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Vorwort

 

Von Eckart Förster

SKA 2 (2016), VII-XVI

 

1. Die beiden hier vorliegenden philosophischen Grundschriften Rudolf Steiners, Wahrheit und Wissenschaft und Die Philosophie der Freiheit, sind von der akademischen Philosophie bisher weitgehend ignoriert worden.

Der Kant-Forscher Erich Adickes gab 1894 gewissermaßen den Ton vor, als er in einer Rezension von Wahrheit und Wissenschaft Steiner nicht nur »unbegründete Voraussetzungen, Vorurtheile, Widersprüche und starke Irrthümer« vorwarf, sondern einen unbemerkten Rückfall in eine längst durch Hume und Kant überwundene, dogmatische Metaphysik: »St[einer] nimmt die Möglichkeit eines Systems objektiver, realer Erkenntniss aus reiner Vernunft an, ohne auch nur zu ahnen, dass hier ein Problem vorliegt, und zwar das Grundproblem einer jeden an reine Vernunfterkenntnisse glaubenden Erkenntnistheorie.« Entsprechend schließt Adickes seine kurze Besprechung mit dem bezeichnenden Satz: »Bevor er weiter fortfährt, zu reformiren und seine ›Philosophie der Freiheit‹ in die Welt setzt, ist ihm daher dringend anzurathen, sich erst zu einem Verständniss der Probleme jener beiden Philosophen [Kant und Hume] hindurchzuarbeiten.« Andere haben ähnlich geurteilt.

 

2. So hat es über hundert Jahre gedauert, bis in unserer Zeit die beiden Schriften Steiners Gegenstand einer detaillierten Untersuchung von Seiten der Philosophie wurden. In Philosophie und Anthroposophie (PuA) hat Hartmut Traub erstmals und auf über 1000 Seiten Steiners Texte einer durchgängigen textkritischen Analyse und Kommentierung unterzogen. Dabei ging es ihm vor allem darum, Steiner in dem, »was er dem Wortlaut und Gedankengang zufolge geschrieben« (ebd., 25) hat, ernst zu nehmen und eine »retrospektive« Interpretation bzw. Umdeutung von Wahrheit und Wissenschaft und Die Philosophie der Freiheit auf der Basis von Steiners späteren, anthroposophischen Schriften als unzulässig abzuweisen.

Traub zufolge leben Steiners philosophische Texte methodologisch mehr von ihrer Polemik gegen andere Positionen als durch den diskursiv-argumentativen Nachweis ihrer eigenen inneren Stimmigkeit und Stichhaltigkeit: »Die Plausibilität des eigenen Denkansatzes wird so aus dem Nachweis der Fehlerhaftigkeit der kritisierten Gegner zu begründen versucht« (ebd., 28). Traubs besonderes Anliegen ist es folglich, diese Polemiken und Kritiken zu untersuchen und auf ihre Berechtigung und Sachhaltigkeit hin zu prüfen (ebd., 27).

Dabei ist es ihm gelungen, in einem vorher so nicht bekannten Umfang und im Einzelnen die Grundlegung von Steiners philosophischer Weltanschauung aus dem Geiste des Deutschen Idealismus, und Fichtes im Besonderen, aufgezeigt zu haben. Allerdings ist auch sein Fazit überwiegend negativ. Immer wieder kommt er zu dem Ergebnis, dass Steiner seine Gegner missverstanden oder in polemischer Absicht falsch dargestellt hat, wobei Traub selbst mit Vorwürfen intellektueller Unredlichkeit und philosophischer Inkompetenz nicht spart.

Kann sich vor diesem Hintergrund eine intensive Beschäftigung mit den beiden philosophischen Grundschriften Steiners überhaupt noch lohnen?

Dass manches von dem, was Steiner über die von ihm kritisierten Philosophen schreibt, heute so nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, scheint mir außer Frage. Unser Wissensstand hat sich nicht zuletzt durch die sich über viele Jahrzehnte erstreckende, intensive Arbeit an den Akademieausgaben der Werke von Kant, Fichte, Schelling und Hegel erheblich gewandelt und erweitert. Auch die steinersche Art der Darstellung mag heute streckenweise antiquiert, den gängigen philosophischen Argumentationsstandards nicht gemäß wirken. Das Gefühl der Fremdheit und Zeitgebundenheit ist aber auch Ausdruck der Tatsache, dass sich der heutige Leser in einer ganz anderen geistigen Situation befindet, als das am Ende des 19. Jahrhunderts der Fall war.

