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Einleitung

Von Christian Clement

SKA 5 (2013), XXV-LXXV

Zu dieser Edition

Die Anthroposophie Rudolf Steiners (1861-1925) hat eine tiefgehende und globale Wirkung auf das geistige und gesellschaftliche Leben des 20. Jahrhunderts gehabt und übt diese auch weiterhin aus. In vielfältigen Praxisfeldern wie Waldorfpädagogik, biologisch-dynamischer Landwirtschaft, Christengemeinschaft oder anthroposophischer Medizin werden Steiners Ideen heute auf allen fünf Kontinenten praktiziert und sein Name ist einer breiten Öffentlichkeit ein Begriff. Auch als Philosoph und Goethe-Interpret hat Steiner sich einen, wenn auch nicht unumstrittenen, Namen gemacht, und als Esoteriker und spiritueller Lehrer hat er, nach dem Klappentext der bisher umfassendsten kritischen Gesamtdarstellung anthroposophischer Theorie und Praxis, die »wichtigste esoterische Gemeinschaft der europäischen Geschichte« ins Leben gerufen.

Obwohl aber Anthroposophie im kulturellen, intellektuellen und spirituellen Leben der Gegenwart unzweifelhaft eine bedeutsame Rolle spielt, steht der Forschung bisher keine wissenschaftlich-kritische Ausgabe ihrer theoretischen Grundlagentexte zur Verfügung. Im Rahmen der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), die von der Nachlassverwaltung in Dornach herausgegeben wird, ist zwar der größte Teil des steinerschen Textkorpus mittlerweile erfasst und publiziert, doch handelt es sich dabei, wie die Herausgeber ausdrücklich betonen, »um eine reine Leseausgabe und nicht um eine kritische Edition«. Dies zeigt sich vor allem in der Nichtberücksichtigung der verschiedenen Bearbeitungsstufen von Steiners Texten, in der selektiven und binnenanthroposophischen Art der Kommentierung und in dem Verzicht auf eine historische und biographische Kontextualisierung der Texte. Angesichts eines gerade in jüngster Zeit zunehmenden öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses an der Anthroposophie muss das Fehlen einer kritischen Textgrundlage als schmerzlich angesehen werden; umso mehr als Steiner seine Monographien in immer neuen Auflagen vielfach umgearbeitet hat und in dieser Entwicklung seiner Texte ein wertvolles Zeugnis seiner eigenen intellektuellen Entwicklung hinterlassen hat. Die bisherigen Ausgaben machen diese Entwicklung in der Regel nicht transparent und erzeugen so die Fiktion eines autoritativen anthroposophischen Lehrtextes, wo bei Berücksichtigung der Textentwicklung ein im ständigen Fluss befindliches, auf immer neue Weise mit der sprachlichen Form ringendes und auch inhaltlich sich selbst revidierendes Denken offenbar wird.

Bisher musste, wer diese Entwicklung der steinerschen Texte detailliert nachvollziehen wollte, mit mehreren (im Fall von Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten nicht weniger als neun) und oft nur schwer beschaffbaren Originalausgaben arbeiten. Diesem Umstand wird durch die mit dem vorliegenden Band beginnende Kritische Ausgabe (SKA) abgeholfen. Indem der kritische Apparat eines jeden Bandes sämtliche in den verschiedenen Neuauflagen auftauchenden inhaltlichen und orthographischen Textänderungen dokumentiert, lässt sich die Entwicklung von Steiners Denken und Sprachstil nicht nur durch die Folge seiner verschiedenen Veröffentlichungen, sondern auch durch die Entwicklungsstadien einer jeden Einzelschrift detailliert nachvollziehen. Ausführliche Einleitungen und ein Stellenkommentar kontextualisieren die jeweiligen Schriften im Rahmen von Steiners Gesamtwerk und geben durch vollständige Dokumentation sämtlicher Fremdzitate im Originalwortlaut Einblick in Steiners Quellen und Zitierpraxis. So wird ein neuer Editions-Standard gesetzt, an dem sich die künftige Anthroposophieforschung zu orientieren haben wird.

Der erste ernsthafte Versuch einer kritischen Edition eines anthroposophischen Standardwerkes war die Studienausgabe der Theosophie, die Daniel Hartmann im Jahre 2004 herausgegeben hat. Hartmann hat durch synoptische Darstellung der sechs verschiedenen Druckfassungen dieser grundlegenden Schrift zum ersten Mal deren Textentwicklung in ihrer ganzen Breite nachvollziehbar gemacht und dadurch gezeigt, welchen Gewinn ein solcher auflagenübergreifender Zugang für das Studium der Texte Rudolf Steiners bringen kann. Diese Pioniertat wurde denn auch zur Inspiration für die vorliegende Kritische Ausgabe, welche die Textentwicklung ebenso transparent macht wie die Edition Hartmanns, jedoch ohne dabei den Text wie diese durch eine synoptische Darstellung so zu fragmentarisieren, dass er beinahe unleserlich wird. So wird ein ästhetisch ansprechender Lesetext geboten, welcher in einem übersichtlichen Fußnotenapparat alle inhaltlichen und orthographischen Wandlungen der Schriften auf einen Blick zugänglich macht und auch sonst allen Anforderungen an eine moderne wissenschaftlich-kritische Textausgabe gerecht wird. Sie versteht sich nicht als Konkurrenz, sondern als notwendige Ergänzung zur GA (welche im Hinblick auf Steiners Gesamtwerk weiterhin unverzichtbar sein wird) ‒ und zugleich als Grundlage einer künftig anzugehenden historisch-kritischen Edition.

 

Die SKA ist zunächst auf acht Bände angelegt, welche alle maßgeblichen Schriften Steiners bis 1910 umfassen. Sie bietet somit diejenigen Texte, anhand derer sich die Entstehung der Anthroposophie von ihren keimhaften Anfängen im Rahmen der steinerschen Goethe-Deutung ab 1884 bis zur ersten systematischen Gesamtdarstellung in der Geheimwissenschaft von 1910 nachvollziehen lässt. Zudem sind die Texte so angeordnet, dass thematisch zusammengehörige Schriften so weit wie möglich in einem Band erscheinen. So wird ein textübergreifender und epochenorientierter Zugang zu Steiners Denken angeregt und erleichtert:

Band 1: Schriften zur Goethe-Deutung

Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1884-1897), Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung (1886)

Band 2: Philosophische Schriften

Wahrheit und Wissenschaft (1892), Die Philosophie der Freiheit (1894)

Band 3: Intellektuelle Biographien

Friedrich Nietzsche (1895), Goethes Weltanschauung (1897)

Band 4: Schriften zur Geschichte der Philosophie

Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert (1900/01), Die Rätsel der Philosophie (1914)

Band 5: Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte

Die Mystik (1901), Das Christentum als mystische Tatsache (1902)

Band 6: Schriften zur Anthropologie

Theosophie (1904), Anthroposophie. Ein Fragment (1910)

Band 7: Schriften zur Erkenntnisschulung

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/05), Die Stufen der höheren Erkenntnis (1905-1908)

Band 8: Schriften zur Anthropogenese und Kosmogenese

Aus der Akasha-Chronik (1904-1908), Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910)*

* Zur erweiterten Konzeption der Edition auf 16 Bände siehe die Einleitung zu Bd. 1.

Unsere Entscheidung, diese Edition mit dem vorliegenden fünften Band zu beginnen, lässt sich mit der Sonderstellung begründen, welche Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und Das Christentum als mystische Tatsache im geschriebenen Werk Rudolf Steiners einnehmen. Zum einen sind diese Texte in besonderer Weise repräsentativ für den work-in-progress-Charakter von Steiners schriftlichem Oeuvre. Viele seiner veröffentlichten Schriften waren nicht von vornherein als Buchpublikation konzipiert, sondern gingen aus Aufsatzreihen, Artikelserien oder, wie im Falle von Mystik und Christentum, aus Vortragsreihen hervor, die erst nachträglich zu Monographien umgearbeitet wurden. Die so entstandenen Texte haben etwas von dem provisorischen, unabgeschlossenen Charakter des gesprochenen Vortrags bewahrt und entsprechen so der Fluidität eines Denkens, welches sich die genetisch-morphologische Betrachtung der Wirklichkeit nach dem Vorbild Goethes auf die Fahnen geschrieben hat. Besonders die Christentums-Schrift gewährt einen tiefen Blick in die Metamorphosen des steinerschen Denkens, indem hier neben den verschiedenen Buchfassungen auch die Mitschriften der Originalvorträge erhalten geblieben sind. Die in dieser Ausgabe zum ersten Mal unternommene textgenetische Präsentation dieser Schriften erscheint daher als eine von ihrem Inhalt und Anliegen her geforderte.

Die Schriften von 1901 und 1902 markieren zudem eine entscheidende Phase in Steiners intellektueller und spiritueller Entwicklung. Diese ist zum einen von einer ersten tieferen Auseinandersetzung mit dem Christentum geprägt, und zum andern von einer geistigen Annäherung an die Mystik. Letztere trat, wie das Inhaltsverzeichnis der Mystik-Schrift zeigt, in jenen Jahren in vielfachen Formen an Steiner heran: die mittelalterliche Gedankenmystik Eckharts, Taulers und Seuses beschäftigte ihn ebenso wie die paracelsische Naturmystik des 15. Jahrhunderts, der Weigelianismus, die Theosophie Jakob Böhmes und die poetische Mystik eines Angelus Silesius. Zugleich fand eine vertiefte Auseinandersetzung mit der von Helena Petrowna Blavatsky inaugurierten anglo-indischen Theosophie statt, der er zunächst ablehnend gegenübergestanden hatte, in der er sich aber nun in zunehmendem Maße engagierte und deren prominentester deutscher Vertreter er bald wurde. Diese Wandlung des früheren Bearbeiters von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und Bewunderers der Schriften Nietzsches und Haeckels zum Mystiker, ja zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und schließlich zum Begründer und Führer der anthroposophischen Bewegung wurde und wird bis heute von vielen als radikaler und schwer nachvollziehbarer Bruch wahrgenommen. Steiner und seine Apologeten hingegen haben stets insistiert, dass diese Wandlung weniger als ein Bruch denn als organische Entwicklung zu verstehen sei, und die kontrovers geführte Diskussion um die Kontinuitätsfrage ist seit jeher ein Brennpunkt der Anthroposophie-Debatte. Indem die hiermit vorgelegten Texte in dieser kritischen Phase von Steiners geistiger Entwicklung entstanden sind, können und müssen sie Ausgangspunkt einer jeden Behandlung dieses Themenkreises sein. Sie dokumentieren, welche neuen Gedankenwege Steiner nach der Jahrhundertwende ging, und in welchem Maße auch auf diesen neuen Wegen die zentralen Motive des Frühwerkes weiterhin richtungsweisend waren.

Ein dritter Aspekt bei der Entscheidung für diesen fünften Band als Einstieg in die Reihe war die Tatsache, dass diese Schriften ausführlich auf theologische, christentumskulturelle und christologische Fragen eingehen, die innerhalb der akademischen Welt deutlich mehr Resonanz gefunden haben als andere Aspekte der Anthroposophie. Steiners Christologie ist historisch und systematisch innerhalb der Anthroposophie von kaum zu überschätzender Bedeutung und die Texte des vorliegenden Bandes sind diejenigen innerhalb des Gesamtwerkes, die zu konsultieren sind, wenn man ihre Genese verstehen will. An ihnen lässt sich studieren, inwieweit diese Christologie und die Anthroposophie insgesamt in Steiners Auseinandersetzung mit der anglo-indischen Theosophie entstanden und in welchem Maße sie in den spirituellen und intellektuellen Traditionen des Abendlandes wurzeln − Fragen, die im aktuellen Diskurs um die Anthroposophie ebenfalls äußerst umstritten sind.

Die Gründe dafür, dass Mystik und Christentum hier in einem Band zusammengefasst erscheinen, ergeben sich aus deren äußerer und innerer Affinität. Beide Texte gingen aus Vortragsreihen hervor, die Steiner in den Jahren 1901 und 1902 auf Einladung einflussreicher Theosophen vor einem überwiegend theosophischen Publikum in Berlin gehalten hatte. In ihnen werden in einem großangelegten Wurf die Grundzüge einer Morphologie des europäischen Bewusstseins von der Antike bis in die Neuzeit skizziert, in der sich mystisch-religiöses und empirisch-wissenschaftliches Erkenntnisstreben als Geschwister darstellen, die aus einer tiefen inneren Verwandtschaft heraus in der Neuzeit nach einer Synthese streben. Die beiden Texte stellen somit ein zusammenhängendes Ganzes dar, in dem sich die konzeptionellen Umrisse der später ausgebildeten Anthroposophie bereits deutlich abzeichnen. Schon hier wird diejenige Methode angewendet, die Steiner später als wesentliches Charakteristikum anthroposophischen Forschens bezeichnete, nämlich die Weiterbildung der phänomenologisch-morphologischen Methode Goethes durch deren Anwendung auf Seelisches und Geistiges:

Wer den Gedanken der Umbildung nicht nur der sinnlich-anschaulichen Formen − bei der Goethe in Gemäßheit seines besonderen Seelencharakters stehen geblieben ist −, sondern auch des seelisch und geistig Erfassbaren sich zugänglich macht, der ist bei der Anthroposophie angelangt. (GA 36, 336)

Wie Goethe versucht hatte, die Mannigfaltigkeit der pflanzlichen und tierischen Organe auf eine Grundgestalt zurückzuführen, so unternahm Steiner hier den Versuch einer morphologischen Rückführung der verschiedenen Formen des sich entwickelnden Bewusstseins − Mythos, Philosophie, Religion, Mystik, Kunst und Wissenschaft − auf eine einzige geistig-seelische Grundgestalt. Dieses Urphänomen, diesen ›Proteus‹ aller menschlichen Vorstellungsbildung, sah er in der Selbsterfahrung des Geistes im Denk-Erlebnis bzw. im Ich-Erlebnis des Menschen. Die in diesem Band vorgelegten Schriften sind somit gedankliche Fenster, durch die sich die Genese und die erste praktische Anwendung dieses Grundgedankens und damit in gewisser Hinsicht der Geburtsakt der Anthroposophie beobachten lässt. Wer Steiner und das anthroposophische Denken gemäß der ihm eigenen morphologischen Signatur verstehen will, findet hier einen geeigneten Ausgangspunkt.

 

 

Quellen, Methoden und Forschungslage

Hinsichtlich der Quellen Steiners für die Schriften von 1901 und 1902 sowie seines methodischen Umgangs mit denselben bestehen eine Reihe von Eigentümlichkeiten bzw. Schwierigkeiten. So trat Steiner hier einerseits als Gelehrter auf, der historisch greifbare Texte und Autoren bespricht und sachlich deutet; andererseits nahm er, zumindest im biographischen Rückblick, für sich in Anspruch, in diesen Büchern vor allem über seine eigene mystische Erfahrung zu sprechen und die jeweils besprochenen Denker und Theoreme nur zur Illustration anzuführen. Zu dieser konzeptionellen Ambivalenz kommt die Tatsache, dass Steiner in seiner Darstellung nicht sauber auseinandergehalten hat, wo er Gedanken anderer referiert, zitiert, paraphrasiert oder interpretiert, und wo er seine persönlichen Innenerfahrungen und Ansichten mitteilt. Weite Passagen, die sich wie Steiners eigene Gedankenentwicklung lesen, erweisen sich beim Quellenstudium als unausgewiesene Paraphrasen der von ihm benutzen Sekundärliteratur. Bisweilen finden sich gar wörtliche Zitate, die in keiner Weise als solche ausgezeichnet sind.

