top of page

Einleitung

Von Christian Clement

SKA 1 (2022), XVII-CIII

 

 

Goethes […] wissenschaftliche Darlegungen sind für mich eine Mitte, zu der Anfang und Ende zu suchen ist. Der Anfang: durch Darstellung der prinzipiellen Grundlage, von der wir uns diese Weltansicht getragen denken müssen; das Ende: durch Auseinandersetzungen der Konsequenzen, die diese Betrachtungsweise für unsere Anschauung über Welt und Leben hat.

(Rudolf Steiner, 1886)

Eine prägnantere Charakterisierung des Lebensweges von Rudolf Steiner als die oben zitierte Äußerung aus einem Brief vom 25. November 1886 an Friedrich Theodor Vischer wird sich schwerlich finden lassen. In ihr hat Steiner mit sicherer Intuition sein damals noch überwiegend vor ihm liegendes Lebenswerk treffend charakterisiert und zugleich der Nachwelt einen Schlüssel zum Verständnis desselben an die Hand gegeben. Schon als Schüler und Student hatte er sich intensiv in die ideelle Welt des deutschen Idealismus eingelebt: zunächst in die Philosophie Kants und Fichtes, später auch in die Denkwelten Hegels und Schellings. Als man ihm dann noch als Student die Herausgabe einer Edition der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes antrug, wurden ihm diese zu einer zweiten geistigen Heimat. Von diesen Ausgangspunkten aus bildete Steiner eine prägnante und charakteristische, in ihren Formen sich vielfach wandelnde Weltanschauung aus, die sich nach dem goethe-begeisterten Idealismus der 1880er Jahre in den neunziger Jahren auch den radikalen Individualismus Friedrich Nietzsches und Max Stirners sowie die Evolutionstheorien Charles Darwins und Ernst Haeckels anverwandelte. Nachdem er sich jedoch als vehementer Verteidiger dieser radikalen Bilderstürmer in der Öffentlichkeit einen gewissen Namen gemacht hatte, fand nach der Jahrhundertwende eine weitere Metamorphose seiner Gedankenwelt statt, in deren Verlauf er sich, für viele Zeitgenossen und selbst persönliche Freunde überraschend, der Mystik und insbesondere der anglo-indischen Theosophie Helena Petrovna Blavatskys und Annie Besants zuwandte und rasch zu deren einflussreichstem Vertreter im deutschsprachigen Raum aufstieg. Als letzte Stufe dieses Prozesses kann die ab 1910 sich vollziehende Transformation seiner spezifischen Version von Theosophie zu jener Anthroposophie angesehen werden, als deren Schöpfer und Repräsentant er im 20. Jahrhundert bekannt wurde und bis heute bekannt ist.

Dabei waren es im Endeffekt nicht so sehr seine philosophischen, theosophischen und anthroposophischen Ideen als solche, sondern vor allem deren praktische Anwendung in der Waldorfpädagogik, der anthroposophischen Medizin, der biodynamischen Landwirtschaft, der Bewegung zur sozialen Dreigliederung und anderen, mit denen Steiner tiefgreifende Impulse für das Kulturleben der Gegenwart gesetzt hat. Diese anthroposophischen Kulturimpulse können daher, im Sinne der anfangs zitierten Selbstcharakterisierung, als das ›Ende‹ bzw. als die ›Konsequenzen‹ eines Lebenswerks verstanden werden, welches damit begann, dass der junge Steiner sich in jene ›Welt- und Lebensanschauung‹ einlebte, die ihm von der einen Seite her in der Philosophie des deutschen Idealismus und von der anderen Seite her in der Naturforschung Goethes entgegentrat.

Neben der Tatsache, dass Steiners Name und die erwähnten praktischen Anwendungen seiner Anthroposophie der Gegenwart durchaus ein Begriff sind, muss freilich auch konstatiert werden, dass die wenigsten Zeitgenossen heute einen Begriff von den philosophischen, wissenschaftstheoretischen und spirituellen Grundlagen dieser Bewegung und des sie begründenden Denkens haben. Kaum jemand, der heute seine Kinder ganz selbstverständlich auf eine Waldorfschule schickt, Demeter-Produkte kauft oder sich anthroposophische Präparate verschreiben lässt, hat eine klare Vorstellung von der geistigen Welt, aus der diese heute selbstverständlichen Kulturphänomene hervorgegangen sind. Trotz der breiten öffentlichen Präsenz der Anthroposophie, und trotz der Verfügbarkeit einer etwa 350 Bände umfassenden Gesamtausgabe von Steiners Werken, ist und bleibt sein Denken das vielleicht »bestgehütetste Geheimnis des 20. Jahrhunderts«. Dies zu ändern und einen sachlichen, öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Steiner und seine Anthroposophie anzuregen, ist Intention und Aufgabe der vorliegenden Edition seiner zentralen Schriften, für die sich das Akronym SKA (Steiner: Kritische Ausgabe) eingebürgert hat. Sie arbeitet die zentralen Buchveröffentlichungen Steiners zum ersten Mal in textkritischer Weise auf und gibt somit der Steiner-Forschung und der interessierten Öffentlichkeit ein Instrument an die Hand, das für eine gründliche und kritische Auseinandersetzung mit der intellektuellen und spirituellen Substanz des anthroposophischen Kulturimpulses unabdingbar ist. Die bereits bestehende und derzeit nahezu vollendete Gesamtausgabe (GA) des steinerschen Schrifttums, die von der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung herausgegeben wird, hat zwar ihre Verdienste, macht aber die teilweise sehr bewegte Entwicklung der steinerschen Texte durch ihre verschiedenen Auflagen hindurch nicht transparent und bietet somit keine hinreichende Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundtexten der Anthroposophie. Die SKA hingegen stellt durch ihren textkritischen Ansatz erstmals eine solche Grundlage zur Verfügung. Sie ist zwar, indem sie ausschließlich die Entwicklung der Druckausgaben zu Steiners Lebzeiten dokumentiert und Entwürfe, Manuskripte oder sonstige Archivmaterialien nur teilweise berücksichtigt, keine vollgültige historisch-kritische Edition des steinerschen Werkes, doch hätte eine solche Ausgabe, anders als die nunmehr vorliegende, von einem einzelnen Bearbeiter nicht bewältigt werden können. Die Realisierung einer solchen historisch-kritischen Edition ist aber auf Jahrzehnte hin nicht absehbar, und so steht jetzt mit der SKA ein zwar eingeschränktes, aber solides Instrument für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit demjenigen zur Verfügung, was Steiner als gedankliche Substanz seines Lebenswerkes vor das Forum der Öffentlichkeit gestellt sehen wollte. Sein umfassendes geisteswissenschaftliches Vortragswerk, welches sich überwiegend an seine Anhängerschaft richtete und das, so es denn überhaupt zu seinen Lebzeiten in Buchform erschien, primär für einen meditativen Umgang gedacht ist, wird von der SKA ebenso wenig berücksichtigt wie seine öffentlichen Vorträge und seine zahlreichen Artikel und Aufsätze. Diese bringen zwar im Einzelnen vielfältige neue Perspektiven und Anwendungen, fügen aber der in den Hauptwerken entwickelten Substanz nichts hinzu, was zu einem Verständnis von Steiners Anliegen unabdingbar wäre. Mit der abgeschlossenen SKA wird somit alles dasjenige Material in textkritischer Fassung vorliegen, dessen eine kritische Wissenschaft und eine interessierte Öffentlichkeit zur Bildung eines sachgemäßen Urteils über Steiner und seine Anthroposophie bedarf. Ihre mit dem vorliegenden Band abgeschlossene erste Abteilung (Bände 1‒8) umfasst sämtliche Schriften von 1884 bis 1910 und dokumentiert somit die philosophische und die theosophische Phase Steiners. Eine inzwischen in Angriff genommene zweite Abteilung (Bände 9‒16) wird die vier Mysteriendramen sowie die zwischen 1911 und 1925 herausgekommenen anthroposophischen Monographien Steiners enthalten. Nach derzeitiger Planung wird die vollendete SKA folgende Gestalt haben:

Band 1: Frühe Schriften zur Goethe-Deutung

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886) ‒ Goethes naturwissenschaftliche Schriften (1884‒1897)

Band 2: Philosophische Schriften

Wahrheit und Wissenschaft (1892) ‒ Die Philosophie der Freiheit (1894)

Band 3: Intellektuelle Biographien

Friedrich Nietzsche (1895) ‒ Goethes Weltanschauung (1897) ‒ Haeckel und seine Gegner (1900)

Band 4, 1‒2: Schriften zur Geschichte der Philosophie

Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert (1900/1901) ‒ Die Rätsel der Philosophie (1914)

Band 5: Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte

Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901) ‒ Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums (1902)

Band 6: Schriften zur Anthropologie

Theosophie (1904) ‒ Anthroposophie (1910)

Band 7: Schriften zur Erkenntnisschulung

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904‒1905) ‒ Die Stufen der höheren Erkenntnis (1905‒1908)

Band 8, 1‒2: Schriften zur Anthropogenese und Kosmogonie

Fragment einer theosophischen Kosmogenie (um 1903/1904) ‒ Aus der Akasha-Chronik (1905‒1908) ‒ Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910)

Band 9, 1–2: Vier Mysteriendramen

Die Pforte der Einweihung (1910) ‒ Die Prüfung der Seele (1911) ‒ Der Hüter der Schwelle (1912) ‒ Der Seelen Erwachen (1913)

Band 10: Schriften zur meditativen Erarbeitung der Anthroposophie I

Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen (1912) ‒ Die Schwelle der geistigen Welt (1913)

Band 11: Schriften über Geschichte und politisches Zeitgeschehen

Die geistige Führung des Menschen (1911) ‒ Gedanken während der Zeit des Krieges (1915)

Band 12: Schriften zum Verhältnis der Anthroposophie zu den Natur- und Geisteswissenschaften

Vom Menschenrätsel (1916) ‒ Von Seelenrätseln (1917) ‒ Goethes Geistesart (1918)

Band 13: Schriften über soziale Dreigliederung

Die Kernpunkte der sozialen Frage (1919) ‒ In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organismus (1920)

Band 14: Schriften zur meditativen Erarbeitung der Anthroposophie II

Drei Schritte der Anthroposophie (1922) ‒ Vom Seelenleben (1923) ‒ Anthroposophische Leitsätze (1924‒1925)

Band 15: Schriften zur anthroposophischen Medizin

Grundlegendes zu einer Erweiterung der Heilkunst (1925)

Band 16: Autobiographische Schriften

Mein Lebensgang (1925)

*

Im Prozess der mit dieser Edition angestrebten sachlichen Auseinandersetzung mit der Anthroposophie wird der vorliegende erste Band von ganz besonderer Bedeutung sein, denn er enthält jene Texte, in denen Steiner zum ersten Mal den Versuch unternommen hat, seiner einerseits auf persönlicher spiritueller Erfahrung beruhenden, zugleich aber in allen Phasen nach wissenschaftlicher Form und Geltung strebenden Weltanschauung eine Form zu geben, die sich an bestehende wissenschaftliche und kulturelle Diskurse anschließen lassen sollte. Die Gedanken Goethes und Fichtes waren sozusagen die ersten Gefäße, in welche Steiner seine eigenen Anschauungen und Erlebnisse zu gießen versuchte, um sie in die allgemeine Kulturentwicklung und den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Als diese Hoffnung sich nicht erfüllen wollte, suchte Steiner andere intellektuelle Vehikel ‒ den radikalen Individualismus, die Evolutionstheorie und schließlich die Theosophie ‒ wobei er zuletzt allerdings nicht länger für eine allgemeine Öffentlichkeit schrieb und wirkte, sondern, von einigen wenigen Publikationen abgesehen, vor allem für den kleinen Kreis jener Zeitgenossen, welche seelisch und geistig nach mehr verlangten, als was die religiös und naturwissenschaftlich geprägten Weltbilder ihrer Zeit anzubieten hatten. Auch dies trug dazu bei, dass die gedankliche Substanz der Anthroposophie nach der Jahrhundertwende, trotz ihrer wachsenden Bedeutung als Kulturfaktor, weder in das öffentliche Bewusstsein noch in die relevanten wissenschaftlichen und philosophischen Diskurse drang.

