie der verschiedenen ›Welten‹ und die Theorie der Bewusstseinsstufen gehören zusammen und sind untrennbar verbunden, da die von ihr vorausgesetzten ›Welten‹ nicht schlechterdings da sind, sondern notwendig immer für ein so und so geartetes Bewusstsein. Eine raum-zeitliche ›physische Welt‹ ist nur vorhanden, wenn sie einem entsprechenden gegenständlichen Bewusstsein als solche erscheint.

Den sieben Bewusstseinsformen wird im Verlauf der Darstellung dasjenige gegenübergestellt, was in ihnen zur Erscheinung kommt. Im Falle des gegenständlichen Wachbewusstseins sind dies die »Dinge« bzw. die »Wirklichkeit«. Allerdings stellt Steiner sich diese Wirklichkeit nicht (und dies hat er zeitlebens der Transzendentalphilosophie Kants entgegengehalten) als ein von der Erscheinung getrenntes, hinter derselben verbleibendes Sein vor, sondern als ein in die Erscheinung übergehendes, einfließendes. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens vergleiche man neben den oben zitierten Äußerungen Steiners zum Schöpfungsbegriff auch die folgende Wendung aus den Grundlinien von 1886:

Das, was der Geist aus den Erscheinungen herauslesen kann, ist die höchste Form des Inhaltes, den er überhaupt gewinnen kann […]. Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit. (GE, 94 und 98)

Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus angemessen, dass die Schilderung der Welt- und Menschheitsentwicklung im Fragment mit einer Darstellung der Lehre von den Bewusstseinsformen beginnt. Denn die anschließende Schilderung der sieben grundlegenden Weltperioden – ›Saturn‹, ›Sonne‹, ›Mond‹, ›Erde‹, ›Jupiter‹, ›Venus‹, ›Vulkan‹ – ist im Grunde als eine in die Dimensionen von Raum und Zeit auseinandergelegte Lehre von den Bewusstseinszuständen zu verstehen. Jede ›Welt‹ repräsentiert einen Modus, in welchem Wirklichkeit einer bestimmten Form von Bewusstsein erscheint. Dies kann leicht übersehen werden, denn im weiteren Verlauf des Textes beschreibt Steiner diese Welten so, als handle es sich beim ›alten Saturn‹, bei der ›alten Sonne‹ usw. in gleicher Weise um raum-zeitliche Phänomene, wie dies beim Erleben der sinnlich-physischen Erde der Fall ist. Dies ist aber, im Lichte der Theorie der sieben Bewusstseinsformen, nicht der Fall. Denn was im Raum und in der durch diesen vermittelten Zeitform erscheint, ist nach Steiners Auffassung ›Erde‹, ist Gegenstand des sinnlich-gegenständlichen Bewusstseins, welches die gegenwärtige Menschheit auszeichnet. Wenn Steiner auch die anderen ›Welten‹ in einer Weise schildert, die sie als raum-zeitliche Phänomene erscheinen lassen, dann nur deshalb, weil er das prinzipiell Unvorstellbare in Vorstellungen zu prägen hat. Einem Bewusstsein, das sich Vorstellungen nur innerhalb der Parameter von Raum und Zeit bilden kann, muss auch eine Welt, die selbst nicht räumlich und zeitlich ist, in entsprechenden Bildern geschildert werden.

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Anschließend an diesen, die Darstellung von Anfang an in ein bewusstseinsphilosophisches Licht tauchenden Einstieg schildert das Fragment zwei weitere Siebenheiten: die sieben ›Lebensstufen‹ und die sieben ›Formstufen‹. Mit diesen Ausdrücken bezeichnet Steiner Stadien des Übergangs in jenem Prozess, durch den alles Seiende aus dem Stadium reiner Potenz bzw. reiner Intention in die verschiedenen Welt- und Bewusstseinsstufen übergeht. Was er hier als ›Lebensstufen‹ bezeichnet, das firmierte in der theosophischen Literatur als die sieben Reiche (kingdoms): drei Elementarreiche, Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich. Und auch das Spektrum seiner Formstufen – von der absoluten Gestaltlosigkeit (arupa) über die von außen gestaltete Form (rupa) bis hin zur freien, von innen kommenden Selbstgestaltung – findet sich bereits in der Literatur der Theosophen. Steiners Inovation hier lag somit nicht in der Konstruktion dieser Siebenheiten, sondern in ihrer Verwendung als Ersatz für das ›Globen‹-und-›Runden‹-Schema Sinnetts.

Auf diese Konzeption Steiners, welche in der frühen Phase seiner Theosophie-Adaption eine große Rolle spielt, soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Zum einen würde dies zu weit führen, und zum andern hat Steiner sie später fallen gelassen bzw. ihnen andere Ausdrucksformen gegeben, so dass sie in der Geheimwissenschaft kaum noch ins Gewicht fallen. Besser gesagt: die ›Lebens‹- und ›Formstufen‹ gehen in der Schilderung der grundlegenden Weltperioden auf und erscheinen z. B. in dem Motiv der sukzessiven ›Arbeit‹ der Hierarchien an den Wesensgliedern der Menschen (davon später mehr). Sie waren ein nützliches Mittel für Steiners Bemühungen, die theosophischen Vorstellungen von ›Globen‹ und ›Runden‹ systematisch neu zu fassen und in seinen kosmogonischen Ansatz zu integrieren. Je mehr diese Integration voranschritt, desto mehr verlor die theosophische Lehre von den Form- und Lebenszuständen für ihn an Bedeutung.

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Nachdem das Fragment auf die beschriebene Weise den methodischen und hermeneutischen Zugang zur steinerschen Kosmogonie abgesteckt hat, wendet sich seine zweite Hälfte (Abschnitt 39–82) der Schilderung der vier großen Weltperioden bzw. Bewusstseinsstufen bis zur Gegenwart zu: dem ›alten Saturn‹, der ›alten Sonne‹, dem ›alten Mond‹ und der ›Erde‹. Dieser Teil weist im Wesentlichen bereits die zentralen Elemente der späteren Darstellung in Chronik und Geheimwissenschaft auf: jede Weltperiode zeichnet sich dadurch aus, dass zunächst bestimmte Hierarchienwesen auftreten und eines ihrer Wesensglieder zur Verfügung stellen bzw. dieses sozusagen ›opfern‹, um den in den verschiedenen Perioden sich entwickelnden Menschen damit auszustatten. Die grundsätzliche Idee eines solchen Eingreifens geistiger Wesen in den Evolutionsprozess findet sich, wie oben dargestellt, bereits in der Geheimlehre Blavatskys. Allerdings nimmt Steiner terminologische und inhaltliche Änderungen vor. Statt von Pitris, Dhyani Choans oder Lipakas zu reden, stützt er sich jetzt auf die Terminologie der christlichen Engellehre des Dionysos (Pseudo-)Areopagita. Diese unterschied neun prinzipielle Hierarchien, die in drei Dreiergruppen geordnet vorgestellt wurden:

Seraphim                                    Cherubim                               Throne (throni),

Herrschaften (dominationes)    Mächte (virtutes)                   Gewalten (potestates)

Urkräfte (principates)               Erzengel (archangeloi)            Engel (angeloi).

Neben den traditionellen lateinischen und eingedeutschten Bezeichnungen aus der Angelogie des Areopagiten greift Steiner auch auf gräzisierte Formen zurück (etwa ›Archai‹, ›Exusiai‹, ›Dynamis‹ und ›Kyriotetes‹) und fügt eigenständige Eindeutschungen hinzu wie ›Geister des Willens‹, der ›Weisheit‹, der ›Bewegung‹, der ›Form‹, der ›Persönlichkeit‹ usw. Auffällig an seiner Darstellung ist, dass er im Fragment von 1903/04 für die saturnare Periode innerhalb der vierten Hierarchie nicht von einer Vielheit oder Siebenheit von Wesen spricht, sondern ein singuläres Wesen ansetzt, einen ›Planetengeist des Saturn‹, der sich erst später in eine Siebenheit und eine siebenfache Siebenheit vervielfältigt. Von solchen Planetengeistern hatten auch Sinnett und Blavatsky schon gesprochen, allerdings nur in allgemeinen Andeutungen (vgl. etwa GB, 218 u. GL I, 130). Steiner hingegen stellt diese Vorstellung ins Zentrum seiner Schilderung, wodurch das Sonnensystem bei ihm in seinem Anfangszustand als eine Art lebendiges Wesen, als ›kosmischer Mensch‹ erscheint. Davon weiter unten mehr.

Der kosmogonische Prozess selbst wird im Fragment aus zwei Perspektiven geschildert. Zunächst stellt er sich als Durchgang durch die vier unteren Bewusstseinsstufen dar, als sukzessive Evolution von ›Saturn‹-, ›Sonnen‹-, ›Mond‹- und Erdbewusstsein, und folgt dabei im Wesentlichen der theosophischen Bewusstseinstheorie. In dieser ersten übersichtsartigen Beschreibung der Weltzustände ist von Hierarchienwesen noch nicht die Rede, sondern nur von einer ›Seele‹, welche sich in den vier grundlegenden Perioden an den verschiedenen Wesensgliedern des Menschen zu schaffen macht und die verschiedenen Bewusstseinszustände in dieselben hineinarbeitet. Beinahe kann man den Eindruck gewinnen, als wolle Steiner das Grundmodell seiner Kosmogonie zuerst einmal in den konzeptionellen Rahmen seiner Theosophie stellen, in der es ja in ganz zentraler Weise um Wesensglieder und um die Arbeit des ›Ich‹ an denselben geht. – Erst in einem zweiten und ausführlicheren Durchgang erscheint die Abfolge von Bewusstseinszuständen dann im Bild einer Folge von Weltzuständen, in denen die verschiedenen Hierarchien an der Entwicklung des Menschen und der anderen Wesen arbeiten. Dabei entsprechen die beiden jüngeren Perioden, ›Mond‹ und ›Erde‹, im Wesentlichen den Vorgaben in Blavatskys Geheimlehre. Für die Schilderung von ›Saturn‹ und ›Sonne‹ hingegen gab es nur allgemeine inhaltliche Vorbilder in der theosophischen Literatur. Sowohl Sinnett als auch Blavatsky hatten nur ganz allgemein von einem Durchgang der ›Daseinswelle‹ durch ein ›Steinreich‹ und ein ›Pflanzenreich‹ gesprochen, bevor sie auf dem ›Mond‹ das Tierreich durchläuft.

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Zentrales Ergebnis der ersten oder ›saturnaren‹ Periode der Weltentwicklung, wie sie im Fragment dargestellt wird, ist die Hervorbringung des Mineralreiches – bzw. desjenigen, was auf der ›Erde‹, was dem gegenständlichen Bewusstsein als ›Mineral‹ erscheint. Dieser Vorgang ist dann Voraussetzung für den späteren physischen Leib des Menschen, sowie für die Inkorporation des ersten dumpfen Bewusstseinszustandes in diesen Leib.

Ein besonders faszinierender Aspekt des Fragments von 1903/04 ist die Tatsache, dass der ›alte Saturn‹ hier, anders als in späteren Darstellungen, als eine Art ›kosmischer Mensch‹, ein ›Adam Kadmon‹ oder auch – wenn dieser mythengeschichtliche Vergleich hier gestattet ist – als ein schlafender Ymir dargestellt wird, aus dessen Körper sich, wie in der altnordischen Kosmogonie, im Verlauf der Weltschöpfung die Naturreiche und Erdbewohner – und sogar die ›Götter‹ – nach und nach herauskristallisieren. Der physische Leib dieses ›kosmischen Riesen‹ ist der eigentliche ›Saturn‹; sein ›Ich‹ hingegen ist der oben bereits erwähnte saturnare ›Planetengeist‹. (In der Logik der steinerschen Hierarchienlehre ein ›Archai‹ oder ›Geist der Persönlichkeit‹).

Ein weiterer auffallender Aspekt des Fragments von 1903/04 ist die detaillierte Schilderung des immer wieder erfolgenden Heraustretens bestimmter Weltkörper aus dem Leib des ›Saturn‹. Wie der mythische Kronos seine sieben Kinder hervorbringt und dann wieder verschlingt, so treten aus dem steinerschen ›Saturn‹ nach und nach verschiedene Weltkörper hervor, die er sich dann später wieder einverleibt. Neben den explizit genannten Abspaltungen – ›Sonne‹, ›Mond‹, ›Jupiter‹, ›Mars‹ und ›Venus‹ – sind weitere impliziert, denn Steiner bestimmt, dass jede der hierarchischen Wesensklassen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dem sich verdichtenden ›Saturn‹-Körper nicht mehr wirken kann und sich daher auf einen denselben umkreisenden Wandelstern zurückzieht. Es wäre somit für die saturnare Phase von mindestens sieben solcher Planetenaustritte auszugehen.

Die Darstellung dieser planetarischen ›Aus-‹ und ›Wiedereintritte‹ während der Saturn-Periode im Fragment weist wiederum deutliche Analogien mit der Theosophie auf, und zwar im Hinblick auf die dort geschilderten Erlebnisse der Seele in der Zeit zwischen dem Tod und der neuen Geburt. Steiner schildert die Sukzession der Zustände des ›Saturn‹ in Bildern, welche der in der Theosophie erzählten Reise der menschlichen Seele durch die verschiedenen Bereiche des ›Seelen‹- und ›Geisterlandes‹ in frappanter Weise ähneln, zugleich aber auch deren Inversion darstellen. Die Entwicklung des ›Saturn‹ erscheint, ähnlich der ›Pilgerfahrt der Seele‹ durch ›Seelen‹- und ›Geisterland‹, als eine Reise durch sieben Bewusstseinsregionen. Wie sich während der ›Jenseitsreise‹ der Seele in der Theosophie zuerst der physische, dann der Äther- und der Astralleib des Menschen auflösen und in den ihnen entsprechenden ›Welten‹ aufgehen, bis die Seele zum Kern der ›Geisteswelt‹ gelang, so beschreibt Steiner auch im Fragment eine graduelle Auflösung erst des ›Saturnleibes‹ und dann der ›Saturnseele‹, bis die Saturnwelt sich völlig wieder ›in Geist aufgelöst‹ hat. Dann folgt, wiederum analog zur Reise der Menschenseele zwischen Tod und Wiedergeburt, eine Phase des passiven ›Weltenschlafes‹ und schließlich ein ›Wieder-Erwachen‹ und Wieder-Verkörpern als neuer Weltzustand, ganz wie Sinnett und Blavatsky dies beschrieben hatten.