Hinzu kommt, dass Steiner sich mit dem antiken Mysterienwesen einem Bereich der Altertumswissenschaft näherte, zu dem es zu seiner Zeit kaum verlässliche Quellen gab und für deren Bearbeitung er das nötige philologische Rüstzeug nicht besaß. 1883 war er ohne Abschluss von der technischen Hochschule in Wien abgegangen und hatte in den folgenden Jahren bis zur Jahrhundertwende im Wesentlichen über Goethe und die Philosophie und Naturwissenschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts publiziert. Nun aber bewegte er sich auf dem Felde klassischer, hellenistischer, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur, ohne dass er die entsprechenden griechischen und lateinischen Texte im Original hätte lesen können. So kann es nicht überraschen, wenn die in unserem Stellenkommentar vorgelegte Dokumentation der steinerschen Zitierpraxis zeigt, dass seine Kenntnisse über diese Epochen und Autoren sowie sein Zitatenschatz aus einer relativ kleinen Sammlung einschlägiger Gesamtdarstellungen stammten. Mehr als 50 Zitate hat er Otto Willmanns Geschichte des Idealismus entnommen und diese oft in derselben Reihenfolge in seine Darstellung eingefügt, wie sie sich in seiner Vorlage finden. Ähnliches gilt für den Umgang mit Zitaten aus den Arbeiten von Albert Stöckl, Otto Pfleiderer, Eugen Kühnemann, Carl du Prel, Moriz Carriere, August Gladisch, Richard Lepsius, Hans Martensen, Wilhelm Preger und Rudolf Seydel (vgl. Abt. I des Literaturverzeichnisses).

Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachliche Distanz zum Gegenstand im Sinne der damals und heute allgemein anerkannten Standards wissenschaftlichen Arbeitens waren also Steiners Sache nicht. Dabei war es keineswegs so, dass er diese Standards nicht gekannt oder beherrscht hätte; dies zeigen seine auch vom Fachpublikum allgemein anerkannten ersten Arbeiten über die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. In den späteren Bänden seiner Goethe-Ausgabe jedoch beherzigte er diese Standards immer weniger und der Stil seiner Veröffentlichungen offenbart eine zunehmende Abkehr vom um Objektivität und Distanz bemühten Wissenschaftsideal der akademischen Welt. Zum einen war ihm in der Arbeit mit Goethe dessen morphologische Betrachtungsart zum Vorbild geworden, ein Denken also, in welcher sich das Erkennen seines Objekts nicht anhand des abstrakten Begriffs zu bemächtigen versucht, sondern sich diesem geistig-seelisch anzuverwandeln bestrebt ist. Zum andern neigte er in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende zunehmend zu einem von Stirner und Nietzsche inspirierten radikalen Individualismus, der dem wissenschaftlichen Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit gegenüber skeptisch war. Das Geistige, so heißt es oft in den Texten dieser Zeit, sei nur in seiner individuellen, persönlichen Erscheinungsform im Menschen wirklich und lebendig; im abstrakten wissenschaftlichen Begriff hingegen ersterbe es zum bloßen Schatten seiner selbst. Drittens ergab sich Steiners Methode der Interpretation durch Selbstprojektion aus der mystischen Grundhaltung selbst: Wer das menschliche Innere als denjenigen Bereich ansieht, in dem allein das Wesen aller Dinge sich offenbart, der ist schließlich nur konsequent, wenn er dieses Wesen auch dann aus dem eigenen Ich zu ziehen sucht, wenn er die Manifestation dieses Wesens im Denken anderer Persönlichkeiten darzustellen unternimmt. In den Schriften von 1901 und 1902 ging es Steiner also nicht um eine historisch und philologisch abgesicherte Darstellung der verschiedenen Autoren, Strömungen und Epochen der Mystik, sondern um eine bewusst subjektiv-persönlich gefärbte und im Sinne goethescher Morphologie angelegte Betrachtung verschiedener Gestaltungen dieses Wesens im menschlichen Bewusstsein. Ziel dieser unverkennbar an Hegels Phänomenologie des Geistes angelehnten Unternehmung war, das zentrale Postulat von der Bedeutung der Selbst-Erkenntnis als Ursprungsort der innerhalb der Kulturentwicklung auftretenden Jenseits- und Naturvorstellungen zu illustrieren und zu legitimieren.

In der bestehenden Forschungsliteratur zu Mystik und Christentum ist der angedeuteten bewusstseinsphilosophischen Dimension dieser Schriften bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Vielmehr richtete sich das Interesse von Kritikern und Apologeten fast ausschließlich auf Steiners provokative Deutung des Christentums und des Christus. Dies kann nicht überraschen; waren doch mit Steiners Äußerungen zu diesen Themen Kernfragen des christlichen Selbstverständnisses angesprochen und die Theologie musste sich zu einer Antwort aufgerufen fühlen. In der kulturkämpferisch aufgeheizten Debatte um die theologischen Implikationen der Texte fielen deren philosophische und wissenschaftstheoretische Aspekte zwangsläufig unter den Tisch.

Eine ausführliche Sichtung dieser umfangreichen Literatur kann nicht Aufgabe dieser Einleitung sein, doch zumindest auf einige Meilensteine der Debatte sei kurz verwiesen. Den ersten umfassenden Versuch einer eingehenden systematischen Darstellung bzw. Rekonstruktion von Steiners Christologie legte 1955 Klaus von Stieglitz in seiner Dissertation Die Christosophie Rudolf Steiners vor. Diese Studie hat an Sorgfalt und Umfang lange keine ebenbürtigen Nachfolger gefunden und erst in jüngerer Zeit sind vergleichbar umfassende Arbeiten entstanden. Eine davon ist Werner Thiedes Untersuchung zum Begriff des »kosmischen Christus« in der modernen Theologie, in der Ursprung und Entwicklung dieses Begriffes bei Edouard Schuré, Annie Besant und Rudolf Steiner dargestellt werden. Thiedes Arbeit war u. a. dadurch bedeutsam, dass sie den bereits bei von Stieglitz formulierten Begriff der »Anlassgebundenheit« aufnahm und die Entstehung von Steiners Christologie im Kontext innertheosophischer Auseinandersetzungen darstellte. Diesen Ansatz hat dann Helmut Zander in seiner umfangreichen Arbeit über Anthroposophie in Deutschland (2007) aufgegriffen und weitergeführt, indem er Steiners Äußerungen zur Christologie als taktische Schachzüge im innertheosophischen Machtkampf auslegte: Steiner habe sich die Inhalte seiner esoterischen Lehre zwischen 1902 und 1913 nach und nach aus der neotheosophischen Literatur (Blavatsky, Sinnett, Leadbeater, Besant) angeeignet und dann als Ergebnisse des eigenen geistigen Forschens ausgegeben. Auch habe er sich dieser Inhalte strategisch bedient, um einen Bruch mit der theosophischen Orthodoxie herbeizuführen, der ihn dann erwartungsgemäß als unanfechtbaren Führer an die Spitze der theosophischen Bewegung in Deutschland katapultiert habe. Durch solche Manöver seien jedoch viele Brüche im Denken Steiners entstanden, die dieser dann im Nachhinein durch Revision seiner früheren Schriften zu verschleiern gesucht habe.

Auf diese Deutung folgte 2009 mit Zanders Erzählungen eine Replik Lorenzo Ravaglis, die zu zeigen versuchte, dass Zanders kompromittierende Deutungen sowie seine Darstellung Steiners als eines von Machtinteressen getriebenen, intellektuell unredlichen Opportunisten einer kritischen Prüfung im Lichte der historischen Fakten und Texte nicht standhalten. Ravagli argumentierte, dass Steiners eigene Darstellung der Quellen seiner Esoterik durchaus plausibel sei und dass seine Gedankenentwicklung um die Jahrhundertwende keinen Bruch gegenüber seinem philosophischen Frühwerk darstelle, sondern eine konsequente Weiterbildung desselben. Die begrifflichen Formen, in die Steiner nach 1900 die Inhalte seiner Esoterik gekleidet habe − einschließlich Reinkarnation, Wesensgliederlehre, Kosmogonie und Schulungsweg − seien nicht der an indischen Geistestraditionen orientierten neotheosophischen Literatur entnommen, sondern auf der Grundlage eigener mystischer Erfahrung und in Auseinandersetzung mit der westlichen Geistestradition entwickelt worden.

Indem die Veröffentlichungen Zanders und Ravaglis die umfassendsten Analysen zur steinerschen Christologie in der jüngsten Literatur darstellen, werden sie, trotz ihrer methodischen Schwächen und unübersehbaren Voreingenommenheit, im Folgenden verschiedentlich als repräsentative Positionen herangezogen werden. Dabei muss im Auge behalten werden, dass Zander prinzipiell eine schwächere Argumentationsbasis hat, da er, anders als Ravagli, die textliche Urgestalt der Christentums-Schrift, d.h. die Mitschriften der 1901/1902 gehaltenen Vortragsreihe, nicht berücksichtigt hat. Manche Fragen um die Kontinuität von Steiners Denken und um den Grad seiner Involvierung in die Theosophie um die Jahrhundertwende, besonders auch seine damalige Haltung zur Reinkarnationsfrage, klären sich aber nur dann, wenn man diese Texte heranzieht. Daher soll weiter unten unter ›Textentwicklung‹ sowie im Stellenkommentar zumindest auf einige zentrale Aspekte dieser Mitschriften hingewiesen werden. Bevor wir uns aber der Genese unserer beiden Schriften näher zuwenden, seien zunächst deren zentrale Inhalte und Kontexte kurz umrissen.

Inhalte und Kontexte

Ungeachtet der Tatsache, dass sich in den Schriften von 1901 und 1902 mancher interessante und sogar provokative Einzelgedanke findet, geht es nach Rudolf Steiners eigener Bekundung in beiden Texten weniger um Inhalte als um Methoden, weniger um einzelne Deutungen und Einsichten als um bestimmte Denk- und Erkenntnishaltungen. Obwohl Steiner hier gewissermaßen im neuen Gewand des Philologen und Literaturhistorikers auftritt, ist sein grundsätzliches Erkenntnisinteresse weiterhin ein philosophisches. Seine Interpretation einzelner Mythen etwa bezeichnete er als exemplarische Studien, anhand derer er versuchte (wie vor ihm Schelling in seiner Philosophie der Mythologie), »das Prinzip der Mythenbildung“ (CM, 77) im menschlichen Bewusstsein offenzulegen. Und in einem Brief an Wolfgang Kirchbach vom 2. Oktober 1902 erklärt er über sein Mystikbuch, er habe darin nicht eine philologisch akkurate Darstellung einzelner Mystiker und Texte geben wollen, nicht eine »Geschichte der Mystik«, sondern die Darstellung einer »Erkenntnis-Gesinnung«, einer geistigen Signatur, welche alle in der Schrift behandelten Denker verbinde.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diese von Steiner postulierte allgemeine ›Signatur‹ abendländischer Mystik in vieler Hinsicht diejenige seiner eigenen philosophischen Frühschriften ist, welche durch seine Goethe-Studien und seine intensive Rezeption Fichtes geprägt sind. In diesen Texten hatte er immer wieder betont, dass eine wirklichkeitsgemäße Erkenntnis nicht allein durch gedankliche Verarbeitung und Deutung sinnlicher Beobachtungen erworben werden könne, sondern dass zu diesem »sinnlichen« Erkennen eine völlig andere Art des Denkens und Wahrnehmens hinzukommen müsse. Ein »höheres«, »übersinnliches« Bewusstsein müsse entfaltet, ein neues »Organ« erschlossen werden, dessen Inhalte nicht einfach »gegeben« seien, wie diejenigen der sinnlichen Wahrnehmung, sondern die in energischer geistig-seelischer Selbsterziehung erst innerlich hervorgebracht werden müssten. Zu diesem höheren Bewusstsein sei die Menschheit insgesamt derzeit erst noch unterwegs, doch könne es durch seelisches und geistiges Üben vom Philosophen bzw. Mystiker schon jetzt, gewissermaßen als bewusstseinsevolutive Frühgeburt, bewusst hervorgebracht werden. Dieses grundlegende Postulat eines im Menschen als Potential schlummernden, nicht auf sinnlichen Inhalten beruhenden ›höheren‹ Bewusstseins verbindet nach Steiners Auffassung seine eigene Philosophie mit so disparaten Geistesströmungen wie Platonismus und Neuplatonismus, der mittelalterlichen Mystik, mit Cusanus, Paracelsus und Böhme, mit den Anschauungen Goethes und Schillers und dem Idealismus eines Fichte, Schelling und Hegel.

Dieses mystische Grundpostulat sah Steiner eng verbunden mit einem zweiten: Dass nämlich einem solchen ›höheren‹ Bewusstsein nicht nur das Wirkliche, sondern der Grund des Wirklichen selbst – der ›Gott‹ der religiösen Traditionen, Jakob Böhmes ›Ungrund‹, das ›Absolute‹ Fichtes oder Hegels − sich unverhüllt mitteile. Ja noch mehr, in solch höherem Erkennen erweise sich dieser Grund als von der ihn erkennenden Tätigkeit des Menschen nicht getrennt, sondern als mit dieser wesenseins und somit in gewisser Weise sogar von ihr abhängig. In der mystischen Erfahrung werde erlebt, so Steiner, dass die Entfaltung Gottes in der Welt letztlich in die Verantwortlichkeit des erkennenden Menschen gestellt ist. Daher laufe das Denken all der in der Mystik-Schrift behandelten Geister, wie auch sein eigenes, auf eine Philosophie der Freiheit hinaus. In dieser wird das freie, sich selbst erkennende menschliche Denken (bzw. das aus solchem Erkennen erfließende freie Handeln) als derjenige Ort verstanden, an dem allein der Grund des Seins sich selbst in vollem Sinne verwirklichen bzw., wie unser Autor in Anlehnung an Eckhart, Böhme und Schelling formuliert, sich kontinuierlich selbst »gebären« kann. Für den konsequent denkenden Mystiker tritt somit nach Steiner, ähnlich wie in der Philosophie Nietzsches, der freie Mensch an die Stelle Gottes; nicht indem er dessen Existenz ableugnet und sich selbst absolut setzt, sondern indem er durch sein eigenes freies Denken und Handeln dem evolutiven Selbstschöpfungsprozess des ›Absoluten‹ oder ›Göttlichen‹ in der Welt die notwendige Grundlage zur Verfügung stellt.

Diese Idee einer letztlichen Identität von ›Welt‹ und ›Ich‹, von Sein und Bewusstsein und das Verständnis der menschlichen Freiheit als Vollzugsort der Selbstschöpfung des Weltwesens: das waren die aus dem deutschen Idealismus rezipierten zwei »Wurzelgedanken« (Vorwort zur Neuauflage der Philosophie der Freiheit) von Steiners philosophischem Frühwerk. Diese Ideen hatte er vor der Jahrhundertwende mit dem naturwissenschaftlichen Monismus Haeckels zu verbinden gesucht; und nun, in den Schriften von 1901 und 1902, suchte er sie in den verschiedenen mythischen, mystischen, religiösen und philosophischen Gedankengestaltungen der abendländischen Geistesgeschichte wiederzufinden. Dies tat er in Anknüpfung an die naturwissenschaftliche Methode Goethes, indem er nämlich die in Mystik und Christentum behandelten Gedankengestalten wie in einer morphologischen Versuchsreihe so anordnete, dass sich in ihrer Betrachtung die oben beschriebene Signatur als das zugrunde liegende Formgesetz der menschlichen Bewusstseinsentwicklung abzeichnet. Wie Goethe in seinen botanischen Studien verschiedene Pflanzenorgane in Reihen angeordnet hatte, um der Einbildungskraft des Betrachters im morphologischen Durchgang durch diese Reihe die grundlegenden Bildungsgesetze der Pflanzenwelt anschaulich werden zu lassen, so ordnete Steiner hier ideelle Phänomene in einer Versuchsreihe an, in deren Betrachtung sich die Selbsterkenntnis des Weltgrundes im Menschen als das aller menschlichen Vorstellungsbildung zugrunde liegende Urphänomen erweisen sollte. Im Lichte dieser Urtatsache des Bewusstseins sollte eine Verbindung von Mystik und Wissenschaft, wie Anthroposophie sie anstrebt, als natürliches telos abendländischer Geistesentwicklung erscheinen.