Charakteristisch für die vorliegenden Bemerkungen und die übrigen Einleitungen des Herausgebers zu den Bänden der SKA ist, dass sie den Versuch unternehmen, einen kritisch-diskursiven Zugang zu eben dieser gedanklichen Substanz des steinerschen Denkens anzubieten. Sie wollen so Voraussetzungen schaffen für einen bisher versäumten wissenschaftlichen und allgemein-kulturellen Diskurs nicht nur über einzelne Ideen Steiners oder deren praktische Anwendungen, sondern über das grundlegende Anliegen und den Selbstanspruch der Anthroposophie als einer zeitgemäßen Wissenschaft der Selbsterfahrung des Geistes im Menschen. Dabei richten sie ihre Aufmerksamkeit neben der historischen Dokumentation der steinerschen Publikationen besonders auch darauf, wie gewisse zentrale Vorstellungen zunächst in Steiners philosophischem Ansatz auftauchen und sich später zu jenen theosophischen und anthroposophischen Anschauungen umbilden, welche das spätere Werk Steiners ausmachen. Dieser hermeneutische Zugang zu seinem Werk, dem es zunächst weder um Kritik noch um Apologie geht, sondern vor allem um die Genese und den verstehenden Nachvollzug desselben, eignet sich nach Auffassung des Herausgebers in besonderer Weise dazu, dem Anliegen und der Entwicklung des steinerschen Gedankenkosmos näherzukommen. Ferner lassen sich innerhalb dieses Ansatzes jene oft ideologisch geprägten und daher unfruchtbaren Debatten vermeiden, welche den bisherigen Diskurs zwischen Kritikern und Verteidigern der Anthroposophie weitgehend geprägt und dabei den Blick zumeist vom Wesentlichen abgelenkt haben. Selbstverständlich gibt es andere Zugänge und Methoden, mit deren Hilfe man sich Steiner nähern kann und muss; und dieser Ansätze mögen und sollen jene sich bedienen, denen sie zum Verständnis dieses schwierigen Gegenstandes so hilfreich erscheinen, wie dem Herausgeber der vorliegenden Edition der oben skizzierte.

Man wird im wissenschaftlichen Diskurs über die Anthroposophie, neben dem Bemühen um Nachvollzug und Verständnis, natürlich auch zu einer Bewertung und einer Kritik derselben übergehen müssen. Die SKA-Einleitungen als solche verstehen sich aber, wie auch der historisch-kritisch erarbeitete Text, den sie zur Verfügung stellt, vor allem als Grundlage und Ausgangspunkt eines solchen im eigentlichen Sinne kritischen Diskurses über Steiner, und nicht als eigentlicher Beitrag zu einem solchen. Denn was man nicht versteht, kann man auch nicht sachgemäß kritisch beurteilen. Die Einleitungen sind natürlich auch, als hermeneutische Versuche, nicht frei von impliziten Vorurteilen, Deutungen und Bewertungen und können dies auch nicht sein. Wenn der Herausgeber der SKA persönlich nichts zu Steiner zu sagen hätte, würde er diese Lebensaufgabe sicher nicht auf sich genommen haben. Doch ist der den Einleitungen zugrundeliegende Zugang sich der eigenen Voraussetzungen und Grenzen bewusst und geht davon aus, dass in einem an ihm hoffentlich sich entzündenden wissenschaftlichen Gespräch selbstverständlich auch er selbst zur Diskussion stehen und irgendwann durch den Fortgang der Forschung überholt sein wird. Wenn etwa im 5. Band von einem »ideogenetischen Grundgesetz« bei Steiner gesprochen wird und diesem im 8. Band ein »kosmogonisches Grundgesetz« zur Seite gestellt wird, wenn Steiners Wirklichkeitsverständnis mit Hilfe von Begriffen wie ›Projektion‹ und ›Umstülpung‹ charakterisiert wird, so betrachte man solche Vorschläge im Sinne eines auch von Steiner gern zitierten Goethe-Wortes als Spielzüge, die der Spieler am Anfang eines Brettspiels macht. Obwohl die zuerst gesetzten Steine irgendwann geschlagen werden, leiten sie doch eine wohldurchdachte und hoffentlich zielführende Strategie ein (vgl. EG, 97). – Gegenüber dem eigentlichen Kernstück der Edition hingegen, d. h. dem in dieser Ausgabe zum ersten Mal erarbeiteten kritischen Text der steinerschen Schriften, welcher sämtliche Varianten aller zu Steiners Lebzeiten erschienenen Neuauflagen dokumentiert, hegt der Herausgeber die Hoffnung, dass er sich in der Forschung auf Jahre und Jahrzehnte hinaus in seiner jetzigen Form bewährt und zu einem Standard wird, den künftige Steiner-Editionen zwar sicher noch heben werden, hinter den sie aber nicht werden zurückfallen dürfen.

*

Protegieren wir aber nun nicht länger den methodischen Ansatz, welcher der vorliegenden Edition zugrunde liegt, sondern richten wir stattdessen unseren Blick auf den konkreten Gegenstand des vorliegenden Bandes.

Steiners Weg in die Goethe-Edition und sein herausgeberischer Zugang zu dieser Lebensaufgabe sind der bisher wohl am besten erforschte Teil seiner intellektuellen Biographie. Für den in dieser Richtung Forschenden sind vier Arbeiten von besonderem Wert. Die ausführlichsten systematischen und historischen Untersuchungen zu diesem Thema, auf die alle nachfolgenden Veröffentlichungen sich maßgeblich stützen, hat Wolfgang Raub in seiner Dissertation Rudolf Steiner und Goethe von 1964 vorgelegt. 1980 hat dann Karl Robert Mandelkow in Goethe in Deutschland eine ausführliche Studie zur Rezeptionsgeschichte Goethes in Deutschland vorgelegt, in der auch der Rezeption durch Steiner ausführliche Betrachtungen gewidmet sind. In jüngerer Zeit hat Helmut Zander in seinem Buch Anthroposophie in Deutschland (2007) diesem Bereich der steinerschen Biographie ein umfangreiches Kapitel von knapp 70 Seiten gewidmet. Zudem ist soeben eine hervorragende Studie von Renatus Ziegler erschienen: Geist und Buchstabe. Rudolf Steiner als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (2018), eine minutiöse und durch zahlreiche Dokumente und Zusammenstellungen bereicherte Dokumentation von Steiners Herausgebertätigkeit, sowohl im Rahmen der sogenannten Kürschner-Edition (im Folgenden auch: DNS) als auch im Zusammenhang mit der bekannteren Weimarer Ausgabe (WA).

Soweit historische Fakten und Details betroffen sind, hält sich die folgende Darstellung über weite Strecken an die Dokumentation derselben bei Zander und Ziegler, stützt sich aber in der Deutung und Bewertung der steinerschen Arbeit weniger auf Raub als diese beiden Autoren. Denn ihr geht es nicht so sehr um eine ideengeschichtliche Einordnung und Kritik von Steiners Goethe-Deutung ‒ eine solche hat Raub in vorbildlicher Weise vorgelegt ‒ und auch nicht um eine historisch-kritische Bewertung wie bei Zander, sondern, wie bereits angedeutet, um eine von der Genese geleitete und hermeneutisch ausgerichtete Einordnung des ersten Abschnitts von Steiners intellektueller und spiritueller Entwicklung in den Rahmen seines durch vielfache und tiefgreifende Wandlungen charakterisierten Gesamtwerkes.

Rudolf Steiner und seine geistige Welt besser zu verstehen als bisher, und zwar durch einen besonders auf die Entwicklung dieser Welt hinblickenden hermeneutischen Zugang, welcher sowohl die Kontinuitäten als auch die vielfachen Umbildungs- und Neubildungsprozesse in den Blick nimmt, die das steinersche Denken in allen Phasen seiner Entwicklung prägen: Das ist also die zentrale Absicht der mit diesem Band eingeleiteten Edition insgesamt und auch das Ziel der nachstehenden Bemerkungen zu Steiners frühen Schriften zur Goethe-Deutung. Der Herausgeber ist von der Überzeugung geleitet, dass eine in diesem Sinne vorgehende Auseinandersetzung mit Steiner und der Anthroposophie einen bisher sowohl in der binnenanthroposophischen wie in der akademischen Forschung zu wenig genutzten Zugang zum Gegenstand an die Hand gibt und somit als Ergänzung und Korrektiv, vielleicht sogar als Instrument einer Vermittlung dieser bisher weitgehend getrennt voneinander verlaufenden Diskursformen, dienen kann.

* * *

 

 

Rudolf Steiners Weg in die Goethe-Edition

Rudolf Steiners Auseinandersetzung mit Goethe und dessen naturwissenschaftlichen Schriften begann während seiner Zeit als Student an der Technischen Hochschule in Wien. Schon früher hatte die Gedankenwelt der Goethe-Zeit ihn stark in ihren Bann gezogen, allerdings eher in philosophischer denn in literarischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht. Er hatte sich schon als Schüler mit Kant auseinandergesetzt und sich so intensiv in Fichtes Wissenschaftslehre vertieft, dass er meinte, dieser eine eigene und fasslichere Darstellung geben zu können. Im Rahmen seiner Lektüre Schellings erfuhr er gar eine Art philosophisches Erweckungserlebnis, von dem er einem Freund in einem oft zitierten Brief berichtete. Auch seine lebenslange Auseinandersetzung mit Hegel begann um diese Zeit.