An die Schilderung des ›Saturn‹-Zustandes schließt sich diejenige der ›alten Sonne‹ bzw. der Durchgang der Menschheit durch die Pflanzenstufe. Diese folgt methodisch demselben Schema, dem wir bereits bei der saturnaren Entwicklung begegnet sind, wobei dieses aber jetzt mit anderen Inhalten gefüllt wird. Ziel der ›Sonnen‹-Entwicklung ist die Hervorbringung des Schlafbewusstseins im Menschen (statt wie zuvor des dumpfen Mineral-Bewusstseins). Dabei entsteht wiederum ein neues Naturreich, nämlich der Vorläufer des heutigen Pflanzenreiches, und ein neues Wesensglied des Menschen: der Vorläufer des heutigen ›Ätherleibes‹.

Diesen Entwicklungen voran geht nach Steiners Schilderung zuerst eine Wiederholung der ›Saturn‹-Vorgänge. Diese Wiederholungen versteht man am besten, wenn man sie sich als eine kosmogonische Applikation des ›biogenetischen Grundgesetzes‹ von Haeckel vorstellt. So wie die natürlichen Lebewesen nach Haeckel während ihrer Embryonalphase die Entwicklungsgeschichte ihrer Art noch einmal durchmachen, so macht jede neue Weltstufe in Steiners Vorstellung (wie ja auch schon bei Blavatsky) nach einem pralaya zunächst die Entwicklungsphasen früherer Perioden noch einmal durch, bevor die Entwicklung weiter voranschreitet. Und wie bei Haeckel die früheren phylogenetischen Stadien dann gewissermaßen in der ontogenetischen Entwicklung des individuellen Lebewesens aufgehen bzw. in ihr aufgehoben werden, so bleiben auch in Steiners Modell die früheren Entwicklungsstadien in den späteren enthalten.

Steiner beginnt seine Schilderung der ›Sonnen‹-Stufe, indem er darstellt, wie der ursprünglich einheitliche Saturn-Planetengeist sich in eine Siebenheit von Wesen ausdifferenziert. Diese sieben Wesen arbeiten dann während der ›Sonnen‹-Periode im Verein mit den anderen Hierarchien in sukzessiver Folge am Menschenleib, bis dieser einen Ätherleib inkorporieren kann. Den dadurch erreichten Zustand vergleicht Steiner mit dem einer umgekehrten Pflanze, deren Fruchtstand im Sonnenkörper verankert ist und deren Wurzeln sich dem umgebenden Kosmos entgegenstrecken. Da aber nicht alle menschlichen Leiber diesen Prozess der Integration eines Ätherleibes vollenden können, entsteht ein zweites Naturreich neben dem menschlichen. Diese in gewisser Weise ›zurückgebliebenen‹ Leiber bilden, so Steiner, Vorläufer des späteren Pflanzenreiches.

Die Schilderung der lunaren Periode folgt demselben Schema: Ziel dieser Weltperiode ist die Integration des Bilderbewusstseins in den Menschen und die Schaffung des dafür erforderlichen Wesensgliedes: des Astralleibes. Auch die Mond-Entwicklung beginnt wieder mit einer Repetition der früheren Weltzustände (diesmal also von ›Saturn‹ und ›Sonne‹), wieder spaltet sich der saturnare Planetengeist (diesmal in siebenmal sieben Wesenheiten), und wieder wechseln sich die Hierarchienwesen in ihrer ›Arbeit‹ am Menschen ab und bilden, wenn die Mond-Substanz ihnen zu dicht wird, andere Weltkörper, von denen aus sie dann ihre Arbeit am Menschen aus der Ferne fortsetzen. Wieder bleiben bestimmte Leiber hinter dem Entwicklungsziel zurück, sodass auf dem Mond nun drei prinzipielle Naturreiche vorhanden sind: eine Art von ›Tiermenschheit‹, eine Art von ›Pflanzentieren‹ und eine Art ›mineralartiger Pflanzen‹. Und wieder folgt die Reintegration der zuvor ausgetretenen Planeten, eine allgemeine Vergeistigung desselben und eine Phase des ›Weltenschlafs‹, aus der dann der vierte Weltzustand, die heutige Erde hervortritt.

Damit gelangt das Fragment von 1903/04 zur Entwicklung der ›Erde‹. Ziel derselben ist die Integration des vierten Bewusstseinszustandes, des gegenständlichen Wachbewusstseins, in die Menschheit und die Bildung des dafür erforderlichen Wesensgliedes: des sogenannten ›Ich-Leibes‹. Dies geschieht wieder nach dem bekannten Schema: Repetition der früheren Zustände, Auftritt und Arbeit der verschiedenen Hierarchien-Klassen, Bildung eines neuen Naturreiches und eines neuen Wesensgliedes, des ›Ich‹, durch das die Menschheit diese neue Welt bzw. diesen neuen Bewusstseinszustand erleben und bearbeiten kann.

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Ein wichtiges Element in der Schilderung der irdischen Periode von 1903/04 ist eine Darstellung von Ereignissen während der dritten irdischen Form-Runde der Erde (also der ›Wiederholung‹ der Mond-Periode). Steiner schildert hier, wie die Menschheit in zwei Gruppen zerfällt: eine regulär sich entwickelnde Menschheit und eine gänzlich auf die tierische bzw. ›lunare‹ Stufe zurücksinkende Art von Wesen. Innerhalb dieser beiden Gruppen werden nun zwei Arten von Engelwesen besonders tätig, die als ›Mondwesen‹ und ›Sonnenwesen‹ charakterisiert werden (da sie von entsprechenden aus dem Erdkörper herausgetretenen Weltkörpern her auf die Menschen einwirken). Die ›Mondwesen‹ wirken auf die regulären Menschenleiber und verrichten in deren Astralleibern ihre Arbeit. Die ›Sonnenwesen‹ hingegen beschreibt Steiner als Engel, welche auch ihrerseits hinter ihrer regulären Entwicklung zurückgeblieben sind und die daher die erwähnte Arbeit an den normal entwickelten menschlichen Astralleibern nicht verrichten können. Sie finden einen passenden Ort für ihr Schaffen in den Astralleibern derjenigen Erdbewohner, die auf die Tierstufe zurückgefallen waren.

Bemerkenswert in Steiners Fragment ist auch seine Beschreibung des Mysteriums der Menschwerdung. Während Blavatsky von sogenannten lunaren Pitris gesprochen hatte, welche den Menschen der lemurischen Periode mit ihrem Verstand ausstatteten und sie so zu Menschen im eigentlichen Sinne machten, beschreibt Steiner diesen Vorgang so, dass der oben beschriebene ›Planetengeist‹ des Saturn (der sich einerseits, nämlich insofern er in den ›Sonnen‹- und den ›Mond‹-Zustand übergegangen ist, in eine ganze Schar von Wesen verfielfältigt hat, der aber andererseits – nämlich insofern der ›Saturn‹-Zustand auch auf der Erde weiterhin besteht – immer noch als einer vorzustellen ist) einen Teil seines Wesens »abschnürt« und diesen dann in die Menschenleiber einziehen lässt. Möglicherweise liegt hier ein Versuch Steiners vor, die blavatskysche Erzählung in eine der christlichen Tradition gemäßere Form zu gießen und das ›Opfer der Pitris‹ als theosophische Version der ›Menschwerdung Gottes‹ zu deuten.

Neu im Fragment ist ferner, wie Steiner das Problem der Fortpflanzung angeht. Hatte Blavatsky von einem ursprünglich ungeschlechtlichen Menschenleib während der polarischen Periode gesprochen, so fasst Steiner diesen anfänglichen Leib 1903/04 dezidiert als ›weiblich‹ auf und beschreibt dafür dessen geistige Umwelt als ›männlich‹. Abgesehen von diesem Unterschied in der Beschreibung des Urzustandes auf der Erde folgt Steiner dem Vorbild der Geheimlehre in allen wichtigen Details, indem er die Entwicklung über einen androgynen Zustand in die Eingeschlechtlichkeit übergehen lässt. Sobald diese aber verwirklicht ist, führt er wiederum ein neues Element ein, welches Blavatsky so nicht kannte: Er stellt nämlich dar, dass bei Menschen mit einem männlichen physischen Leib der Ätherleib weiblich sei und umgekehrt.

Indem Steiner von diesen Charakteristiken der dritten Menschheitsperiode auf der Erde spricht, verwendet er übrigens an keiner Stelle den theosophischen Ausdruck ›lemurisch‹, der hier der Sache nach einschlägig wäre. Vielmehr übt er Kritik an der theosophischen Theorie der ›Wurzel‹- und ›Unterrassen‹, indem er den naturwissenschaftlichen Begriff der ›Rasse‹ für ungeeignet hält, die hier zugrundeliegenden Vorgänge korrekt zu beschreiben. Von ›Rassen‹ im dem Sinne, wie die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts diesen Begriff verstand, könne überhaupt erst ab der dritten Epoche gesprochen werden, findet Steiner; außerdem sei dieser Begriff nur für die Menschheitsentwicklung bis Mitte der fünften nachatlantischen Periode anwendbar. Wie schon für die Menschen der ersten und zweiten Periode könne auch im Hinblick auf die Zukunft des Menschen nicht mehr sinnvoll von ›Rassen‹ gesprochen werden.

Unter solchen Hinweisen geht die Darstellung im Fragment zur vierten, der ›atlantischen‹ Menschheitsepoche über, wobei wiederum der theosophische Fachterminus nicht genannt wird. Es deutet sich eine Schilderung des ›Sündenfalls‹ nach dem Vorbild der Geheimlehre ab, indem Steiner von auf der Mond-Stufe zurückgebliebenen Wesenheiten spricht, aber da bricht das Manuskript unversehens ab.

Die Kosmogonie der Akasha-Chronik

(1904–1908)

Steiners oben skizzierter erster Entwurf einer theosophischen Kosmogonie ist, wie gesagt, zu Lebzeiten nicht in die Öffentlichkeit gelangt. Das war erst der Fall in seinem zweiten Ansatz, der Aufsatzserie Aus der Akasha-Chronik. Schon der erste Satz des Textes macht deutlich, dass Rudolf Steiner die in der Akasha-Chronik gegebenen Schilderungen nicht als historische Darstellungen im Sinne traditioneller Historiographie, als »gewöhnliche Geschichte«, verstanden wissen wollte. Dezidiert tritt er nicht mit dem Anspruch eines Historikers auf, sondern mit dem eines Esoterikers bzw., wie er sich selbst verstanden wissen wollte, eines ›Geisteswissenschaftlers‹. Indem er um die Jahrhundertwende die Entscheidung getroffen hatte, seine Anschauungen nicht länger mittels philosophischer Theorie zu entwickeln, sondern im Medium einer Adaption und Verwandlung der theosophischen Bild- und Begriffswelt, stand er vor der Aufgabe, die in der theosophischen Literatur vorhandenen Vorstellungen von ›Atlantis‹ und ›Lemurien‹ und die theosophische Kosmogonie überhaupt so in seine eigene Esoterik-Konzeption zu integrieren, dass diese nicht als ›äußere Geschichte‹ im gewöhnlichen Sinne, d. h. als realistisch gemeinte Darstellung von Vorgängen in der physisch-sinnlichen Welt missverstanden wurden. Was in der Akasha-Chronik dargestellt wird, ist, worauf Steiner deutlich hinweist, durchweg »innere Geschichte« (AC, 1); es schildert nicht die Erscheinungen der sinnlich-physischen Welt, in welcher das gewöhnliche gegenständliche Bewusstsein sich bewegt, sondern sucht diejenigen Prozesse und Gesetzmäßigkeiten darzustellen, als deren Ergebnis dieses Bewusstsein und die von ihm erlebte Welt anzusehen sind. In einer anderen Formulierung Steiners: Es wird nicht, wie in traditioneller Historiographie, »vergängliche Geschichte« dargestellt, sondern »unvergängliche Geschichte« (ebd.). Die Schilderungen der ›atlantischen‹ und der ›lemurischen‹ Periode sowie der Weltzeitalter des ›alten Saturn‹, der ›alten Sonne‹ u.s.w. berichten nicht von Dingen und Vorgängen der gegenwärtigen raum-zeitlichen Welterfahrung, sondern von Entwicklungsgesetzmäßigkeiten, die freilich dem gewöhnlichen Bewusstsein zunächst nicht anders als in Form raum-zeitlicher Vorgänge zu vermitteln sind und daher als ›Saturnzeitalter‹ oder als ›lemurische Periode‹ geschildert werden. Das Universum, welches in Akasha-Chronik und Geheimwissenschaft zur Darstellung kommt, ist gewissermaßen im großen Maßstab etwas Ähnliches wie dasjenige, was Goethe in seiner Botanik unter der ›Urpflanze‹ verstand – d. h. ein zur sinnlichen Anschauung verdichtetes Bild von Bildungsgesetzen. Dieses Bild für »die Sache selbst« zu halten, würde zu Missverständnissen führen. So wie für Goethe die ›Urpflanze‹, ist auch für Steiner der ›alte Saturn‹ oder der ›hyperboräische Mensch‹ kein Objekt der raumzeitlichen Welt, in der das gegenständliche Gegenwartsbewusstsein lebt.

 

Wichtigster Aspekt der als ›atlantisch‹ bezeichneten Periode ist für Steiner in der Darstellung von 1904, wie auch in dem Vortrag über Frühere Gottesvorstellungen (vgl. oben, Einl. I), die Ausbildung des Gedächtnisses als zentrale mentale Fähigkeit. Während Blavatsky diesen Aspekt nur wie am Rande als eine Eigenschaft der atlantischen Menschheit erwähnt hatte, rückt er bei Steiner ins Zentrum seiner Atlantis-Konzeption. ›Atlantische‹ Kultur gilt ihm vor allem als ›Gedächtniskultur‹, so wie er die vorhergehende (lemurische) als ›Willens‹- bw. ›Instinktkultur‹ und die nachfolgende (gegenwärtige) als ›Verstandeskultur‹ charakterisiert. Als unmittelbare Folge dieser Tatsache beschreibt Steiner die Fähigkeit der ›Atlantier‹, gewisse Naturkräfte mental zu manipulieren und diese sogar technologisch nutzbar zu machen – eine Fähigkeit, die denn auch später durch die zunehmende Ausbildung des gegenständlichen Denkens und die damit verbundene Regression des Gedächtnisses verloren geht. Ein zweites Resultat der Gedächtniszentrierung sieht Steiner in einem zunehmenden Selbstgefühl, welches sich in der entsprechenden Periode zunehmend als Ehrgeiz und Egoismus manifestiert. Diese Selbstsucht, in Verbindung mit der erwähnten Beherrschung von Naturkräften, wird innerhalb der atlantischen Entwicklung immer bedrohlicher und trägt am Ende zur Zerstörung der atlantischen Kultur bei.