 

Zum Kontext der Schriften von 1901 und 1902:

die Idee einer Synthese von Mystik und Wissenschaft

Ein zentraler konzeptioneller Bezugpunkt für die Darstellung dieser bewusstseinsevolutiven Grundkonzeption in den Schriften von 1901 und 1902 ist Steiners Verständnis von Mystik und vom Verhältnis des mystischen Erlebens zum wissenschaftlichen Erkennen. Ausdrückliches Ziel dieser Texte ist, die mystische Erfahrung selbst, unter bestimmten Voraussetzungen, als den Anforderungen wissenschaftlichen Erkennens genügend auszuweisen. Durch einen glücklich erhaltenen Brief aus dem Jahre 1881 wissen wir, dass Steiners Auseinandersetzung mit dieser Frage schon in frühester Jugend einsetzte. Damals schrieb er an seinen Jugendfreund Joseph Köck:

Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ›Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.‹ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben − geahnt habe ich es ja schon längst − ; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund! (GA 38, 13)

Obwohl aber die beschriebene Jugenderfahrung ein klassisches Beispiel ›mystischer‹ Erfahrung darstellt (und obwohl Steiner, wenn man dem Zeugnis Edouard Schurés Glauben kann, zu dieser Zeit schon Kontakt zu einem spirituellen ›Meister‹ hatte, der ihn in ein mystisches Weltverständnis einweihte), zögerte er lange, seine inneren Erlebnisse mit ›Mystik‹ zu identifizieren. Statt dessen versuchte er zunächst, wie der oben zitierte Brief zeigt, seine Innenerfahrung im Kontext schellingscher Philosopheme zu verstehen. Später fand er bei Fichte, Hegel und Goethe Formulierungen, in die hinein er seine eigenen Erkenntniserlebnisse projizieren konnte.

Erst als Steiner in der Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Vorstellungen Goethes ab 1882 seine philosophischen Vorstellungen systematisch ausarbeitete, räumte er strukturelle Ähnlichkeiten zwischen diesen und der traditionellen Mystik ein. Wie der Mystiker, so heißt es in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, müsse auch derjenige, der die Natur mit den Augen Goethes betrachte, »die Wahrheit nicht als etwas in der Außenwelt vorhandenes« auffassen, sondern »als etwas, das sich im Innern des Menschen […] ergreifen lässt.« Aber trotz solcher Einsichten verwendete Steiner auch in dieser Zeit die Stichworte ›Mystik‹ und ›Mystizismus‹ vor allem negativ, als Synonyme gedanklicher Unklarheit und diffusen Schwelgens im Gefühlshaften. In seinen Briefen finden sich Belege dafür, dass er den Mystik-Begriff selbst dann noch negativ besetzte, als er schon die enge Verwandtschaft zwischen traditionellen Beschreibungen der mystischen Erfahrung und der seiner eigenen Erkenntnistheorie zugrunde liegenden »Urtatsache des Innenlebens« (MA, 13) erkannt hatte. In einem Brief an Eduard von Hartmann vom 1. November 1894 bezeichnet sich Steiner kategorisch als »Feind aller Mystik«, räumt aber im selben Satz ein, dass in der von ihm in der Philosophie der Freiheit beschriebenen Tatsache − »dass wir im Denken eigentlich gar nicht mehr Einzelne sind, sondern ein allgemeines Weltleben mitleben« − möglicherweise der »logische Kern« aller Mystik zu suchen sei.

Erst in den Jahren 1898/99, also unmittelbar vor Abfassung der in diesem Band vorgestellten Schriften, lässt sich eine deutliche Identifikation Steiners mit der Mystik, freilich nur mit einer »richtig verstandenen« (MA, XVI), konstatieren. In dieser Zeit arbeitete Steiner intensiv an philosophiegeschichtlichen Abhandlungen, in denen er sich intensiver mit denjenigen Denkern und Texten auseinandersetzte, die später in Mystik und Christentum eine zentrale Rolle spielten: Heraklit, Platon, Plotin, die anonyme mittelalterliche Schrift Theologia Teutsch, Jakob Böhme und Angelus Silesius. Hier formulierte er auch zum ersten Mal die These von einem engen inneren Zusammenhang zwischen mystischem und naturwissenschaftlichem Erkennen. Der Mystiker, so sah es Steiner jetzt, neige dazu, sich ganz an seine Innenerfahrung hinzugeben und gerate so in die Gefahr, das Interesse an der äußeren Natur völlig zu verlieren, obwohl diese letztlich eine Manifestation seines eigenen Wesens, gewissermaßen ein als Außenwelt erlebtes ›Ich‹ sei; der Naturwissenschaftler hingegen sei in der Gefahr, sich ganz an das Bild dieser als äußerlich erlebten Wirklichkeit hinzugeben und dadurch das Verständnis für das geistig und seelisch Wirkende in seinem eigenen Innern zu verlieren, obwohl dieses allein einen Zusammenhang seines Weltbildes mit seinem eigenen Selbst herzustellen vermag. So führten beide Richtungen zu einem toten Punkt, an dem der Erkennende sich an die ›innere‹ bzw. ›äußere‹ Hälfte einer von ihm selbst künstlich in zwei Teile zerrissenen Wirklichkeit klammert und ihm so das Ganze, das Wirkliche, das Leben durch die Finger rinnt. Wenn aber der Wissenschaftler seine empirischen Methoden nicht nur auf die in der Wahrnehmung gegebenen Bilder einer äußeren Natur, sondern konsequent auch auf die Tatsachen seines Innenlebens richte, und wenn andererseits der Mystiker nicht nur das Persönliche in seinem Innenleben, sondern auch die am äußeren Naturbild zu machenden objektiven Sinnesbeobachtungen zum Gegenstand eines vertieften inneren Erlebens mache; dann könnten beide Richtungen in einer mystisch vertieften Wissenschaft bzw. einer wissenschaftlich fundierten Mystik zusammenkommen, in welcher ›Inneres‹ und ›Äußeres‹ im Menschen wie in der Natur als Metamorphosen ein und desselben Wesens verstanden werden.

Indem diese dialektische Konzeption, welche in der Mystik-Schrift ihre erste umfassende Darstellung fand, Steiner schon vor der Jahrhundertwende klar vor Augen stand, bestätigt sich unsere oben formulierte These, dass die Schriften von 1901 und 1902 als fundamentale Untersuchung von Wesen und Entwicklung des Bewusstseins konzipiert waren und somit als keimhafte Darstellung der anthroposophischen Wissenschaftskonzeption gedeutet werden können. Dass Steiner selbst seine Schrift schon zur Zeit ihrer Abfassung in dieser programmatischen Weise verstand, zeigt sich in dem bereits zitierten Schreiben an Kirchbach. Dort heißt es:

Ich weiß, daß ich etwas Ähnliches wage wie einst Fritz Schultze, von dessen positiven Aufstellungen heute nichts mehr als richtig gilt, während das biogenetische Gesetz − vielleicht noch korrigiert − in alle Zukunft weiter­leben wird. (GA 39, 442 f.)

Fritz Schultze (1846-1908), ein neukantianisch geprägter Philosoph und Pädagoge, hatte in verschiedenen Schriften den Versuch unternommen, das von Haeckel aufgestellte biogenetische Grundgesetz, nach welchem die individuelle Keimesgeschichte eines biologischen Wesens eine geraffte Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung seiner Art ist, auf die psychologische und moralische Entwicklung des Menschen anzuwenden. In ähnlicher Weise versuchte Steiner in den vorliegenden Schriften das Grundprinzip der Entstehung menschlicher Vorstellungen in Analogie zur biologischen Evolution zu verstehen und somit ein dem ›biogenetischen‹ entsprechendes ›ideogenetisches‹ Entwicklungsgesetz zu entwerfen. Ein solcher Anspruch war nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte, denn schon in Steiners philosophischem Frühwerk war seine grundlegende Zielrichtung eine epistemologische gewesen, d.h. er hatte versucht, das jedem individuellen Erkenntnisakt zugrunde liegende allgemeine Prinzip des Erkennens zu ergründen und darzulegen. Vor diesem Hintergrund können die Schriften der Jahre 1901 und 1902 so verstanden werden, dass Steiner hier nun nicht mehr das allgemeine Grundprinzip des Erkenntnisaktes als solchem untersuchte, sondern das Prinzip der Entstehung von konkreten Vorstellungen im Verlauf der Kulturgeschichte. Man könnte dieses Prinzip verei nfachend auch das Gesetz von der Entstehung der menschlichen Gottes-, Jenseits- und Naturvorstellungen als verdinglichenden Projektionen der Selbst-Erfahrung nennen. Es geht davon aus, dass alle mystischen und naturwissenschaftlichen Vorstellungen (so in der Mystik-Schrift), aber auch alle mythischen, religiösen, künstlerischen und philosophischen Anschauungen (wie in der Christentums-Schrift angedeutet) ihren Ursprung letztlich in der einen »Urtatsache des Innenlebens«, in der mystischen Selbsterfahrung des Geistes im Menschen haben. Die Natur des Wissens selbst, so Steiner, führe das menschliche Bewusstsein an die Schwelle zur Einsicht in den Ich-haften Charakter allen Erkennens, und dieser Erfahrung seien die verschiedenen Spielarten von Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst, Mystik oder eben von Naturwissenschaft entsprungen, welche in der Geschichte des abendländischen Denkens aufgetreten sind, indem nämlich der Mensch das Wissen von seinem eigensten innersten Wesen als Wissen von einer Transzendenz aufgefasst habe, als Wissen von ›Gott‹, von der ›Idee‹ oder der ›Natur‹ (um nur die gängigsten Spielarten dieser Selbstveräußerung zu nennen). In den mannigfachen Weltanschauungen, Mythologien und Philosophien, so verschieden sie im Einzelnen sein mögen, sah Steiner somit verschiedene, gesetzmäßig beschreibbare Metamorphosen des einen Ur-Vorgangs der Projektion des ›Ich‹ in ein wie auch immer ausgestaltetes ›Nicht-Ich‹.

Dieses ideogenetische Gesetz in seiner strikt ideengeschichtlichen Anwendung hat Steiner später weiter ausgebaut und verfeinert, etwa in den Rätseln der Philosophie von 1914 und in den Anthroposophischen Leitsätzen von 1924/25. In seiner Ausweitung auf alle Gebiete des menschlichen Wissens hingegen wurde es zur grundlegenden Leitidee der Anthroposophie überhaupt, insofern diese sich selbst als Versuch einer umfassenden Dokumentation der Selbst-Erfahrung des Seinsgrundes im menschlichen (bzw. im steinerschen) Bewusstsein darstellt. Und so lassen sich die vorliegenden Schriften rückblickend als eine das philosophische Frühwerk ergänzende zweite methodische Grundlegung all dessen lesen, was Steiner ab 1904 als Theosoph und ab 1913 als Anthroposoph ausgearbeitet hat. Wurde die steinersche Esoterik in der philosophischen Arbeit mit Goethe und dem deutschen Idealismus gedanklich gezeugt, so werden wir in seiner Auseinandersetzung mit der Mystik Zeuge ihrer eigentlichen Geburt.

 

Zentrale Inhalte der Mystik-Schrift

Wendet man sich der Mystik-Schrift im Besonderen zu, so fällt zunächst die Art und Weise ins Auge, wie Steiner darin einen Zugang zu den verschiedenen Mystikern zu gewinnen sucht, indem er nämlich die in seinen philosophischen Frühschriften skizzierte eigene Innenerfahrung in die behandelten Denker hinein imaginiert. Schon die Einleitung des Buches entspricht konzeptionell der Philosophie der Freiheit von 1894: In einem ersten Teil wird die Idee entwickelt, dass in der Selbsterkenntnis des Menschen nicht nur das Wesen der individuellen Persönlichkeit, sondern das Wesen der Welt aufscheine. »Als geistiger Inhalt«, so heißt es hier, »kommt der innerste Kern der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben« (MA, 19). Im zweiten Teil hingegen wird diese erkenntnistheoretische Anschauung auf ethische Fragen angewandt und Steiner beschreibt das Wesen der Freiheit als ein Handeln auf der Grundlage eines inneren Erlebens, in dem das Ich sich mit dem Wesen der Welt eins weiß. Die Terminologie freilich ist eine neue: Was 1894 noch ›intuitives Denken‹ bzw. ›moralische Phantasie‹ hieß, firmiert nun als ›Wiedergeburt‹ bzw. ›Auferstehung‹ des Seinsgrundes in der menschlichen Selbsterkenntnis (MA, 20).

In ähnlicher Weise versucht Steiner in den folgenden Kapiteln über die mittelalterlichen Mystiker die zentralen Ideen seines Frühwerkes wiederzufinden und diese Denker somit als Vorläufer und Garanten seiner eigenen Anschauungen auszuweisen. In den Kapiteln über Agrippa von Nettesheim und Paracelsus hingegen sowie in den Abschnitten über Valentin Weigel und Jakob Böhme geht er deutlich über den Rahmen seiner Frühschriften hinaus, indem er über die paracelsische Wesensgliedertheorie referiert und somit zum ersten Mal das Thema einer esoterischen Anthropologie aufgreift, wie sie später in der Theosophie ausführlich entwickelt wird. Auch das Referat über die Prinzipienlehre Böhmes kann in mancher Hinsicht als Vorwegnahme einiger seiner später entwickelten Ideen zur Entwicklungslehre gelesen werden. Ferner scheinen andere Grundkonzepte späterer anthroposophischer Schriften keimhaft auf, etwa der ausgeprägte Panentheismus, der den Seinsgrund einschließende Evolutionsbegriff und die Deutung der künstlerischen Tätigkeit des Menschen als Fortsetzung des natürlichen Schöpfungsprozesses.

Das Buch endet mit einem »Ausklang«, in welchem Fichte und Hegel als die philosophischen, Darwin und Haeckel hingegen als die naturwissenschaftlichen Erben der europäischen Mystik interpretiert werden. Paracelsus, Böhme und die anderen Denker des Mittelalters und der frühen Neuzeit seien den Idealisten und naturwissenschaftlichen Monisten der Moderne darin verwandt, dass sie den ›Geist‹ bzw. das ›Göttliche‹ nicht ›draußen‹ in der Natur, sondern ›drinnen‹ im menschlichen Innern gesucht hätten. Hätten diese Mystiker all die Tatsachen gekannt, welche die moderne Naturwissenschaft mit ihren erweiterten Beobachtungsmitteln ans Licht gebracht hat, dann wären sie, so Steiner, gewiss überzeugte naturwissenschaftliche Monisten gewesen. Da ihnen aber nur die beschränkten Vorstellungen ihrer Zeit als Reflexionsfläche zur Verfügung standen, seien sie eben Mystiker, Alchimisten oder Theosophen geworden. Das Kapitel und somit das Buch als Ganzes schließt mit der Hoffnung, dass eine künftige Wissenschaft einmal die von den Mystikern geübte Vertiefung in das menschliche Innere mit dem an der empirischen Naturbeobachtung geschulten Blick für evolutive Vorgänge vereinen möge.