Es war somit die philosophische Spekulation des deutschen Idealismus, welche dem jungen Steiner die ersten ideellen Formen an die Hand gab, seinen frühen denkerischen Erfahrungen sowie seinen spirituellen Erlebnissen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Goethe hatte in dieser ersten Phase von Steiners gedanklicher und spiritueller Entwicklung noch kaum eine Rolle gespielt. Die zentralen Texte, an denen sich später sein lebenslanges Interesse entzündete ‒ der Faust, das Märchen aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und die naturwissenschaftlichen Schriften ‒ traten erst durch Vermittlung eines Mentors in Steiners Leben, dem er während der Wiener Studentenzeit (1879‒1883) begegnete: dem Professor für Literaturgeschichte und Goethe-Spezialisten Karl Julius Schröer.

Schröer war ein auf Dialekte und Literatur deutscher Minderheiten spezialisierter Germanist, der sich im Verlauf seiner Laufbahn zunehmend auf Goethe und seine Dramen konzentriert hatte. Als Spezialist auf diesem Gebiet war er einer der Begründer des 1878 begründeten Wiener Goethe-Vereins gewesen und fungierte seit 1886 als Chefredakteur von dessen Publikationsorgan, der Chronik. Ab diesem Jahr war er auch Dozent an der Technischen Hochschule und wurde ein Jahr später in den Rang eines außerordentlichen Professors erhoben. Seine Goethedeutung war, wie Wolfhard Raub gezeigt hat, tief idealistisch geprägt und bewegte sich in den gedanklichen Bahnen der späten Goethe-Zeit. Zu der von Positivismus und Historismus geprägten modernen Philologie, die damals in Forschung und Lehre verbreitet war, konnte er kein Verhältnis gewinnen.

In Schröers Vorlesungen über deutsche Literatur sowie in sogenannten ›Übungen zum Vortrag und zur schriftlichen Darstellung‹ saß auch der junge Student der Ingenieurswissenschaften Rudolf Steiner. Am 13. Januar 1881 schrieb dieser über Schröer an einen Freund: »Ich danke Gott und einem guten Geschicke, dass ich hier in Wien einen Mann kennenlernte, der, nach Goethe selbstverständlich, sich als der beste Faustkenner rühmen darf, einen Mann, den ich hochschätze und verehre als Lehrer, als Gelehrten, als Dichter, als Menschen.« Neben der offenkundigen persönlichen Affinität war sicher auch Schröers idealistische Weltanschauung ein zentraler Grund für diese Anziehung. Steiner äußerte später dazu: »Es war bei ihm wie in einer idealistischen Oase innerhalb der trockenen materialistischen deutschen Bildungswüste.« Aus der akademischen Begeisterung wurde bald eine persönliche Bekanntschaft und Freundschaft, die ein Leben lang währte. Noch kurz vor seinem Tod beschrieb Steiner Schröer in seiner Autobiographie mit Wärme als seinen »lieben Lehrer und Freund«.

Die Freundschaft zu Schröer führte unter anderem auch dazu, dass Steiner sich nun zum ersten Mal mit Goethe auseinandersetzte, neben dem Faust besonders auch mit dessen naturwissenschaftlichen Schriften. In diesen begegnete er einer Art der Naturbetrachtung, die nach dem Zeugnis seiner autobiographischen Rückschau Antworten auf brennende Fragen lieferte, die er damals in sich trug. In Mein Lebensgang berichtet Steiner, dass er als Student Schwierigkeiten damit hatte, seine idealistische Weltanschauung und seine persönlichen inneren Erfahrungen mit den gängigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen in Einklang zu bringen und dass er in diesem Zusammenhang selbständig bereits gewisse Gedanken ausgebildet hatte, die er nun bei Goethe bestätigt fand. So etwa die Überzeugung von der übersinnlichen Natur des Lichtes oder die Konzeption eines den organischen Formen zugrundeliegenden, sinnlich unwahrnehmbaren Kräfteorganismus. So wurde er durch den Goethe-Enthusiasten Schröer auf die Fährte einer seiner eigenen Wirklichkeitserfahrung entsprechenden Art der Naturbetrachtung geführt und der Lebensweg des jungen Studenten wurde plötzlich unverhofft von technischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien auf das Gebiet der Goethe-Forschung und schließlich der Goethe-Edition gelenkt.

Das kam folgendermaßen: Der Verleger Joseph Kürschner hatte kurz zuvor mit der Verwirklichung eines verlegerischen Großprojekts begonnen, der sogenannten Deutschen National-Litteratur (im Folgenden GNS). Ziel dieser Edition war, wohl auch als Reaktion auf die 1871 erfolgte Reichsgründung, die bedeutendsten literarischen Errungenschaften des nun endlich als Nation etablierten Deutschlands in einer Sammlung historisch-kritischer Ausgaben zu versammeln ‒ ein Mammutwerk, dass zunächst auf 158 Bände angelegt war und schließlich 222 Bände umfasste. Im Rahmen dieser Edition war natürlich auch eine Neuausgabe der Werke Goethes vorgesehen, und im April 1882 hatte Kürschner sich an Schröer gewandt mit der Anfrage, ob dieser die Herausgabe der goetheschen Dramen übernehmen könne. Im Rahmen der Korrespondenz zwischen den beiden kam irgendwann auch die Rede auf die naturwissenschaftlichen Schriften, zu denen Schröer anmerkte: »Hier könnte Großes geschehen! […] Alles hängt davon ab, dass ein philosophisch gebildeter Geist ersteht, der die Forschungen der Physik zu überschauen vermöchte.« Darauf antwortete Kürschner, dass er derzeit noch auf der Suche nach einem Herausgeber für die naturwissenschaftlichen Schriften sei und Schröer sehr dankbar wäre, wenn dieser ihm einen entsprechenden »philosophischen Kopf« vermitteln könnte, der dieser Aufgabe gewachsen sei. Schröer kam dieser Bitte in einem Schreiben vom Juni 1882 nach und empfahl seinen Freund und Zögling:

Ein Student in höheren Semestern, der Physik, Mathematik und Philosophie betreibt, bei mir aber auch seit Jahren Vorlesungen hört, befasst sich eingehend mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Ich gab ihm die Anregung, sich in einem populären Aufsatze über Goethe und Newton zu versuchen und denselben Ihrem Journal zuzusenden. Wenn dieser Aufsatz gelänge, da hätten wir den rechten Mann für die Herausgabe der naturhistorischen Schriften. Von diesem Gedanken sagte ich ihm nichts, ich weiß auch nicht, wie er schreibt. Aus Gesprächen aber erfahre ich, dass er den Stoff beherrscht und eine selbständige, mir richtig scheinende Anschauung gewonnen hat. Er heißt Steiner. (BRSA 46, 5)

Kürschner ging auf diesen Vorschlag ein, was aus heutiger Sicht als bemerkenswerter Schritt erscheint, da Steiner zu diesem Zeitpunkt weder sein Studium abgeschlossen noch irgendeine wissenschaftliche Veröffentlichung vorzuweisen hatte, während alle anderen Mitarbeiter der Edition namhafte Goethe-Experten waren. Auch der im obigen Zitat erwähnte Aufsatz Steiners ist bisher nicht aufgefunden worden und es ist zweifelhaft, ob er überhaupt je geschrieben worden ist. Kürschner ging also mit seiner Entscheidung für Steiner als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften ein nicht unbeträchtliches verlegerisches Risiko ein und verließ sich dabei vollständig auf Schröers Urteil. Immerhin bat er sich als Bedingung aus, dass dieser »sozusagen als Protektor« das Projekt begleiten sollte, also etwa »die Ausgabe vor Drucklegung durchzusehen, vielleicht auch zu dem Ganzen ein einführendes Wort zu schreiben«.

Schröer gab die gute Nachricht an Steiner weiter und dieser wandte sich am 28. September brieflich an Kürschner, um diesem mitzuteilen, dass er gewillt sei, die Herausgabe unter den genannten Bedingungen zu übernehmen. In diesem Brief hatte er auch schon eine Vorstellung vom Umfang und von der Konzeption der Ausgabe und wollte im Prinzip der bis dahin einzigen Edition der naturwissenschaftlichen Schriften folgen, die in den Bänden 33 bis 36 der Hempelschen Ausgabe vorlag und von dem Physiker Salomon Kalischer besorgt worden war: »Dahin würden also gehören«, so Steiner an Kürschner, »die Optik (Farbenlehre), ›zur Naturwissenschaft im Allgemeinen‹ und ›naturwissenschaftliche Einzelheiten‹, dann die morphologischen, mineralogischen, geologischen und meteorologischen Schriften«. Ferner bittet Steiner den Verleger um die Zusendung einer mit Freiseiten durchschossenen Ausgabe der hempelschen Bände und macht den Vorschlag, der anvisierten Edition auch »die von Goethe angefertigten kolorierten Tafeln« beizufügen.

Kürschner nahm Steiners Angebot am 9. Oktober 1882 an und mahnte, dass »der Umfang der Hempelschen Ausgabe keineswegs überschritten werden« dürfe, ja dass »eine kürzere Fassung […] der Verbreitung der neuen Ausgabe dienlicher« sein werde. Ferner ersuchte er den designierten Herausgeber, ihm vor Ausstellung eines Vertrages »einen eingehenden Plan« über die Auswahl und Anordnung der wissenschaftlichen Schriften sowie eine »Darlegung [seines] Standpunktes« gegenüber denselben zukommen zu lassen. Die vierbändige Kalischer-Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften war also zum einen das Vorbild der steinerschen Edition und zugleich die Folie, der gegenüber Steiner die Eigenheiten seiner eigenen Goethe-Interpretation in Stellung zu bringen hatte. Kürschners Besorgnis über den Umfang der von Steiner zu besorgenden Ausgabe sollte sich später als prophetisch erweisen, denn Steiners Edition wuchs sich im Lauf der Jahre in der Tat auf fünf Bände aus und ging damit über die vierbändige Konzeption der Kalischer-Ausgabe deutlich hinaus.

Steiner schickte am 21. Oktober den erbetenen »eingehende[n] Plan« sowie auch die »Darlegung« seines herausgeberischen Standpunkts an Kürschner. Beide Dokumente sind bedauerlicherweise nicht erhalten geblieben, doch ihre generelle Richtung geht aus einem Begleitschreiben deutlich hervor, welches daher im Folgenden ungekürzt wiedergegeben werden soll.

Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen und insbesondere Dank für die Übertragung einer so schönen Aufgabe. Der vollberechtigten Forderung unserer Zeit, die Naturwissenschaft weiteren Kreisen zugänglich zu machen, wird durch eine Herausgabe von Goethes wissenschaftlichen Schriften ganz besonders Rechnung getragen. Dies letztere besonders dadurch, dass hier die wissenschaftlichen Einzelheiten stets von großen Ansichten getragen sind. Darauf hat der Erklärer durchaus Rücksicht zu nehmen. Er muss mit einer vollkommenen Beherrschung des Standes jeder einschlägigen Wissenschaft in der Gegenwart die Fähigkeit vereinigen, von allgemeinen Gesichtspunkten ausgehend die großen Maximen Goethes mit freiem Blicke zu überschauen. Ich werde in den Einleitungen stets die Punkte in den Vordergrund treten lassen, von welchen aus man in das Ganze Goethescher Forschungen bequem eingeführt wird. Es soll hier ‒ mit möglichster Vermeidung alles Polemischen ‒ die Goethesche Anschauungsweise erklärt werden. Solche Einleitungen sind vier nötig: Eine allgemeine, welche Goethes Denkweise, die Einwirkungen historischer und zeitgenössischer Persönlichkeiten neben der Bedeutung der ersteren etc. zu umfassen hat und die ich gerne den ›naturwissenschaftlichen Einzelheiten‹ vorangedruckt sehen würde; ferner eine solche zu den morphologischen Schriften (Metamorphose der Pflanzen, Osteologie und Zoologie); ferner eine dritte zur Mineralogie, Geologie und Meteorologie; eine vierte zur Optik (Farbenlehre). Den gewünschten Plan lege ich auf einem Blatte bei. Ich habe ihn mit Herrn Professor Schröer durchgesprochen.