Der in die Vergangenheit weisenden Gedächtniskraft stellt Steiner das abstrakte und logische Denken als sich allmählich entwickelnde Zukunftsfähigkeit entgegen, die aber erst in der nachfolgenden Hauptperiode zur vollen Entfaltung gelangt. Je mehr diese Denkkraft in der vierten Periode ausgebildet wird, desto mehr vermögen die Menschen ihre Selbstsucht einzudämmen; allerdings schwinden dadurch zugleich ihre phänomenalen Gedächtniskräfte und die darauf beruhende Fähigkeit der mentalen Naturbeherrschung. Innerhalb der sieben Unterperioden dieser Epoche (deren Namen Steiner allesamt von Scott-Elliot übernimmt) tritt diese Denkkraft in der fünften Periode am reinsten auf. Später hingegen findet eine Art Verfall statt. Deshalb wählt ein weiser ›Manu‹ aus dieser fünften ›Unterrasse‹ eine Reihe von besonders denkfähigen Menschen aus, sondert diese vom Rest der atlantischen Menschheit ab und führt die so Erwählten in eine Gegend, wo sie den Untergang ihrer Kulturepoche und ihres Kontinents überstehen und den Keim der nächsten großen Hauptrasse, der sogenannten ›nachatlantischen‹ Menschheit, bilden. In dieser fünften Periode nimmt das neu erworbene gegenständliche Denken dieselbe dominante Rolle ein, die in der vierten das Gedächtnis hatte.

Steiner kannte die ›Manu‹-Idee und ihren Bezug zum biblischen Noah-Motiv aus der Geheimlehre und bedient sich beider Aspekte in derselben Weise wie Blavatsky. Die Charakterisierung der atlantischen Epoche als diejenige der Ausbildung des Gedächtnisses hingegen war Steiners grundeigener Beitrag und hatte so kein Vorbild in der theosophischen Literatur. Auch bescheinigt er den ›Stolz‹, welchen die Geheimlehre sowohl den ›Lemuriern‹ als auch den ›Atlantiern‹ zugeschrieben hatte, nur den letzteren. Das Motiv einer Beherrschung der ›Lebenskraft‹ hingegen war, wie oben dargestellt, sowohl bei Blavatsky wie bei Scott-Elliot vorgegeben. Daher kann man den Bericht der Chronik wie folgt charakterisieren: Steiner übernimmt die zentralen Linien der Schilderung von Blavatsky, konzentriert diese aber um die Zentralidee der Gedächtnisbildung und schafft so eine stringentere, um ein thematisches Zentrum angeordnete Erzählung; diese bereichert er mit Bezeichnungen und Details aus den Büchern Scott-Elliots und erzählt schließlich die so angereicherte Geschichte in einer Weise, welche die Aufmerksamkeit stets bei der innerlich-seelischen Entwicklung der Menschheit hält. Außerdem gibt Steiner deutlich stärker als seine beiden Vorgänger Hinweise auf das ›Wie‹ und ›Warum‹ aller beschriebenen Ereignisse. Wie etwa der Atlantier die Naturkräfte beherrschen konnte (nämlich aufgrund seiner Gedächtniskultur und aufgrund der besonderen atmosphärischen Zusammensetzung der damaligen Welt) oder warum es der Entwicklung der Denkkraft bedurfte (zur Eindämmung des die Naturordnung bedrohenden Egoismus): all das war bei Blavatsky und Scott-Elliot kaum Thema gewesen.

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Die wichtigsten Entwicklungen der dritten (lemurischen) Periode in der Chronik sind der zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgende Austritt des Mondes aus dem Erdkörper und die damit zusammenhängende Geschlechtertrennung innerhalb der Menschheit. Dabei lehnt sich Steiner wiederum eng an Blavatskys Geheimlehre an. Dass diese zu diesem Zeitpunkt in der Tat buchstäblich auf seinem Schreibtisch lag und ihm »große Dienste« leistete, hat Steiner selbst bezeugt.

Neu in der Chronik ist, dass Steiner die Sexualentwicklung der frühen Menschheit jetzt kausal eng an deren mentale bzw. kognitive Entwicklung knüpft. Durch die Geschlechtertrennung, so Steiners Argument, werden bestimmte, in der menschlichen Leiblichkeit wirksame Kräfte, die zuvor in die androgyne Reproduktion und somit gewissermaßen ›nach außen‹ geflossen seien, frei. Diese freigewordenen Kräfte richten sich nun nach innen, auf die eigene Leiblichkeit, wirken auf diese verwandelnd ein und schaffen so die physischen Voraussetzungen für die spätere Entwicklung des Vorstellens und Denkens. Die Erkenntniskraft ist für Steiner also buchstäblich eine metamorphisierte, nach innen gewandte Zeugungskraft. Unübersehbar in diesen Ausführungen (wie schon an den oben erwähnten über die Verwandlung der Gedächtniskraft) ist der Einfluss goetheschen morphologischen Denkens, welches Steiner hier auf die Beschreibung seelischer und geistiger Phänomene anwendet. Diese Deutung und Erweiterung theosophischer Vorstellungen mittels eines an Goethe geschulten Denkens in Metamorphosen kann geradezu als ein Hauptcharakteristikum der anthroposophischen Esoterik gelten, die Steiner in den hier in Frage stehenden Jahren ausbildete und die 1909/10 zu einer ersten systematischen Darstellung kamen. Besonders der letzte Aufsatz der Akasha-Serie ist, wie wir noch sehen werden, von diesem anthroposophischen Ansatz stark geprägt. Aber damit greifen wir vor.

Von der Tatsache der Geschlechtertrennung werden nun weitere anthropologische Bestimmungen abgeleitet, die so kein Vorbild in der theosophischen Literatur haben, etwa über das völlig unterschiedlich gestaltete Seelenleben von Männern und Frauen in Lemurien. Das Leben der Männer beschreibt Steiner als willenhaft geprägt, als impulsiv und aggressiv. In dieser Impulsivität leben sich seiner Vorstellung nach die Naturkräfte instinktiv und sozusagen ungefiltert aus; daher werden die Männer in der lemurischen Kultur einer harten Zucht und Disziplin ausgesetzt. In den Frauen hingegen entwickelt sich nach und nach ein mehr introvertiertes, kontemplatives Vorstellungsleben. Daher schreibt Steiner ihnen eine besondere Rolle sowohl für die kognitive wie für die religiös-spirituelle Entwicklung der Menschheit zu. Die kontemplative Haltung der lemurischen Frauen versteht er als Grundlage und Voraussetzung der oben geschilderten Ausbildung des Gedächtnisses bei den Altlantiern und somit auch der noch späteren Entwicklung des bewussten Denkens. Aufgrund dieser Qualitäten schreibt die Chronik den lemurischen Frauen auch eine zentrale Rolle in der Ausbildung der Moralität und der Organisation der Gemeinwesen zu. Ihre Darstellung der lemurischen Epoche liest sich in der Tat vielfach wie die Beschreibung einer ausgeprägt matriarchalischen Kultur.

Deutlich an Blavatsky angelehnt ist Steiners Unterscheidung von drei grundsätzlichen Klassen von Wesen, die während der lemurischen Zeit an der Entwicklung des Menschen beteiligt sind: ›normal entwickelte‹ Menschen, ›halbübermenschliche‹ Wesen (die er auch als ›luziferische‹ bezeichnet) sowie ›übermenschliche‹ Wesen. Die letzteren charakterisiert er auch als ›Liebewesen‹ und die luziferischen als ›Weisheitswesen‹. Die Bezeichnungen bringen die Funktion dieser Wesenheiten deutlich zum Ausdruck: die ›Liebewesen‹ steuern das Sexual- und Fortpflanzungsleben der Lemurier, welches für diese selbst völlig im Unbewussten verläuft; die ›Weisheitswesen‹ hingegen betätigen sich in der Kopforganisation der lemurischen Menschen, nutzen diese gewissermaßen als Ersatz für die ihnen selbst fehlenden Verstandesorgane, und erweisen sich dadurch als die ersten ›Lehrer‹ der Menschheit. Im weiteren Verlauf der Darstellung werden diese zwei Wesensarten dann auch als ›Mondgötter‹ und ›Sonnengötter‹ bezeichnet.

Steiners Darstellung der Tätigkeit dieser ›Mond‹- und ›Sonnengötter‹ lehnt sich in vieler Hinsicht an Blavatskys Beschreibung der lunaren und solaren Pitris in der Geheimlehre an. Allerdings hatte Blavatsky keine Gelegenheit ausgelassen, darauf hinzuweisen, dass die in diesem Zusammenhang geschilderten Prozesse ihrer Meinung nach diejenigen seien, die in den biblischen Erzählungen vom ›Kampf im Himmel‹, vom ›Fall der Engel‹ und schließlich vom ›Sündenfall Adams‹ geschildert werden. Steiner hingegen ist mit solchen Verweisen deutlich sparsamer und vorsichtiger. Nur andeutungsweise, wie hinter vorgehaltener Hand, macht er den Leser auf einen Zusammenhang des hier Verhandelten mit biblischen Schilderungen aufmerksam.

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Steiners Schilderung der ›atlantischen‹ und der ›lemurischen‹ Epoche folgt eine Darstellung derjenigen Entwicklungen, die von seinen theosophischen Vorgängern unter der Bezeichnung ›polarische‹ und ›hyperboräische‹ Epoche verhandelt worden waren. Diese nimmt sich in der Chronik ungleich ausführlicher aus als ihre Vorbilder bei Sinnett und Scott-Elliot, welche darüber nur wenige allgemeine Sätze verloren hatten. Blavatsky hingegen hatte den Gegenstand in der Geheimlehre ähnlich ausführlich wie Steiner behandelt. Doch waren ihre Bemerkungen dazu über das ganze Werk zerstreut und systematisch nicht immer in ihre kosmogonischen Anschauungen integriert. Darüber hinaus führte sie kaum je einen hermeneutischen Metadiskurs über ihre eigene Methodik. Die besondere Leistung Steiners in der Chronik bestand somit darin, die verstreuten und teilweise unzusammenhängenden Hinweise Blavatskys über die ersten beiden Perioden der menschlichen Entwicklung auf der Erde in eine kohärente Ordnung zu bringen, sie stringenter an die Darstellungen von ›Atlantis‹ und ›Lemurien‹ und an die allgemeine ›kosmische Evolution‹ anzuschließen, und dabei zugleich die ontologische, erkenntnistheoretische und anthropologische Dimension des Geschilderten deutlicher auf den Punkt zu bringen.

Um einen solchen Anschluss zu gewährleisten, schildert Steiner in der Chronik den Anfang der Erde nicht, wie Blavatsky in der Geheimlehre, als Zustand des ›Feuernebels‹, sondern setzt früher an und lässt die Erde zunächst eine Wiederholung der drei früheren Zustände von ›Saturn‹, ›Sonne‹ und ›Mond‹ durchmachen. Diese gestaltet sich so, dass auf dem Schauplatz der Erdschöpfung zunächst nichts anderes vorhanden ist als die Seelen bzw. Monaden derjenigen Menschen, welche aus den drei früheren Zyklen hervorgegangen sind. Diese erscheinen in einem rein seelischen Zustand und projektieren ihr eigenes inneres Wesen in ihre Umgebung hinaus – wiederholen also gewissermaßen den Akt der Schöpfung während des allerersten Weltzustandes, des ›alten Saturn‹. So schaffen diese noch nicht verkörperten ›Urmenschen‹ als ihr Gegenüber eine ›Äthererde‹, die aber aus nichts anderem besteht als aus ätherischen menschlichen Leibern, an denen die erwähnten Seelen nun von außen her arbeiten.

Als Ergebnis dieser Arbeit bilden sich dann auf der einen Seite die verschiedenen Aggregatzustände des Physischen auf der Erde – Wärme, Gas, Flüssigkeit und fester Stoff – und parallel dazu verschiedene Formen des Ätherischen bzw. die sogenannten Elementarreiche. Der ursprüngliche Äther etwa erscheint von außen betrachtet bzw. in physischer Hinsicht als Wärme. Durch die Arbeit der menschlichen Monaden an diesem Äther teilt er sich in zwei Arten: ›Lebensäther‹ und ›chemischer‹ Äther. Der letztere erscheint, physisch betrachtet, als Gas- oder Luftelement. Damit leben nun zwei Arten von Wesen auf der Erde: jene, die weiterhin den Lebensäther bzw. die Wärmekörper bearbeiten, und jene, die jetzt in dem luftartigen Element bzw. im chemischen Äther tätig werden. Steiner beschreibt diese Spaltung auch als ›Hinabstoßen‹ einer Gruppe von Menschen auf eine niedrigere, tierartige Stufe der Entwicklung und erklärt, dieses ›Opfer‹ bestimmter Menschenleiber sei die Voraussetzung dafür, dass die Menschheit sich mittels der verbleibenden und durch den Ausstoß ›gereinigten‹ Leiber seelisch-geistig zu höheren Stufen entwickeln kann. – Eine weitere Teilung, die mit einem ähnlichen ›Opfer‹ verbunden ist, führt dazu, dass nun drei Ätherarten (Lebens-, chemischer und Lichtäther) und drei physische Elemente (Wärme, Luft und Wasser) vorliegen und dass zu den menschlichen und tierartigen nun auch pflanzenartige Lebewesen hinzukommen. Die Gesamtheit dieser Entwicklungen identifiziert Steiner als dasjenige, was in der Theosophie die ›polarische‹ Epoche genannt werde. Ihr grundlegender Charakter besteht darin, dass die menschlichen Monaden als solche sich noch nicht verkörpern, sondern aus den auf der Erde auf eine Inkarnation wartenden Menschenleibern die Vorläufer der späteren Tiere und Pflanzen gewissermaßen herausbilden.

All dies findet sich im Ansatz schon bei Blavatsky, aber auch hier wieder nur in verstreuten, unzusammenhängenden Andeutungen. Indem Steiner diese in der Chronik systematisierte und konkretisierte, schuf er die Grundlage der späteren Geheimwissenschaft, die konzeptionell auf dieser Systematisierung beruht.