Eingeschoben in die verschiedenen Kapitel finden sich zahlreiche Exkurse, in denen Steiner die in der Schrift entworfene Konzeption einer ›Erfahrungswissenschaft des Geistigen‹ von den spiritistischen und mediumnistischen Strömungen abzugrenzten versucht, welche im wilhelminischen Deutschland der Jahrhundertwende großen Zulauf hatten und die, wie Steiner selbst, den Anspruch erhoben, das Geistige mit wissenschaftlichen Mitteln zu erforschen. Diesen Ansätzen wirft er vor, das Geistige mit den Mitteln der sinnlichen Wahrnehmung erkennen zu wollen und so letztlich einem spirituell verbrämten Materialismus zu verfallen, welcher den Geist als solchen gar nicht ins Auge fasst. Zwar wollte auch er, Steiner, das Geistige mit den Methoden der modernen empirischen Wissenschaft erfassen, doch bestand er darauf, dass die Organe einer solchen ›geistigen Empirie‹ völlig andere seien als die der sinnlichen. Und nur wenn der Mensch sich dieser Organe, welche er freilich in sich erst zu entwickeln habe, in der rechten Weise bediene, dann könne die mystische Methode der Wirklichkeitserforschung ebenso empirisch, methodisch und exakt sein wie die (natur)wissenschaftliche. So wird in diesen Exkursen das eigentliche Ziel der Mystik-Schrift ganz besonders deutlich: die methodologische Fundierung einer modernen aus mystischer Erfahrung schöpfenden Geisteswissenschaft, welche der modernen Naturwissenschaft gleichberechtigt zur Seite stehen, ja mit ihr eine Synthese eingehen kann. Ebenfalls deutlich werden aber auch die Widersprüche, die sich aus Steiners schwankendem Gebrauch zentraler Begriffe wie dem des »Geistes« ergeben und die einer gedanklichen Auseinandersetzung mit der Anthroposophie erhebliche Schwierigkeiten bereiten können.

 

Weitere Kontexte der Christentums-Schrift:

die Mysterienidee und die historische Bibelkritik

Auch in der Schrift von 1902 bleibt, wie vor allem das ursprüngliche Vorwort zeigt, das Thema des Verhältnisses von Mystik und Wissenschaft beherrschendes Thema. Allerdings tritt der Begriff der ›Mystik‹ als zentrale gedankliche Reflexionsfläche zurück hinter denjenigen des ›Mysteriums‹ bzw. die im Rahmen des Mysterienwesens angestrebte ›Initiation‹ oder ›Einweihung‹. Dieser Übergang ist zum einen historisch begründet, war doch das Mysterienwesen integraler Bestandteil derjenigen älteren Kulturen, die Steiner jetzt behandelte. Er ist aber auch systematisch gerechtfertigt, insofern Steiners Mystik-Begriff und sein Erkenntnis-Begriff, wie oben skizziert, die Initiationsvorstellung gewissermaßen implizieren. Die Vermittlung einer nicht nur informierenden, sondern verwandelnden Erkenntniserfahrung, wie Steiners philosophische Frühwerk sie zu entwickeln versuchte, war nach seiner Auffassung das eigentliche Anliegen nicht nur der mittelalterlichen Mystik und des deutschen Idealismus, sondern auch das der antiken Mysterien. Der Erkenntnisbegriff der Frühschriften (vgl. dazu die Einleitungen zu SKA 1 und 2) führt somit ganz organisch auf den Initiations-Begriff und die Mysterientradition hin und es liegt eine innere Konsequenz darin, dass der monistische Erkenntnistheoretiker Steiner sich ab 1902 intensiv für das Mysterienwesen interessierte, dass er ab 1906 als Leiter einer esoterischen Schule zum spirituellen Führer vieler nach esoterischem Wissen Suchender wurde und dass er sogar selbst in zu rosenreuzerischen Tempeln ausgestalteten Wohnzimmern elaborierte freimaurerisch inspirierte Einweihungsriten praktizierte.

Ein weiterer gedanklicher Kontext der Christentums-Schrift ist der zu Steiners Zeit intensiv geführte Historismusstreit innerhalb der Theologie und die Leben-Jesu-Forschung. Die kritische Bibelforschung hatte seit dem 17. Jahrhundert zunehmend den komplexen Prozess der Entstehung der biblischen Texte und die Verzahnung von Christentum und Judentum miteinander und mit konkurrierenden Nachbarkulten freigelegt und damit nicht nur die inspirierte Natur und die historische Verlässlichkeit der heiligen Schriften, sondern auch die göttliche Natur Christi zur Disposition gestellt. Steiner hat sich mit dieser Literatur, von David Friedrich Strauß᾽ Leben Jesu, kritisch betrachtet bis Arthur Drews Christusmythe, intensiv auseinandergesetzt und zu dieser Debatte häufig und leidenschaftlich Stellung bezogen. Auf der einen Seite akzeptierte er die zentrale Prämisse der historisch-kritischen Bibelforschung, dass die überlieferten Texte Ergebnis langwieriger Entstehungsprozesse und damit in vieler Hinsicht unverlässlich seien. Zugleich aber kritisierte er diese Forschung dafür, dass sie die biblischen Texte aus rein philologischer Sicht betrachte und so zu deren spiritueller Substanz gar nicht vordringe. Diese spirituelle Substanz als solche stellte er nicht in Frage, da er eine mystisch gefärbte Version der klassischen Inspirationsthese vertrat: Die biblischen Texte waren für ihn vor allem Initiationsschilderungen, d.h. Darstellungen der mystischen Selbst-Erfahrung ihrer Verfasser. Der historisch-kritischen Forschung traute er daher nicht zu, die ohnehin durch Überlieferung entstellten Texte in ihrer Substanz zu verstehen oder gar wiederherzustellen. Denn das konnte ja nur jemand, gemäß der steinerschen Prämisse, der selbst Zugang zu jenen inneren Erfahrungen hat, aus denen heraus diese Texte entstanden sind. Und so entwickelte Steiner sein ganz eigenes Programm einer ›geisteswissenschaftlichen‹ Bibelkritik: nicht die verschiedenen überlieferten Textversionen waren zu konsultieren, um einen verlässlichen Urtext herzustellen, sondern der Inhalt der Schriften war vom Mysten bzw. vom ›Geisteswissenschafter‹ an der eigenen inneren Erfahrung zu prüfen. Diese methodische Voraussetzung, die Steiner in seinen esoterischen Vorträgen oft und breit ansprach, kam in den Kapiteln der Christentums-Schrift nicht ausdrücklich zur Sprache. Sie fand jedoch darin ihren Niederschlag, dass Steiner in späteren Auflagen wie selbstverständlich oft eigene Fassungen von Bibelstellen vorlegte, obwohl er keine nennenswerten Kenntnisse des Griechischen und Hebräischen hatte.

Ein solcher Umgang mit der Bibel muss aus der Perspektive historisch-kritischer Forschung leichtfertig und anmaßend, ja bizarr erscheinen, und es fehlt nicht an scharfer Kritik gegenüber Steiners »Selbststilisierung zum fünften Evangelisten«. Doch ist zu bedenken, dass Steiner hier nicht primär als Historiker oder Philologe sprach, sondern als Mystiker und spiritueller Lehrer. Und als solcher tat er nichts, was nicht auch andere Mystiker, Seher und Visionäre vor ihm getan hatten und denen man deshalb nicht ohne weiteres pauschal Hybris oder Selbststilisierung vorwerfen wird. Jakob Böhme etwa hat dieses Selbst-Verständnis prägnant zum Ausdruck gebracht, als er seine in mystischer Erfahrung wurzelnden Schilderungen der Weltschöpfung folgendermaßen rechtfertigte:

Ich weis / daß der Sophist mich allhie tadeln / und mir es für ein unmögliches Wissen ausschreyen wird / dieweil ich nicht sey darbey gewesen / und es selber gesehen. Deme sey gesaget / daß ich in meiner Selen- und Leibes-Essenz / da Ich noch nicht der Ich war / sondern da ich Adams Essenz war / bin ja darbey gewesen […] Und sol uns Nimand für unwissend ausschreyen / denn ob ichs wol nicht weis / so weis es aber Christus in mir / aus welcher Wissenschaft ich schreiben sol. (Mysterium Magnum 18:1 f.)

Steiner zitierte dieses Argument in seinem Kapitel über Böhme und nahm es so indirekt auch für sich selbst in Anspruch. Und in seiner Autobiographie von 1924/25 knüpfte er noch einmal an diesen Topos an, als er von einem persönlichen geistigen »Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier« sprach und sich so in gut böhmescher Manier selbst in die Menge der unmittelbaren Zeugen der Kreuzigung Christi einreihte. Wer diesen mystischen Grundzug in Steiners Denken kennt, der kann nicht allzu überrascht sein, dass der Autor der Philosophie der Freiheit, welcher schon um 1894 das Denken als Element des Ursprungs der Welt identifizierte, ein Jahrsiebt später nicht davor zurückschreckte, seine eigenen Denkerlebnisse für Aussprüche des Weltgeistes zu erachten.

 

Inhalt und Aufbau der Christentums-Schrift

Ausgehend von den beschriebenen Voraussetzungen inszeniert die Christentums-Schrift die Geschichte des abendländischen Bewusstseins von der Antike bis ins frühe Mittelalter als eine Reihe von Metamorphosen der Selbsterfahrung des Seinsgrundes im Menschen. Dies vollzieht sich in drei Schritten, welche auch die drei Hauptteile des Buches ausmachen: 1. die Rekonstruktion von Theorie und Praxis der antiken Mysterienweisheit und ihrer Reflexion in Mythos und Philosophie, 2. die Deutung des frühen Christentums als eine besondere Ausformung dieser Mysterienweisheit und 3. die allmähliche Umformung der so entstandenen frühchristlichen Mysterienreligion in die unmystische, ja antimystische Theologie der mittelalterlichen Kirche.

Zentrale These des ersten und umfangreichsten Teils ist, dass sowohl die Bilderwelt des antiken Mythos wie auch die Anschauungen wichtiger Vertreter der antiken Philosophie auf Erkenntniserlebnissen beruhten, die ursprünglich in den Mysterien gemacht worden seien. Mythen, so Steiner, seien letztlich nichts anderes als aus dem naiven Volksbewusstsein heraus spontan entstandene, gewissermaßen wild gewachsene bildhafte Objektivierungen derjenigen seelischen und geistigen Gesetzmäßigkeiten, nach deren Bewusstmachung man in den Mysterien systematisch gestrebt habe. Und eben diese Mysterienweisheit habe auch den Kern der Philosophie eines Heraklit, Pythagoras und Platon ausgemacht, allerdings hier in bewussterer und reflektierterer Weise als im Mythos, da diese Philosophen selbst Eingeweihte gewesen seien. Mythologie, Philosophie und Mysterienwesen erscheinen so in Steiners Deutung als drei formal verschiedene, inhaltlich aber identische Gestaltungen mystischer Selbst-Erfahrung im antiken Bewusstsein.

Eine grundlegende Vorstellung innerhalb dieser ›Mysterienweisheit‹ sei gewesen, dem Einzuweihenden das Gesetz der ›Entstehung‹ bzw. der ›wahren Natur der Götter‹ vor Augen zu führen. Der Schüler habe einsehen sollen, dass die ›Götter‹, wie sie sich in Volksreligion und Mythos darstellen, letztlich Schöpfungen und Spiegelbilder des menschlichen Innenlebens sind, Projektionen von Aspekten und Gesetzmäßigkeiten des Seelischen und Geistigen im Menschen. Aus Steiners Sicht begann somit die traditionelle Einweihung mit einem Akt radikaler Religionskritik, wie sie sich philosophisch schon bei Xenophanes und später bei Feuerbach findet. Die große Gefahr der Einweihung habe deshalb darin gelegen, aufgrund solcher Einsicht nunmehr in ›Gott‹ bzw. im ›Geist‹ überhaupt nichts anderes zu sehen als subjektive Vorstellungen und Illusionen und somit in Atheismus und Materialismus zu verfallen. Diese Skylla der mystischen Selbsterkenntnis habe der Myste umschiffen müssen, indem er seine Aufmerksamkeit von den selbstgeschaffenen ›Göttern‹ auf die in diesen wirksame ›götterschaffende Tätigkeit‹ des eigenen Seelenlebens lenkte. Der Mysterienschüler habe erfahren sollen, dass in dieser nicht nur er selbst als ›Subjekt‹, sondern vielmehr der Subjekt und Objekt umfassende Grund des Seins als solcher am Werk ist. Nicht also der vereinzelte Mensch sei es, der sich in den Göttern ein Bild seiner selbst erschafft und dieses dann in einen imaginären Himmel projiziert, sondern, mittels des menschlichen Bewusstseins, dieser Seinsgrund selbst.

Ein zweites zentrales ›Geheimnis‹ der Mysterien, neben dieser ›Einsicht in die wahre Natur der Götter‹, bestand nach Steiner darin, dem Schüler eine innere Anschauung (also nicht nur eine theoretische Überzeugung) von der eigenen Unsterblichkeit zu vermittelt. Allerdings sei diese Unsterblichkeitsidee eine immanente gewesen, welche einer Transzendenz im Sinne traditioneller religiöser Jenseitsvorstellungen nicht bedurfte. Denn die Vorstellung eines solchen ›Jenseits‹ musste ja, im Lichte des Gesetzes vom Ursprung der Götter, als bloße Fiktion erscheinen. Für Steiner lässt sich eine solche ›Unsterblichkeit ohne Jenseits‹ jedoch nur im Rahmen eines palingenetischen Menschenverständnisses denken, und so setzt er ein solches sowohl in den antiken Mysterien wie auch bei ihren philosophischen Vertretern voraus. Besonders das Heraklit-Kapitel entfaltet diese Vorstellung und bildet, indem es die Reinkarnationsidee als im Rahmen modernen wissenschaftlichen Denkens durchaus haltbare, ja zwingende Vorstellung darstellt, in gewisser Hinsicht eine Vorstufe des Kapitels ›Reinkarnation des Geistes und Karma‹ in der Theosophie.

Parallel zur Darstellung dieser beiden Pfeiler antiker Mysterienweisheit versucht die Christentums-Schrift auch die praktischen Prozeduren zu rekonstruieren, welchen sich die Einzuweihenden zu unterziehen hatten, um zu solchen Erlebnissen und Erkenntnissen zu kommen. Innerhalb dieser Rekonstruktion lassen sich drei Grundelemente unterscheiden, die sich in Steiners späteren erkenntnisschulischen Schriften (vgl. SKA 7) deutlich wiedererkennen lassen: 1. ethische Verhaltensregeln und meditative Übungen des Fühlens, Wollens und Urteilens, 2. Übungen des sinnlichkeitsfreien Denkens (etwa durch Mathematik) und 3. Vertiefung in sinnlich-symbolische Darstellungen geistig-seelischer Gesetzmäßigkeiten, wie die religiöse und mystische Literatur aller Kulturen sie liefert.