Auch lege ich ein Blatt bei, auf dem ich ganz im allgemeinen meine Auffassung von Goethes wissenschaftlichen Anschauungen in einigen Sätzen flüchtig skizziert habe. Ich möchte dem hier nur noch beifügen, dass ich in den Einleitungen durchaus besondere Rücksicht darauf nehmen werde, wie Goethe auf das eine oder andere Gebiet der Wissenschaft geführt wird. Wenn man bedenkt, dass Goethes Vielseitigkeit sich über fast alle Zweige menschlichen Wirkens erstreckt, so erscheint dies vorzugsweise wichtig, weil uns daraus die Art anschaulich wird, wie die Wissenschaft sich auf natürliche Weise aus dem Ganzen menschlichen Strebens entwickelt.

Mit der Ansicht, dass eine kürzere Fassung in den Einleitungen dem Ganzen dienen wird, stimme ich überein. Mein Standpunkt bringt es ja auch mit sich, dass manches, was Kalischer in den Einleitungen bespricht, in die Anmerkungen verwiesen werden wird. Bezüglich des Zeitpunktes kann ich folgendes bemerken. Die morphologischen Schriften mit der Einführung von Professor Schröer werden bis Neujahr fertiggestellt. Die zweite Partie (Mineralogie, Geologie, Meteorologie, Naturwissenschaftliche Einzelheiten) würde dann Mitte Februar und das übrige Ende März fertig. Es würde mich freuen, Euer Hochwohlgeboren mit diesem Gange einverstanden zu finden. (Zit. n. Ziegler [2018], 32-34)

Der hier angekündigte optimistische Zeitrahmen von fünf Monaten sollte sich am Ende auf über 14 Jahre erstrecken: Der letzte Band der Edition erschien erst 1897. Die vier ursprünglich geplanten Einleitungen wurden im Verlauf der Verwirklichung der Ausgabe zu fünf. Die erste zu Goethes Denkart im Allgemeinen sowie die dritte zur Mineralogie, Geologie und Meteorologie sind später zur Einleitung des zweiten GNS-Bandes von 1887 geworden. Die zweite ursprünglich geplante Einleitung zur Morphologie wurde zum Einleitungstext für den ersten Band von 1884. Die vierte zu Optik und Farbenlehre wurde zur Einleitung des dritten Bandes von 1897. Zu den zwei Teilbänden des vierten Bandes, zu dem neben den Materialien zur Farbenlehre im Lauf der Zeit auch die Sprüche in Prosa hinzukamen, hat Steiner zwei weitere Einleitungen verfasst, in denen es ihm vor allem darum ging, Goethe ‒ und dabei auch sich selbst ‒ in eine scharf betonte Gegenposition zur bestehenden Naturwissenschaft zu setzen. Dabei rückte er von seinem ursprünglichen und für den ersten Band noch eingehaltenen guten Vorsatz »mit möglichster Vermeidung alles Polemischen« vorzugehen, von Band zu Band zunehmend ab.

 

Der erste Band der Kürschner-Ausgabe (1884)

Obwohl die Übersendung eines offiziellen Vertrages an Steiner sich noch bis März 1883 hinauszögerte, hatte dieser bereits im Oktober des Vorjahres mit der Arbeit begonnen und konnte nach der Vertragsunterzeichnung am 23. März an Kürschner berichten, dass der erste Band bereits weitgehend fertiggestellt sei und sich zur Überprüfung in den Händen Schröers befinde. Allerdings nahm dieser sich mit dem Durchsehen des Manuskripts und seinem Vorwort für den Band einige Monate Zeit und übersandte beides erst am 28. August 1883 an Kürscher. Der Band kam dann im Januar 1884 heraus. Dabei ging Steiner in der Anordnung der Schriften einen anderen Weg als Kalischer. Dieser hatte den ersten Band seiner Edition Goethes allgemeinen Schriften zur Naturwissenschaft gewidmet und war von da aus zu den besonderen Forschungsfeldern fortgeschritten. Steiner hingegen begann mit dem Speziellen: mit Goethes Forschungen zur Morphologie. Die Begründung für dieses Vorgehen fehlte jedoch in der Einleitung des Anfangsbandes; Steiner lieferte diese erst drei Jahre später im zweiten Band.

Aufbau und zentrale Inhalte der Einleitung von 1884

Julius Schröers Vorwort zum ersten Band hebt einige der Eigenheiten von Steiners herausgeberischem Zugang zu Goethe deutlich hervor:

Die Dichtungen Goethes aus dem Ganzen seiner Natur und aus der Gesamtheit seiner Schriften zu verstehen und zu erklären hat man bereits begonnen. Seinen naturwissenschaftlichen Schriften ist eine derartige Behandlung noch nicht zugute gekommen. Ich begrüße daher mit Freuden das Unternehmen des Herausgebers […]. Er gelangt zur Erkenntnis, dass [diese Schriften] nur in Zusammenhang mit dem Ganzen seines Wesens zu beurteilen sind. Er erkennt, dass der Schlüssel zu Goethes ganzem Denken doch im Geistesleben | seiner Zeit zu suchen ist. Obwohl Goethe nicht als Philosoph zu nehmen ist, so erscheint er doch angeregt von der philosophischen Zeitströmung und wirkt auf sie zurück. Der Herausgeber unterlässt nicht, auch in dieser Richtung aus unmittelbarer Quelle schöpfend, klare Anschauung des Geschichtlichen zu erstreben. […]. Möge das Unternehmen gründlich beitragen zur Würdigung Goethes in seiner Stellung zur Wissenschaft. (GNS I, XIII f.)

Die hier benannten Schwerpunkte hebt auch Steiner selbst im ersten Abschnitt der Einleitung zum ersten Band seiner Edition hervor: Die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes müssten (1.) aus der Gesamtheit des goetheschen Werkes verstanden werden, und dieses selbst (2.) als Ausdruck von Goethes ›Denkart‹ bzw. ›Weltanschauung‹. Diese wiederum sei (3.) aus der allgemeinen ideengeschichtlichen Situation Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen, zugleich aber auch deren vollkommenster Ausdruck. Von diesen Prämissen leitet Steiner die Forderung ab, die Bedeutung der von Goethes Forschungen nicht in irgendwelchen besonderen Entdeckungen oder Thesen zu suchen, sondern allein in der spezifischen wissenschaftlichen Methode, die aus dieser Denkart resultierte und als deren Ergebnis Goethe als erster eine dem Wesen des Lebendigen entsprechende Forschungsmethode, eine ›Wissenschaft des Organischen‹ entwickelt habe.

Es handelt sich bei [Goethe] nie um die Entdeckung neuer Tatsachen, sondern um das Eröffnen eines neuen Gesichtspunktes, um eine bestimmte Art die Natur anzusehen. […] als belebende Seele aller dieser Einzelheiten haben wir eine grossartige Naturanschauung zu betrachten, von der sie getragen werden, haben wir […] vor allem eine grossartige, alles übrige in den Schatten stellende Entdeckung ins Auge zu fassen: die des Wesens des Organismus selbst. (EG, 1)

In den anschließenden beiden Abschnitten entwickelt Steiner die Grundzüge der goetheschen Botanik und Tierkunde. Deren charakteristische Eigenart wird darin gesehen, dass Goethe die Formenbildung und Entwicklung des Pflanzen- und Tierreiches nicht durch materielle Ursachen zu erklären sucht, sondern durch den Verweis auf eine Entität, die er als ›Typus‹ bezeichnete. Mit der ›Urpflanze‹ und dem ›Urtier‹ (und nach Steiner implizit auch, wenn auch nicht deutlich ausgesprochen, dem ›Ur-Menschen‹) werden drei grundsätzliche Formen von Typen unterschieden, welche für die Bildungsprozesse innerhalb des Pflanzen-, Tier- und Menschenreichs verantwortlich sind. Und insofern sie dies in gesetzmäßiger und auf Vervollkommnung gerichtete Weise tun, verwenden Goethe und Steiner für den Typus auch den aristotelischen Begriff der »Entelechie« (EG, 59 ff.).

Während manche Interpreten den goetheschen Typus als eine biologische Urform im Sinne der Evolutionstheorie verstanden, andere hingegen als einen bloßen abstrakten Allgemeinbegriff, sieht Steiner darin etwas, das am ehesten im platonischen Sinn verstanden werden kann (obwohl Steiner selbst sich dieser Tatsache 1884 noch nicht bewusst gewesen zu sein scheint). Wie eine platonische Idee ist auch der goethesche Typus wie Steiner ihn versteht weder Teil der physisch-sinnlichen Wirklichkeit, noch eine rein gedankliche Repräsentation derselben, sondern eine zwar nicht sinnlich erscheinende aber dennoch lebendige Entität, welche der physischen Gestalt Leben, Wesen und Realität verleiht und das Bleibende im Wechsel der Formen darstellt. Steiner gebraucht denn auch den Ausdruck ›Idee‹ vielfach synonym mit demjenigen des ›Typus‹.

Der Vergleich des ›Typus‹ mit der platonischen ›Idee‹ hat jedoch seine Grenzen. Denn zumindest im Bereich des pflanzlichen Lebens stellt Goethe den Typus eben nicht als außerhalb der Pflanze anwesend und wirksam vor, sondern verortet ihn innerhalb derselben. Der Pflanzentypus entspricht hier also eher einer aristotelischen ›Form‹, und zwar im Speziellen der anima vegetativa in der Psychologie des griechischen Philosophen. Als solche gestaltet er von innen her die Organformen und Lebensprozesse der Pflanze, geleitet durch die Grundkräfte von Anziehung und Ausdehnung, sowie die Prinzipien von Polarität und Steigerung. Alle Organe der Pflanze sind somit nach Goethe Ausdruck des Typus, und insofern dieser Gestalt annimmt, spricht er von einer ›Urform‹ aller Pflanzenorgane, die er auch ›Blatt‹ nennt (EG, 65). Doch sei das, was wir gewöhnlich unter diesem Begriff verstehen, eben nur eine besondere Manifestation des Urblattes. Dasselbe gilt auch für die anderen Pflanzenorgane, weshalb diese alle, wie auch die Pflanze als Ganze, als ›Metamorphosen‹ des Typus bzw. der einen Urform ›Blatt‹ zu verstehen sind. Soweit das Grundprinzip der goetheschen Botanik.