Dann findet in der Schilderung der Chronik ein einschneidendes kosmisches Ereignis statt: die verschiedenen auf der Erde wirksamen Ätherkräfte (bzw. die in diesen Ätherarten wirksamen geistigen Wesen) ziehen sich von der Erde zurück und bilden einen eigenen Weltkörper, eine Vorform der späteren Sonne. Dieser gegenüber steht nun eine Erde, auf der sich nur noch die drei beschriebenen Arten von physischen, ätherischen und astralen Gebilden befinden. Diese ›Sonnenabspaltung‹ hat mehrere Folgen: Sie bildet die Voraussetzung für die Entwicklung der späteren Sehorgane in den physischen Leibern und damit eine zentrale Bedingung für die Vorstellungsbildung und das bewusste Denken. Außerdem bildet sich eine vierte Form von Stofflichkeit, ein Mineralreich, und eine diesem entsprechende neue Ätherart, der Wärmeäther. Erst dieser Zustand, so stellt Steiner klar, sei derjenige, welcher von Blavatsky in der Geheimlehre als ›Feuererde‹ oder ›Feuernebel‹ beschrieben und an den Anfang der Erdentwicklung gestellt worden war. Die detaillierte Beschreibung dessen, was vor diesem Zeitpunkt liegt, kann somit als originaler Beitrag Steiners zur theosophischen Kosmogonie verstanden werden und wird später eine wichtige Rolle im kosmogonischen Kapitel der Geheimwissenschaft spielen.

Indem mit dem ›Sonnenaustritt‹ völlig neue Verhältnisse auf der Proto-Erde entstanden sind, spricht Steiner jetzt de facto von der zweiten Epoche der Menschheitsentwicklung, der ›hyperboräischen‹ aus der theosophischen Literatur – ohne freilich diesen Ausdruck selbst zu verwenden. Sie stellt in der steinerschen Logik eine nochmalige Wiederholung der ›alten Sonne‹ dar – so wie die vorherige Phase eine nochmalige Wiederholung des ›alten Saturn‹. Deren Schilderung konzentriert sich vor allem auf die menschliche Fortpflanzung und folgt dabei wieder Blavatsky, indem sie die drei in der Geheimlehre geschilderten Stadien der Fortpflanzung übernimmt, von denen Blavatsky (wie oben bereits angedeutet) durch Haeckel angeregt worden war: zunächst eine Vermehrung durch eine Art von ›Sprossung‹ oder Abschnürung und dann eine Fortpflanzung durch eine dem Eierlegen vergleichbare Prozedur und schließlich der Übergang der bisher zweigeschlechtlichen Menschenwesen zur Eingeschlechtlichkeit während der lemurischen Periode.

Die Geschlechtertrennung hängt in der neuen Schilderung Steiners mit einem weiteren einschneidenden kosmischen Ereignis zusammen: dem Austritt eines Mondes aus dem Erdkörper. Wieder ziehen sich, so die Darstellung der Chronik, bestimmte Wesen bzw. bestimmte Kräfte, die zuvor unmittelbar auf dem Erdkörper gewirkt hatten, von der Erde zurück und bilden einen eigenen Weltkörper, eine Vorform des heutigen Mondes. Und wieder sind die Folgen einschneidend: Die zuvor einheitlich gestalteten Menschenleiber weisen nun eine deutliche Zweiteilung auf – eine Proto-Kopfbildung gewissermaßen und eine Art Unterleib. In diesen zwei Teilen des metamorphisierten Menschenleibes werden nur die zwei oben bereits erwähnten Arten von Wesen wirksam: die ›Mondgötter‹ bzw. ›Liebewesen‹ und die ›Sonnengötter‹ bzw. ›Weisheitswesen‹, d. h. die lunaren und solaren ›Pitris‹ aus der Geheimlehre.

Unter ›Mondgöttern‹ sind in der Chronik also solche Wesen zu verstehen, die in der Hierarchienordnung über dem Menschen stehen (d. h. die ihre ›Menschheitsstufe‹ schon in einer früheren Weltzeit durchgemacht haben) und die daher in der Lage sind, eine Verstandestätigkeit auszuüben, die keiner physischen Grundlage bedurfte. Aufgrund dieser sind sie fähig, diejenigen Kräfte im Menschen zu kontrollieren, die in der Geschlechtlichkeit und der Fortpflanzung wirksam sind. Diese sieht Steiner in dem unteren Leibteil lokalisiert, wo sie, ihren menschlichen Trägern völlig unbewusst, unter der Kontrolle der ›Mondgötter‹ stehen. – Unter den ›Sonnengöttern‹ versteht Steiner ebenfalls Wesen, die hierarchisch höher stehen als der Mensch, die aber im Gegensatz zu den ›Mondgöttern‹ die ihnen gemäße Entwicklung nicht regulär durchgemacht haben bzw. in gewisser Weise ›zurückgeblieben‹ sind. Sie vermögen nicht, eine leibfreie Verstandestätigkeit zu entwickeln und bedienen sich daher der nunmehr entwickelten Menschenleiber, um mit deren Hilfe eine Verstandestätigkeit zu entwickeln.

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Innerhalb dieser an Blavatsky und die Geheimlehre angelehnten, inhaltlich aber ganz andere Akzente setzenden Schilderung der prähistorischen Menschheit in der Chronik werden einige interessante philosophische Diskurse ausgetragen, welche zeigen, wie Steiner die aus der Theosophie übernommenen und teilweise neugestalteten kosmogonischen Bilder in jene idealistischen und identitätsphilosophischen Vorstellungen zu integrieren sucht, die er aus seiner vortheosophischen Phase mitgebracht hatte. An zwei Beispielen sei dies kurz illustriert.

Zum einen findet ein epistemologischer Diskurs statt, in dem es darum geht, ob und wie der Mensch mittels des in seinem Inneren vorgehenden und somit zunächst subjektiven Denkens in der Lage sei, die ihn umgebende Umwelt adäquat zu erkennen. Prägt das menschliche Erkennen der erkannten Wirklichkeit ihre Formen auf, wie die idealistische Position behauptete? Oder prägt umgekehrt die Wirklichkeit ihre Formen dem menschlichen Erkennen ein? Letzteres hieß im Diskurs des deutschen Idealismus die ›dogmatische‹ Position. Steiner hatte zu dieser Debatte in seinen philosophischen Frühschriften eine Position bezogen, die dem identitätsphilosophischen Ansatz Hegels und Schellings nahestand: Weder die ›idealistische‹ noch die ›dogmatische‹ Position können für sich überzeugen, so der frühe Steiner, weil beide Richtungen die vom Subjekt vollzogene Trennung der einheitlichen Wirklichkeit in zwei Hälften (eine ›ideale‹ und eine ›reale‹) für eine reale Trennung halten und sich dann darüber streiten, welcher Seite der Vorrang vor der jeweils anderen zukommt. Dies müsse jedoch scheitern, so Steiner weiter, weil Wirklichkeit in der objektiven Einheit dieser beiden subjektiv als getrennt auftretenden Seinshälften zu suchen sei.

Diese philosophische Position scheint auch in der Chronik auf, und zwar in jenen Passagen, wo Steiner beschreibt, wie sich die Verstandestätigkeit im Menschen ausbildet. Dies geschieht dadurch (wie oben bereits geschildert), dass die sogenannten ›luziferischen‹ Wesen sich der menschlichen Leiber bedienen, um selbst eine Verstandestätigkeit ausüben zu können, und dadurch den Menschen auf das später eintretende eigenständige Denken sozusagen vorbereiten. Im gleichen Abschnitt schildert Steiner dann weiter, dass diese Wesen durch dieselbe Tätigkeit auch der Umgebung des Menschen und allen irdischen Phänomenen ein verstandesmäßes Gepräge geben.

[…] der Verstand [war] nicht in den [menschlichen] Wesen selbst. Sie wurden vielmehr von einem Verstande dirigiert, der außerhalb ihrer selbst war. Höhere, reifere Wesen, als sie selbst waren, umschwebten sie gleichsam und leiteten sie. […] diese Kräfte [wirken] so, daß der Mensch die Organe entwickeln kann, die dann ihn zum Denken, also zur Ausbildung der Persönlichkeit befähigen. In den höheren Wesen wirken aber diese Kräfte auf der in Betracht kommenden Stufe so, daß diese Wesen sich ihrer bedienen können, um unpersönlich die Einrichtungen der Erde zu schaffen. Dadurch entstehen durch diese Wesen auf der Erde Gestaltungen, welche selbst ein Abbild der Verstandesregeln sind. Im Menschen entstehen also […] die persönlichen Verstandesorgane; rings um ihn herum bilden sich verstanderfüllte Organisationen durch dieselben Kräfte (AC, 45).

In anderen Worten: Der Mensch kann deshalb seine Umwelt mittels seiner Verstandestätigkeit verstehen, weil diese Umwelt selbst aus denselben Prozessen, gemäß derselben Gesetzmäßigkeit entstanden ist wie die Organe der menschlichen Erkenntnis. Gleiches wird auch bei Steiner, wie in der antiken Epistemologie, ›nur von Gleichem erkannt‹; oder, in Abwandlung des bekannten goetheschen Diktums: »Wär’ der Verstand nicht erdenhaft; wie könnt’ die Erde er begreifen?« Eine solche Überführung seiner epistemologischen Grundvorstellungen in die Bildersprache der theosophischen Esoterik hatte Steiner übrigens bereits 1904 in der Theosophie unternommen.

Neben diesem epistemologischen Diskurs, welcher inhaltlich dem ersten Teil der Philosophie der Freiheit entspricht, wird in der Chronik noch ein weiterer geführt, der sich auf die Freiheitsfrage und somit auf den zweiten Teil von Steiners philosophischem Hauptwerk bezieht. Dort war das freie Handeln bestimmt worden als ein solches Tun, welches aus der moralischen Phantasie des Menschen entspringt. Als ›moralische Phantasie‹ verstand Steiner 1894 die Verwandlung einer rein gedanklichen (d. h. von persönlichen und gesellschaftlichen Determinanten unbeeinflussten) Intuition in ein Motiv konkreten individuellen Handelns. In anderen Worten: nach dem Philosophen Steiner handelt frei, wer die Beweggründe seines Handelns völlig durchschaut bzw. (was für den frühen Steiner dasselbe zu sein scheint) wer diese ideellen Beweggründe selbst intuitiv hervorzubringen vermag.

In der Chronik greift Steiner diesen Freiheitsdiskurs wieder auf und entfaltet die darin enthaltene Problematik jetzt in den Bildern der theosophischen Kosmogonie. Was sich in der philosophischen Terminologie des Idealismus als Konflikt zwischen fremdbestimmtem und autonomem Handeln, zwischen von außen gegebenen und selbst hervorgebrachten Beweggründen des Handelns darstellt, erscheint in der Bildsprache theosophischer Esoterik als Konflikt zwischen zwei Arten von geistigen Wesen; den ›Mondgöttern‹, welche im Unbewussten die Taten der Menschen lenken und leiten, und den ›luziferischen‹ Sonnengöttern, welche den Menschen dazu bringen, sich intellektuell zu betätigen und sich damit zunehmend von der Leitung durch die ersteren emanzipieren (vgl. AC, 46 f.).

Die Freiheitsproblematik wird dann später noch einmal aufgegriffen, indem Steiner das Problem aufwirft, wie sich die Tatsache, dass in der theosophischen Kosmogonie Aussagen über künftige Entwicklungsprozesse gemacht werden, mit der Vorstellung menschlicher Freiheit verträgt. In diesem Zusammenhang fragt er, »ob dadurch, daß die Dinge in gewissem Sinne vorauszubestimmen sind, alle Freiheit des Menschen unmöglich sei«, und antwortet darauf:

Vorausbestimmen läßt sich, was einem Gesetz entspricht. Aber der Wille wird nicht durch das Gesetz bestimmt. Ebenso wie es bestimmt ist, daß in jedem Falle nur nach einem bestimmten Gesetz sich Sauerstoff, Wasserstoff und Schwefel zu Schwefelsäure verbinden werden; ebenso sicher ist es, daß es von dem menschlichen Willen abhängen kann, die Bedingungen herzustellen, unter denen das Gesetz wirken wird. Und so wird es auch mit den großen Weltereignissen und Menschenschicksalen der Zukunft sein. Man sieht sie als Geheimforscher voraus, trotzdem sie erst durch menschliche Willkür herbeigeführt werden sollen. Der okkulte Forscher sieht eben auch voraus, was erst durch die Freiheit des Menschen vollbracht wird. (AC, 50)

Auch andere Stellen zeigen, dass Steiner in der Chronik weiterhin die zentralen Fragestellungen seiner Philosophie der Freiheit verfolgte. Als ein Beispiel unter vielen sei auf eine Passage verwiesen, in der Steiner davon spricht, das jene großen Ideale, welche innerhalb der Menschheitsgeschichte leitend sind, der ›übersinnlichen Erkenntnis‹ der ›Eingeweihten‹ entspringen:

Ideale müssen, wenn sie Wert haben sollen, so tief in der geistigen Welt begründet sein, wie Naturgesetze in der bloß natürlichen Welt. Gesetze der Entwickelung müssen solche wahre Ideale sein. Sonst entspringen sie aus einer wertlosen Schwärmerei und Phantasie, und können niemals Verwirklichung finden. Alle großen Ideale der Weltgeschichte im weitesten Sinne sind aus schauender Erkenntnis hervorgegangen. Denn zuletzt stammen alle diese großen Ideale von den großen Geheimforschern oder Eingeweihten, und die Kleineren, die mitarbeiten an dem Menschheitsbau, richten sich entweder bewußt oder – allermeistens – unbewußt nach den von den Geheimforschern bestimmten Angaben. (AC, 51 f.)

Hier möchte man vielleicht einwenden, mit solchen Gedanken vom bloßen ›Mitarbeiten‹ des Menschen an einer von den ›Eingeweihten‹ vorgegebenen historischen Marschrichtung habe sich der Esoteriker Steiner doch wohl von der individualistischen Freiheitsphilosophie seiner Frühzeit weit entfernt. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr hatte Steiner denselben Gedanken bereits 1894 formuliert, damals allerdings in der Sprache der idealistischen Philosophie. Deshalb heißt in diesem Kontext der Hervorbringer der die Geschichte leitenden sittlichen Ideale nicht der ›Eingeweihte‹, der in ›schauender Erkenntnis‹ den Willen des Weltgeistes erkennt, sondern der ›freie Geist‹, der aus ›intuitiver Erkenntnis‹ heraus handelt. Der Sache nach ist aber von ein und demselben Vorgang die Rede:

[…] die Staatsgesetze sind sämtlich aus Intuitionen freier Geister entsprungen, ebenso wie alle anderen objektiven Sittlichkeitsgesetze. Kein Gesetz wird durch Familienautorität ausgeübt, das nicht einmal von einem Ahnherrn als solches intuitiv erfaßt und festgesetzt worden wäre; auch die konventionellen Gesetze der Sittlichkeit werden von bestimmten Menschen zuerst aufgestellt; und die Staatsgesetze entstehen stets im Kopfe eines Staatsmannes. Diese Geister haben die Gesetze über die anderen Menschen gesetzt, und unfrei wird nur der, welcher diesen Ursprung vergißt und sie entweder zu göttlichen Geboten, zu objektiven sittlichen Pflichtbegriffen oder zur befehlenden Stimme seines eigenen Gewissens macht. (PF, 177, nach der Erstausgabe)

Schon aus diesen knappen Hinweisen sollte deutlich werden, dass es dieselben Themen sind, die Steiner in der Philosophie der Freiheit und in der Chronik beschäftigten und dass die philosophischen Ideen seiner vortheosophischen Phase Leitfaden seiner Interpretation und Umformung der anglo-indischen Theosophie waren.