Eine besonders wichtige Rolle im Zusammenhang dieses dritten Aspektes der Einweihung spielten nach Steiner die theogonischen bzw. kosmogonischen Vorstellungen des Altertums. Im mentalen Nachvollzug des Schöpfungsprozesses habe der Einzuweihende den »Schöpfungswerdegang als eigenes seelisches Schicksal erleben« (CM, 149) und so zur Erkenntnis bzw. zum Erlebnis der Einheit seines individuellen Geistes mit dem im Schöpfungsprozess wirksamen universellen Geistigen kommen sollen. Die Betrachtung des kosmischen Werdens habe, so Steiner, in Betrachtung des eigenen Werdens übergehen sollen: »Geschichte der Schöpfung und Geschichte der sich vergöttlichenden Seele fließen dadurch in Eins zusammen« (ebd.). In diesen Darlegungen über die antike Einweihungsidee als »individualisierte Kosmogonie« (CMV(II), 132: 17. Vortrag vom 8. März 1902) zeigen sich keimhaft die konzeptionellen Grundlagen von Steiners 1910 erschienenem Hauptwerk Geheimwissenschaft im Umriss, dessen konzeptionelle Grundidee eben die Initiation des Lesers durch imaginativen Nachvollzug der Welt- und Menschheitsentwicklung ist.

An die Rekonstruktion des Mysterienwesens und dessen Zusammenhang mit Philosophie und Mythologie der Antike schließen sich Kapitel an, in denen die gewonnenen Ergebnisse auf die verschiedenen mythischen Stoffe der griechischen und ägyptischen Kultur angewendet werden. In weit ausgreifenden Interpretationen zieht die Welt der antiken Götter und Helden am Leser vorbei, deren Taten und Leiden als Bilder des Schicksals der Seele und des Geistes im Menschen und in der Welt gedeutet werden. Dabei weist der Text ausdrücklich darauf hin, dass es hier nicht so sehr auf die Interpretation der mythischen Bilder im Einzelnen ankomme, sondern auf das »Prinzip der Mythenbildung« (CM, 77).

Im zweiten Teil des Buches wird geschildert, wie auf der so vorbereiteten Bühne antiker Mysterienkultur die Gestalt Jesu auftrat und der Mysterienentwicklung eine ganz andere Richtung gab. Jesus habe, so Steiner, den Inhalt der Mysterien aus der arkanen Verborgenheit der Initiationstempel herausgeholt und durch sein Leben und seine Lehre bildhaft vor alle Welt hingestellt. Im Zentrum dieses Abschnittes und somit der Schrift insgesamt steht die Deutung der Auferweckung des Lazarus als eine von Jesus vor aller Augen durchgeführte Einweihung nach ägyptischem Muster. Durch diesen ›Verrat‹ des Mysteriengeheimnisses und seine Zurschaustellung vor aller Welt habe Jesus einerseits seinen eigenen Tod besiegelt, andererseits aber eine neue Epoche in der Mysterienentwicklung eingeleitet: Durch den Glauben an die christlichen Lehren habe nunmehr prinzipiell jeder eine Initiation durchmachen können, wenn auch nicht mehr als radikal verwandelndes individuelles Erkenntniserlebnis, sondern als gruppenhafte Nachfolge Jesu, in dessen Leben und Lehre das Einweihungserlebnis jedoch als Bild weiterhin enthalten und wirksam gewesen sei. Dieses neue, von der nunmehr sich entwickelnden christlichen Kirche getragene gewissermaßen subkutane Einweihungsprinzip zielte nach Steiner nicht mehr auf einen im Bewusstsein sich vollziehenden und dieses verwandelnden Erkenntnisakt, sondern auf einen im Halbbewussten wurzelnden Gefühls- und Willensakt; die Kirche habe nicht länger nach realer Einswerdung des Gläubigen mit dem göttlichen logos im Akt der mystischen Ektase gestrebt, sondern nach der Durchtränkung seines Denkens, Fühlens und Wollens mit dem Mythos von Christus als mentaler Repräsentation dieses Aktes, während das reale Einssein mit dem Seinsgrund, wenn überhaupt, bestenfalls für das nachtodliche ›Jenseits‹ in Aussicht gestellt worden sei.

Der dritte Teil des Buches schildert dann, wie sich als Reaktion auf dieses neue Mysterien- und Menschenverständnis einerseits die vielartigen spiritualistischen Vorstellungen gnostischer und neuplatonischer Art bildeten, welche die Religionsgeschichte der ersten nachchristlichen Jahrhunderte prägen, wie aber andererseits sich die Lehre von der Überlegenheit des Glaubens über das Erkennen entwickelt habe und nach und nach als Dogma der neuen Religion durchgesetzt worden sei. So sei innerhalb der sich entwickelnden Kirche die ursprüngliche mystische Vorstellung einer Vergöttlichung des Menschen immer mehr von der Idee der stellvertretenden Vermenschlichung Gottes in Christus verdrängt worden. Allerdings habe daneben, so betont vor allem die Neuauflage von 1910, ein esoterisches Christentum bestanden, in dem die alte Mysterienidee weitergelebt habe, und zwar nun bereichert um die Christus-Erfahrung. Auch in den spiritualistischen, mystischen und alchemisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit habe ein solches Mysterienverständnis weitergelebt, jenen Gestaltungen des abendländischen Geistes also, die im Zentrum der Mystik-Schrift von 1901 stehen.

 

Von ›Jesus‹ zu ›Christus‹. Die Christologie Rudolf Steiners

im Kontext innertheosophischer Auseinandersetzungen

Eingebettet in diese ambitionierte und weit gespannte Konzeption einer Geistesgeschichte des Abendlandes als Geschichte der Metamorphosen des sich selbst erkennenden (bzw. verkennenden) Geistes hat Steiner die Grundzüge seiner Christologie entfaltet. Ein zentraler Bestandteil seines Ansatzes ist die Unterscheidung von ›Jesus‹ und ›Christus‹, ein Topos, welchen die historisch-kritische Bibelforschung des 19. Jahrhunderts etabliert hatte, der aber auch in der spiritualistischen Literatur der Jahrhundertwende verbreitet war. Indem sich dem kritischen Blick der Forschung die Vorstellung vom ›Gottessohn‹ Christus zunehmend als Mythos darstellte, dessen verschiedene Elemente auch in anderen Religionen zu finden waren, hatten viele Theologen versucht, die Historizität der Zentralgestalt des Christentums zu retten, indem sie diese aller mythischen Elemente entkleideten, bis schließlich von Christus, dem logos und pantokrator, nur der ›schlichte Mann aus Nazareth‹ übrigblieb. Eine solche Reduktion musste natürlich Widerspruch hervorrufen, und eine solche Gegenreaktion stellte die Christologie Helena Petrowna Blavatskys dar. Blavatsky stellte neben ›Jesus‹, den Menschen, den ›Christos‹ als universales kosmisches Schöpfungsprinzip, wie er sich in der gnostischen Tradition und im Prolog des Johannesevangeliums darstellt. Indem dieser mystische ›Christos‹ sich in der Selbst-Erkenntnis besonders entwickelter Menschen wie Jesus und Buddha selbst realisierte, konnten diese nach Blavatsky zu Eingeweihten und spirituellen Lehrern der Menschheit werden. In vergleichbaren Bahnen bewegte sich auch Annie Besants Vorstellung eines »kosmischen Christus«.

Auch Steiner unterschied zwischen ›Jesus‹ und ›Christus‹, doch nahm er dabei keinen Bezug auf Blavatsky oder Besant, sondern verwies auf Vorbilder dieses Topos in der abendländischen Tradition. Schon in der Mystik-Schrift heißt es etwa über die radikalen Spiritualisten des 16. und 17. Jahrhunderts: »Ihnen ist nicht der Jesus wertvoll, den das Evangelium predigt, sondern der Christus, der in jedem Menschen als dessen tiefere Natur geboren werden kann« (MA, 97). Dieser ›Christus‹, verstanden als in der Selbsterkenntnis des Menschen zur Erscheinung kommende Manifestation des Seinsgrundes (und insofern zugleich ›Sohn Gottes‹ wie auch ›Menschensohn‹) war es nach Steiners Auffassung auch, von dem schon Heraklit, Platon und Philon gesprochen hatten, wenn sie über den logos philosophierten. Im Timaios etwa, wo Platon den logos als in Kreuzesform auf den Weltleib gespannte Weltseele (CM, 90) beschrieb, sah Steiner das christliche Zentralmotiv des gekreuzigten Gottes vorgebildet.

Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen der christologischen Konzeption Steiners und den Vorstellungen Blavatskys und Besants haben Kritiker immer wieder vermutet, dass Steiner sein Christus-Bild aus der Literatur der anglo-indischen Theosophie geschöpft haben muss. Dieser zunächst auf der Hand liegenden Annahme steht freilich entgegen, dass das hier in theologische Kategorien gekleidete Christus-Verständnis konzeptionell bereits eindeutig im Wesens-Begriff der steinerschen Frühschriften angelegt ist. Schon in den Grundlinien finden sich Sätze wie: »Unsere Erkenntnistheorie führt zu dem positiven Ergebnis, daß das Denken das Wesen der Welt ist und daß das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist« (GE, 58; GA 2, 79). Diesen Gedanken greift Steiner in den Vorträgen über Das Christentum wieder auf und setzt ihn in Beziehung zu den Vorstellungswelten der europäisch-christlichen Mystik und der anglo-indischen Theosophie. In der Buchfassung hingegen, die für ein allgemeines Publikum bestimmt war, konzentrierte sich Steiner ausschließlich auf erstere und strich nach und nach alle Spuren seiner Auseinandersetzung mit der letzteren. So hat er die Voraussetzungen für den ihm später gemachten Vorwurf, dass seine Christologie im Wesentlichen ein Plagiat neotheosophischer Vorstellungen vom ›mystischen Christus‹ sei und er diese Abhängigkeit von Blavatsky und Besant später habe verschleiern wollen, letztlich selbst geschaffen.

Im Vortragswerk der Jahre 1903 bis 1906 entfaltete Steiner das umrissene christologische Konzept weiter, wobei er die in Mystik und Christentum oft noch durchscheinende philosophische Diktion ganz aufgab und die biblischen Vorstellungen nun vollständig im Sinne esoterisch-theosophischer Anschauungen deutete. Einige dieser Anschauungen, etwa Steiners spätere Deutung der Taufe Jesu als Inkarnationsmoment des Christus, fanden Eingang in die verschiedenen Neuauflagen der Christentums-Schrift. Die meisten Neuerungen jedoch taten dies nicht, wohl auch deshalb, weil Steiner ihnen 1911 mit Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit eine eigene Schrift gewidmet hatte. Nicht einmal die relativ unesoterische und zudem von Steiner argumentativ aus dem Text hergeleitete Identifikation des auferweckten Lazarus mit dem Verfasser des Johannes-Evangeliums, die sich schon 1906 im Vortragswerk nachweisen lässt, wurde explizit in den Text aufgenommen. Dennoch sollen diese weitergehenden Aspekte der anthroposophischen Christologie im Folgenden kurz skizziert werden, weil sich mit ihrer Hilfe zeigen lässt, wie sehr die christologische Theoriebildung Steiners in den Kontext seiner Tätigkeit innerhalb der Theosophischen Gesellschaft eingebettet war.

In seinen christologischen Zyklen beschreibt Steiner, wie der Christus, verstanden als makrokosmische Wesenheit im oben angedeuteten Sinne, sich im Moment der Jordantaufe für die folgenden drei Lebensjahre im Körper des historischen Jesus inkarnierte. Seine zentrale Tat habe darin bestanden, den Leib seines menschlichen Trägers mit seiner eigenen geistigen Wesenheit zu durchdringen und zu transformieren und bei seinem Tod dann diesen verwandelten Leib als eine Art Ferment an die Erde weiterzugeben, welche dadurch ebenfalls von Grund auf verwandelt wurde. Indem sich so der ›makrokosmische‹ Christus durch das ›Mysterium von Golgatha‹ mit der Erde verbunden habe, so Steiner, sei es fortan jedem Menschen ermöglicht worden, sich geistig aus der Verstrickung in ein rein materielles Weltbild zu befreien und sich zu innerer Anschauung der Wirklichkeit des Geistigen im Materiellen bzw., theologisch gesprochen, der Wirksamkeit des Christus in der Welt zu erheben. Die zentrale Tat des ›makrokosmischen‹ Christus dachte Steiner also analog der Tat des Eingeweihten Jesus; auch er eröffne der Menschheit den Zugang zu »höherer Erkenntnis«, allerdings nicht als einmalige historische Tat vor den Augen der Welt, sondern als den Sinnen verborgene permanente metaphysisch-makrokosmische Wirksamkeit. So konnte Steiner das Leben Jesu als historische Begebenheit und zugleich als Urbild geistig-seelischer Prozesse verstehen, die sich, je nach Perspektive, als universell-kosmische oder als individuell-geistige Vorgänge anschauen lassen. Die ›Kreuzigung‹ etwa deutete er makrokosmisch als das Hineinsterben des Christus in die Erdenwelt, aber auch individuell-psychologisch als die lähmende Gebundenheit des Denkens (in dem er Christus als logos wirksam dachte) an die sinnlich-physische Organisation des Menschen. Entsprechend sprach er von einer makrokosmischen und einer im individuellen menschlichen Erleben sich vollziehenden ›Geburt‹, ›Verklärung‹ oder ›Auferstehung‹ Christi. Leben-Jesu-Forschung war für Steiner nicht in erster Linie Histographie, sondern spirituelle Anthropologie und Kosmogonie; das Heilandsleben war ihm, wie der Osiris-Mythos oder der platonische Timaios, Urbild der Evolution sowohl des menschlichen Bewusstseins als auch des Kosmos.

Vor dem Hintergrund solcher Erwägungen nimmt der eigentümliche Titel der Christentums-Schrift klarere Konturen an. Das Christentum war für Steiner eine »mystische Tatsache« insofern, als er die in den Evangelien geschilderten Ereignisse und Gleichnisse in derselben Weise deutete, wie schon diejenigen des antiken Mythos, nämlich als Bilder für bestimmte geistige Entwicklungstatsachen. Geburt, Leben, Tod und Auferstehung Christi las er als Bilder der realen Wirksamkeit des Geistigen im Menschen und im Kosmos. Der Kern und das Einzigartige des Christentums bestanden daher für Steiner nicht in dem, was der historische Jesus lehrte − diese Inhalte seien sämtlich auch in anderen Religionen zu finden −, sondern in dem, was der ›kosmische Christus‹ tatsächlich tue bzw. zu tun sich bestrebe: nämlich in der Verwirklichung der mystischen Selbst-Erkenntnis im Menschen zu sich selbst zu kommen und somit ›aufzuerstehen‹.