Bei der Tierwelt hingegen wird das formende Prinzip nicht in aristotelischer Weise im physischen Organismus selbst verortet, sondern in platonischer Manier »ausserhalb« desselben (EG, 69). Daher, so Steiner, sei es Goethe auch nicht gelungen, sämtliche tierischen Organe in gleicher Weise aus einer einzigen Grundform abzuleiten, wie die Organe der Pflanze aus der Blattform. Vielmehr manifestiere sich der Typus hier in einer ganzen Reihe von Organsystemen, innerhalb derer dann aber wieder das schon bei der Pflanze angewendete Prinzip zur Anwendung kommt. So werden etwa innerhalb des Knochensystems die verschiedenen Wirbel der Wirbelsäule, bis hin zu den Schädelknochen, als Metamorphosen einer einzigen Urform angesehen. Und weil das Tier diese verschiedenen Organsysteme habe, auf die der Typus von außen einwirkt, habe das Tier im Gegensatz zur Pflanze ein »Innenleben« (ebd.). Damit sei ihm die Möglichkeit gegeben, sich auf unterschiedlichste Weise an Umweltbedingungen anzupassen, wodurch die Bedingung der Möglichkeit einer Evolution der tierischen Formen gegeben ist.

Der Mensch stellt dann in diesem System für Steiner wieder ein neues Naturreich dar (bei Goethe ist dies allerdings nicht so unmittelbar deutlich), indem seine Organisation zwar der des Tieres gleicht, aber so, dass die verschiedenen Organsysteme, die sich in den Tierarten in bestimmter Weise spezialisieren, im Menschen zu einer harmonischen Vervollkommnung vereinigt werden, aufgrund derer die menschliche Gestalt fähig ist, den Geist in sich aufzunehmen und zu einem selbstbewussten Wesen zu werden. Im menschlichen Geist zieht somit der Typus, der auf der Tierstufe den physischen Organismus gewissermaßen verlassen hatte, in diesen wieder ein. So herrscht auch hier wieder Polarität und Steigerung: Der Mensch ist, wie die Pflanze, und im Gegensatz zum Tier, ein sich selbst von innen her konstituierendes Wesen, das aber nun seiner selbst bewusst geworden ist und deshalb diese Konstituierung und weitere Entwicklung nunmehr selbst übernehmen kann bzw. muss.

So, wie die einzelnen pflanzlichen Organe bzw. tierischen Organsysteme Metamorphosen des einen Typus sind, werden von Steiner nun auch die verschiedenen Typen (Pflanze, Tier, Mensch) als durch Metamorphose auseinander hervorgehend gedacht. Das Tier ist also nicht das ›Andere‹ der Pflanze, sondern deren Steigerung; ebenso der Mensch im Verhältnis zum Tier. Es gibt somit also eigentlich nur einen einzigen Typus, in drei grundsätzlichen Hauptmetamorphosen, und indem dessen Ausgestaltungen in der Natur immer komplexer werden, bildet sich schließlich der Mensch. Dieser nimmt alle Bildungsprinzipien, die sich in den unter ihm stehenden Tierarten je einseitig ausgebildet haben, zusammen, um eine Gestalt zu bilden. Der Mensch erscheint so einerseits als Krone der Schöpfung, wie der bekannte Ausdruck Herders deutlich macht: »Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesem zum Menschen« (EG, 30). Und von hier aus lenkt Steiner den Blick auf eine weitere Dimension bzw. Konsequenz dieses Entwicklungsmodells, welche von einigen Naturphilosophen des 19. Jahrhunderts betont wurde. Er zitiert etwa Lorenz Okens Gedanken, dass, wenn man in dieser Weise Evolution idealistisch begründe, der Mensch nicht nur als Endprodukt der Schöpfung verstanden werden müsse, sondern zugleich als Vervollkommnung derselben und insofern gewissermaßen ‒ zumindest im ideellen Sinn ‒ als Inbegriff und Ursprung aller Lebewesen. So heißt es bei Oken:

Das Tierreich ist nur ein Tier, d. h. die Darstellung der Tierheit mit allen ihren Organen jedes für sich ein Ganzes. Ein einzelnes Tier entsteht, wenn ein einzelnes Organ sich vom allgemeinen Tierleib ablöst und dennoch die wesentlichen Tierverrichtungen ausübt. Das Tierreich ist nur das zerstückelte höchste Tier: Mensch. Es gibt nur eine Menschenzunft, nur ein Menschengeschlecht, nur eine Menschengattung, eben weil er das ganze Tierreich ist. (EG, 31)

Von dieser frühen Darstellung Steiners aus, in welcher er das Wesen der goetheschen Naturanschauung darzustellen sucht, führen zahlreiche gedankliche Pfade zu zentralen Aspekten seiner späteren Esoterik. In seinen späteren Beschreibungen des sogenannten ›Ätherleibes‹ findet man viel von dem wieder, was hier über den Pflanzentypus gesagt wird. Andeutungen der Konzeption des ›Astralleibes‹ liegen vor, wenn Steiner das ›Innenleben‹ als Merkmal des tierischen Lebens bezeichnet. Und wenn er in dieser Darstellung, so wie Goethe alle Organe des Pflanzenorganismus als Metamorphosen der Urform Blatt begreift, in gleicher Weise alle Naturgestalten, vom Mineral über Pflanze und Tier zum Gegenwartsmenschen, als Metamorphosen eines hinter aller Entwicklung stehenden ›Ur-Typus‹ beschreibt, der somit zugleich als ›Ur-Mensch‹ aufgefasst werden kann, kann man in diesen Ausführungen bereits die Grundrisse seiner mit dem Menschen nicht nur endenden sondern auch beginnenden esoterischen Kosmogonie entdecken, wie er sie mehr als 30 Jahre später in seiner Geheimwissenschaft im Umriss ausgeführt hat.

Der prinzipiellen Darstellung der goetheschen Naturanschauung folgt in den Abschnitten II und III der ersten Einleitung eine ausführliche Schilderung mehrerer Einzelentdeckungen Goethes: die der Urpflanze, des Zwischenknochens beim Menschen, der Wirbeltheorie des Schädels usw. Aber Steiner bleibt dabei seiner Methode treu und sieht den Wert dieser Entdeckungen ausschließlich darin, dass sie illustrieren, wie fruchtbar Goethes Naturphilosophie als Ganze war, indem sie ihn zu diesen Einzelentdeckungen hinführte. Deshalb können auch wir in dieser Einleitung über diese hinweggehen.

In Abschnitt IV geht Steiner dann vom Einzelnen noch einmal zum Grundsätzlichen über und sucht die nunmehr herausgearbeitete Denkweise Goethes in den ideengeschichtlichen Kontext ihrer Zeit zu stellen, indem er sie als Gegenmodell zur kantschen Naturanschauung charakterisiert. Kant hatte bekanntlich konstatiert, dass eine wissenschaftliche Erklärung der organischen Welt prinzipiell unmöglich sei, weil eine solche nur mit Hilfe des Zweckbegriffs möglich sei. Ein Zweck aber, bzw. das hinter jedem Zweck notwendig stehende zweckgebende Wesen, könne niemals sinnlich wahrgenommen werden und sei daher der wissenschaftlichen Erkenntnis prinzipiell nicht zugänglich. Nicht einmal ein Grashalm, so seine bekannte Formulierung in der Kritik der Urteilskraft, könnte ohne Rekurs auf den seiner Meinung nach unwissenschaftlichen Zweckbegriff erklärt werden. Dagegen habe sich Goethe, in seiner Erklärung der Lebensprozesse, eben nicht auf den Zweckbegriff gestützt, sondern auf den Typus, die Entelechie und das Prinzip der Metamorphose. Und anders als Zwecke oder hypothetische zweckstiftende Wesen sei dasjenige, was Goethe als ›Urpflanze‹ und ›Urtier‹ beschrieben habe, sehr wohl anschaubar. Nur könne es eben nicht mit Augen gesehen werden, dafür aber mit den ›Augen des Geistes‹, d. h. in Form einer mentalen, von der Phantasie erzeugten bildlichen Repräsentation der Lebens- und Bildungskräfte des Typus. Auf dieses von seiner Einbildungskraft erzeugte lebendige Bild habe Goethe als Forscher hingeblickt, wenn er vom Typus sprach, meint Steiner, so wie jeder Mensch die Produkte seiner Einbildungskraft oder seine Erinnerungen mit einem ›inneren Auge‹ anzuschauen in der Lage ist. Und damit sei durch Goethe die kantsche Ansicht von der die Unmöglichkeit einer Wissenschaft vom Leben widerlegt worden, und zwar nicht nur theoretisch durch Argumente, sondern praktisch durch eine Erkenntnistat.

Goethes revolutionäre Tat im Bereich der Wissenschaft beruhte also nach Steiners Auffassung darin, dass dieser erkannt hat, dass die menschliche Phantasie nicht nur willkürlich-subjektive Bilder hervorzubringen vermag, sondern auch solche, in denen die innere Gesetzlichkeit eines Organismus einen exakten anschaulichen Ausdruck finden kann. Mit diesem Glauben an eine »exakte sinnliche Phantasie« habe Goethe wissenschaftstheoretisch nicht nur die Grundlage einer neuen Organik gelegt, sondern zugleich die innere Einheit von Kunst und Wissenschaft begründet: Da es ja in beiden Bereichen die Natur bzw. die Wirklichkeit selbst sei, die in den Hervorbringungen der menschlichen Phantasie Bilder ihres eigenen Wesens erzeuge ‒ manchmal willkürlich und rein subjektiv, aber manchmal eben, wenn nämlich der Künstler bzw. der Wissenschaftler nur die rechte Methode der Naturbeobachtung anwendet, auch in regulärer, exakter und gesetzmäßiger Weise. Goethe habe so den über Jahrhunderte etablierten Ausschluss der menschlichen Einbildungskraft aus der Wissenschaft in Frage gestellt und eine Reintegration der Phantasie in die wissenschaftliche Methode gefordert und theoretisch begründet.

Obwohl aber diese Fähigkeit zur Veranschaulichung des Typus in der Einleitung von 1884 eindeutig die Einbildungskraft einschließt, beschreibt Steiner sie zunächst noch so, als handle es sich um eine reine Funktion der Vernunft, indem er sie als Fähigkeit zur Auffassung eines ›intuitiven Begriffs‹ ‒ im Gegensatz zur Bildung bloß diskursiver Begriffe ‒ beschreibt. (Erst später wird Steiner die Imagination von der Intuition klar trennen.) Jeder Mensch besitze die Fähigkeit zu der so verstandenen ›Intuition‹, so Steiner weiter, doch werde diese Anlage tatsächlich erst dadurch aktualisiert, dass der Mensch die Natur auf jene morphologische Weise betrachte, die Goethe in seinen wissenschaftlichen Studien systematisch entwickelt habe. Durch die Verwirklichung der Fähigkeit zur Bildung von ›intuitiven Begriffen‹, meint Steiner, würden viele traditionelle Dualismen im wissenschaftlichen und im kulturellen Diskurs überwunden. Nicht nur die schon erwähnte Trennung von Kunst und Wissenschaft, sondern auch ‒ innerhalb der Wissenschaft selbst ‒ die Trennung von organischer und anorganischer Natur, und letztlich sogar der ultimative Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, zwischen ›Ich‹ und ›Welt‹.