 

3. Sah Steiner sich noch genötigt, zu einer »Überwindung des Subjektivismus, der den von Kant ausgehenden Erkenntnistheorien anhaftet« (WW, 1), den Grund zu legen, so ist die Philosophie der Gegenwart im Gegenteil von einem umfassenden Objektivismus geprägt, dem das Subjekt abhandenzukommen droht: die Stelle des »ungesunden Kant-Glauben[s]« (WW, VII), gegen den Steiner anschrieb, hat in unserer Zeit der Naturalismus eingenommen, der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts fast alle Gebiete der Philosophie – nicht nur die Erkenntnistheorie, sondern ebenso die Philosophie des Geistes und die Ethik – prägt.

Es gibt verschiedene Spielarten des Naturalismus, stärkere und gemäßigtere Versionen. Die allen Varianten gemeinsame Grundüberzeugung ist die, dass der Zugang der Erfahrungswissenschaften zur Wirklichkeit der einzig angemessene ist, und dass folglich alles, was es gibt, einschließlich des menschlichen Geistes und der menschlichen Handlungen, mit den Methoden der Erfahrungswissenschaften beschreibbar und erklärbar sein muss. Das zugrundeliegende Prinzip ist dabei das der kausalen Geschlossenheit (›causal closure‹) der Welt: alle Veränderungen in der Welt des Natürlichen müssen sich auch aus natürlichen Ursachen erklären lassen.

Nun weist allerdings gegenwärtig manches darauf hin, dass die Dominanz des Naturalismus zu bröckeln beginnt.

Ein Grund dafür ist, dass sich die subjektiven Erlebniselemente von Bewusstsein, die nur aus einer Ich-Perspektive zugänglich sind, der objektiven, wissenschaftlichen Beobachterperspektive grundsätzlich entziehen. Selbst in einer aus Sicht der Erfahrungswissenschaften vollständigen Beschreibung der Welt, wenn es eine solche gäbe, müsste folglich gerade das, was uns das Nächste und Vertrauteste ist, das erlebnishafte, selbstbezügliche Erfahren, notwendig fehlen. Der Naturalismus ist also ungenügend, um das, was es gibt, vollständig zu beschreiben und zu erklären.

Dieser Einwand ist in unserer Zeit vielleicht am nachhaltigsten von dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel vertreten worden. Sein neuestes Buch, Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, schließt mit dem bemerkenswerten Satz: »Ich würde darauf wetten wollen, dass der gegenwärtige Konsens, was zu denken richtig ist, in einer oder zwei Generationen lachhaft wirken wird.« Einen konkreten Vorschlag, was an dessen Stelle zu treten hätte, hat er nach eigenem Eingeständnis allerdings nicht.

Ein anderes Beispiel: In einem sehr lesenswerten Aufsatz Der Naturalismus: Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit? untersucht der Berliner Wissenschaftstheoretiker Holm Tetens den erkenntnistheoretischen Status des Nominalismus. Auch er kommt zu dem Schluss, dass der Naturalismus »im Grundsätzlichen auf der Stelle tritt und stagniert« (ebd., 17). Dass dennoch so viele Philosophen an ihm festhalten, liegt auch ihm zufolge daran, dass sie keine Alternative zum Naturalismus sehen, ja dass für sie ein Abrücken von den Methoden der empirischen Wissenschaften einer Rückkehr zu scheinbar längst überwundenen metaphysischen Positionen gleichkäme.

Demgegenüber zeigt Tetens, dass kein Resultat der empirischen Wissenschaften die Richtigkeit des Naturalismus beweisen kann, sondern dass dieser selbst eine metaphysische Position ist. Angesichts der fundamentalen Probleme, die den Naturalismus auf der Stelle treten lassen, müsste es Tetens zufolge auf der Tagesordnung der Philosophie stehen, die metaphysischen Alternativen zum Naturalismus mit der gleichen Leidenschaft und Gründlichkeit zu untersuchen, wie den Naturalismus: »Wann geht endlich wieder ein Ruck durch die Reihen der akademischen Philosophen? Wann werden endlich die Tore zu den Alternativen zur Metaphysik des Naturalismus wieder weit aufgerissen?« (ebd., 17). Und weiter:

Der Naturalismus ist eine metaphysische Position. Als Metaphysik konkurriert er mit den zwei anderen metaphysischen Weltauffassungen des Idealismus und Dualismus und muss sich dem Wettbewerb von Gründen und Gegengründen stellen, die sich für oder gegen die verschiedenen metaphysischen Deutungen der Wirklichkeit ins Feld führen lassen. Einzelwissenschaftliche Resultate zählen nicht zu diesen Gründen. (ebd., 13, Herv. E. F.)

