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Vorwort

Von Alois Maria Haas

SKA 5 (2013), VII-XXII

 

Als Rudolf Steiners zwei Schriften über die christliche Mystik exakt nach dem Eintritt des Fin de Siècle 1901 und 1902 erschienen, waren das nicht nur Momente, die für Steiners spirituell-intellektuelle Entwicklung im Besonderen, sondern auch für die historisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit der Mystik in ihrer religionswissenschaftlichen Variante von Bedeutung waren. Steiners Studien gehören zum europäischen Fanal einer neuen und hoch intensiven Beschäftigung mit mystischen Überlieferungen, die über den Ersten Weltkrieg hinaus philosophische, naturwissenschaftliche und theologische Studien animierten.

 

I.

Die Jahrhundertwende gilt sowohl in der Perspektive der damaligen Aktualität der Geschehnisse wie auch im Rückblick vom 21. Jahrhundert her als ein mentaler und intellektueller Einschnitt entscheidender Art. Peter Widmer begründet ihn unter aufgeklärter Nichtbeachtung von über 1500-jähriger christlicher – sowohl systematisch wie historisch forschender – Beschäftigung mit ›Mystik‹ (= theología mystikê, theosophía, contemplatio), dem Fetisch ›wissenschaftliche Rationalität gegen Mystik‹ huldigend, folgendermaßen:

Um 1900 entstand die wissenschaftliche Mystikforschung im Zuge der Religions-, Metaphysik- und Mystikkritik durch die Moderne: den Darwinismus, den Marxismus und die positivistischen Strömungen in den Wissenschaften. Damals wurde Mystik zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und wurde durch materialistische Erklärungen und anthropozentrische Deutungen diffamiert. Als Reaktion entstanden metaphysische Rehabilitationsprojekte, in denen Mystik, Metaphysik und Religion durch den Rekurs auf mystische Erfahrungen gerechtfertigt wurden.

Schon das 6. (Dionysios Areopagita), das gelehrte 13., das 14. und vor allem das 16. Jahrhundert waren sich über die Art Reflexion, die sie begleitend zur mystischen Erfahrung (unio mystica) übten, im Klaren und wussten, dass es sich dabei weitgehend um eine wahre scientia mystica handelte, die über ihre eigene Problematik, ihre systematischen und historischen Denkformen in selbstsicherer Methodik im Bilde war. Bei der Beurteilung des geistes- und kulturgeschichtlichen Bruchs fällt mindestens so entscheidend ins Gewicht dessen Deutung als eine um 1900 vorherrschende, alle Lebensdimensionen umfassende und in Frage stellende Krise und Krisenstimmung. Mit Recht hält Fritz-Dieter Maaß, der besonnene Geschichtsschreiber einer Geschichte der Mystikforschung in den Jahren 1918-1933, dazu unmissverständlich fest:

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich im Geistesleben Europas ein quälendes Krisenbewusstsein ab. ›In Deutschland hatten der Sieg und die Reichsgründung 1870/71 zu einem gewaltigen Aufschwung der Wirtschaft und des staatlichen Machtdenkens geführt.‹ Der darwinistische Materialismus und der Positivismus fanden in allen Städten Gehör und auch begeisterte Zustimmung. Das deutsche Bürgertum ›erlag der Ideologie des unbegrenzten Forstschritts oder erstarrte in der Enge materiellen Denkens‹. Mit dem Optimismus verband sich bürgerliche Sattheit. Der junge Kaiser mit seinem prahlerischen Gebaren (›Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen, Schwarzseher dulde ich nicht!‹) wurde von breiten Kreisen bewundert. Die kausal-mechanistische Weltanschauung, die mit der Willensfreiheit aufräumte, fand ihren Ausdruck besonders in der ›Verneinung Gottes‹ in Haeckels Welträtseln (1899). ›Der verlorene Gott wurde ersetzt durch den Naturtrieb.‹