Während aber Goethe diesen Zug zu einer non-dualen Ontologie im Anschluss an Spinoza bevorzugt mit dem Begriff ›Pantheismus‹ charakterisierte, spricht Steiner von einem goetheschen ›Monismus‹ und setzt dadurch die goethesche Naturphilosophie in Beziehung zu der monistischen Naturbetrachtung Ernst Haeckels. Haeckel war für Steiner der führende Vertreter des Monismus zu seiner Zeit. Ihm wendet er sich daher im letzten Abschnitt seiner Einleitung zu und weist darauf hin, dass, ähnlich wie ein Jahrhundert zuvor Goethe, auch die Entwicklungstheorien Darwins und Haeckels auf ihre Weise den Nachweis erbracht haben, dass eine wissenschaftliche Erklärung des Lebendigen durchaus ohne Rekurs auf teleologische Argumentationen möglich ist. Im Licht der Evolutionstheorie war die gesamte Natur und ihre Entwicklung in einheitlicher Weise erklärbar geworden, meint Steiner, vom Mineral zum komplexesten Organismus, weshalb er sie als die bedeutendste Leistung der modernen Naturwissenschaft betrachtet (und später, als Esoteriker, zugleich als methodische Voraussetzung und beste Einführung in die anthroposophische Weltanschauung). Allerdings bestand für Steiner ein großes Problem darin, dass die Einheit der Natur und der Welt bei Darwin und Haeckel nur innerhalb eines materialistischen Paradigmas gedacht werden konnte. Das war bei Goethe anders. Dieser war mit seiner morphologischen Naturbetrachtung zwar nicht wie Haeckel zu einer lückenlosen Erklärung der Natur gekommen, habe dagegen aber die Einheit und die Entwicklung der Welt idealistisch begründet, weshalb sein Ansatz aus Steiners Perspektive der darwin-haeckelschen Evolutionstheorie überlegen ist. Deshalb wirbt er dafür, die großartigen Ergebnisse und Errungenschaften der modernen Entwicklungstheorie von den tönernen materialistischen Füßen, auf denen sie seiner Meinung nach bei Darwin und Haeckel stehen, auf das solide Fundament der idealistisch-morphologischen Methode Goethes zu stellen. Es fehlt also nach Steiner etwas in der modernen Evolutionstheorie, nämlich das Wesentliche, und auf dieses habe Goethe mit seiner Theorie des Typus deutlich hingewiesen (EG, 17 f.).

Mit dieser Deutung Goethes in der Einleitung von 1884 hatte Steiner sich freilich ein grundlegendes methodisches Problem eingehandelt. Im Sinne des goetheschen Pantheismus bzw. des philosophischen Monismus sollte doch die Natur als eine einheitliche vorgestellt und jeglicher cartesianische oder kantische Dualismus vermieden werden. Doch hat sich als Ergebnis der obigen Untersuchung ergeben, dass für Goethe mit der anorganischen Natur, der organischen Natur und dem Reich der menschlichen Kulturschöpfungen nicht nur zwei, sondern drei ganz unterschiedliche Sphären der Wirklichkeit vorliegen, die zudem zu ihrer adäquaten Erkenntnis auch drei verschiedene Arten wissenschaftlicher Erkenntnis erfordern. Wie war das monistische Postulat einer Einheit nicht nur allen Seins, sondern auch des Seins mit dem Denken, mit dieser Aufspaltung der Wirklichkeit und des Erkennens zu vereinbaren? Steiner gibt darauf 1884 nur eine vorläufige Antwort, indem er am Ende seiner Einleitung schreibt: »[Goethe] dachte sich das Universum zwar in monistischer Weise als unentzweite Einheit […], aber deshalb erkannte er doch an, dass innerhalb dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen Gesetze haben« (EG, 86). Doch mit dieser allgemeinen Behauptung war das Problem noch nicht gelöst, sondern lediglich die Frage in den Raum gestellt, wie genau man diese Pluralität der Naturreiche und Erkenntnisformen zugleich als Einheit denken könne. Dasselbe Problem stellt sich dann später auch in der steinerschen Esoterik, indem diese ebenfalls die Einheit allen Seins postuliert, und zugleich von physischen, ätherischen, astralen und geistigen Welten spricht. Steiner sah das Problem einer fehlenden epistemologischen und ontologischen Begründung des entworfenen Weltbildes und ging dies in seinen folgenden Veröffentlichungen auch unmittelbar an: zunächst in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie von 1886, dann in der zweiten Goethe-Einleitung von 1887 und sieben Jahre später in seiner Philosophie der Freiheit. Diese Schriften dienten zunächst dem Zweck, das 1884 entwickelte Bild von Goethes Naturphilosophie epistemologisch und ontologisch zu rechtfertigen; der Theosoph und Anthroposoph Steiner hat dann später diese Texte zugleich als philosophische Grundlegung seiner Esoterik in Anspruch genommen.

 

Die Rezeption des ersten Bandes von 1884

Als der erste Band druckfertig vorlag, waren Autor, Mentor und Verleger offensichtlich mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Am 30. Januar 1884 schrieb Schröer an Kürschner:

Ich meine, wir können uns alle freuen über diese Ausgabe der naturwissens[chaftlichen] Schriften Goethes, mit der, so weit ich blicke, kaum eine Konkurrenz möglich ist. So günstig, wie sich die Sache hier gestaltet hat, wie Steiner seine naturw[issenschaftlichen] Studien von Anfang an im Hinblick auf Goethe machte, sich nicht nur leiten ließ, sondern auch die Gabe hatte zu verstehen ‒ wo fände sich das sobald wieder beisammen? (Ziegler [2008], 39)

Auch Kürschner war zufrieden. Er hatte offensichtlich verschiedene Gutachten über das Manuskript aus seinem Umfeld eingeholt und dabei nur Positives vernommen, wie er am 6. März an Steiner berichtete:

[…] ich wünsche Ihnen zu Ihrer vortrefflichen Arbeit nicht weniger Glück als mir, der ich das prächtige Kind aus der Taufe gehoben habe. Was ich bis jetzt aus Freundeskreisen über den Band vernommen habe, so ist nur eine Stimme der Anerkennung über die ganz unvergleichliche Durchdringung des schweren Stoffes. Nach meinen Kenntnissen auf diesem Gebiete haben Sie so glücklich die Goethesche Eigenart, was seine naturwissenschaftlichen Studien belangt, getroffen, wie dies sonst nie noch der Fall war. (Ziegler [2008], 40)

Die ersten inoffiziellen Reaktionen nach Erscheinen des Bandes gestalteten sich ähnlich positiv. So berichtet Schröer am 7. Juni, dass der Geologe Eduard Sueß im persönlichen Gespräch seine »volle Zustimmung« zu dem Band und dem Vorwort gegeben habe. Kürschner antwortete, auch er habe »von maßgebender Seite aus München sehr viel Erfreuliches gehört«.

Überwiegend zustimmend und lobend gestalteten sich auch die ersten Rezensionen, die im Folgejahr erschienen. In den Jahren 1885 bis 1887 lassen sich fünf Rezensionen nachweisen, die im Folgenden etwas ausführlicher referiert werden sollen, weil sie dokumentieren, welche Aspekte der Edition von der Kritik besonders wahrgenommen wurden. Es handelt sich dabei um Besprechungen von August Classen, Max Koch, Joseph Adolf Harpf sowie von zwei anonymen Rezensenten.

Alle Besprechungen begrüßen grundsätzlich das Unternehmen einer Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, beurteilen Steiners Arbeit als zufriedenstellend und loben insbesondere dessen Einleitung. Classen bezeichnet das Unternehmen als »höchst dankenswert« und der Rezensent des Literarischen Zentralblattes meint sogar, die Ausgabe verspreche »einer der wertvollsten Bestandteile der ganzen Sammlung [d. h. Deutschen National-Litteratur] zu werden.« Koch bezeichnet die Einleitung als »für die Beurteilung von Goethes naturwissenschaftlicher, und damit überhaupt philosophischer Stellung […] grundlegend« und meint, Steiner habe mit ihr »eine neue und bessere Auffassung dieser Seite von Goethes Wesen […] gegeben«. Der Rezensent der Allgemeinen Zeitung fügt hinzu, dass, selbst wenn Steiners Interpretation Goethes sich nicht durchsetzen sollte (was er nicht hoffe), doch »unsere Anschauung von Goethes Wesen […] durch ihn in jedem Falle eine bedeutsame Erweiterung und Vertiefung erfahren« habe.

Allgemein gelobt wird auch die philosophische Orientierung der Edition, sowohl was die herausgeberische Perspektive Steiners betraf als auch die Darstellung Goethes als eines wichtigen Denkers. »Immer weitere Kreise ergreift das Bewußtsein«, schreibt Harpf, »daß die großen Dichter des vorigen Jahrhunderts bisher einer gedanklichen Würdigung ihrer Weltanschauung, die nur eine philosophische Durchdringung derselben sein kann, harren mußten.« Steiners Edition habe diese Aufgabe im Hinblick auf Goethe auf erfreuliche Weise gelöst: »Steiner, von Fach ein Naturforscher und durchaus bewandert in der Goethe-Forschung, gibt zugleich auf jeder Seite Zeugniß von der denkenden, rein philosophischen Erfassung seines Gegenstandes.« Auch Harpf lobt Steiners Arbeit als »eine philosophische Errungenschaft« der »in gleicher Hinsicht keine zweite ebenbürtig an die Seite gestellt werden« könne. Sie sei ein Musterbeispiel für eine »gründliche philosophische Würdigung des Gedankengehaltes der Weltanschauungen unserer Dichterheroen«.