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Der bisher betrachtete erste Abschnitt der Chronik, der sich mit der Menschheitsentwicklung beschäftigt, stellt gegenüber dem Fragment von 1903/04 inhaltlich und quantitativ eine massive Erweiterung dar. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Zum einen war das Fragment nicht fertiggestellt worden, denn Steiner hatte es mitten in der Darstellung der Menschheitsentwicklung abgebrochen. Zum anderen lässt sich vermuten, dass Steiner bei Abfassung dieses Textes wahrscheinlich noch nicht die detaillierten Schilderungen Scott-Elliots vor sich hatte, die erst 1904/05 in deutscher Übersetzung erschienen waren.

Anders ist dies im zweiten Teil, welcher den kosmogonischen Prozess vom sogenannten ›Saturn‹-Zustand über die ›alte Sonne‹ und den ›alten Mond‹ bis zum Beginn der Erdentwicklung schildert. Hier bringt die Chronik gegenüber dem Fragment deutlich weniger Neuerungen und Erweiterungen. Die vier großen Weltperioden werden im Wesentlichen identisch geschildert, und auch der Einstieg in die Thematik über die sieben Bewusstseins-, Lebens- und Formzustände ist der gleiche wie im Fragment. Allerdings ist die neuere Darstellung ausführlicher und strukturierter, bringt einige neue Details, stellt an vielen Stellen Kausalitätsverhältnisse fest, die im Fragment nicht zur Sprache gekommen waren, und fasst die wichtigsten Ereignisse jeder Periode wie in einem Handbuch in tabellenartigen Übersichten zusammen. In der Darstellung dieses Abschnitts können wir uns deshalb kürzer fassen.

Zunächst fällt auf, dass in der Chronik die Vorstellung des Saturn als eines ›kosmischen Ur-Menschen‹ zunächst aufgegeben wird. War im Fragment der ›Saturn‹ noch als der Körper eines singulären saturnaren Planetengeistes geschildert worden, der sich erst später in eine Gruppe von Wesen vervielfältigte, so spricht Steiner jetzt ausschließlich von der Hierarchie der sogenannten ›Geister der Persönlichkeit‹ oder ›Archai‹ als derjenigen, die auf dem Saturn ihre Menschheitsstufe durchmacht. Das Bild des ›Saturn‹ als eines gigantischen kosmischen Ymir ist hier verblasst.

Dafür wird auf der anderen Seite die Hierarchienlehre jetzt deutlich systematischer entfaltet und angewendet. Eine weitere Differenzierung findet dahingehend statt, dass Steiner das Modell der Periodisierung verkompliziert. Auch hebt er deutlicher als im Fragment hervor, dass man sich die verschiedenen Weltperioden nicht so vorzustellen habe, als würden sie zu einem bestimmten Zeitpunkt anfangen und enden. Die klare Begrenzung einer ›Saturn‹-, ›Sonnen‹-, ›Mond‹-Periode usw. innerhalb der Darstellung diene eigentlich nur der Fasslichkeit und Anschaulichkeit; genau genommen seien diese Perioden aber so vorzustellen, dass sie alle während der gesamten Weltentwicklung wirksam sind. Also auch gegenwärtig, so macht Steiner jetzt deutlich, gebe es immer noch einen ›esoterischen Saturn‹, eine ›esoterische Sonne‹ usw. – nur seien diese für das gewöhnliche Gegenstandsbewusstsein der derzeitigen Menschheit nicht ohne weiteres wahrnehmbar. Die sieben Weltperioden laufen in gewisser Hinsicht alle gleichzeitig ab und werden nur zum Zweck der Darstellung in ein Modell sukzessiver und voneinander getrennter Phasen auseinandergelegt.

Ein weiteres neues Element innerhalb der Chronik ist die Einbeziehung künftiger Wesensglieder in das Entwicklungsschema. So wie schon im Fragment in jeder Periode ein bestimmtes der den derzeitigen Menschen ausmachenden Wesensglieder in die Menschheit inkorporiert wird (also etwa der ›Ätherleib‹ während der ›Sonnen‹-Zeit), so entsteht nun zusätzlich in jeder Periode auch die Anlage eines jener schon in der Theosophie geschilderten Wesensglieder, welche der Mensch erst später voll ausbilden wird.

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Im Anschluss an die Schilderung der planetarischen Entwicklung bis zur Gegenwart blickt die Chronik auch noch kurz in die Zukunft der Erdentwicklung. Auch dies ist neu, sowohl gegenüber dem Fragment als auch gegenüber den theosophischen Vorbildern. In diesem Zusammenhang wird nochmals die schon im Fragment geäußerte Kritik am theosophischen Rasse-Begriff vorgebracht. Außerdem wird angekündigt, dass nun die Erdentwicklung nochmals geschildert werden solle, und zwar aus einer »neuen Perspektive«. Was diese neue Perspektive ist, die sich im 19. Aufsatz ankündigt, wird nicht im Detail erklärt. Es geht aber aus der Darstellung hervor, dass Steiner seiner bisher vor allem an theosophischen Modellen orientierten Darstellung offenbar eine solche hinzufügen wollte, welche den Prozess mehr aus anthroposophischer Perspektive betrachtete.

Was Steiner unter ›Anthroposophie‹ verstanden wissen wollte, hat er zum ersten Mal in einem Vortragszyklus des Jahres 1909 öffentlich vorgetragen. Ein Jahr später hat er dann an einer programmatischen Schrift mit dem Titel Anthroposophie gearbeitet, die allerdings nicht vollendet wurde und ebenso Fragment blieb wie seine früheste Kosmogonie. Bestimmte Aspekte dieser Anthroposophie fallen, worauf oben bereits hingedeutet wurde, schon in den früheren Aufsätzen der Chronik auf. Sie prägen aber in besonderer Weise den letzten Aufsatz der Reihe. Das zeigt sich schon an der Überschrift, welche ankündigt, der Mensch werde jetzt als ein ›viergliederiges‹ Wesen angeschaut, während die charakteristische theosophische Siebengliederung in den Hintergrund tritt. Anthroposophisch ist ferner der Gedanke, dass die höheren Wesensglieder Ergebnis der Arbeit des Menschen an seinen niederen Gliedern sind. Darüber hinaus kündigt Steiner im ersten Satz des Aufsatzes ausdrücklich an, bei den folgenden Darstellungen werde nun »vom Menschen ausgegangen«. Und auch das zeichnet Steiners anthroposophische Texte gegenüber theosophischen Darstellungen aus, dass die Betonung immer weniger auf Abstrakta und Systemelemente gelegt wird und immer mehr auf praktische und konkrete Details, die den Zusammenhang des menschlichen Lebens und Wesens mit kosmischen Aspekten zeigen. So wird geschildert, wie während der ›Saturn‹-Epoche der Sinnesorganismus des Menschen gebildet wird, während der ›Sonnen‹-Zeit das Drüsensystem, während der ›Mond‹-Epoche das Nervensystem und auf der Erde das Herz und Blutsystem. Auch in Hinsicht auf Organe wie das Herz, die Muskeln und die Sprech- und Fortpflanzungsorgane wird Steiner hier konkreter als im Fragment – und konkreter als seine theosophischen Vorläufer, die sich im Zusammenhang mit der Kosmologie nur selten für solche anthropologischen Details interessierten.

Dieser neue anthroposophische ›Ton‹, der sich im letzten Aufsatz der Chronik ankündigt, begegnet dem Leser später in der Geheimwissenschaft wieder. Er zeigt sich in der methodischen Anlage der Schrift, in der Konzentration auf anthropologische Details und Konkreta, in der Anschaulichkeit der Bilder sowie in der stets eingestreuten hermeneutischen Metareflexion über das Wesen der übersinnlichen Erfahrung und die Besonderheiten der Darstellung ihrer Inhalte.

Die Kosmogonie der Geheimwissenschaft

von 1909/10

Zum Abschluss dieser Betrachtungen zur Entwicklungsgeschichte der anthroposophischen Kosmogonie sollen nun noch die zentralen Inhalte der Erstausgabe der Geheimwissenschaft bzw. deren zentrales Kapitel zur Welt- und Menschheitsentwicklung betrachtet werden. Dabei werden zwei Gesichtspunkte besonders berücksichtigt: Zum einen wird verfolgt, in welcher Weise Steiner hier die kosmogonische Konzeption seiner Chronik-Aufsätze von 1904–1908 modifizierte und erweiterte. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die hier konzipierte Kosmogonie als eine noch wesentlich theosophische Konzeption mit steinerschem Zuschnitt zu gelten hat und inwieweit sie schon Steiners neuen ›anthroposophischen‹ Ansatz zeigt. Schon in der Chronik zeigten sich ja, wie oben angedeutet, deutliche Spuren des letzteren. Da die Fertigstellung der Geheimwissenschaft in eben jene Zeit fiel, in der Steiner in Vorträgen seine Anthroposophie-Konzeption zum ersten Mal vor Publikum entwickelte und sogar an einem entsprechenden Manuskript arbeitete, ist die Frage danach, wie ›anthroposophisch‹ seine Darstellung von 1910 ist, von besonderem Interesse.

Bevor wir uns dem kosmogonischen Kapitel der Geheimwissenschaft genauer zuwenden, sei zunächst der Blick auf einige allgemeine Charakteristiken dieser Schrift gerichtet. Da fällt zunächst schon im Titel und dann in den verschiedenen Vorworten auf, dass Steiner jetzt besonders den wissenschaftlichen Charakter der von ihm vorgebrachten Konzeption betonte. Hatte Blavatsky ihre Esoterik in autoritativer Weise als eine ›Lehre‹ bzw. eine ›Doktrin‹ charakterisiert, setzt Steiner gegen diese Geheim-Lehre bewusst eine Geheim-Wissenschaft. Dieser Anspruch berief sich zum einen auf den empirischen Charakter der Methode, durch welche er zu seinen Inhalten gekommen war (d. h. auf die innere Empirie der Selbstbeobachtung) und zum andern auf die systematische, methodisch vorgehende und logische Form der Darstellung der so gewonnenen Inhalte. Zugleich stellt Steiner fest, dass der Seinsbereich, der hier durch innere Empirie und nach wissenschaftlicher Methode behandelt wurde, nicht derselbe sei, um den es in einer natur- oder einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung gehe. Intendiert war vielmehr eine systematisch zusammenhängende, in sich stimmige, methodisch vorgehende – und die eigene Methode kritisch reflektierende – Darstellung der Inhalte geistig-seelischer Erfahrung. Wenngleich also das Wort ›Geheimwissenschaft‹ nominell auch schon in den deutschen Übersetzungen der Werke Sinnetts und Blavatskys auftauchte, bekam es doch bei Steiner eine neue inhaltliche Fassung.

Neben der Betonung des wissenschaftlichen Anspruchs unterstreicht Steiner 1910 zudem, dass die grundlegende Methode des geheim- bzw. geisteswissenschaftlichen Forschens, das sogenannte ›Hellsehen‹ bzw. die ›innere Empirie‹, keineswegs eine exotische und der alltäglichen Erfahrung fernliegende Fähigkeit sei. Vielmehr bestehe die Grundlage und der erste Schritt solchen Forschens im Übersinnlichen in der jedermann zugänglichen Erfahrung des ›reinen‹ bzw. ›sinnlichkeitsfreien‹ Denkens, wie es etwa in der Mathematik oder in der Philosophie seit jeher kultiviert werde. Zur ›übersinnlichen Forschung‹ bedürfe es lediglich einer systematischen Schulung und Verstärkung mentaler Fähigkeiten, die jeder normale Mensch bereits besitzt: Vorstellen, Fühlen und Wollen. Die früher verwendete und leicht als Mystifizierung zu deutende Metapher des ›Lesens in der Akasha-Chronik‹ wird zwar am Rande noch erwähnt, tritt aber hinter die Vorstellung einer systematischen Erforschung der seelischen und geistigen Erfahrung zurück.

Drittens weist die Geheimwissenschaft noch nachhaltiger als die Chronik den Leser an, sich immer wieder den uneigentlichen Charakter vor Augen zu halten, den eine sprachliche Darstellung solch innerer Erfahrungen zwangsläufig immer annehmen muss. Da in der geisteswissenschaftlichen Forschung die Wirklichkeit nicht auf der Grundlage sinnlich erfassbarer Daten erkundet werden soll, sondern ausschließlich auf der Basis der Beobachtung seelischer und geistiger Erlebnisse. Und da es für das ›gewöhnliche‹, den gegenwärtigen Verhältnissen angepasste sinnlich-gegenständliche Bewusstsein keine Möglichkeit gibt, sich angemessene Vorstellungen von solchen Erlebnissen zu bilden, muss die Geisteswissenschaft nach Steiner sich solcher Vorstellungen bedienen, welche »den gegenwärtigen Erdenverhältnissen« – d. h. dem sinnlich-gegenständlichen Bewusstsein – angepasst sind, damit der Leser sich überhaupt etwas dabei denken kann.

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Nach diesen allgemeinen die Gesamtschrift betreffenden Hinweisen sei nun besonders betrachtet, wie sich die Entstehung und Entwicklung der Welt und des Menschen in der Erstausgabe der Geheimwissenschaft darstellt.

Auffällig ist zunächst, dass die Entwicklung der Menschheit in der Darstellung von 1910 nicht chronologisch rückschreitend geschildert wird, wie in der Chronik, sondern in vorwärtsschreitender Zeitfolge. Auch beginnt die Darstellung nicht wie zuvor mit den ›Atlantiern‹ und ›Lemuriern‹, sondern setzt, wie Blavatskys Geheimlehre, beim Ursprung unseres Sonnensystems an. Außerdem schiebt Steiner, nachdem die Schilderung in der Gegenwart bzw. bei der Ausbildung des gegenständlichen Bewusstseins angekommen ist, zunächst ein Kapitel über die von ihm entwickelte Erkenntnisschulung ein, bevor in einem weiteren Kapitel die »Zukunft der Welt- und Menschheitsentwicklung« und die Ausbildung höherer Bewusstseinszustände zur Darstellung kommt.