Die bisher geschilderte Entwicklung von Steiners Christologie bis 1906 kann als Versuch gesehen werden, die Grundideen seiner philosophischen Schriften mit zentralen christlichen Vorstellungen einerseits und mit der anglo-indischen Theosophie andererseits in Einklang zu bringen. Dies entspricht, wie Zander nachvollziehbar dargestellt hat, seiner damaligen Rolle als Integrationsfigur der verschiedenen indophilen und christlich orientierten Fraktionen innerhalb der Theosophischen Gesellschaft. Ab 1907 freilich lässt sich ein wachsender Konflikt mit der theosophischen Muttergesellschaft beobachten, der sich auch in Steiners christologischen Äußerungen niederschlug. Anhaltende Skepsis innerhalb der theosophischen Zentrale in Adyar gegenüber Steiners westlich-rosenkreuzerischem Weg, innergesellschaftliche Machtkämpfe und schließlich die Proklamation des indischen Knaben Krishnamurti als neuem Weltenlehrer und Reinkarnation Christi waren die Wegmarken einer zunehmenden Distanzierung zwischen Steiner und der Führung der Theosophischen Gesellschaft. Die in diesen Zeitraum fallenden Neuerungen innerhalb seiner christologischen Vorstellungen erscheinen aus heutiger Sicht weniger als Vermittlungs- oder Integrationsversuche, sondern als Etablierung einer selbstbewussten und gegenüber der anglo-indischen Mystik eigenständigen christlich-westlichen Esoterik. Zugleich unterminierte Steiner systematisch die Idee eines ›im Fleische‹ wiederkommendem Christus und somit die angedeuteten Bestrebungen der theosophischen Muttergesellschaft um Krishnamurti, indem er nun betonte, dass die Inkarnation Christi in einem Menschenleib ein einmaliges Ereignis gewesen sei, welches sich unmöglich wiederholen könne. Zugleich entwickelt er hochkomplexe Vorstellungen über die Zusammensetzung der Wesensglieder des das Christuswesen tragenden Jesus: sein ›Astralleib‹ sei der des früheren Buddha gewesen, sein ›Ätherleib‹ (zumindest teilweise) der des Adam und sein ›Ich‹ das des Zarathustra. Ja noch mehr, unter Bezugnahme auf die zwei Stammbäume Jesu bei Matthäus und Lukas sowie die Geschichte der wundersamen Verwandlung des zwölfjährigen Jesus im Tempel postulierte er die Existenz von zwei Jesusknaben (und zwei heiligen Familien), welche in einem hochkomplizierten Prozess des wechselseitigen Austausches von Wesensgliedern das hochentwickelte Gebilde des Jesus-Leibes mit seinen physischen, ätherischen und astralen Komponenten und damit einen geeigneten menschlichen Träger für den Christus erst möglich gemacht hätten (vgl. GF, 52 ff.). Die von der Christenheit erwartete ›Wiederkehr Christi‹ sei zudem ein ›Ereignis innerhalb der ätherischen Welt‹, ereigne sich also in einer den Sinnen nicht zugänglichen Sphäre. Ja, Christus sei eigentlich schon wiedergekommen, sei bereits in der ätherischen Sphäre präsent, und die Menschen müssten sich nur dazu aufschwingen, ihn durch Entwicklung ihrer übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten auch wirklich wahrzunehmen (vgl. GA 118, 112ff.).

Im Lichte solcher Ausführungen musste die Idee eines sich in Krishnamurti oder in irgendeinem anderen Menschen reinkarnierenden Christus unwahrscheinlich, ja unmöglich erscheinen. Im Herbst 1912 erfolgte denn auch der endgültige Bruch und Steiner ließ mit der Niederlegung seiner theosophischen Ämter und der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft zum Jahreswechsel 1912/13 die anglo-indische Theosophie endgültig hinter sich. Demonstrativ ersetzte er von nun an in vielen Neuauflagen seiner Texte das Wort ›Theosophie‹ durch ›Anthroposophie‹ und strich indisch klingende Begriffe und Referenzen wie ›Manas, Buddhi und Atman‹, ›Avatar‹, ›Chakra‹ oder ›Kundalini‹. Auch in der Christentums-Schrift finden sich Spuren dieser Revision; Steiner strich etwa seine frühere Charakterisierung Jesu als Träger einer ›Buddha-Natur‹ und eliminierte lobende Hinweise auf einen Aufsatz des Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden.

Mit diesem institutionellen Schlussstrich trat zugleich ein neuer Ton in Steiners christologischen Vorträgen auf. Schon in den Monaten vor der Trennung und noch einige Zeit danach hielt er intensiv Vorträge zum Thema Das fünfte Evangelium (vgl. GA 148), in denen sich detaillierte Mitteilungen über die Kindheit und Jugend Jesu finden. Daneben gab er ausführliche Schilderungen der Taten Christi in prähistorischen, ja prä-irdischen Stadien der Weltentwicklung (vgl. GA 152). In diesen Vorträgen nahm Steiner nun weder gegenüber den Kirchen noch gegenüber den Theosophen besondere Rücksicht mehr. Gegenüber den ersteren gab er den bisher stets betonten Zusammenhang mit dem biblischen Kanon auf; er deutete jetzt nicht mehr bloß die kanonischen Texte im Lichte esoterischer Vorstellungen oder nahm vereinzelte Revisionen am textus receptus vor, sondern trat selbst als unmittelbare Quelle direkter und un-erhörter Offenbarungen über das Leben und Wirken Christi auf. Gegenüber der Theosophie hingegen war er im Hinblick auf das Dogma der Egalität aller Religionen weniger zimperlich; deutlicherer als zuvor behauptete er jetzt einen Primat des Christentums über Buddhismus und Hinduismus und überhaupt eine evolutive Vorrangstellung der westlich-europäischen Kultur gegenüber der östlich-indischen.

Viele dieser doktrinalen Entwicklungen fanden, wie gesagt, keinen Eingang in die Christentums-Schrift, andere aber sehr wohl. Ja, einige Aspekte der 1910 und 1925 erschienenen Neuauflagen lassen sich nur vor dem Hintergrund der beschriebenen Vorgänge verstehen; so die zunehmende Profilierung des kosmischen Christus gegenüber dem historischen, der Wandel in der mysteriengeschichtlichen Bewertung des Christentums oder Steiners Praxis, statt der in der Erstauflage verwendeten Luther-Übersetzung eigenständige ›Übertragungen‹ von Schriftstellen zu bringen, um so die Überlegenheit der ›geistigen Forschung‹ gegenüber der historisch-philologischen Bibelkritik unter Beweis zu stellen.

 

Ausblick: Die Mystik und Das Christentum

eine Proto-Anthroposophie?

Knapp zwei Jahre nach der Christentums-Schrift erschien 1904 die Theosophie, in der sich nahezu alle anthroposophischen Kernvorstellungen ausformuliert finden: Reinkarnation und Karma, die Stufenanthropologie (Theorie der sinnlichen und übersinnlichen Wesensglieder des Menschen) und eine Anleitung zur esoterischen Schulung (der ›anthroposophische Schulungsweg‹). Auch die evolutive Kosmogonie, obwohl erst in der Geheimwissenschaft von 1910 voll entfaltet, findet sich als Entwurf schon ab 1904. Im Hinblick auf die intellektuelle Entwicklung Steiners und die Genese der Anthroposophie stellt sich damit die Frage, in welchem Maße Steiner diese esoterischen Vorstellungen schon in den Jahren 1901/02 hegte und ob diese sich auch in den Schriften dieser Zeit bereits nachweisen lassen. Im Kontext seiner Kritik an Zander hat jüngst Lorenzo Ravagli zu zeigen versucht, dass sich Spuren all dieser Ideenkomplexe in den Schriften von 1901 und 1902 nachweisen lassen und dass diese insofern eine Art Proto-Anthroposophie in nuce darstellen. Für eine genauere Darstellung und Untersuchung von Ravaglis Thesen muss an dieser Stelle auf die entsprechenden Bände dieser Ausgabe verwiesen werden (KA 6 und 8); da sie aber gewissermaßen zur Rezeptionsgeschichte von Mystik und Christentum gehören, seien sie im Folgenden zumindest kurz referiert.

Reinkarnation und Karma: Helmut Zander argumentiert in seiner Analyse, dass in der Christentums-Schrift von 1902 die Vorstellung der Reinkarnation »als Terminus wie als Sache« nicht nachzuweisen sei. Steiner habe zwar im Zusammenhang mit Heraklit von »Seelenwandelungen« gesprochen, doch sei dieser Begriff hier nicht »Synonym für einen reinkarnierenden Aspekt des Menschen«, sondern als »Partizipation am Ewigen, Göttlichen« zu verstehen. ›Reinkarnation‹ bzw. ›Wiederverkörperung‹ habe Steiner denn auch erst 1910 an den entsprechenden Stellen eingesetzt. Gegen diesen Standpunkt macht Ravagli geltend, dass Reinkarnationsvorstellungen hier sehr wohl vielfach auftauchen, sowohl in der Vortragsfassung wie in der Buchversion, ja dass diese für Steiners Mysterienverständniss konstitutiv seien. Auch den mit der Reinkarnationsvorstellung eng zusammenhängenden Begriff von ›Karma‹ oder Schicksal sieht Ravagli hier bereits vorgebildet, etwa im Zusammenhang von Steiners Beschreibung der altgriechischen Vorstellung vom daimon des Menschen.

Stufenanthropologie: Einen weiteren Grundpfeiler des anthroposophischen Menschenverständnisses bildet die Vorstellung von verschiedenen Wesensgliedern oder Hüllen der menschlichen Wesenheit. Sie erschien als Steiners eigene Anschauung zum ersten Mal explizit in der Theosophie von 1904. Allerdings hatte Steiner bereits in der Mystik-Schrift über die paracelsische Wesensgliedertheorie referiert und ein dreigliedriges (Elementarleib, Astralleib, Seele) sowie ein neungliedriges Stufenmodell des Menschen besprochen. An derselben Stelle behauptete Steiner zudem, dieses Modell sei vergleichbar mit analogen Vorstellungen in ägyptisch-hermetischen, neuplatonischen und kabbalistischen Traditionen. Für Ravagli stellen diese Referenzen nicht bloße Referate dar, vielmehr müssten sie als Projektionsfläche für Steiners eigene, aus innerer Anschauung gewonnenen Vorstellungen verstanden werden, in welchen die verschiedenen Stufenmodelle der Theosophie bereits gedanklich vorgebildet seien.

Kosmogonie: Auch die anthroposophische Kosmogonie, die Steiner in den Aufsätzen Aus der Akasha-Chronik entwickelte und später in der Geheimwissenschaft neu systematisierte, ist für Ravagli im Keim bereits in der Mystik-Schrift von 1901 angedeutet, und zwar im Kapitel über Jakob Böhme, wo Steiner dessen siebenstufige Prinzipienlehre referiert. Ravagli bringt diese Reihung in Zusammenhang mit den sieben Stufen der von Steiner geschilderten kosmogonischen Entwicklung und den entsprechenden Wesensgliedern des Menschen. Ferner weist er darauf hin, dass auch in der Christentums-Schrift kosmogonische Vorstellungen stets in der mystischen Erfahrung verankert seien und schließt daraus, dass Steiner sich schon um 1901 mit der Konzeption einer aus mystischer Erfahrung hervorgehenden Kosmogonie beschäftigt habe.

Der Erkenntnisweg: Einen vierten zentralen Pfeiler der anthroposophischen Weltanschauung stellt der sogenannte ›Erkenntnispfad‹ dar. Steiner schilderte bereits in der Theosophie (1904), dann in der Aufsatzreihe Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/05) sowie noch einmal in der Geheimwissenschaft (1910) eine Reihe von geistig-seelischen Übungen und Meditationen, deren konsequente Praktizierung zur Ausbildung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten führen soll. Ravagli sieht die Rudimente dieses Schulungsweges bereits in der Mystik-Schrift angedeutet, und zwar im Zusammenhang von Steiners Schilderung der antiken Mysterien. Außerdem sei in Steiners Referat über die drei Erkenntnisstufen bei Agrippa von Nettesheim (Dingerkenntnis, Einsicht in Zusammenhänge, Wesenserkenntnis) seine eigene später ausgearbeitete Theorie von Imagination, Inspiration und Intuition als den drei Stufen der übersinnlichen Erkenntnis bereits deutlich erkennbar.

Mit diesem Exkurs soll unser skizzenhafter Überblick über die zentralen Inhalte und Kontexte der Schriften von 1901 und 1902 zum Ende kommen. Im Folgenden sei kurz angedeutet, wie sich die Darstellung dieser Inhalte durch die verschiedenen Fassungen und Neuauflagen hindurch entwickelt hat.

Zur Textentwicklung

Die Ausführlichkeit unseres obigen Versuchs einer Kontextualisierung der Schriften Steiners sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass es die Dokumentation der Genese dieser Texte anhand des Variantenapparates ist, die das Herzstück dieser Edition bildet. Während solche Einleitungen, wie auch die im Anhang versuchte Kommentierung, notwendig immer einseitig und ausschnitthaft ausfallen müssen (und hoffentlich bald von weiter- und tiefergehenden Forschungen überholt sein werden), hoffen wir mit der Erstellung des kritischen Textapparates der Anthroposophieforschung ein ebenso wertvolles wie dauerhaftes Werkzeug in die Hand gegeben zu haben. Der ganze Reichtum der mannigfachen Textänderungen kann innerhalb einer Einleitung wie dieser freilich nicht erschlossen oder auch nur erschöpfend umrissen werden. Die folgende Darstellung soll aber wenigstens einige wenige Schlaglichter auf zentrale Punkte in der Textentwicklung der beiden hiermit vorgelegten Schriften werfen. Schon eine solche exemplarische Behandlung sollte den enormen hermeneutischen Gewinn deutlich machen, der sich aus einer textgenetischen Herangehensweise an Steiners Werk ergibt.

 

Die Textfassung der Mystik-Schrift von 1924

Das Vorwort zur Neuauflage der Mystik von 1924 deutet die Schrift rückblickend als Antwort auf die Frage nach dem inneren Zusammenhang der simultanen Entstehung von Mystik und Naturwissenschaft in der frühen Neuzeit. Ihre Grundfrage laute: »Warum stossen eine besondere Form der Mystik und die Anfänge des gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denkens in der Zeit vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert aufeinander«? (MA, IX). Die Formulierung mag zunächst verwundern, da diese Frage im ursprünglichen Text so nirgendwo gestellt wird und da zudem der Schwerpunkt der Darstellung eindeutig auf der Mystik liegt, während die Naturwissenschaft nur hie und da ausdrücklich thematisiert wird. Andererseits finden sich im Text eingestreut tatsächlich zahlreiche Exkurse zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Mystik, welche die Schrift wie ein roter Faden durchziehen. Mystik und Naturwissenschaft werden schon in der Fassung von 1901 als zwei Metamorphosen der gleichen bewusstseinsevolutiven Urgestalt dargestellt, nämlich der Selbsterkenntnis des Wirklichkeitsgrundes im Menschen, wie sie der Bewusstseinsstufe der Menschheit in der frühen Neuzeit entsprach. So gesehen erscheint Steiners Formulierung also sachlich gerechtfertigt; wirklich verständlich aber wird sie nur im Kontext des bewusstseinsevolutiven Epochenmodells, welches er 1914 in Die Rätsel der Philosophie ausgearbeitet hat (vgl. SKA 4: »Zur Orientierung über die Leitlinien der Darstellung« sowie Anm. zu MA, IX).

Daneben fällt auf, dass die Neuauflage als »im wesentlichen unverändert« bezeichnet wird. Dem entspricht der Befund, dass sich im Text, verglichen etwa mit der Schwesterschrift von 1902, tatsächlich relativ wenige Textveränderungen finden und dass zudem die meisten dieser Eingriffe orthographischer und stilistischer Natur sind. Nur in einer Hinsicht sind die Textvarianten der Neuauflage inhaltlich signifikant, und zwar im abschließenden ›Ausklang‹, in dem Steiner eine deutliche Revision seines früheren Geist-Begriffs vornahm. So heißt es etwa in der Erstauflage, dass man den Geist »nicht in der Wurzel der Natur, sondern in ihrer Frucht« zu suchen habe, dass der »Geist ein Entwickelungsergebnis« und dass »ein thatsächlich existierender Geist nur im Menschen zu finden« sei (MA, 119). Damit klingt ein Motiv an, welches an verschiedenen Stellen der Schrift auftaucht und sich auch anderweitig in Steiners Texten kurz vor der Jahrhundertwende nachweisen lässt, dass nämlich ›Geist‹ als solcher nur im Menschen vorhanden sei, und dass es einen »Geist in der Natur« nicht gebe. Diesen Aussagen entspricht auch der ganze Gestus des ›Ausklangs‹ mit seinen Huldigungen an Haeckel und die zeitgenössische Entwicklungsbiologie. Die Neuauflage hingegen schlägt einen ganz anderen Ton an, wenn es dort nun heißt, dass es sehr wohl einen »Geist in der Natur« gebe, nur eben keinen »sinnenfälligen«, und dass die Rede vom Geist als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sich nur auf den individuellen menschlichen Geist beziehe, nicht aber auf das Geistige als solches (MA, 119).