Obwohl sicherlich die religiös-weltanschauliche Dominanz von Ernst Haeckels (1834-1919) naturwissenschaftlich begründetem Monismus – aufgeklärt, breit und polemisch dokumentiert in seinem Werk Die Welträthsel – auch für Rudolf Steiners literarische Unternehmungen um die Jahrhundertwende unbestritten bleibt, ist zunächst nicht völlig klar, wie er selber sein Denken mit dem monistischen zu vermitteln vermag. Gegen den Vorwurf, sein Buch über die Rätsel der Philosophie stelle Haeckel so dar, wie wenn es »ein orthodoxer Haeckelianer geschrieben hätte«, verweist er auf seine Verpflichtung als Interpret, seine Deutung, »wenn er die Haeckelsche Denkungsart darstellt, in dieser aufgehen« lassen zu müssen. Ein solcher Verweis auf die Legitimität einer immanenten Interpretation des haeckelschen Werks – ausgesprochen am Anfang seiner Karriere – erlaubte Steiner im Rückblick das Postulat einer ihn und seine Denkweise preisenden Krönung der ›Naturwissenschaft‹ durch »Geisteswissenschaft« aufzustellen, deren Ermöglichung er in kritischem Rückbezug auf Imanuel Hermann Fichtes Anthropologie (1856) in seiner Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894) zu artikulieren versuchte. Hierin erfolgte Steiners Positionsbezug gegenüber den »Herausforderungen der modernen Naturwissenschaften an ein zeitgemässes Denken« – zunächst ganz ohne Bezug auf christliche Gehalte:

In seiner Philosophie der Freiheit führt Steiner aus, dass der Mensch seiner Bestimmung nach frei sei, und zur menschlichen Freiheit gehöre die Fähigkeit, absolute Kontrolle über das eigene Innenleben zu erlangen. Solches gewährleiste der ›geistige Persönlichkeitskern‹ in jedem Menschen, sein ›Ich‹. Mittels des Ich und seiner moralischen Intuition könne der Mensch wollen, was er in seinem Denken für richtig befunden habe. (Iwersen [2003], 109)

 

Unsere beiden Texte sind der Versuch, der Geistdimension und der entscheidenden Rolle des ›inneren menschlichen Erlebens‹ im Rückgriff auf deren frühe Artikulation im Christentum eine Stimme zu verschaffen:

Es ist ersichtlich, dass nur das Leben, das vom inneren Sinn beherrscht wird, den Menschen in solcher Weise über sich hinaushebt, sein im eigensten Sinn höchstes Geistesleben. Denn nur in diesem Leben enthüllt sich das Wesen der Dinge vor sich selbst. (MA, 14)

 

II.

Steiners Mystikstudien gehören natürlich nicht nur in den engeren Bereich eines forschenden und/oder spirituell interessierten Engagements an mystischen Traditionen um die Jahrhundertwende, sondern vor allem auch in die um diese Zeit sich artikulierende geistige Neuorientierung, die – zuerst wohl »im Umfeld des sog. ›Kulturprotestantismus‹ insbesondere bei Max Weber, Georg Simmel und Ernst Troeltsch« – als »Dramatisierung wahrgenommener Entkirchlichungs-Phänomene [...] zu einer universal-historischen Hypothese der ›Säkularisierung‹ in der Moderne« geführt hatte. ›Das säkulare Zeitalter‹, das heute zum kulturellen Referenzbegriff für die nordatlantische Welt avanciert ist und bis in die Aufklärung des 18. Jahrhundert zurückreicht, deckt inzwischen einen weiten Bereich dessen ab, was von allen Aufgeklärten, die über Religion beredt sich vermelden wollen, als konstitutive ›religiöse Unmusikalität‹ seit Max Webers Dictum im Wappenzeichen geführt wird. So soll a priori verhindert werden, dass in ihren Äußerungen allenfalls eine subkutane Untertänigkeit dem Religiösen gegenüber noch geortet werden könnte. Wie immer – allzu scharfe Marginalisierung eines Diskursfeldes untersteht häufig einer Dialektik, welche dem genauen Gegenteil des Verfemten günstig ist. So wurde mit Recht für die Jahrhundertwende eine »Steigerung der religiösen Energien« festgestellt.