Inhaltlich ist zu bemerken, dass die Geheimwissenschaft den kosmogonischen Prozess in weitgehend ähnlicher Weise schildert wie Chronik und Fragment und in vieler Hinsicht auf diese Vorarbeiten aufbaut. Das allgemeine Ablaufschema der Ereignisse ist im Wesentlichen dasselbe und wird mit zahlreichen neuen Details und zusätzlichen Erklärungen bereichert. Grundsätzliche inhaltliche Neubestimmungen werden nur wenige vorgenommen, allerdings sucht Steiner stilistisch eine andere Art der Darstellung als im Fragment und in der Chronik. Abstrakte Schemata, Gliederungen und tabellarische Aufzählungen treten in den Hintergrund, während die anschauliche Schilderung konkreter Details, besonders wenn sich diese auf den Menschen beziehen lassen, in den Vordergrund tritt.

Die grundlegende Metapher, in die Steiner den doppelten Prozess der Materialisierung des Geistigen und der Vergeistigung des Materiellen zu Beginn der Darstellung fasst, ist das Bild einer Masse von sich sukzessiv zu Eis kristallisierendem und wieder schmelzendem Wasser. Dabei zeigt sich eine deutliche Neuorientierung gegenüber dem Denken seiner vortheosophischen Periode. Während dieser hatte Steiner nämlich stets darauf insistiert, dass das ›Geistige‹ bzw. ›Gott‹ sich im Prozess der Schöpfung ganz in diese ausgieße und nichts von sich zurückbehalte. »Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen«, hieß es da, »er ist in sie aufgegangen«. Noch 1901 hatte Steiner sich im Kontext seiner Schilderung der Mystik Meister Eckharts mit dieser Vorstellung offenbar identifiziert. Jetzt hingegen meint er, im Einklang mit theosophischen Vorstellungen, das Geistige gehe keineswegs vollständig, sondern nur partiell in der materiellen Welt auf.

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Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, wie Steiner in der Geheimwissenschaft die Entwicklung der primären oder ›saturnaren‹ Schicht des Weltgeschehens schildert. Auffälligerweise setzt seine Darstellung nicht am Anfang des Geschehens an, also mit dem in der Chronik bereits beschriebenen Ausströmen von Willenssubstanz durch die ›Throne‹, sondern in der Mitte der Periode, in welcher der ›Saturn‹ und die Menschenvorfahren bereits den Zustand ätherisch-physischer Wärme angenommen haben und die ›Geister der Persönlichkeit‹ mittels dieser Wärmekörper eine Art ›Ich-Bewusstsein‹ erlangen und so ihre ›Menschheitsstufe‹ durchmachen.

Im Wesentlichen bleibt alles wie in der Chronik, aber im Detail lassen sich Neubestimmungen finden. So ersetzt Steiner das Bild vom ›Einströmen von Substanzen‹ aus der Region der Hierarchien jetzt mit einer Vorstellung, nach welcher die geistigen Wesen ihre Wesensglieder in die Saturn-Körper ›hineinsenken‹ bzw. sie damit ›durchtränken‹. Auch werden die verschiedenen Hierarchien-Wesen jetzt detaillierter charakterisiert, indem Steiner bei jeder Kategorie auf die Zusammensetzung ihrer Wesensglieder eingeht und etwa erwähnt, ob ihr unterstes Glied ein ›Astralleib‹ oder ein ›Ätherleib‹ ist.

Eine andere Auffälligkeit gegenüber der Darstellung in der Chronik liegt darin, dass Steiner 1910 deutlich mehr Aufmerksamkeit auf die den Menschen betreffenden Aspekte der ›saturnaren‹ Entwicklung richtet und somit sein neues anthroposophisches Interesse artikuliert. Er legt großen Wert darauf zu zeigen, durch welche Vorgänge die physischen Anlagen dessen gebildet werden, was später (bzw. während der ›Erdentwicklung‹) als Sinnesorgane, als Stoffwechselsystem oder als ›Ich‹ hervortritt. Dadurch gewinnt die Schilderung des ›Saturn‹ deutlich an Konkretisierung und Anschaulichkeit und stellt die Kosmogonie noch eindeutiger als zuvor in den Dienst der Erkenntnis des Menschen.

Eine weitere Neuheit der ›Saturn‹-Schilderung in der Geheimwissenschaft ist Steiners Hinweis darauf, dass erst in der Mitte dieser Periode die ›Zeit‹ im eigentlichen Sinne beginne. Näheres zu diesem hochinteressanten Punkt wird im Text selbst nicht ausgeführt, obwohl detaillierte Ausführungen Steiners hierzu, vor allem auch im Licht seiner zu dieser Zeit ja durchaus schon entwickelten Vorstellung von einem doppelten Zeitstrom, sicher hilfreich gewesen wären.

Die Schilderung der ›solaren‹ Entwicklungssphäre entspricht ebenfalls im Grundschema und in allen wichtigen Details derjenigen in der Chronik: Der Mensch erlangt hier als neues Wesensglied den ›Ätherleib‹, und es entwickelt sich um ihn, der jetzt eine Art pflanzliches Dasein führt, ein zweites rein mineralisches Naturreich. Zudem bilden sich die Anlagen dessen, was später als ›Lebensgeist‹ auftritt. Wieder wird den anthropologischen Aspekten der Materie größere Aufmerksamkeit geschenkt als in früheren Fassungen. So wird besonders die Ausbildung der ersten Anlage des späteren Drüsensystems als Ergebnis dieser Phase herausgehoben. Als methodische Neuerung fällt auf, das Steiner die ›Sonnen‹-Phase jetzt als eine Art Vorwegnahme der später während der Erdzeit ablaufenden ›hyperboräischen‹ Epoche schildert. Alle wichtigen Ereignisse der vorirdischen solaren Periode wiederholen sich in gewisser Weise während der hyperboräischen Zeit. Damit fügt Steiner den zahlreichen, von der theosophischen Literatur her bereits vorgegebenen kosmogonischen Entsprechungsverhältnissen ein neues hinzu, indem jetzt auch die großen Menschheitsepochen als Spiegel und Ausdruck der Gesamtentwicklung des Kosmos fungieren, und umgekehrt. Auch die Arbeit der verschiedenen Hierarchienwesen an der Integration des ›Ätherleibes‹ in die ›solaren Leiber‹ wird jetzt ungleich ausführlicher beschrieben als zuvor.

Auf die ›solare‹ Periode (und das entsprechende pralaya) folgt die sogenannte ›lunare Phase‹. Auch diese wird in der Geheimwissenschaft im Wesentlichen wieder so geschildert, wie dies schon in der Chronik der Fall gewesen war, und wieder hebt Steiner in dieser neuerlichen Darstellung besonders die anthropologisch relevanten Details hervor, die in Fragment und Chronik nicht oder nur andeutungsweise erwähnt worden waren. Auch die oben bereits erwähnte Tendenz der Geheimwissenschaft, die großen Weltzeitepochen als Analogon der späteren Menschheitsperioden zu schildern, zeigt sich wieder in diesem Abschnitt.

Über diese allgemeinen Aspekte hinaus wird das Bild der lunaren Entwicklung 1910 auch um einige wichtige Details erweitert. So schildert Steiner jetzt schon im Rahmen dieser Periode den Austritt einer ›Sonne‹ aus dem Körper des ›alten Mondes‹ sowie die Folgen dieses Ereignisses für den Menschenvorfahren, nämlich eine Spaltung des Menschenleibes in zwei distinkte Regionen, in denen dann zwei Arten von Wesen tätig werden: die ›Geister der Form‹ vom Mondkörper aus, und andere von der neuen abgespalteten ›Sonne‹ aus.

Ein weiteres neues Detail der Schilderung von 1910 ist Steiners Hinweis, dass durch die Stellung der verschiedenen Weltkörper während der ›lunaren‹ Periode gewisse kosmologische Konstellationen entstehen, welche mit dem heutigen Wechsel von Tag und Nacht vergleichbar sind. Dadurch tritt im Leben der Menschenvorfahren das Phänomen eines Alternierens zwischen zwei grundverschiedenen Zuständen auf. Neu an der Schilderung von 1910 ist ferner, dass Steiner jetzt von Wanderungsbewegungen der Wesen auf dem ›alten Mond‹ spricht, und zwar als direkte Folge bzw. als Anpassung an die neuen planetarischen Verhältnisse.

Mit dem Ende der ›lunaren‹ Periode und dem Durchlaufen des anschließenden pralaya gelangt die Darstellung an den Anfang der eigentlichen Erdentwicklung bzw. an dasjenige Erdenstadium, in dem wir uns nach Steiner und seinen theosophischen Vorbildern gegenwärtig befinden. Relativ zu den Schilderungen der ›Saturn‹-, ›Sonnen‹- und ›Mond‹-Phase ist diese Darstellung die an Erweiterungen und neuen Details reichste.

Grundsätzlich folgt der Abschnitt wieder den Vorgaben der Chronik. Neu an der Darstellung von 1910 ist, dass Steiner die klare Trennung zwischen den frühen Phasen der Menschheitsentwicklung aufgibt. Waren in der Chronik nach theosophischer Manier ›polarische‹, ›hyperboräische‹, ›lemurische‹ und ›atlantische‹ Epoche noch deutlich voneinander unterschieden, so erscheint die Entwicklung jetzt als eine fließende, in welcher der Übergang von einer Periode in die andere kaum sichtbar wird. Die Bezeichnungen der ersten beiden Perioden werden überhaupt nicht mehr erwähnt, und die Namen der beiden letzteren fallen erst im Nachhinein, nachdem schon wesentliche Entwicklungen geschildert sind. Statt durch das in Fragment und Chronik dominierende abstrakte Element der Periodisierung wird die Entwicklung in der Geheimwissenschaft durch konkrete kosmische Ereignisse in drei Abschnitte unterteilt, nämlich durch den Austritt zuerst der Sonne und dann des Mondes aus dem Erdkörper. Lediglich die ›atlantische‹ Periode wird als relativ eigenständiger Entwicklungsabschnittt beschrieben; die früheren Epochen fließen zu einer voratlantischen Urzeit zusammen.

Neu ist ferner Steiners Konzentration auf die drei ›seelischen‹ Wesensglieder: ›Empfindungsseele‹, ›Verstandesseele‹ und ›Bewusstseinsseele‹. Diese waren in der Chronik nur im letzten von der anthroposophischen Perspektive geprägten Aufsatz kurz erwähnt und kaum näher besprochen worden. (Steiner setzte wohl voraus, dass seine Leser das entsprechende Kapitel der Theosophie kannten.) Jetzt werden diese seelischen Wesensglieder zum ersten Mal systematisch in die Schilderung der kosmogonischen Entwicklung integriert und bilden zudem ein Mittel der Periodisierung der nachatlantischen Kulturepochen: die ägyptisch-chaldäische, die griechisch-römische und die gegenwärtige Kulturepoche werden geschildert als geprägt von der Ausbildung je eines dieser seelischen Bereiche. So entsteht wieder eine neue Facette makro-mikrokosmischer Entsprechung, die es in der theosophischen Literatur vor Steiner so nicht gab und die für die Anthroposophie charakteristisch werden wird: das Entsprechungsverhältnis zwischen Kulturepochen und seelischen Wesensgliedern.

Als zusätzliche Erweiterung gegenüber der Chronik gibt Steiner in der Geheimwissenschaft ein grundlegendes Erklärungsmuster für die bereits zuvor geschilderten Veränderungen. Mit dem Austritt der Sonne, so wird jetzt erklärt, tritt auf dem zurückbleibenden Erdkörper eine allgemeine ›Verhärtung‹ aller Seinsbereiche ein, da die gestaltend-belebenden ›ätherischen‹ Kräfte sich allesamt auf die Sonne zurückziehen. Diese Verhärtung würde zum schließlichen Tod des Erdplaneten und all seiner Bewohner führen, zögen sich nicht die ›verhärtenden‹ bzw. materialisierenden Kräfte ebenfalls aus dem Erdkörper heraus – und zwar auf den sich abtrennenden Mond.

Eine weitere Modifikation gegenüber den Darstellungen der Chronik ist auch die zunehmend explizite Parallelisierung der entwicklungsgeschichtlichen Prozesse mit dem biblischen Schöpfungsbericht. Die Chronik war, wie wir gesehen haben, mit solchen Hinweisen sehr zurückhaltend gewesen, und im Fragment fehlten sie völlig. Jetzt aber wird z. B. der Prozess der Luftbildung auf der Erde deutlich mit dem biblischen Motiv vom ›Einhauchen des Odems‹ (Gen. 2:7) in den Leib Adams in Verbindung gebracht. Daneben finden sich zahlreiche weitere Anspielungen auf die Geschichte von ›Adam und Eva‹ in der Genesis, auch wenn diese Namen nicht unmittelbar genannt werden. Zur Illustration dieser Zustände schreibt Steiner, man habe sich diese Alteration als etwas vorzustellen, was in seiner Wirkung stärker empfunden wurde als der heutige Wechsel zwischen Wachen und Schlaf, aber schwächer als derjenige zwischen Leben und Tod. Steiner schildert, wie im Prozess der zunehmenden ›Verhärtung‹ der Erde nach dem Sonnenaustritt die Bedingungen für die Inkarnation von menschlichen Seelen in die sich verdichtenden Leiber immer schwieriger geworden seien. Daher hätten sich ganze Gruppen von menschlichen Seelen auf andere Weltkörper zurückgezogen, bis auf der Erde nur noch einige wenige (Steiner spricht von den seelisch am weitesten entwickelten) zurückbleiben. Unter diesen wenigen identifiziert er dann, in eindeutiger Anspielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte, ein sogenanntes ›Hauptpaar‹. In dieser ›Restmenschheit‹ bzw. an diesem ›Hauptpaar‹ vollzieht sich dann nach Steiners Darstellung dasjenige, was Blavatskys Geheimlehre und die steinersche Chronik als ›Versuchung‹ des Menschen durch die luziferischen Geister beschrieben hatten. Die Geheimwissenschaft beschreibt dies nun so, dass die ›luziferischen‹ Geister es den Menschen ermöglichen würden, die Wirkungen der sogenannten ›Sonnengötter‹ in ihrer Umwelt zu erkennen. Ihnen würden also, analog zur biblischen Erzählung und diese deutend, für das Wirken des Geistigen in der physischen Welt ›die Augen geöffnet‹. Gleichzeitig verstrickten sich diese ›erwachten‹ Menschen, aufgrund der mit ihrer Erkenntnis einhergehenden Wahlfreiheit, immer tiefer in die physische Welt. So komme zum ersten Mal die Möglichkeit des Irrtums und des Todes in die Welt – dadurch aber auch die erste Voraussetzung für die später sich entwickelnde Freiheit des Menschen. Die Paralellen zur biblischen Geschichte vom Sündenfall sind hier somit nicht zu übersehen, auch wenn Steiner nicht explizit auf sie hinweist.