Steiner Exkurse zum Geist-Begriff sind zu verstehen im Kontext seiner Versuche, sich gegen den Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunehmend populären Spiritismus abzugrenzen. Dieser hatte in esoterisch interessierten Kreisen (und somit zweifellos auch unter den Zuhörern des Vortragszyklus von 1900/01) nicht wenige Sympathisanten. Steiner, der sich zu dieser Zeit gerade vorsichtig der Theosophie annäherte, wollte offenbar nicht mit den dubiosen Totenbeschwörungen und Séancen in Verbindung gebracht werden, welche in spiritistischen Kreisen der Zeit gang und gäbe waren. Solche mit Händen zu greifenden Phänomene wie die spiritistischen wollte er nicht als geistige gelten lassen und setzte ihnen die Rede von der ›geistlosen‹ Natur entgegen. Dem steht freilich die spätere anthroposophische Diktion entgegen, welche ›das Geistige‹ überall und besonders auch in der Natur nachzuweisen sucht. »Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg,«, heißt es etwa im ersten der Anthroposophischen Leitsätze, »der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.« Diese Diskrepanz ist es wohl, welche Steiner 1924 dazu veranlasste, die genannten Formulierungen von 1901 umzuschreiben und so die Möglichkeit offen zu lassen, dass in der Natur bzw. im Kosmos sehr wohl ein Geistiges walte, nur eben ein solches, das vom Menschen nicht so unmittelbar zu greifen ist, wie seine eigene geistige Tätigkeit. In einem Zusatz am Ende des Kapitels fügte er erklärend hinzu: »Ich wollte […] nur in starker Art betonen, dass der Geist, der der Natur zugrunde liegt, in ihr gefunden werden muss, und nicht von außen in sie hineingetragen werden darf« (MA, 121). Steiners Glättungsversuche können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Geist-Begriff in den frühen philosophischen und den späteren anthroposophischen Texten durchaus unterschiedlich ist. Für den frühen Steiner ist Geist, wie bereits aus dem oben zitierten Brief an Kirchbach hervorgeht, vor allem menschlicher Geist, ist »Innenleben« (wobei freilich das innerste Wesen dieses vereinzelten und subjektiven ›Geistes‹ letztlich als ein Universelles verstanden wird). Wenn hingegen der spätere Steiner vom ›Geist in der Natur‹ und vom ›Geistigen im Kosmos‹ spricht, dann bezieht sich der Begriff ›Geist‹ auf eben jenes Universelle, welches nur für das Bewusstsein in ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, in ›Geist‹ und ›Natur‹ auseinanderfällt.

Steiners Geist-Begriff hat somit eine ähnliche Metamorphose durchgemacht, wie sein Christus-Bild: Was in der philosophischen Diktion seiner frühen Darstellungen primär als im Menschen sich realisierendes immanentes Prinzip erschien, wurde später gewissermaßen von außen angeschaut bzw. als einem Äußeren immanent vorgestellt: Der logos ›inkarniert‹ sich in Jesus, der Geist ›manifestiert‹ sich in der Natur. Die steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt. Dass in einem solchen Denken in Umstülpungen, worauf Kritiker immer wieder hingewiesen haben, notwendig konzeptionelle Widersprüche auftreten, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber diese stellen aus Steiners Sicht nicht unbedingt eine Schwäche seiner Argumentation dar. Vielmehr kann, aus seiner Perspektive, gerade der konzeptionelle Widerspruch ‒ wenn er nicht nur gedacht, sondern erlebt wird ‒ den Denker in das im Widerspruch sich darlebende Wesenhafte hineinzuführen. Doch derlei Erwägungen führen in den Bereich der anthroposophischen Erkenntnisschulung, den wir hier nicht weiter verfolgen wollen und für den wir auf Band 7 dieser Edition hinweisen.

 

Exkurs:

Die Vortragsfassung der Christentums-Schrift

Anders als bei der Mystik-Schrift liegt im Falle des Christentums der glückliche Umstand vor, dass neben den verschiedenen Buchfassungen auch Mitschriften der originalen Vortragsreihe erhalten geblieben sind, welche Steiner vom 19. Oktober 1901 bis zum 26. April 1902 in der theosophischen Bibliothek in Berlin gehalten hat. Diese Texte ermöglichen einen besonders tiefen Blick in die Denkwerkstatt Rudolf Steiners in den Jahren 1901 und 1902 und seien daher an dieser Stelle zumindest kursorisch angesprochen. Schon ein bloß skizzenhafter Überblick wird erweisen, wie bedeutsam diese Vortragsmitschriften im Hinblick auf Steiners Vorstellungen zur Jahrhundertwende sind und dass keine ernstzunehmende Deutung der Christentums-Schrift an diesem Dokument vorbeigehen kann.

Schon ein erster Blick zeigt gravierende Unterschiede zwischen Vortrags- und Buchversion: hier ein umfangreicher Zyklus von 24 Vorträgen, dort ein schmaler Band mit 13 kurzen Kapiteln. Indem die Buchversion nur knapp ein Drittel des Vortragstextes umfasst, fallen naturgemäß erhebliche Inhalte weg: Ausführliche Passagen über Moses und die biblische Schöpfungsgeschichte, Apollonius von Tyana, paulinisches und johanneisches Christentum, die griechische Sophistik, Gnostik und Hermetik, Johannes Scotus Erigena und Gottschalk sowie ein Exkurs über pythagoreische Elemente bei Novalis fehlen ganz, ebenso eine Reihe hochinteressanter Zwischenbetrachtungen über die Jungfrauengeburt, den Heiligen Geist, Maria und Martha, die römische Messe, das apostolische Glaubensbekenntnis, die Prädeterminationslehre und das Theodizee-Problem. Andere Ausführungen über Pythagoras, über das jüdische Mysterienwesen und über Augustinus erscheinen in der Monographie erheblich gekürzt. An einigen zentralen Stellen allerdings wird die Buchfassung konkreter und ausführlicher, etwa in den Kapiteln über die Evangelien, die Lazarus-Erweckung und die Apokalypse.

Inhaltlich fällt auf, dass in den Vorträgen durchgehend der Begriff ›Mystik‹ verwendet wird. Das später ausgebildete anthroposophische Modell kultureller Entwicklung vorwegnehmend, wird hier von indischer, persischer, ägyptischer, griechischer und christlicher Mystik gesprochen, während dieses Wort im Buch fast ganz hinter den Begriffen ›Einweihung‹ und ›Mysterien‹ zurücktritt. Die Mysterien selbst werden in den Vorträgen ausführlicher geschildert. Während sie in der Buchfassung vor allem als geheimnisvolle und elitäre Veranstaltung für einige Wenige erscheinen, kommt hier auch die andere Seite des Mysterienwesens zum Tragen, welche Kritiker an der Christentums-Schrift bisweilen vermisst haben. Steiner nennt sie hier »populäre Kulte«, an denen viele Menschen teilgenommen hätten, die nicht tatsächlich im buchstäblichen Sinne eingeweiht worden seien, sondern die Mysterien nur äußerlich als einen Aspekt ihrer Kulturpraxis durchliefen. Auch werden verschiedene Mysterienströmungen deutlicher unterschieden, etwa wenn Heraklit einer griechisch-ägyptischen Tradition zuordnet wird, während Pythagoras und Platon stärker von orientalischen Mysterien beeinflusst gewesen seien.

Daneben gehen die Vorträge detaillierter auf konkrete Kulturphänomene ein, etwa wenn über die Pyramiden- und Obeliskenform, die Sphinx und den Phönix (CMV(II), 92), über das Fortwirken des Mysterienwesens in der Poetik des Aristoteles oder über das Wesen von Komik und Tragik reflektiert wird. Überhaupt spielt die Idee von Kunst als aus den Mysterien hervorgegangener Kulturerscheinung in den Mitschriften eine zentralere Rolle als im Buch. Kunst und Philosophie erscheinen hier gewissermaßen als die beiden Hauptäste, in die der einheitliche Baumstamm der Mysterienweisheit sich in der Antike zunächst verzweigt (vgl. CMV(I), 182).

Auch auf die Verbindung mystisch-religiöser Vorstellungen mit naturwissenschaftlichem und philosophischem Denken geht die Vortrags-Fassung intensiver ein und beschreibt in ausführlichen Exkursionen Parallelen zwischen naturwissenschaftlichen und esoterischen Vorstellungen. So finden sich etwa Ausführungen über Reinkarnation und Karma als aus modern-naturwissenschaftlichem Denken notwendig hervorgehenden Vorstellungen, eine Idee, die Steiner später in verschiedenen Aufsätzen und in seiner Theosophie weiter ausgeführt hat. Daneben finden sich häufige Exkurse zu Goethe und Fichte, den geistigen Übervätern seiner philosophischen Phase. In der Buchfassung schrumpfen all diese umfangreichen Exkurse auf kurze eingestreute Bemerkungen zusammen und es wird weniger deutlich als in den Vorträgen, dass es hier um viel mehr als eine bloße Deutung des Christentums geht.

Auch Steiners frühe Vertrautheit mit theosophischen Konzepten, Begriffen und Autoren tritt in den Vorträgen deutlicher hervor als im Buch. Der Text zitiert Autoren wie Besant, Leadbeater, Sinnett und Hübbe-Schleiden, verwendet wie selbstverständlich theosophische Termini und bezieht sich immer wieder auf siebenstufige Modelle, sowohl was den Aufbau des Menschen angeht, wie auch im Hinblick auf kosmische und individuell-menschliche Entwicklungsvorgänge. Die Idee der Wiedergeburt ist in den Vorträgen allgegenwärtig, während die erste Buchfassung eher verhalten davon handelt und statt von ›Reinkarnationen‹ von ›Seelenwandlungen‹ spricht. Auch die Idee von Karma als einem »Knoten, in dem sich Leben zusammenschürzen«, wird schon hier ausdrücklich thematisiert. Der Vortragende kennt also die Vorstellungswelt seiner theosophischen Zuhörer gut und spricht zu ihnen in ihrer eigenen Sprache, ja bezieht sich selbst in ihre Gemeinschaft ein, wenn er von bestimmten Vorstellungen spricht, die »wir heute in der Theosophie […] aufzuerwecken suchen«. Dabei wird freilich der Begriff Theosophie sehr weit gefasst und bezieht sowohl die anglo-indische wie die europäisch-christliche Tradition mit ein. In der Buchfassung hingegen sind alle Bezüge auf ›Theosophie‹ und theosophische Vorstellungen gestrichen und man merkt dem Text kaum mehr an, dass er ursprünglich an ein theosophisches Publikum gerichtet war.

Ein anderer Aspekt, den man im Buch vermisst, ist die ausdrückliche Bezugnahme auf die goethesche Metamorphosen-Anschauung als methodischem Hintergrund von Steiners ideengeschichtlichen Betrachtungen. Indem die Vorträge von verschiedenen Metamorphosen bestimmter mystischer Anschauungen sprechen, wird in ihnen Steiners Anwendung goetheschen morphologischen Denkens auf ideelle Zusammenhänge unmittelbar greifbar. Im Buch hingegen wird nur indirekt, durch oftmalige Heranziehung des Pflanzenwachstums als Metapher geistiger Entwicklung, auf die Morphologie angespielt. Somit wird in den Vorträgen bisweilen deutlicher als im Buch, was eigentlich die grundlegende Idee der Schriften von 1901 und 1902 ist: nämlich eine systematische Phänomenologie des Bewusstseins, die durch ihren Aufbau selbst gewissermaßen mystischen bzw. Einweihungs-Charakter hat. Indem nämlich der Leser Steiner in seiner historischen Darstellung folgt und damit in gewisser Weise den Werdeprozess des abendländischen Bewusstseins noch einmal durchlebt, unterzieht er sich im Prinzip derselben Prozedur einer »individualisierten Kosmogonie«, welche nach Steiners Auffassung die Einzuweihenden in den alten Mysterientempeln durchliefen. Somit können nicht erst die anthroposophischen Schriften ab 1904, sondern schon die Texte von 1901 und 1902 als Bücher verstanden werden, die nicht nur über Mystik und Initiation theoretisch handeln, sondern selbst auf eine mystisch-praktische, d.h. eine initiatorisch wirksame Rezeption hin konzipiert sind.

Auch das Theorem eines ›dreifachen Mythen-Sinnes‹ von ›natürlicher‹, ›menschlicher‹ und ›göttlicher‹ Deutung ist ein Thema der Vortragsfassung, das man in der späteren Buchfassung vermisst. Fortgelassen werden ferner ausführliche Darstellungen zur Parallelität indischer und ägyptischer Mythenmotive mit dem Alten Testament. Besonders das Buch Genesis wird in den Vorträgen detailliert als Einweihungsschilderung gedeutet, durch die der Eingeweihte Moses die ägyptische Mysterienweisheit der israelitischen Kultur habe vermitteln wollen. Weggelassen im Buch ist auch Steiners Interpretation der 42 Stammväter Jesu im Matthäusevangelium als ideelle Metamorphose der 42 Totenrichter im ägyptischen Totenbuch.

Zuletzt sei noch eine auffällige Schwerpunktverschiebung im letzten Kapitel über Augustinus erwähnt. Im Vortrag vom 19. April 1902 wird Augustin als derjenige Mystiker charakterisiert, welcher als erster die Vorstellung von der Reinkarnation ganz aufgegeben habe. Ohne diese Vorstellung aber habe er, angesichts der unleugbaren Tatsache des menschlichen Schicksals, dieses Schicksal zwangsläufig in die Hand Gottes legen müssen. Die Prädestinationslehre erscheint somit gewissermaßen als zwingende Konsequenz einer Theologie, welche die Reinkarnationsidee nicht annehmen kann. In der Buchfassung hingegen ist von Prädestination mit keinem Wort die Rede. Was auch immer die Gründe dafür gewesen sein mögen; die These, dass Steiner sich die Reinkarnationsvorstellung erst nach Abfassung der Christentums-Schrift angeeignet habe, erweist sich im Lichte der Vortragsfassung als nicht haltbar. Steiner sprach schon vor dem Druck des Buches unverhüllt von Reinkarnation als einer im antiken Denken universellen und auch vor dem Forum modernen naturwissenschaftlichen Denkens gerechtfertigten Vorstellung. In der Buchfassung nahm er dann, offenbar mit Rücksicht auf das breitere Zielpublikum, viele seiner direkten Hinweise darauf zurück.

Und damit kommen wir zurück zu den Buchfassungen, welche später aus dieser faszinierenden Vortragsreihe hervorgingen. Auf die Unterschiede zwischen der Vortragsfassung und der ersten Buchversion von 1901 kann hier allerdings nicht eingegangen werden. Die beiden Texte sind formal so unterschiedlich, dass ein angemessener Vergleich nur in einer eigenständigen Untersuchung angestellt werden könnte. Im Folgenden seien daher nur die Buchfassungen untereinander verglichen.