Besonders die zuletzt zitierten Sätze scheinen mir bedeutsam für eine heutige Einschätzung der philosophischen Schriften Steiners. Denn einerseits hat Steiner bereits darauf insistiert, dass die Philosophie, will sie das Problem der Erkennbarkeit der Wirklichkeit lösen, nicht bereits Resultate einzelner Wissenschaften voraussetzen darf, nichts, »was selbst schon in das Gebiet des Erkennens gehört« (WW, 31). Zum anderen hat er Gründe für einen objektiven Idealismus zu geben versucht, demzufolge »im Denken die Essenz der Welt vermittelt wird« (WW, 67), und damit verbunden zugleich eine grundsätzliche Kritik am Dualismus vorgelegt. Vor dem gerade beschriebenen Hintergrund scheint es deshalb angeraten, seine Gründe einer genauen Prüfung zu unterziehen. Worum ging es Steiner, abgesehen von aller Polemik und Auseinandersetzung mit anderen Autoren, der Sache nach?

 

4. Nimmt man beide hier vorliegenden Werke als eine Einheit (und Wahrheit und Wissenschaft seinem Untertitel gemäß als ein »Vorspiel einer Philosophie der Freiheit«), und versuchte man außerdem, deren Anliegen thesenartig zusammenzufassen (wie ich es hier tun muss), dann lässt sich m. E. folgendes sagen: Es geht darum, den inneren Zusammenhang von Erkenntnis und Moral aufzuweisen. Oder, etwas genauer und aus einer anderen Blickrichtung: die Texte wollen eine philosophische Begründung dessen geben, was in einem bekannten johanneischen Satz so ausgedrückt ist: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Joh. 8:32).

Was heißt das? Die Grundbedingung menschlicher Freiheit wäre dem letzten Satz zufolge die Erkenntnis der Wahrheit, d. h. Erkenntnis der Wesenheit der Dinge und ihrer Verhältnisse zueinander. Eine solche Erkenntnis ist, Steiner zufolge, nur möglich, wenn das Wesen der Dinge nicht etwas dem Erkennenden Äußerliches, Fremdes ist, sondern innerhalb des Bewusstseins auffindbar ist. Dass dies der Fall ist, können wir erfahren, so Steiner, wenn wir ein sinnenunabhängiges, ›reines Denken‹ auszubilden im Stande sind.

Das ist m. E. der aus heutiger philosophischer Sicht interessanteste und zugleich provokanteste Punkt. Eine wirkliche, d.h. grundsätzliche und sachgemäße Auseinandersetzung damit steht der Philosophie wohl noch bevor. Dabei wird besonders zu beachten sein, dass ein solches sinnenfreies reines Denken nicht als ›subjektiv‹ beschrieben werden kann, dass es vielmehr über Subjekt und Objekt erhaben ist: »Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag [...] Das Denken ist somit ein Element, das mich über mein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet« (PF, 60 f.).

Der zweite, sich daran anschließende und nicht minder provokante Punkt ist: dass wir nur in einem solchen, in innerer Aktivität entwickelten reinen Denken wirklich frei sein können; und dass sich aus einem daraus entspringenden »Hineinleben in den Weltengrund« (WW, 72) auch die moralischen Impulse unseres Handelns gewinnen lassen. »Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. Es bildet die Gesetzlichkeit zuerst in Ideale um und gibt sich diese selbst zum Gesetz« (GA 30, 239). Dass eine solche von Steiner als ›ethischer Individualismus‹ bezeichnete Position nichts mit einem Egoismus stirnerscher oder nietzscheanischer Provenienz zu tun hat, wie ihm dies nach Erscheinen der Philosophie der Freiheit sogleich vorgeworfen wurde, ergibt sich aus dem bereits Gesagten: die wahren sittlichen Ideale, die Ideen von dem, was wir durch unser individuelles Handeln vollbringen sollen, können sich Steiner zufolge nur aus der Erkenntnis der »gesetzmäßigen Harmonie, von der das Weltall beherrscht wird« (WW, 72), ergeben. Nicht Stirner oder Nietzsche wären also hier als Geistesverwandte zu nennen, sondern, wenn überhaupt, dann jemand wie Schelling, der 1804 schrieb:

Wie ich nämlich im absoluten Wissen oder in der absoluten Contemplation das Endliche unmittelbar als ein Unendliches erkenne und affirmire, so ist umgekehrt das Handeln vielmehr ein Affirmiren des Unendlichen als eines Endlichen, des Idealen als eines Realen, das aber mit gleicher Nothwendigkeit aus dem Wesen der Seele fließen muß, als die Erkenntnis, daß das Endliche, das Reale = dem Idealen sey. (Schelling [1804], 470)

5. Steiners philosophischer Ansatz steht und fällt also, wenn ich recht sehe, mit der Möglichkeit der Wesenserkenntnis (und diese mit der Möglichkeit reinen Denkens). Um diese angemessen beurteilen zu können, dürfte es ratsam sein, drei Aspekte der steinerschen Argumentation genauer zu unterscheiden, die allerdings jede für sich einer ausführlicheren Darstellung bedürften, als es hier geschehen kann. (Man könnte sie auch als das fichtesche, das hegelsche und das goethesche Element in Steiners Denken bezeichnen.)

a) Reines Denken. Normalerweise ist das Denken das »unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens« (PF, 42). So wie ich mir beim Sehen dessen, was ich sehe, bewusst bin, aber nicht des Akts des Sehens selbst, so auch beim Denken und seinen Gegenständen – es ist an diese hingegeben. Um die Natur des Denkens zu erkennen, muss ich es also selbst zum Gegenstand einer Beobachtung machen, und dazu muss ich es erst willentlich hervorbringen. Da ich das Denken selbst hervorbringe, habe ich es in seiner Beobachtung nicht mit etwas Fremdem zu tun, sondern mit meiner ureigenen Tätigkeit. Tätiges und das, was beobachtet wird, sind in diesem Fall qualitativ dasselbe; Wesen und Erscheinung fallen in der Beobachtung des eigenen Denkens zusammen. Damit ist das Paradigma einer Wesenserkenntnis gegeben: ich weiß, wie das zustande kommt, was ich beobachte, da ich dabei sein muss, damit es zustande kommt. Oder, wie Steiner sagt: »Im Denken haben wir ein Prinzip, das durch sich selbst besteht [...] Das Denken können wir durch es selbst erfassen. Die Frage ist nur, ob wir durch dasselbe auch noch etwas anderes ergreifen können« (PF, 51).

b) Begriffsorganismus. Das reine Denken bildet Begriffe (›Kategorien‹). Diese werden Steiner zufolge nicht aus der Wahrnehmung gewonnen, sondern nur auf deren Veranlassung hin und werden dann zu dem Wahrgenommenen hinzugefügt, um dieses verständlich zu machen. »Ursachen und Wirkungen müssen wir in der Welt aufsuchen, Ursächlichkeit als Gedankenform müssen wir selbst hervorbringen, ehe wir die ersteren in der Welt finden können« (WW, 42). Entscheidend ist nun, dass solche Begriffe nicht isoliert auftreten, sondern auf Grund ihres Inhalts notwendig auf andere Begriffe führen und sich mit diesen zu einem geschlossenen Begriffssystem verbinden, in welchem jedem seine ganz bestimmte Stelle zukommt. Steiner gibt einige Beispiele: An den Begriff »Kausalität« schließen sich die von »Ursache« und »Wirkung« an (vgl. WW 42 u. 48); an den Begriff »Körper« (Ausgedehntes im Raum) die Begriffe »Körper, der sich nicht ohne äußeren Antrieb verändern kann« und »Körper, die sich aus eigenem Antrieb verändern können« (vgl. EG, 204); der Begriff »Organismus« schließt sich an »gesetzmäßige Entwicklung« und »Wachstum« an (vgl. PF, 57); usw. Diese Begriffe werden also zwar vom Denken konstruiert, sie stehen aber unter sich in einem Zusammenhang (Begriffsorganismus), der nicht vom Subjekt produziert ist, sondern einen objektiven und wesenhaften Charakter hat, der in das Bewusstsein gewissermaßen hineinspielt und den ich mir tätig erarbeiten muss. Die in dieser Gedankenwelt erfahrene ideelle Notwendigkeit wird dann Steiner zufolge auch in der Erfahrungswelt gesucht. Der Erkenntnis Suchende tritt mit seinen Begriffen an die einzelnen Wahrnehmungen heran, um sie nach Maßgabe der Begriffe mit anderen zu verbinden und so ihren gesetzmäßigen Zusammenhang aufzusuchen, den die einzelnen Wahrnehmungen als solche nicht mitliefern.