Und in der Tat lässt sich in der säkularen Welt zwischen 1875 und dem Ersten Weltkrieg ein eigentliches Knäuel von um Mystik, Lebensphilosophie, Theosophie und Esoterik und vielerlei anderswie bemühter Studien und Texte wahrnehmen. Der okkultistisch-esoterische Bezug oder die vom Religiösen emanzipierte ekstatische Erfahrung blieben bei vielen Interessenten vorrangig: bei Gustav Theodor Fechner, Carl du Prel, Frederik Willem van Eeden, William James, Richard Maurice Bucke, Edwin Diller Starbuck, Bertrand Russell, Papus, Piotr D. Ouspensky, Helena Petrowna Blavatsky, G. R. S. Mead, Arthur Edward Waite usw.; das religiöse Interesse an der Mystik dagegen dominierte bei Ralph William Inge, Vladimir Solovjev und Evelyn Underhill.

Auch im deutschen Sprachraum fanden sich eine Fülle von philosophisch, theologisch und dichterisch engagierten Intellektuellen, die sich um ein vital und emotional religiöses, theologisches, philosophisches, aber auch esoterisches oder ›säkulares‹, d.h. atheistisch grundiertes Verständnis von Mystik bemühten: Franz von Baader, der junge Martin Buber, Johann Joseph von Görres, Franz Hartmann, Max Heindel, Hermann Alexander Graf Keyserling, Karl Kiesewetter, Ludwig Klages, Gustav Landauer, Fritz Mauthner, Hermann Schwarz, Albert Schweitzer, Ludwig Wittgenstein, Leopold Ziegler.

Einen Begriff von der rhetorischen und stimmungsmäßigen Intensität, mit welcher intuitive und inspiratorisch signifikante innere Erkenntnisse und Erfahrungen vor der Jahrhunderwende paradigmatisch wiedergegeben werden konnten, gibt ein Text aus Friedrich Nietzsches Ecce homo, der sich, um die Gewalt der blitzhaften inneren Erfahrung angemessen zu kennzeichnen, der Kennmarke ›Offenbarung‹ bedient:

Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich’s beschreiben. – Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der That die Vorstellung, bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum anzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselung bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maaß für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten (– ›hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen –‹). Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf ›es ist auch die meine‹. – (KSA 6, 339 f.)

Sinnvollerweise lässt sich dieser Thematisierung einer Offenbarungserfahrung, die zwar die Intensität einer religiösen Evidenz, aber nicht unbedingt einen religiösen Inhalt aufweist, die Diskussion Sigmund Freuds (1856-1939) mit Romain Rolland (1866-1944) über das ›ozeanische Gefühl‹ hinzufügen, die für die Mystikforschung – als hermeneutische Diastase zwischen ›rationalem‹ und ›intuitivem‹ Deutungsansatz – nicht unerheblich und bis in neuere Diskussionen um die – mystische Erfahrungen prägenden – ›peak experiences‹ (als Momente der Selbstrealisierung) gegenwärtig blieb.

Dass es im Kontext der katholischen Theologie einen seit dem Mittelalter sich dokumentierenden, praktisch und theoretisch orientierten, intensiven Diskurs zu Askese und Mystik gab und bis heute gibt, ist schon angetönt worden. Bedauerlich bleibt – ebenfalls bis heute –, dass in der ›säkularen‹ Gesellschaft dieser Sonderbereich der theologischen Reflexion kaum wahrgenommen, dieser aber von den kirchlichen Instanzen auch nicht sonderlich gewünscht wurde. Gleichwohl ist der Reichtum dieser Forschung sowohl in praktischer wie theoretischer Hinsicht von außerordentlichem Umfang und beachtlicher Kompetenz. Einen wichtigen Einblick in dieses Wissen geben die Werke von Joseph Zahn (1862-1945) und Engelbert Krebs (dem theologischen Mentor Heideggers, 1881-1950), um nur zwei gewichtige Beispiele zu nennen. Sehr viele weitere Theologen und Philosophen wären hier noch zu nennen. Die Forschungsgeschichte der ›Mystik‹ ist noch nicht geschrieben worden.