Als positiv wird ferner herausgestellt, dass Steiner sich, bei aller philosophischen Orientierung und wissenschaftlichen Strenge, um eine populäre und allgemeinverständliche Darstellung bemüht habe. Koch sieht darin »einen Fortschritt« sowohl gegenüber der Hempelschen Edition der naturwissenschaftlichen Schriften als auch gegenüber der Weimarischen Ausgabe, die »doch hauptsächlich für Goetheforscher und Litteraturhistoriker bestimmt« sei. Steiner habe sich allgemeinverständlich ausgedrückt, »ohne daß die Sucht nach Popularisierung wissenschaftliche Anforderungen unterdrückte.« Ja, wegen ihrer glücklichen Verbindung von wissenschaftlicher Strenge, philosophischer Durchdringung und allgemeiner Verständlichkeit dürften »Steiners Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes geradezu als das beste bezeichnet werden, was in dieser Frage überhaupt geschrieben worden ist.«

Was den methodischen Zugang von Steiners Einleitung angeht, so wird als besonders bedeutsam hervorgehoben, dass Steiner die naturwissenschaftlichen Forschungen Goethes nicht, wie in der bisherigen Literatur üblich, als Nebensache ansieht, in welcher der Dichterfürst nur als Dilettant herumexperimentiert habe, sondern einen zwingenden Zusammenhang zwischen dem künstlerischen und dem wissenschaftlichen Werk Goethes herstellt. »Mit vollem Rechte hebt Steiner ebenso wie Schröer hervor«, heißt es in der Rezension von Classen, »daß bei Goethe von einem wissenschaftlichen Dilettantismus garnicht die Rede sein, und daß man seine wissenschaftlichen Arbeiten nur unter dem Gesichtspunkt würdigen könne, daß sie das Produkt desselben Genius seien wie seine Dichtungen.« Gelobt wird auch, dass Steiner diesen Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft bei Goethe aus dessen allgemeiner ›Anschauungsweise‹ ableitet und diese als die zentrale Leistung Goethes bewertet, im Vergleich zu der die verschiedenen Einzelentdeckungen Goethes vergleichsweise wenig bedeuteten. »Steiner betrachtet Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten nicht im Hinblick auf ihre einzelnen Ergebnisse«, schreibt etwa Koch, »sondern im Zusammenhange mit Goethes ganzem Wesen. In seiner Methode, in seiner großen Anschauung liege das Entscheidende.« Steiner habe verstanden, »Goethes großartige Ideenwelt« dadurch zu belegen, dass er alle Einzelforschungen aus dessen ›Weltanschauung‹ ableitet und diese wiederum von der ›Persönlichkeit‹ Goethes her versteht. Auch Classen pflichtet dieser Sichtweise Steiners bei: »Nur im Zusammenhange mit der ganzen Entwicklung seines Denkens und Dichtens ist [Goethes] Stellung zur Wissenschaft zu verstehen. Nicht die einzelnen Entdeckungen, die mit seinem Namen verknüpft sind, bilden sein gewichtigstes Verdienst, sondern die großartige, alle Einzelheiten zusammenfassende und von einem Zentralpunkt aus betrachtete Anschauungsweise.« Ebenso die Allgemeine Zeitung: »Steiner gibt zu, daß Goethes Entdeckungen nicht immer wahre Entdeckungen waren und auch ohne Goethe früher oder später gemacht worden wären; daß ihm die Einzelerfahrung nie Selbstzweck war. Das historisch Wichtige ist Goethes Naturanschauung in ihrer Gesamtheit«.

Da die Goethe-Ausgabe im erst kürzlich gegründeten Kaiserreich erschien, in dem überall nach nationalen Identifikationsfiguren Ausschau gehalten wurde, überrascht es nicht, dass die Rezensenten die Edition natürlich auch zum Anlass ideologischer Räsonnements nehmen, die mit Kunst und Wissenschaft an sich wenig zu tun haben und mehr auf völkisch-nationalistische Selbstvergewisserung abzielen. So weist Harpf darauf hin, und zwar unter Verweis auf Formulierungen Schröers, dass Steiner mit seiner »philosophischen That« zugleich den Nachweis erbracht habe, dass »der größte Dichter des deutschen Volkes auch einer unserer größten Denker ist, eine Thatsache, die so recht ›das Eigenthümliche und Tiefe des deutschen Wesens erkennen läßt‹.« Eine andere ideologisch geprägte Stoßrichtung ist ein dezidierter Antimaterialismus, welcher als Gegenmittel zu einer zum Materialismus tendierenden zeitgenössischen Naturwissenschaft dienen soll. So schreibt etwa Classen: »Wir begrüßen dieses Unternehmen umso freudiger, da wir in Goethes Studien die ewig frischsprudelnde Quelle finden, aus der diejenige Richtung in der Naturwissenschaft schöpfen muss, die dem modernen Materialismus entgegengesetzt ist.« Im Speziellen wird Steiners Ansicht begrüßt, dass Goethe mit seiner Art von Naturwissenschaft, und speziell durch seine botanischen und zoologischen Studien, eine besondere und neuartige Methode für die Erforschung des Organischen entwickelt habe. »Das Wesentliche dieser Auffassung ist«, merkt das Literarische Zentralblatt an, »daß die Organismen sich der Erkenntnis durch diskursives Denken entziehen und nur im intuitiven Begriffe erfaßt werden können.« Steiners Goethe-Bild und die These von einer neuartigen wissenschaftlichen Methode kamen also nicht nur den nationalistischen Tendenzen im wilhelminischen Deutschland entgegen, sondern auch den idealistisch und traditionalistisch gesinnten Zeitgenossen, die in der modernen Naturwissenschaft eine Form des materialistischen Kulturniedergangs sahen.

Ein weiterer Punkt des Interesses für die Rezensenten war die Anordnung der goetheschen Texte, wobei Steiner einen anderen Weg gegangen war als vor ihm Kallischer. Koch sieht dies noch relativ neutral, indem er feststellt: »Die Reihenfolge der naturwissenschaftlichen Schriften ist nach Steiners Anordnung eine von der gewöhnlichen abweichende.« Steiner stelle nämlich »Goethes morphologische Arbeiten in den ersten Band, das auf Naturwissenschaften im Allgemeinen sich Beziehende in den zweiten«. Koch reflektiert ferner auf Steiners eigene Begründung dieses Vorgehens, nach dem »Goethe selbst überall von der Einzelbeobachtung ausgegangen [sei] und diese dann erst auf ihre allgemeine Gesetzmäßigkeit hin geprüft habe.« Harpf konstatiert nicht nur diese neue Anordnung der Texte, sondern meint, dass sich darüber mit Steiner »rechten ließe«. Er findet es problematisch, dass Steiner »die Schriften über die Principien der Naturwissenschaft und die naturwissenschaftliche Methode zwischen die Schriften zur Morphologie und die Beiträge zur Optik als zweiten Band einschiebt«. Seiner Meinung nach »hätten wohl die principiellen und methodologischen Schriften in den ersten Band gehört«.

Auch in anderer Hinsicht äußert Harpf Kritik an Steiner. So sei dieser »in seinen Darlegungen nicht bis zur völlig klaren Erkenntniß des obersten Principes Goethe’scher Denkweise durchgedrungen«. Harpf vermutet, dies könnte damit zusammenhängen, dass Steiner die grundlegenden methodisch und wissenschaftstheoretisch relevanten Aufsätze Goethes bisher nicht behandelt, sondern für den zweiten Band angekündigt habe. Ohne diese Texte aber müsse das »oberste Princip Goethes« unklar bleiben und in die Erläuterung von Goethes mehr speziellen Arbeiten sei ohne dieses »weder völlige Klarheit noch Einheitlichkeit zu bringen«.

Kritisch äußerte sich neben diesen Rezensenten auch Eduard von Hartmann, den Steiner persönlich sehr schätzte und dem er ein Exemplar zugeschickt hatte. Der »Behauptung, dass Goethe das Wesen des Organischen gefunden habe« könne er nicht beistimmen, so Hartmann, und auch die »Sonderung von Organischem und Unorganischem« schien ihm »bedenklich: das Gesetz als Naturgesetz ist dem Unorganischen ebenso immanent und innerlich wie dem Organischen, nur der Zweck, wo etwas als Maschine verwendet wird, ist dem ersteren äußerlich, während auch der Zweck dem Organischen immanent ist.«

Steiner hat sich von dieser Kritik offenbar am meisten den Vorwurf Harpfs zu Herzen genommen, dass seine Darstellung zu jenem »obersten Princip« des goetheschen Denkens nicht durchdringe und somit seine Goethe-Deutung auf tönernen Füßen stand. Und wie oben bereits angemerkt, drängten ja die Ergebnisse der Einleitung von 1884 auch von sich aus danach, die vorgenommene Aufteilung der Wirklichkeit und der Wissenschaft mit dem postulierten Monismus im Denken Goethes zu vermitteln. Diese Punkte standen daher im Zentrum von Steiners folgenden Veröffentlichungen.

Die Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886)

Steiner hatte, wie oben erwähnt, in seiner ursprünglichen Planung angekündigt, den zweiten Band der Kürschner-Ausgabe etwa zwei Monate nach dem ersten vorlegen zu wollen. Dazu kam es aus mehreren Gründen nicht. Zum einen hatte der mit der editorischen Arbeit unerfahrene Steiner wohl unrealistische Vorstellungen von dem Arbeitspensum und den Schwierigkeiten, die ihn als Herausgeber der Edition erwarten würden. Darüber hinaus nahm er zur gleichen Zeit zahlreiche weitere Aufträge an, beispielsweise eine Reihe von Artikeln für verschiedene ebenfalls von Kürschner herausgegebene Enzyklopädien (dem Taschen-Konversations-Lexikon, einem Quart-Lexikon und Pierers Konversations-Lexikon). Auch schrieb er verschiedene Aufsätze zu seiner Arbeit mit Goethe und veröffentlichte eine Reihe weiterer kleinerer Texte. Verzögerten schon diese Publikationen Steiners Arbeit am zweiten Band der Kürschner Ausgabe, so kam er umso mehr in Verzug, indem er darüber hinaus auch eine Monographie verfasste, in welcher er jene ›obersten Principien‹ der goetheschen Naturanschauung, die man in seinem ersten Band vermisst hatte, ausführlich darzustellen suchte. Diese Arbeit veröffentlichte er 1886 als sein erstes eigenständiges Buch unter dem Titel Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Untertitelt war die Schrift ausdrücklich als Zugabe zu ›Goethes naturwissenschaftlichen Schriften‹ in Kürschners Deutscher National-Litteratur.

In der Einleitung zum ersten Band der Kürschner-Edition war Goethe vor allem als Naturwissenschaftler betrachtet worden. Zentrales Thema waren die morphologischen Studien Goethes gewesen sowie deren von Steiner postulierte Bedeutung als Vorläufer und mögliches Korrektiv der modernen Entwicklungstheorie. Die Grundlinien einer Erkenntnistheorie hingegen untersuchen die goetheschen Texte auf ihre philosophischen und insbesondere ihre erkenntnistheoretischen Implikationen hin. Goethe sei zwar kein Philosoph im traditionellen Sinne gewesen, so das Vorwort der Schrift, weil er über die in seinen naturwissenschaftlichen und künstlerischen Schöpfungen wirksamen Grundprinzipien selbst nicht in hinreichendem Maße theoretisch reflektiert habe. Dennoch lasse sich in diesen Arbeiten eine deutlich erkennbare Methodik nachweisen und das Ziel des Buches bestand für Steiner darin, die grundlegende Struktur und die Prinzipien dieser Methode zur Sprache zu bringen.