c) Wesenserkenntnis. Wie der Schritt zur Wesenserkenntnis im einzelnen auszusehen hat, ist in den beiden hier vorliegenden Schriften mehr angedeutet als ausgeführt, und man wird gut daran tun, andere Schriften Steiners aus dem Frühwerk, besonders seine Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und die Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, zur Ergänzung und Erläuterung hinzuzuziehen. So viel lässt sich dennoch sagen: Um zu erkennen, was die Dinge ihrem Wesen nach sind, muss ich die Bedingungen, unter denen sie erscheinen, aufsuchen und dann beobachten, wie die Erscheinungen ineinander übergehen. D.h. ich muss die Übergänge zwischen den Erscheinungen untersuchen, um zu sehen, welche Veränderungen zufällig oder den Dingen äußerlich, welche gesetzmäßig notwendig und damit der Sache selbst wesentlich sind. In der Notwendigkeit der Übergänge tritt die ideelle Einheit des Grundes (das Wesen) in Erscheinung. (Darauf komme ich gleich noch einmal zurück.)

Wenn diese drei Aspekte hier auch nur thesenartig angeführt werden können, so werfen sie m. E. doch ein deutliches Licht auf die grundsätzliche Schwierigkeit, die eine zeitgenössische, naturalistische Erkenntnistheorie mit Steiners Position haben muss. Denn sie lehnt eine Wesenserkenntnis der Dinge, genauso wie vor ihr der Kantianismus, grundsätzlich ab. Was genuines Wissen ist, diskutiert sie seit Jahrzehnten vorrangig unter dem Stichwort ›begründete wahre Überzeugung‹ – mithin als einen Bezug auf Dinge, der diesen letztlich äußerlich bleibt. Folglich sind ihr auch Ideen nicht etwas, in dem das Wesen der Dinge zum Ausdruck kommt, sondern nur subjektive Produkte des menschlichen Geistes. Für eine solche Erkenntnistheorie wird auch der Hinweis auf die Nähe Steiners zum deutschen Idealismus, den sie für längst überwunden hält, keine argumentative Kraft haben.

 

6. Dasselbe gilt natürlich auch für den Hinweis auf die philosophische Tradition, die ich abschließend erwähnen möchte, weil sie, wie ich meine, ein zusätzliches Licht auf Steiners philosophische Methode werfen kann – die platonische.

Wie Steiner unterscheidet auch Platons Sokrates zwischen dem Wesen einer Sache und den empirischen Bedingungen seiner Erscheinung. So heißt es z. B. im Phaidon:

Das wäre doch gar eine große und breite Untauglichkeit der Rede, wenn sie nicht imstande wäre, zu unterscheiden, daß bei einem jeden Dinge eines die Ursache ist, und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte (99b).

Die »wahre Ursache« bzw. das Wesen, durch das ein Ding das ist, was es ist, nennt Sokrates »das Anordnende der Dinge [τὸ διακοσμεῖν τὰ πράγματα]« (98b). Und wie Steiner insistiert er darauf, dass das Wesen einer Sache im Denken gefunden werden muss: »[M]ich dünkt, ich müsse zu den Gedanken [τοὺς λόγους] meine Zuflucht nehmen und in diesen das wahre Wesen der Dinge anschauen [σκοπεῖν τῶν ὄντων τὴν αλήθειαν]« (99e).

Wie das im einzelnen aussehen würde, hat er nicht gesagt. Zunächst ist aber klar, dass es hier nicht um das normale, diskursive Denken gehen kann – sonst könnte Sokrates nicht im gleichen Zusammenhang darüber klagen, dass die wahren Ursachen der Dinge von den Philosophen bisher gar nicht erkannt worden sind. Vielmehr muss es um ein anderes, ein anschauendes Denken [σκοπεῖν] gehen, wenn das innerlich »Anordnende« – das er an anderer Stelle auch als »die wahre Einheit in der Vielheit« bezeichnet hat – erfahren werden soll. Denn um zu erleben, dass und wie ein innerlich Anordnendes in allen Teilen zugleich wirkt und so das Verhältnis der Teile gegeneinander und gegen das Ganze bewirkt, muss der Betrachter das kontinuierlich Tätige in den wechselnden sinnlichen Gestaltungen, das Simultane im Sukzessiven, mitvollziehen und so den Zusammenhang selbsttätig generieren. Dann kann das so in Eigentätigkeit Erfahrene aber auch nicht diskursiv – von außen – vermittelt oder bewiesen werden.