Die protestantische Theologie, die seit Karl Barths (1886-1968) schroffem Widerspruch gegen alles, was mit ›Religion‹ auch nur von ferne in Beziehung zu ›Mystik‹ und Friedrich Schleiermacher (1768-1834) in den eigenen Reihen gebracht werden konnte, ihre großen Vorbehalte als Frontstellung des Offenbarungs-Worts gegen alle ›mystisch‹ imprägnierte ›Erleberei‹ neu artikulierte, kann bei deren Erforschung weniger als Deutungs- denn als Verdrängungsinstanz genannt werden.

Es kommt um die Jahrhundertwende zu diesem Wissensschatz hinzu der Beitrag der Religionswissenschaft und mit ihr auch die Erforschung außerchristlicher Philosophien und Mystiken, wie es Friedrich Heiler (1892-1967) schon früh moniert hatte in seiner Studie Die Bedeutung der Mystik für die Weltreligionen (München 1919). Der Beitrag dieser Mystikformen ist höchst beachtlich und dokumentiert sich einerseits im Auftritt von Arthur Schopenhauer (1788-1860), Friedrich Max Müller (1823-1900), Paul Deussen (1845-1919), Georg Misch (1878-1965), Friedrich Heiler (1892-1967) und vielen anderen, die alle ihre geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert hatten, und andererseits vor allem in den singulär aufwühlenden Studien Das Heilige (1917) und West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung (1926), mit bemerkenswerten Theorieschüben verfasst vom evangelischen Theologen, Religionshistoriker und Religionsphilosophen Rudolf Otto (1869-1937).

 

III.

Die sich vor und nach 1900 unüberhörbar vermeldende deutsche Literatur steht deutlich unter dem Zeichen der von Jean Paul (= Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825) in seiner ›Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei‹ (Siebenkäs, Erstes Blumenstück) und von Friedrich Nietzsche in seinem Aphorismus ›Der tolle Mensch‹ in seiner Fröhlichen Wissenschaft eröffneten ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ im Sinne einer »negative(n) Mystik der gottlosen Zeiten«. Solche Obdachlosigkeit prägt hinfort alles dichterische und philosophische Denken der Moderne „im Schock jenes UNGEHEUREN, das sich dem radikalen Denken als vollständig sich verweltlichende Welt zu zeigen beginnt.« Mit dieser neuen Einordnung religiöser Mystik in einen düsteren Kontext wandeln sich auch ihre Referenzen; nicht nur Gott steht unbezweifelt in ihrem Brennpunkt, sondern das menschliche Selbst mit seiner Konzentration auf seine eigene Geistigkeit oder dann die Natur und deren vereinigende Kraft. Dichtende Naturfromme, Atheisten und mental in sich selbst Entrückte aller Art schafften sich Gehör und Ansehen. Die Bücher von Wolfgang Riedel und Monika Fick vermitteln eine lebhaft-anschauliche Sicht auf Dominanz und Attraktion eines evolutionistisch eingefärbten Monismus, der genügend Raum für Transzendenzbedürfnisse zu geben schien. Faktisch aber fluktuiert die deutsche Literatur um die Jahrhundertwende in aller Offenheit nach allen Seiten spiritueller Offerten: Die ›Neue Mystik‹ – heute mit Uwe Spörl als »Neomystik« bezeichnet – steht dabei mit ihrer breiten Semantik von religiösen und parareligiösen Angeboten thematisch immer wieder im Zentrum. Auch wenn die »antirationalistische Gebildetenmystik des Eugen-Diederichs-Verlags« stark von protestantischen Kreisen angefeindet wurde, dominierte und förderte sie die Mentalität der ›Neuen Mystik‹ stark. Eine nicht unwichtige Trägergruppe der Neomystik war der Friedrichhagener Dichterkreis am Müggelsee in Berlin (heute Berlin Treptow-Köpenick); hier lebte und wirkte Wilhelm Bölsche (1861-1939), der ein wichtiger Exponent des haeckelschen Monismus war – ein Mann, dem als selbstverständlich galt, dass Wissenschaft und Mystik »die Friedenspfeife zusammen rauchen« dürfen.

 

IV.