In dieser Situation lässt Steiner die erwähnten ›Sonnenwesen‹ wieder eingreifen; diese ›zögen‹ (so die steinersche Verbildlichung dieses Vorgangs) einen Teil des menschlichen ›Ätherleibes‹ aus dem physischen Leib ›heraus‹ und stellten ihn so unter ihren eigenen Einfluss. Dadurch stünden bestimmte Lebensvorgänge und vor allem das Liebesleben und die Fortpflanzung des Menschen jetzt unter der unmittelbaren Kontrolle dieser Wesen. (Wieder also wird für einen schon in der Chronik genannten Tatbestand erst jetzt die Erklärung nachgeliefert.) In der von den luziferischen Wesen beeinflussten Verstandestätigkeit hingegen emanzipiert sich der Mensch, so Steiner, zunehmend vom kosmischen Einfluss und erobert sich ein inneres Reich der Gedanken. Dieses Reich sei zwar nur ein subjektives Bild der Wirklichkeit, eine Illusion gewissermaßen, welche sich zwischen den Menschen und die kosmisch-geistigen Schöpferkräfte stellt – aber nur in dieser Illusion, in dieser ›Vertreibung‹ aus dem ›Paradies‹ des Einsseins mit allem in die sinnlich-physische Welt und die Individualität könne der Mensch Selbstbewusstsein, Freiheit und Liebe ausbilden und so die Entwicklungsziele seiner irdischen Existenz realisieren. Wie in Schillers ästhetischer Theorie, die Steiner nachhaltig prägte, ist auch in der Geheimwissenschaft die ›Welt des Scheins‹ dasjenige Land, durch das hindurch der Mensch »zu der Freiheit wandert«.

Auf diese Weise, so erklärt Steiner jetzt, ist zwischen den Gegensätzen der ›Mondkräfte‹ und der ›Sonnenkräfte‹ ein Gleichgewicht hergestellt, welches dazu führt, dass die früher exilierten Menschenseelen jetzt auf die Erde zurückkommen und sich wieder inkarnieren können. So entsteht eine Differenzierung innerhalb der Menschheit in sogenannte ›Saturn‹-, ›Jupiter‹-, ›Mars‹-, und ›Sonnen‹-Menschen. Diese Rückkehr der ausgewanderten Menschen auf die Erde verlegt Steiner in die atlantische Epoche und bringt somit erst jetzt die Darstellung nachträglich mit dem theosophischen Periodisierungsmodell in Zusammenhang. Das bisher Geschilderte erweist sich somit als Zusammenfassung dessen, was Theosophen als ›polarische‹, ›hyperboräische‹ und ›lemurische‹ Epoche kennen.

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Rudolf Steiners Schilderung der ›atlantischen Periode‹ in der Geheimwissenschaft weicht fast ebenso stark von derjenigen in der Chronik ab wie diese gegenüber Scott-Elliots Darstellung. Der Schwerpunkt liegt jetzt nicht mehr zentral auf der Entwicklung der seelischen und geistigen Eigenschaften des Menschen der atlantischen Epoche (etwa der Gedächtnisentwicklung), sondern konzentriert sich stark auf das differenzierte Mysterienwesen unter den Atlantiern sowie auf die Migration einer bestimmten Gruppe von Atlantiern unter Führung eines ›Manu‹, wodurch diese Gruppe der atlantischen Katastrophe entgangen und zur Grundlage der nachantlantischen Menschheit geworden sei.

Von den ›Mysterien‹ der Atlantier bzw. von einer während dieser Zeit etablierten ›Initiations-Loge‹ hatten auch Sinnett und Blavatsky gesprochen, allerdings nur in vagen und freimaurerisch anmutenden Andeutungen. In Steiners Darstellung des atlantischen Mysterienwesens ist dieses hochdifferenziert, und zwar als Ergebnis der oben skizzierten Differenzierung in verschiedene Klassen von Menschen nach der ›Sündenfall‹-Episode. Für die wieder auf die Erde zurückkehrenden Menschengruppen werden nach der Geheimwissenschaft in der atlantischen Zeit Mysterien eingerichtet, in denen ausgewählte Individuen eine Einweihung durchmachen. Im Zentrum dieser Einweihungen steht nach Steiners Darstellung die Erkenntnis jenes geistigen Wesens, welches den Initianten während seines ›planetarischen Exils‹ als eine Art ›Gruppen-Ich‹ mit den anderen auf diese bestimmte ›Welt‹ ausgewanderten Menschen verbunden habe. Als wichtigste unter diesen Mysterien hebt Steiner die sogenannten ›Sonnen-Mysterien‹ hervor, denn die diese Menschen vereinende ›Gruppenseele‹ sei niemand anders als die ›Christuswesenheit‹.

Nachdem in diesem Kontext der Christus-Name zum ersten Mal innerhalb der steinerschen Kosmogonie genannt wird, taucht dieser jetzt immer öfter in der Geheimwissenschaft auf (mehr als 60 Mal) und tritt mehr und mehr ins Zentrum der steinerschen Darstellung. Das Modell der Erd- und Menschheitsentwicklung und somit die steinersche Esoterik insgesamt erhalten dadurch eine starke Christus-zentrierte Prägung. Das war völlig neu, nicht nur gegenüber Steiners früheren kosmogonischen Texten, sondern in dieser Art auch gegenüber der gesamten theosophischen Literatur. In der Liste derjenigen Aspekte, welche die steinersche Anthroposophie von der theosophischen Tradition unterscheidet, muss daher neben der morphologischen Methode, der Fokussierung auf den Menschen und der ideogenetischen Prägung auch diese Christologisierung als zentrales Element genannt werden. Diese Tendenz zeigt sich in der Geheimwissenschaft auch darin, dass es der höchste Eingeweihte innerhalb der erwähnten Sonnen- bzw. Christus-Mysterien ist, welcher als ›Manu‹ seine engsten Anhänger vor der atlantischen Flutkatastrophe rettet.

Als zweite zentrale Neuerung neben dieser detaillierten Beschreibung des atlantischen Mysterienwesens und der damit verbundenen ›Christologisierung‹ der Kosmogonie führt die Geheimwissenschaft zusätzlich zu den schon in der Chronik erwähnten luziferischen Wesen eine weitere Gruppe von Wesenheiten ein, die jetzt als die ›ahrimanischen‹ bezeichnet werden. Inhaltlich war von diesen Wesen schon früher unter verschiedenen Namen wie ›Asuras‹ und ›Sonnengötter‹ andeutungshaft die Rede gewesen. Jetzt aber kennzeichnet Steiner sie als ›ahrimanische‹ Wesen und charakterisiert sie in ihrer antipodischen Stellung gegenüber den luziferischen Wesen. So wird ein weiterer Topos geprägt, welcher für die spätere anthroposophische Theoriebildung prägend wurde. ›Ahriman‹ ist für den späteren Steiner ein Wesen, das sich vor allem im Denken und in der Geistigkeit des Menschen als ein ›Versucher‹ umtut, indem er den Menschen zum einseitigen Gebrauch des abstrakten logischen Denkens animiert und ihn somit in die diesem Denken entspringende sinnlich-materielle Welt verstrickt. Sein Widersacher ›Luzifer‹ hingegen lebe sich vor allem im Seelischen aus und animiere in diesem Bereich zur Hingabe an das Gefühlshafte, Hingabevolle, ja Schwelgerische und Schwärmerische.

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Auf die ›atlantische‹ Epoche folgt die sogenannte ›nachatlantische‹ Zeit. Eine ausführliche Schilderung derselben fehlte sowohl im Fragment von 1903/04 als auch in der Chronik. Auch in den Schriften Sinnetts und Blavatskys finden sich, wie oben geschildert, nur vereinzelte Beispiele einer konkreten Zuweisung der sieben von der theosophischen Theorie geforderten nachatlantischen Kulturperioden zu konkreten Völkern und Epochen. Erst Scott-Elliot hatte in seinem Atlantis-Buch den Versuch einer vollständigen systematischen Zuordnung vorgelegt. In seinem Modell listete er folgende fünf Kulturen als ›nachatlantische‹ auf: I. Eine vorgeschichtliche indische Kultur (mit einer Kolonie in Ägypten); II. die chaldäischen, assyrischen und babylonischen Völker; III. die persische bzw. iranische Kultur; IV. die keltischen Zivilisationen, als deren letzte er die griechischen und römischen Völker ansah, und schließlich V. eine germanische als die gegenwärtige Kulturepoche. Die beiden abschließenden Kulturepochen benannte Scott-Elliot nicht, verortete sie aber in »einer sehr fernen Zukunft« »in Süd- und Nordamerika«.

Dieses immer noch sehr allgemeine Schema greift Steiner in der Geheimwissenschaft auf und modifiziert die Liste der Kulturepochen in folgender Weise: Die Charakterisierung der ersten beiden als ›indische‹ und ›persische‹ übernimmt er, aber der dritten Epoche fügt er neben den Chaldäern, Assyrern und Babyloniern noch die Ägypter hinzu. Die vierte Epoche gilt ihm als die römisch-griechische – die Kelten fallen also weg – und diese Zeit wird zudem als diejenige hervorgehoben, in welcher das zentrale ›Ereignis von Golgatha‹ stattfindet. Der fünften und gegenwärtigen Periode gibt Steiner keinen spezifischen Namen, d. h. Scott-Elliots Charakterisierung der fünften Periode als ›arische‹, die auch er selbst in der Chronik zunächst übernommen hatte, wird nicht beibehalten. Dafür gibt er konkrete Zeitangaben und lässt die fünfte Kulturepoche »im elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert« beginnen. (Später fügt er hinzu: Richtig deutlich sei diese Periode erst im fünfzehnten Jahrhundert hervorgetreten.) Für die sechste und siebte Epoche gibt er an dieser Stelle, wie Scott-Elliot, keine konkreten Namen. Erst später hat er in diesem Zusammenhang die sechste Epoche als ›östlich-slavische‹ und die siebte als ›westlich-amerikanische‹ charakterisiert, ohne aber diese Bezeichnungen in die Neuauflagen der Geheimwissenschaft aufzunehmen.

Dieses Modell der sieben ›nachatlantischen‹ Kulturepochen fügt Steiner nun derart in die allgemeine Welt- und Menschheitsentwicklung ein, dass sie zum Analogon der sieben Weltepochen und der sieben Bewusstseinszustände werden. Schon Sinnett und Blavatsky hatten diese Entwicklung, wie oben dargestellt, als eine Kurve des Abstiegs von reiner Geistigkeit in die Materialität und als anschließenden Wiederaufstieg beschrieben. Dasselbe Muster zeigt sich jetzt in Steiners Konzeption der Kulturepochen: Die Entwicklung beginnt mit einer stark geistig ausgerichteten Kultur (den ›alten Indern‹), wonach die Menschheit in den folgenden Perioden ein immer größeres Interesse an der materiellen Welt entwickelt, bis sie in der römisch-griechischen Zeit einen diesbezüglichen Höhepunkt bzw. Tiefpunkt erreicht (weshalb in dieser Epoche auch die den Umschwung ermöglichende Inkarnation des ›Christus‹ erfolgt), und von da ab in der jetzigen und in künftigen Kulturepochen wieder zu immer geistigeren Lebensstufen aufsteigt.

Gänzlich neu in der Geheimwissenschaft ist die Zuordnung dieser Kulturepochen zu bestimmten ›Wesensgliedern‹, indem Steiner die dritte (ägyptisch-chaldäische) Epoche als diejenige der Ausbildung der ›Empfindungsseele‹ charakterisiert, die vierte (römisch-griechische) als diejenige der ›Verstandesseele‹ und die fünfte und gegenwärtige als die Zeit der ›Bewusstseinsseele‹. Neu ist ferner die Idee einer symmetrischen Entsprechung früherer Kulturepochen mit späteren. So schlägt Steiner vor, dass etwa die fünfte (gegenwärtige) Epoche in vieler Hinsicht eine Art Wiederholung und Spiegelung der dritten (ägyptisch-chaldäischen) ist, die sechste eine Wiederholung der zweiten und so weiter. – Nach Abschluss der siebten nachatlantischen Epoche folgen dann in Steiners Schilderung zwei weitere Hauptperioden (entsprechend der sechsten und siebten ›Wurzelrasse‹ Sinnetts), nach deren Durchlaufen die Erde sich wieder spiritualisiert und in einen ›Weltschlaf‹ verfällt, ein sogenanntes pralaya, aus dem dann ein neues Weltsystem, der künftige ›Jupiter‹, hervorgeht – der aber in derselben Hinsicht als eine ›Wiedergeburt‹ der Erde zu verstehen ist, wie diese eine Wiedergeburt des ›alten Mondes‹ ist usw. Diesem ersten nachirdischen Weltzyklus folgen dann noch zwei weitere, ein ›Venus‹- und ein ›Vulcan‹-Zyklus, bevor die Inkarnationsreihe der gegenwärtigen Welt endgültig endet und in ein großes pralaya ausläuft. Aus diesem geht dann, gemäß dem schon von Sinnett und Blavatsky her bekannten Muster, in ferner Zukunft eine neue Weltenkette hervor, auf die Steiner allerdings inhaltlich ebensowenig eingeht wie seine Vorgänger.

Zum Schluss seiner Darstellung entwickelt Steiner dann noch einige generelle Züge der künftigen Weltentwicklung, die in der Chronik so nicht vorkamen und die auch kein Vorbild in der theosophischen Literatur haben. Diese nehmen innerhalb der Geheimwissenschaft funktional eine ähnliche Rolle ein wie die apokalyptischen Texte in der Bibel und bilden somit eine Art geisteswissenschaftlichen Gegenpol zu jenen Teilen der Darstellung, die funktional der biblischen Schöpfungsgeschichte entsprechen.