Platon macht aber noch einen Schritt darüber hinaus, und um den geht es mir hier. Er scheint nämlich davon ausgegangen zu sein, dass in gewisser Weise gezeigt oder darauf hingewiesen werden kann, worum es bei der Erkenntnis des »wahren Wesen der Dinge« geht: Dazu ist erforderlich, dass eine Darstellung oder Rede »wie ein lebendes Wesen gebaut sein und ihren eigentümlichen Körper haben muß, so daß sie weder ohne Kopf ist noch ohne Fuß, sondern eine Mitte hat und Enden, die gegeneinander und gegen das Ganze in einem schicklichen Verhältnis gearbeitet sind« (Phdr. 264c; Herv. E. F.).

Das lässt Platon Sokrates im Phaidros nicht nur sagen; vielmehr hat er dessen zwei Reden (und ebenso den ganzen Dialog) in genau diesem Sinne »wie ein lebendes Wesen« gestaltet. Der Leser, der das bemerkt, erlebt daran, indem er den inneren Zusammenhang für sich herstellt, wie die Idee des Ganzen nicht nur in allen Teilen zugleich anwesend ist, sondern diese gestaltet und ihnen ihre Stelle im Ganzen anweist, ohne selbst ausgesprochen (d. h. sinnlich präsent) zu sein. So hat Platon mit diesem Dialog (und anderen ebenso gestalteten) gewissermaßen eine Vorschule zur Ausbildung desjenigen Denkens, das zur Erkenntnis auch »des wahren Wesen der Dinge« erforderlich wäre, geliefert.

Bezeichnenderweise tritt Steiner mit demselben Anspruch auf. Nicht nur hat er mehrfach betont, dass bei schriftlicher Darstellung geistiger Dinge das Wie des Geschriebenen eigentlich wichtiger sei als das Was. Bezüglich der beiden hier vorliegenden Bücher Wahrheit und Wissenschaft und Die Philosophie der Freiheit sagte er einmal:

Diese Bücher sind nicht so geschrieben wie andere Bücher, daß sie einen Satz einer bestimmten Stelle auch an eine andere Stelle des betreffenden Buches setzen könnten. Diese Bücher sind keine Gedanken-Aggregate, sondern Gedanken-Organismen. Ein Gedanke wächst wie ein Organismus, er wächst organisch aus dem anderen heraus. Diese Bücher sind also nicht so geschrieben, daß einfach ein Gedanke zum anderen hinzugefügt wird, sondern so, daß die späteren Gedanken aus den vorhergehenden herausgewachsen sind wie bei einem Organismus. So müssen in dem Leser auch die Gedanken herauswachsen, er muß spüren, wie er hingetrieben wird zu dem Denken; und dann macht er sich jene eigentümliche Art des Denkens, das sich selbst erzeugende Denken, zu eigen. (Berlin, 14. März 1907; GA 55, 187 f.)

Und von der Philosophie der Freiheit im Besonderen heißt es: »Denn dieses Buch ist ein gegliederter Organismus, und das Durcharbeiten der Gedanken dieses Buches bewirkt so etwas wie eine innere Trainierung« (GA 103, 196). Darum ist dieses Buch m. E. zu Recht auch als Übungs- und Schulungsbuch bezeichnet worden.

 

7. Diesen Aspekt, den man mit Steiner vielleicht als den wichtigsten bezeichnen könnte, wird auch eine philosophische Rezeption Steiners zur Kenntnis nehmen müssen, will sie an seinem eigentlichen Anliegen nicht vorbeigehen. Ohne den bereitwilligen Versuch, ein solches sich selbst erzeugendes Denken im Sinne Steiners selbst auszubilden, wird sich über dessen Wirklichkeit nichts entscheiden lassen. Was uns Wahrheit und Wissenschaft und Die Philosophie der Freiheit heute philosophisch sagen können, wird auch von der Bereitschaft abhängen, über eine bloß historisch-kritische Analyse der darin gemachten Aussagen (deren Berechtigung ich nicht in Frage stelle) hinauszugehen.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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