 

Die Textfassung der Christentums-Schrift von 1910

Als im Jahre 1910 die Neuauflage der Christentums-Schrift erschien, beteuerte Steiner auch hier, wie später im Vorwort zur Neuauflage der Mystik-Schrift, das Buch erscheine inhaltlich im Wesentlichen unverändert und beinhalte gegenüber der Erstauflage nur einige Erweiterungen und Verdeutlichungen. Demgegenüber spricht Zander in seiner Analyse von »massiven Eingriffen«, angesichts derer man sich fragen müsse, »ob Steiner bewusst gelogen oder das Ausmaß der Veränderung verdrängt« habe. Er bezeichnet die 1910 vorgenommenen inhaltlichen Veränderungen als »grundstürzend«und benennt dann eine Reihe von Themenbereichen, in denen Steiner seine Anschauungen grundlegend revidiert habe:

1. Aufwertung des Christentums und seiner Historizität. Während in der Fassung von 1902 das Christentum nur als »eine Stufe der Mysterien unter vielen« dargestellt worden sei, avanciere dieses 1910 zum »zentralen Ereignis der Menschheitsgeschichte«. Im Gegenzug würden die antiken Mysterienreligionen und die früheren Eingeweihten von zuvor gleichrangigen Exponenten einer ehrwürdigen Menschheitstradition zu bloßen »Vorläufern« depotenziert. Zudem habe Steiner die alten Einweihungstraditionen dadurch degradiert, dass er das in diesen Erlebte in der Neuauflage zu bloß »bildhaften Ereignissen« erklärt und nur Jesus eine »wirkliche Einweihung« zugestanden habe. Ferner weist Zander darauf hin, dass Steiner seine die Erstauflage charakterisierende rein innerlich-mystische Deutung der Evangelientexte erweiterte und der konkret-historischen Wirksamkeit Christi bzw. des Christentums eine deutlich größere Bedeutung zugewiesen hat.

2. Von Jesus zu Christus. Infolge dieser Aufwertung des Christentums sei »aus dem eingeweihten Menschen Jesus« in der Auflage von 1910 »der Christus« geworden. An vielen Stellen habe Steiner den Namen ›Jesus‹ durch ›Christus‹ ersetzt und zudem zahlreiche neue Passagen über Christus hinzugefügt. Der so zum Christus verwandelte Jesus sei nicht länger ein Eingeweihter »unter vielen«, sondern stehe über ihnen allen. Außerdem habe Steiner alle Hinweise auf theosophische Implikationen seiner Christologie gestrichen, etwa die 1901 noch enthaltenen Hinweise auf die ›Buddha-Natur‹ Jesu.

3. Vom Mysterienverrat zum ›Mysterium von Golgatha‹. In der Erstauflage besteht nach Zander die zentrale Funktion Jesu darin, das geheime Wissen der Mysterien in Lehre und praktischer Tat vor aller Augen zu stellen. Sein Tod werde im Wesentlichen als Folge dieses Verrats der Mysteriengeheimnisse erklärt. Eine »kosmische Dimension des Todes Jesu«, wie sie 1910 unter der Bezeichnung »Mysterium von Golgatha« ins Zentrum der Darstellung gerückt sei, habe es 1902 noch nicht gegeben.

Gegenüber dieser Darstellung hat Ravagli argumentiert, dass es sich bei diesen Punkten keineswegs um »grundstürzende Veränderungen« handle, sondern tatsächlich, wie Steiner selbst behauptete, im Wesentlichen um Konkretisierungen, Zuspitzungen und Verdeutlichungen des 1902 bereits Geschriebenen. Das Christentum stehe schon in der Erstauflage nicht gleichrangig neben anderen Mysterientraditionen, sondern werde bereits hier als deren Vollendung und Überwindung beschrieben. Auch die entsprechende Unterordnung des vorchristlichen Mysterienkults finde sich bereits in der Erstauflage. Ferner werde Jesus 1902 keinesfalls bloß als ein Eingeweihter unter anderen verstanden, sondern schon hier in seiner Sonderstellung als »in einzig-großer Weise Initiierter«, als »Ur-Initiator« herausgestellt, dessen Bedeutung weit über die anderer Eingeweihter, selbst des Buddha, hinausgehe. Und auch der ›mystische Christus‹ erscheine nicht erst in der Neuauflage von 1910, sondern sei schon in der Erstauflage sowohl in seinem individuell-menschlichen wie in seinem universell-makrokosmischen Aspekt voll präsent.

Zwei weitere Punkte, die bei Zander und Ravagli nicht behandelt werden, seien zumindest kurz erwähnt. Zum einen lässt die Neuauflage von 1910 eine deutliche Wandlung in Steiners Haltung gegenüber den Mysterien erkennen. Erscheint das Erlebnis der Einweihung in der Erstausgabe stark an die antiken Mysterienstätten, ihre Riten und einen eingeweihten Mystagogen gebunden, so tendieren die Neuauflagen zunehmend dazu, ›Einweihung‹ als ein von jedem Menschen überall und allezeit zu verwirklichendes Erlebnis zu verstehen, welches einer Geheimschule und eines persönlichen Lehrers nicht unbedingt bedarf. (Vgl. besonders die Formulierungen in CM, 8 f. sowie die Anmerkung zu CM, 9 im Stellenkommentar: »durch die Mysterien eingeweiht«.)

Einher mit dieser Entwicklung geht eine Verschiebung in der Bewertung der Rolle des Christentums. Die Erstauflage stellt das Schicksal der Mysterienidee im institutionalisierten Christentum überwiegend negativ dar, nämlich als eine Geschichte des Verdrängens und Vergessens. Die Vorstellungen von der göttlichen Natur des Menschen und einem in ihm schlummernden Potential zur Vergottung seien zunehmend als ketzerisch gebrandmarkt und durch Anschauungen ersetzt worden, in der die Kluft zwischen Gott und Mensch, zwischen Wissen und Glauben immer größer wurde. Die Neuauflage hingegen bewertet die Wirksamkeit des Christus-Impulses auch im bloßen Glauben deutlich positiver; der Gläubige sei, so heißt es nun, wenn auch unbewusst, doch »der Mysterienströmung teilhaftig« gewesen, und das »Leben, das in den Mysterien strömte« sei so im Glauben »durch die fernere geschichtliche Entwicklung der Menschheit« geströmt (CM, 106). Auch wird jetzt von »zwei Wegen« gesprochen, welche durch die Christus-Tat möglich geworden seien; einerseits die völlige Abkehr von der Initiationsidee und die Beschränkung des Menschen auf den bloßen Glauben, andererseits aber »eine durch das Christusereignis bereicherte Mysterien-Erkenntnis« (CM, 157). Den einen Weg sei die katholische Kirche gegangen, der andere habe als ›esoterisches Christentum‹ eine gewissermaßen unterirdische Strömung im abendländischen Geistesleben gebildet und lebe nunmehr in der Anthroposophie. (Selbstbewusst verweist Steiner an dieser Stelle auf seine soeben erschienene Geheimwissenschaft.) So läuft seine Betrachtung ders Antike und des frühen Christentums letztlich auf ihn selbst und sein Werk als Zielpunkt der abendländischen Geistesentwicklung hinaus. Wie ein gutes Jahrhundert zuvor Hegel fühlte sich auch Steiner spätestens um 1910 als Träger eines in der Weltentwicklung sich verwirklichenden Geistes, der in ihm und seiner Weltanschauung seine höchste Entwicklungsstufe gefunden hatte.

 

Die Textfassung der Christentums-Schrift von 1925

Während die Textentwicklung zwischen 1902 und 1910 vielfache und tiefgreifende Eingriffe in den Text aufweist, sind die Veränderungen in der letzten zu Lebzeiten erschienenen Auflage von 1925 vergleichsweise marginal. Zander identifiziert neben stilistischen Modifikationen drei inhaltliche Neuheiten. Zum einen hieß es 1910, dass der Mensch den »Gott in sich erwecken« könne, während Steiner 1925 diese Aussage dahingehend modifizierte, dass der Mensch »das Leben des Gottes in sich erfahren« könne. Auf diese Weise werde, so Zander, »die Autonomie des Menschen eingeschränkt.« Daneben verschwinde »das oft gnostisch gedeutete Motiv des erlösten Erlösers«; die Aussage von 1910, dass der Mensch Gott »schaffend erlösen« müsse, werde 1925 abgeschwächt zu einer Erlösung der Erkenntnis von Gott. Drittens nehme Steiner in dieser letzten Auflage auch frühere pantheistische Äußerungen zurück, etwa wenn es dort heißt, Gott lebe zwar im Menschen, nicht aber in der Natur.

Ferner fällt ins Auge, dass die Ausgabe von 1925 den zuvor aus der griechischen Gedankenwelt übernommenen Begriff des ›Dämons‹ in der dritten Auflage durch ›Geist‹ übersetzt; auch werden die meisten personifizierenden Erwähnungen von ›Gott‹ in ›das Göttliche‹ bzw. ›die Gottheit‹ verändert, vielleicht um die Darstellung mit der Terminologie der inzwischen erschienenen Hauptschriften Theosophie und Geheimwissenschaft in Einklang zu bringen. Daneben spiegelt sich in der nunmehr eingeführten Unterscheidung der ›neuartigen‹ christlichen Initiation von vorchristlichen Riten als Formen einer ›alten Einweihung‹ das mittlerweile von Steiner entwickelte dreistufige Modell von vorchristlichen, christlichen und modern-rosenkreuzerischen Mysterien. Weitere Veränderungen gegenüber der Auflage von 1910 betreffen zusätzliche Streichungen von Hinweisen auf das theosophische Umfeld, in dem Steiner sich um 1902 bewegt hatte, sowie die im Kontext von Beschreibungen der übersinnlichen Erfahrung systematisch vorgenommene Korrektur von »symbolisch« zu »bildhaft«.

Alles in allem stellen somit die Nachbesserungen der Neuauflage von 1925 in der Tat nur kleinere Justierungen dar, die nicht als grundsätzliche Positionsveränderungen gelten können und im Vergleich zu der umfassenden Revision von 1910 als marginal zu bezeichnen sind.

 

 

Wirkung

Obwohl die beiden Schriften Steiners von 1901 und 1902 inhaltlich und programatisch eine Einheit bilden, hätte sich ihre Wirkungsgeschichte kaum unterschiedlicher gestalten können. Steiners Deutung der abendländischen Mystik und ihres inneren Zusammenhangs mit der Philosophie des Deutschen Idealismus einerseits und den modernen empirischen Wissenschaften andererseits hat sowohl in der binnenanthroposophischen Literatur wie im allgemeinen akademischen Diskurs kaum je nennenswerte Resonanz gefunden und ist in ihrer methodologischen und programatischen Bedeutung sowie als Wendepunkt innerhalb von Steiners intellektueller Entwicklung kaum je näher untersucht worden. Auch die biografische Bedeutung der Mystik-Schrift für Steiners Weg in die Theosophie ist bisher kaum näher beleuchtet worden.

Die Rezeption der Christentums-Schrift (und der sich an diese anschließenden Vortragsyzklen zur Christologie) ist hingegen eine reiche und facettenreiche. Die unmittelbarste und gesellschaftlich greifbarste Wirkung von Steiners Christologie ist wohl in der Christengemeinschaft zu sehen, die mittlerweile in mehr als 30 Ländern vertreten ist und derzeit etwa 35 000 Mitglieder zählt. Obwohl institutionell unabhängig, ist die Christengtemeinschaft geistig und organisatorisch unbestreitbar Steiner und der anthroposophischen Bewegung tief verpflichtet. Dieser Einfluss zeigt sich nicht nur in allen zentralen Lehrinhalten, sondern auch im Ritus der Glaubensgemeinschaft, in der ›Menschenweihehandlung‹, die als Mysterienhandlung aufgefasst wird und bewusst Steiners Schilderung der Stufen der traditionellen Initiationshandlung (Belehrung, Opferung, Wandlung, Kommunion) nachempfunden ist. Sogar Elemente des von Steiner für den engsten Kreis esoterischer Schüler entwickelten und praktizierten Einweihungsrituals (Wasser, Salz und Asche) sind hier integriert. Auch die damit angesprochene erkenntniskultische Praxis Steiners, obwohl nur im engsten Kreis von Anhängern praktiziert und bis heute der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, gehört der Sache nach in den Bereich der Wirkungsgeschichte der Schrift von 1902, da das diesen Einweihungsritualen zugrunde liegende Mysterienverständnis hier seine erste und grundlegende Formulierung erfahren hat. Zentrale Aspekte des steinerschen Initiationsrituals wie der symbolische Tod des Einzuweihenden oder seine imaginäre Rückführung in prähistorische Epochen der Menschheitsentwicklung (vgl. die Darstellung in SKA 7) sind nur verständlich im Kontext des 1902 entwickelten Versuchs einer Rekonstruktion der antiken Mysterienpraxis. Ähnliches gilt für die Konzeption und die Inhalte der Mysteriendramen, die zwischen 1910 und 1913 entstanden und bis heute im Goetheanum in Dornach regelmäßig auf die Bühne gebracht werden.

Aber nicht nur im arkanen Bereich anthroposophischer Einweihungsrituale und Mysteriendramen hat die Christentums-Schrift deutliche Spuren hinterlassen, sondern auch in der vergleichsweise öffentlichen Welt des anthroposophischen Literaturbetriebs. Hier findet man zu Steiners Christologie eine reichhaltige Literatur von Seiten anthroposophisch orientierter Autoren (vgl. Literaturverzeichnis), die jedoch überwiegend aus der anthroposophischen Binnenperspektive geschrieben und von einem relativ unkritischen Verhältnis gegenüber Steiner geprägt ist. Es gibt jedoch auch Ausnahmen und verschiedene interessante Weiterbildungen der steinerschen Christologie, anthroposophische Binnendiskurse und Häretikerbewegungen lassen sich hier wahrnehmen.

Daneben steht, wenn man den Bereich der nicht-anthroposophischen Esoterik und New-Age-Literatur einmal übergeht, die Rezeption der steinerschen Christologie innerhalb der akademischen Theologie, wo sie ebenfalls nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Die bereits erwähnte Untersuchung Thiedes hat gezeigt, in welchem Umfang die Vorstellung des ›kosmischen Christus‹ in diesem Bereich weite Kreise gezogen hat. Neben prominenten Namen wie Teilhard de Chardin, Karl Barth, Paul Tillich und Jürgen Moltmann führt Thiede eine ganze Reihe von Theologen an, die an das von Blavatsky, Steiner und Besant entwickelte kosmische Christusverständnis angeknüpft und dasselbe für die theologische Debatte der Gegenwart fruchtbar gemacht haben.

Bei all dem darf freilich nicht übersehen werden, dass Steiners Christologie und seine Deutung der abendländischen Mystik und des Christentums letztlich nur einen Aspekt der in diesem Band vorgelegten Schriften darstellen ‒ und in gewisser Hinsicht nicht einmal den zentralen. Die vorstehende Darstellung sollte gezeigt haben, dass Steiners Deutungen der mystischen Anschauungen sowie der verschiedenen vorchristlichen und christlichen Mythologeme als Fallstudien verstanden werden müssen, die letztlich der Illustration des viel weiter ausgreifenden und viel tiefer reichenden ideogenetischen Grundkonzepts dienen, d.h. jener für das Selbstverständnis der Anthroposophie zentralen bewusstseinsphilosophischen Konzeption, von der ausgehend Steiner sein Werk als legitimen Erben der europäischen Mystik und des deutschen Idealismus sowie als Ausdruck einer der modernen Naturwissenschaft gleichberechtigten modernen Geisteswissenschaft verstanden hat. Eine eingehende und kritische Auseinandersetzung mit dieser programmatischen Dimension der Schriften von 1901 und 1902 und dem damit verbundenen philosophischen Selbstverständnis der Anthroposophie steht derzeit noch aus.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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