Wie gestaltet sich nun diese ›anthroposophische Apokalypse‹ am Ende der Geheimwissenschaft? Ähnlich wie sich in der Johannesoffenbarung die Menschheit spaltet in eine Gruppe von ›Gefallenen‹, welche der Versuchung des ›Tieres‹ erliegen, und eine Klasse von ›Heiligen‹, sieht auch Steiner eine solche Aufspaltung: der eine Teil der Menschheit spiritualisiert sich zunehmend und bildet so eine höhere Menschheitsstufe aus, während der andere Teil hinter das bereits erreichte Menschheitsniveau zurückfällt. Die sich höher entwickelnde Menschheit sieht einer neuen Kulturepoche entgegen, welche sich dadurch auszeichnet, dass der physische Leib des Menschen ein exakter Ausdruck seiner geistig-moralischen Entwicklung sein wird. Die innere Entwicklung dieser Zukunftsmenschen, ihre Verbindung mit dem ›Christus‹, wird ihnen also wie den ›Heiligen‹ in der Johannesoffenbarung ›auf die Stirn geschrieben‹ sein (Off. 14:1), während die ›gefallene‹ Menschheit das ›Zeichen des Tieres‹ in ihrer Physiognomie trägt. Besonders die sechste nachatlantische Periode schildert Steiner als eine solche des Kampfes zwischen einer ›progressiven‹, sich spiritualisierenden Menschheit und einer ›regressiven‹, zunehmend ihre Menschlichkeit verlierenden.

Auf noch längere Sicht kommt es durch diese Geschehnisse in künftigen Weltzyklen dazu (also etwa auf ›Jupiter‹ und ›Venus‹), dass nach dem oben geschilderten kosmogonischen Prinzip des selektiven ›Zurückbleibens‹ bzw. ›Sich-Opferns‹ ein neues Naturreich zwischen dem Menschen und dem Tier entsteht. Auf dem künftigen ›Jupiter‹ führen die Nachfahren des jetzigen Menschen ein den Engeln gleiches Leben, d. h. sie haben keinen physischen Leib mehr und haben sich jenes Bilderbewusstsein angeeignet, welches derzeit den Engeln entspricht – dieses allerdings jetzt durch die irdische Errungenschaft des klaren Selbstbewusstseins bereichert. Nach dem ›Jupiter‹ folgen dann noch zwei weitere Weltperioden, diejenige der künftigen ›Venus‹ und die des ›Vulcan‹, auf welcher die Menschheit weitere Wesensglieder entwickeln und noch höhere Bewusstseinsformen ausbilden wird.

Innerhalb des allgemeinen Schemas der Welt- und Menschheitsentwicklung hebt die Geheimwissenschaft dann noch einige charakteristische Züge der vierten, fünften und sechsten nachatlantischen Periode besonders hervor. Die vierte (griechisch-römische) Epoche stellt sich einerseits als Tiefpunkt des Abstiegs der Menschheit in die materielle Welt dar, andererseits aber als diejenige, in welcher das für Steiner jetzt zentrale Ereignis der gesamten Erdentwicklung stattfindet: die Inkarnation des Christus und die dadurch geschaffene Voraussetzung eines Wiederaufstiegs der Menschheit zu geistigeren Entwicklungsstufen. In der Christentums-Schrift von 1902 hatte Steiner die Bedeutung des Christus-Ereignis im Wesentlichen nur im Hinblick auf die kognitiv-spirituelle Entwicklung des Menschen betrachtet; jetzt erscheint das ›Mysterium von Golgatha‹ als Angel- und Wendepunkt der gesamten Erdentwicklung, ja der Evolution des Kosmos überhaupt.

An der fünften Epoche wird besonders hervorgehoben, dass in dieser der geistig-kognitive Einweihungsweg ausgebildet wird, den Steiner im Kapitel über den ›Pfad der Erkenntnis‹ ausführlich schildert – im Gegensatz zu früheren Initiationsmethoden, unter denen Steiner eine ›christliche‹ und eine ›altindische‹ Einweihungstradition besonders hervorhebt. Zentrales Element der sechsten Epoche hingegen ist das Auftreten einer neuen Bewusstseinsform, und zwar derjenigen, welche nach Steiner das eigentliche Ziel der sechsten Weltepoche, des künftigen ›Jupiter‹ sein wird. Es ist dieses ein Wiederauftreten des für die atlantische Epoche (und für den ›lunaren‹ Weltzyklus) charakteristischen Bilderbewusstseins, welches aber jetzt in neuer Form auftritt, indem es die Klarheit und Wachheit jenes Gegenstandsbewusstsein, welches für den Menschen die eigentliche Errungenschaft der Erdentwicklung ist, in sich integriert hat. Dieses neue Bewusstsein ist also für Steiner eine Art des Träumens, durch welches aber nicht, wie beim gegenwärtigen Menschen, das klare Tagesbewusstsein ausgelöscht wird, sondern welches sich bei vollem Bewusstsein vollzieht.

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Auch am Ende dieses Durchgangs durch die Hauptgedanken der Kosmogonie in Steiners Geheimwissenschaft sei noch ein kurzer Blick darauf geworfen, in welcher Weise, ähnlich wie in der Chronik, auch hier im Medium der kosmogonischen Darstellung zu philosophischen Diskursen Stellung genommen wird. Dies ist am vorrangigsten der Fall im Hinblick auf den Freiheitsbegriff. Wie schon in den Akasha-Aufsätzen wird auch 1910 dieser Problematik im Zusammenhang mit der Darstellung des ›luziferischen‹ Einflusses besondere Beachtung geschenkt. Dabei ist die Argumentation im Wesentlichen dieselbe, aber interessanterweise bringt Steiner diesmal den Begriff der Freiheit zusätzlich in eine enge Verbindung mit demjenigen der Furcht. Das Einwirken der ›luziferischen‹ Wesen auf den Menschen hat jetzt eine zweifache Wirkung: Es bewirkt zum einen, wie schon in der Chronik, die Möglichkeit des Irrtums und dadurch der Freiheit, bringt aber den Menschen zugleich, und dieser Gedanke ist neu, in eine Situation der Ungewissheit gegenüber der Zukunft und bewirkt so die »Möglichkeit des Furchtgefühles«. »Die Furcht«, so formuliert Steiner, »ist eine unmittelbare Folge [der Möglichkeit] des Irrtums«.

Die Geheimwissenschaft thematisiert den Begriff der Freiheit dann noch einmal im Zusammenhang der Darstellung der altpersischen Kulturepoche. Wieder ist da von den ›luziferischen‹ Wesen die Rede; ihnen, so Steiner, »verdankt der Mensch seine persönliche Selbständigkeit und sein Freiheitsgefühl«. Nun hatte Steiner aber in seiner Philosophie der Freiheit die Freiheit in zweifacher Weise definiert. Einmal heißt es da, frei sei derjenige Mensch, welcher die Beweggründe seines Handelns selbstständig hervorbringt und sich somit die Richtung seines Handelns selbst vorschreibt. Gleichzeitig aber formulierte Steiner die zunächst entgegengesetzt klingende Aussage, dass die freie Handlung darin bestehe, dass sich das Individuum mit den allgemeinen Gesetzen und Tendenzen der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringt. Dieselbe Aporie war dann auch in der Theosophie von 1904 aufgetaucht. Auch hier hatte Steiner zunächst an den Freiheitsbegriff seines Frühwerks angeknüpft – und dann zugleich behauptet, der Mensch empfange die Richtung seines Lebens von geistigen Wesenheiten, den sogenannten ›Absichten‹, denen er im Zustand zwischen Tod und neuer Geburt begegne. Er hatte zudem (in internen Vorträgen) ausgeführt, dass das freie Handeln letzlich darin besteht, dass der Mensch konkrete Einsicht in die karmische Bedingtheit seines jeweiligen Wollens und Handelns gewinnt.

Diese Ambivalenzen des steinerschen Freiheitsbegriffs kommen auch in der Geheimwissenschaft deutlich zum Tragen. Nachdem nämlich Steiner dort einerseits formuliert, dass der Einfluss der ›luziferischen‹ Wesen ihn von der Einflussnahme der ›Mondgötter‹ auf sein Handeln befreit, schreibt er im nächsten Satz: »Es [das von den luziferischen Wesen bewirkte Freiheitsgefühl] soll aber in ihm im Einklange mit dem entgegengesetzten geistigen Wesen [d. h. den Absichten der ›Mondgötter‹] wirken«. Der Esoteriker Steiner mutet seinen Lesern also dasselbe Paradox zu, welches schon der Philosoph Steiner formuliert hatte: Freiheit zu denken als ein Handeln des Individuums, welches nicht bedingt ist durch die Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der ›äußeren Welt‹, zugleich aber mit diesen Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten voll im Einklang steht.

Wäre Luzifer nicht gekommen, so wäre der Mensch zwar früher zu dieser Stufe gelangt [auf der er in Übereinstimmung mit der Weltgesetzlichkeit handelt], aber ohne persönliche Selbständigkeit und ohne die Möglichkeit der Freiheit. Nunmehr aber sollte trotz dieser Eigenschaften der Mensch wieder zu dieser Höhe kommen (GU, 240).

Das Thema der Freiheit kommt dann im kosmogonischen Kapitel noch ein drittes Mal zur Sprache, und zwar ganz am Ende. Steiner stellt dort noch einmal die Frage, die er schon am Ende der Chronik gestellt hatte: Ist die Möglichkeit einer Erkenntnis zukünftiger Weltentwicklung mit der Idee der Freiheit vereinbar? Seine Antwort aber geht diesmal in eine etwas andere Richtung. Hatte er zuvor noch Argumente dafür gesucht, dass auch eine freie Tat vorhergesagt werden kann, so lässt er sich jetzt auf dieses Problem inhaltlich gar nicht ein und schreibt lapidar, dass ein »Vorausbestimmtsein der zukünftigen Gestaltung der Dinge« mit der Möglichkeit eines freien Handelns in eben dieser Zukunft durchaus vereinbar sei.

Neben dem Freiheitsdiskurs wird in der Geheimwissenschaft auch die Erkenntnisdebatte weitergeführt, die in der Philosophie Steiners eine so zentrale Rolle einnimmt. Wie schon in der Chronik ist auch 1910 diese Debatte wiederum in die Diskussion über die Rolle der ›luziferischen‹ Geister bzw. die Darstellung des sogenannten ›Sündenfalls‹ eingebettet. Sie beginnt aber im Grunde schon ganz zu Anfang des Kapitels, denn die Schilderung des ›Saturn‹-Zustandes kann in gewisser Hinsicht als ein in die esoterische Bildlichkeit gewendeter Diskurs über den Zusammenhang zwischen Sein und Erkennen verstanden werden. – Wie wird dieser ›Saturn‹ da nämlich geschildert? Bestimmte Wesen (die ›Geister des Willens‹) treten auf und projektieren ihr eigenes Innenleben in eine ihnen gegenüberstehende Außenwelt (in diesem Falle in den Wärmekörper des ›Saturn‹). Indem ihnen so das eigene Wesen von außen zurückgespiegelt wird, entwickeln diese Geister ein bestimmtes Bewusstsein. Dann aber macht Steiner deutlich, dass die Wärmesubstanz des ›Saturn‹, in der die Willensgeister sich spiegeln, selbst nichts anderes ist als eine Emmanation eben dieser Geister. Es ist diesen ›Weltschöpfern‹ also nicht nur die Spiegelung, die ihnen von außen entgegenkommt, Ausdruck ihres eigenen Wesens, sondern auch dasjenige Element, welches ihnen diese Spiegelung ermöglicht. Die ›Geister des Willens‹ und der ›Saturn‹-Körper sind also nicht wirklich zwei verschiedene Entitäten; der letztere ist nur eine andere Form der ersteren. Die Willensgeister erlangen ihr Bewusstsein, indem ihre eigene entäußerte Natur ihnen ihre Tätigkeit zurückspiegelt. Die Schilderung des frühen ›Saturn‹-Zustandes kann somit als eine in kosmogonische Bilder gefasste Entsprechung von Steiners Darstellung des menschlichen Erkenntnisprozesses in seinen philosophischen Schriften verstanden werden.

In der Geheimwissenschaft werden aber nicht nur die beiden grundlegenden Diskurse der steinerschen Philosophie, die Freiheitsfrage und das Erkenntnisproblem im Medium esoterischer Kosmogonie noch einmal aufgerollt. Ein ontologischer Diskurs scheint ebenfalls auf, allerdings mehr implizit als ausgesprochen. Innerhalb der verschiedenen philosophischen Positionen finden wir auf der einen Seite die idealistische Tradition von Platon bis Hegel (und mit ihr die traditionelle christliche Theologie und die platonische Tradition), nach denen Geist vor allem als Intelligenz, als Idee, als sich entfaltende Gedankenwesenheit anzusehen sei. Diese Position hatte wohl niemand prägnanter als Hegel in Worte gefasst, indem er Sätze wie die folgenden formulierte: »Das was ist, ist die Vernunft«. »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Dagegen hatten Fichte, Schelling und Schopenhauer (und zuvor auch schon Jakob Böhme) argumentiert, dass das allem Seienden zugrundeliegende Ur-Sein am besten als ›Wille‹ zu charakterisieren sei. Schelling hat dieser voluntaristischen Position in seiner Freiheitsschrift jene klassische Formulierung gegeben, die später auch Steiner aufgriff:

Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn und auf dasselbe allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden. (Schelling [1809], 419)

Im Gegensatz zu Steiners Frühwerk, welches starke platonische und hegelianische Tendenzen aufweist, scheint sich der Esoteriker Steiner in dieser Hinsicht auf den voluntaristischen Standpunkt hin bewegt zu haben. So beginnt die Weltschöpfung bei Steiner, wie oben skizziert, mit der Tätigkeit sogenannter ›Geister des Willens‹, welche die Substanz ihres Wesens (also ihren ›Willen‹) in den leeren Schoß des Kosmos ergießen und so die Weltschöpfung in Gang setzen.

Betrachtet man hingegen das Verhältnis von Denken und Wollen unter der Perspektive der steinerschen Idee vom ›Doppelstrom der Zeit‹, insbesondere in der Form, in der Steiner diese in der Allgemeinen Menschenkunde dargestellt hat, so kann es nicht länger darum gehen, ob nun das ideelle oder das intentionale Element des Geistigen ›höher steht‹ oder ontologisch ›ursprünglicher‹ ist. Denn von hier aus erscheinen beide gleich bedeutsam und gleichursprünglich, indem im Denken ein Einwirken von Vergangenheit und im Wollen ein Einfließen von Zukunft in die Gegenwart gesehen wird.

Wie aber immer es sich damit verhalten mag: der philosophische Idealist und Hegel-Verehrer Rudolf Steiner ist auch als Esoteriker in der Reihe jener westlichen Denker zu sehen und zu verstehen, welche die Welt und den Menschen nicht in einseitiger Weise vom Denken und vom Bewusstsein her zu begreifen suchten, sondern auch und besonders derer, die vom Willen, d. h. vom Vor- und Unbewussten her dieses Unternehmen angegangen sind – Böhme, Fichte, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Heidegger u. a. –, und die auf diese Weise das moderne Menschenbild nachhaltig geprägt haben.

[Die originalen Fußnoten wurden in dieser HTML-Fassung weggelassen.]

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