Auch der voranthroposophische Rudolf Steiner hatte Beziehungen zu diesem Kreis, muss also – das bezeugen auch seine beiden Schriften über die christliche Mystik – im Einflussbereich der neuen Strömungen gestanden haben, die sich allenthalben im gelehrten Deutschland bemerkbar machten.

Um aber deutlich zu machen, dass für den zwischen 1897-1902 in Berlin lebenden Steiner zunächst die Mystik noch kaum von Bedeutung war, mag ein ironischer Text des ›individualistischen Anarchisten‹, als den er sich selber gerne ausgab, stehen:

Nicht durch abstraktes Denken, auf das wir Abendländer nun einmal angewiesen sind, sondern durch mystisches Schauen, durch Intuition suchen diese orientalischen Weisheitssucher zu ihrem Ziele zu gelangen. Es wäre vergebens, wenn wir Abendländer es ihnen nachmachen wollten [...] Ich rate vielmehr jedem, der mit einem Theosophen zusammenkommt, sich zunächst vollständig gläubig zu stellen und zu versuchen etwas von den Offenbarungen zu hören, die ein solcher von morgenländischer Weisheit vollgesogener Esoteriker in ›seinem Inneren‹ erlebt. Man hört nämlich nichts, nichts als Redensarten, die den morgenländischen Schriften entlehnt sind, ohne eine Spur von Inhalt. Die inneren Erlebnisse sind nichts als Heuchelei. (GA 32, 194 f.)

In Sinn und Geist eines von Max Stirner (= Johann Kaspar Schmidt, 1806-1856)inspirierten anarchistischen Individualismus versuchte Steiner alle physischen und geistigen Behinderungen fernzuhalten, die ihn in der freien Entfaltung seiner Individualität einzuengen drohten. Seinem finanziellen Ruin nahe, mögen aber dann die Einladungen der Sophie Gräfin von Brockdorff (1848-1906) – einer Mitbegründerin der Theosophischen Gesellschaft Deutschlands –, Vorträge über aktuelle Themen zu halten (z. B. über Nietzsche), für ihn nicht nur materiell, sondern auch geistig Räume eröffnet haben, die ihn weiterführten. Sicherlich zur Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens (GA 7) und zum Christentum als mystische Tatsache (GA 8); beide Werke entstehen aus Vorträgen.

Wenn der Titel von Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901) schon im Titel, aber auch im Vorwort zur Neuauflage von 1924 den aktuellen Bezug zur geistigen Situation der Zeit betont, dann ist die Wende deutlich. Wenn man so will, dann erarbeitet die erste Schrift die geistige Perspektive, in der die »mystische Erkenntnis« als »ein wirklicher Vorgang im Weltprozesse« zu sehen ist. Dies ist nur möglich, weil Steiner in den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, in der Fähigkeit innerer Wahrnehmung eine Kraft wirklicher Erfahrung sieht, die jener materieller Erfahrung gleich steht – dies mittels des delphischen ›Erkenne dich selbst‹. Damit hat er sicherlich ein ganz entscheidend wichtiges Motiv mystischer Introversion erkannt und referiert es als eine Form der ›Erweckung seines Selbst‹.

Auch die zweite Schrift, Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, nimmt wichtige Problembereiche der christlichen Mystikforschung auf, erstens die Frage, ob der innerste Kern des Christentums nur mystisch als eine Einheit zu verstehen ist, und zweitens die Frage, in welchem Bezug die mystischen Tendenzen der aufkommenden christlichen Bewegung zum spätantiken Mysterienwesen stehen.

Wie immer die Probleme sich darstellen mögen, die sich heute von den zwei Schriften her der Mystikforschung offerieren, und wie immer die Lösungen ausfallen mögen – die Texte liegen hier musterhaft ediert vor. Zudem werden die Texte, die Steiners Art des direkten Umgangs mit der Sprache entsprechend vom mündlichen Vortrag her konzipiert sind, ausführlich kommentiert. Dem Herausgeber Christian Clement ist zu danken, dass wir hinfort sehr viel tiefer und genauer der steinerschen Denkform nahekommen können, indem wir über die exakte Benennung seiner Quellen zu seinen wahren Intentionen herangeleitet werden.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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