Mit diesem neuen epistemologisch geschärften Blick auf Goethe wird auch der ideengeschichtliche Hintergrund von Steiners Betrachtung ein anderer. Nicht länger sind Spinoza und Kant die zentralen philosophischen Bezugspunkte seines Goethe-Verständnisses, sondern diese Funktion erfüllt jetzt, wie das erste Kapitel deutlich macht, die zeitgenössische Erkenntnistheorie, als deren bedeutendste Manifestation der Neukantianismus ins Auge gefasst wird. Neukantianer wie Johannes Volkelt, Richard Wahle und Otto Liebmann waren für Steiner die Repräsentanten eines philosophischen und naturwissenschaftlichen ›Illusionismus‹, den er als charakteristisch für seine Zeit betrachtete; einer Weltanschauung, welche davon ausgeht, dass die Welt ›an sich‹ dem menschlichen Erkenntnisvermögen unzugänglich ist, weil alles Wissen auf Erfahrung beruhe und Erfahrung immer schon durch die formende Tätigkeit des menschlichen Denkens und Wahrnehmens determiniert sei. Kant hatte bekanntlich gegen den seiner Meinung nach naiven Erfahrungsbegriff von Empiristen wie John Locke in Anschlag gebracht, dass der Inhalt der menschlichen Erfahrung nicht von außen dem menschlichen Bewusstsein als einem unbeschriebenen Blatt aufgeprägt und dort dann vom Denken aufgefunden und bearbeitet wird, sondern dass alle Erfahrung bereits durch Denk- und Anschauungsprozesse präformiert ist. Und dass es daher so etwas wie die vom Empirismus postulierte ›reine Erfahrung‹ als eine von den Formen des Wahrnehmens und Denkens unabhängige Form der Auffassung prinzipiell nicht geben könne. Damit hatte Kant die Möglichkeit des Erkennens einer vom Erkenntnisakt unberührten Wirklichkeit prinzipiell ausgeschlossen. Der Neukantianismus hatte nach Steiners Auffassung dieses Grundargument im Prinzip nur wiederholt, allerdings angereichert mit Erkenntnissen aus der modernen Physik und der Sinnesphysiologie, nach denen die von den Sinnesorganen vermittelten Wahrnehmungen wenig oder nichts mit der wirklichen Struktur der Welt zu tun haben können. In dieser Form sei die kantsche Grundannahme wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Konsens der Gegenwart geworden, und gegen diesen wenden sich die philosophischen Angriffe Steiners. In späteren Schriften wie der Philosophie der Freiheit oder den Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert legt er diesen eigentlichen Angriffspunkt seiner Argumentation deutlicher dar als hier in den Grundlinien, in denen man den Eindruck gewinnen kann, als handle das Buch nur von Goethe und von philosophischen Spezialproblemen der Erkenntnistheorie. Tatsächlich aber sind schon die Grundlinien nicht nur ein Plädoyer für Goethe und gegen den Neukantianismus, sondern ein Generalangriff auf den Wissenschaftskonsens seiner Zeit. Der von ihm wahrgenommenen Erkenntnisresignation seiner Zeitgenossen hält er die Überzeugung entgegen, dass dem Menschen im Denken ein Mittel gegeben ist, sich zu einer ›wirklichkeitsgemäßen‹ Erkenntnis der Welt und seiner selbst zu erheben. Zwar trete die Tätigkeit des Denkens im Menschen zunächst als Ergebnis individueller Denktätigkeit und somit als etwas Subjektives auf, so Steiners Zentralargument, doch erweise sich der Inhalt dieses Denkens bzw. die dabei ausgeübte Tätigkeit als etwas über alle Subjektivität Erhabenes. Daher liegt seiner Meinung nach im Erfassen desjenigen, was in den notwendigerweise immer individuellen und subjektiven Denkakten zum Ausdruck kommt, der Schlüssel zu einer wirklichkeitsgemäßen Erkenntnis, für die es eine Grenze im Sinne des philosophischen oder naturwissenschaftlichen Illusionismus prinzipiell nicht geben kann. Dabei bedeutet der Ausdruck ›wirklichkeitsgemäß‹ nicht, wie wir noch sehen werden, dass eine solche Erkenntnis objektiv und frei von individueller Gestaltung sei, sondern dass sie dem prozesshaften und nirgends als im individuellen Erkenntnisakt zur Erscheinung kommenden Wesen des Wirklichen gemäß bzw. eine Vollzugsform desselben ist.

 

Die Struktur des Erkennens:

Erfahrung und Denken

Als Ausgangspunkt seiner Darstellung wählt Steiner im zweiten und dritten Kapitel die beiden Zentralbegriffe des ›Denkens‹ und der ›Erfahrung‹ als der beiden dem menschlichen Erkennen zugrundeliegenden Grundvorgänge. Damit bezieht er sich zwar auf das Argumentationsmodell und die Terminologie der Neukantianer, und besonders auf Johannes Volkelt, argumentiert aber im Grunde an Kant selbst vorbei. Kant nämlich hatte Erfahrung und Denken als solche überhaupt nicht in der Weise gegenübergestellt, wie Steiner dies tut. Für Kant ist, wie oben bereits angedeutet, ›Erfahrung‹ grundsätzlich ein Ergebnis des Zusammenspiels von Denken und Anschauung und insofern immer schon durch die Formen des menschlichen Denkens (wie z. B. das Kausalitätsgesetz) sowie durch Raum und Zeit (als Formen des menschlichen Anschauungsvermögens) präfiguriert. Auf Grundlage dieses Postulats kommt Kant zu dem Ergebnis, dass alle wissenschaftliche Erkenntnis, wenn sie denn auf Erfahrung beruhen und nicht rein willkürlich sein soll, der erkannten Wirklichkeit ihre eigenen Formen vorschreibt, statt sie dieser zu entnehmen. Sein bekanntes Diktum von den »unüberschreitbare[n] Grenzen« der menschlichen Erkenntnis beruht in zentraler Weise auf diesem Begriff der Erfahrung. Steiner jedoch fasst den Erfahrungsbegriff ganz anders, nämlich als Gegenbegriff zum Denken, und dadurch sind seine Ausführungen zwar der Intention nach gegen Kants Postulat von Erkenntnisgrenzen gerichtet, setzen sich aber in der Sache gar nicht so sehr mit Kants Argumentation auseinander, sondern mit derjenigen Volkelts. Ja noch mehr: Indem Steiners Begriff der ›Erfahrung‹ in vielerlei Hinsicht dem entspricht, was Kant unter ›Anschauung‹ versteht, ist Steiners Erkenntnisbegriff dem kantschen viel verwandter, als er selbst meinte.

Steiner beschreibt die Erfahrung als dadurch gekennzeichnet, dass sie Anschauungs- bzw. Wahrnehmungsinhalte vermittle und diese in völlig zusammenhangloser Form vor den betrachtenden Menschen hinstelle. Dabei macht er zunächst keinen Unterschied zwischen Inhalten der äußeren sinnlichen Wahrnehmung und solchen der inneren Erfahrung (also Vorstellungen, Gefühlen, Erinnerungen usw.). In das bedeutungs- und zusammenhangslose Aggregat der durch Erfahrung gegebenen Inhalte greife dann die Tätigkeit des Denkens ein, stelle durch Verknüpfung und Trennung Beziehungen her, mache so aus dem Chaos der Erfahrungsinhalte ein sinnvolles und geordnetes Ganzes und befriedige dadurch das natürliche Erkenntnisbedürfnis des Menschen. Erkenntnisbefriedigung tritt also nach Steiner dann ein, wenn alle Erfahrungsinhalte, die den Menschen als solche verwirren und nach Erklärung verlangen, durch die von seinem Denken gebildeten Begriffe miteinander in sinnvollem Verhältnis stehen und sich so gegenseitig allseits erklären.

Steiner argumentiert nun weiter, dass durch die Wirkungsweise dieser beiden am Erkennen beteiligten Grundvermögen ebenjenes epistemologische Dilemma auftrete, als deren Ausdruck der illusionistische Erkenntnisbegriff des Kantianismus und der modernen Naturwissenschaft zu verstehen sei. Indem nämlich die Wirklichkeit dem Menschen einerseits als durch Erfahrung gegebenes Aggregat von Inhalten, andererseits als System von durch Denktätigkeit aufgefundenen Begriffsbeziehungen gegenübertrete, entstehe für den Menschen die Illusion, dass er die Inhalte seiner Erfahrung und diejenigen seines Denkens zwei verschiedenen Quellen, zwei verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit entnehme. Der Inhalt seiner Erfahrung erscheine ihm wie von ›außen‹ ohne sein Zutun gegeben, während er den Inhalt seiner Begriffe, die ja offenkundig durch seine Denktätigkeit hervorgebracht werden, so erlebt, dass er sie aus sich selbst und somit aus einer dem Anschein nach von der Sphäre der Erfahrungsinhalte getrennten ›Innenwelt‹ zieht. So entstehe die Illusion von zwei Welten, zwei ontologisch verschiedenen Sphären, die der Mensch als Erkennender zu vermitteln hat. Hier liegt nun nach Steiner der Ursprung des epistemologischen Grundproblems der modernen Menschheit. Denn aufgrund dieser Illusion stehe der erkennende Mensch vor der unbeantwortbaren Frage, wie denn diese scheinbar aus seinem ›Innern‹ gezogenen Gedankeninhalte bzw. Begriffe irgendetwas zu tun haben sollten mit jenen Dingen und Vorgängen, die sich da in einer vom Ich scheinbar getrennten ›Außenwelt‹ befinden bzw. vollziehen. (Nicht nur die physische Umgebung, auch die Vorgänge des eigenen Bewusstseins erscheinen in dieser Hinsicht als dem erkennenden Ich äußerlich.) Wie sollte es möglich sein, dass die aus dem denkenden Ich gezogenen Begriffe eine befriedigende Erklärung, ja gar das Wesen jener dem Ich äußerlichen Dinge und Vorgänge darstellen? Einmal in der Illusion von zwei Welten, im cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans gefangen, kommt der Mensch nach Steiner nicht mehr zu einem befriedigenden Verständnis des Verhältnisses zwischen diesen beiden Welten und seiner eigenen Stellung zu diesen.

Der Erkennende kann jedoch aus dem Gefängnis dieser selbstgeschaffenen Illusion herauskommen, so die Grundlinien weiter, wenn er den Erkenntnisvorgang in Anknüpfung an Goethe zu verstehen sucht. Dieser habe durch seine Orientierung am spinozistischen Pantheismus eine einheitliche (monistische) Weltanschauung entwickelt, die weder in den cartesianischen noch in den kantischen Dualismus verfalle. Aus Sicht einer monistischen Ontologie sei es nämlich unmöglich, die Inhalte der Erfahrung und diejenigen des Denkens als aus zwei verschiedenen Sphären stammend anzusehen. Stattdessen müssen sie irgendwie als Ausdruck ein und derselben Wirklichkeit verstanden werden, und die Form ihres getrennten Auftretens im menschlichen Bewusstsein kann nur in der Art und Weise liegen, wie dieses Bewusstsein zustande kommt. Nach monistischer Auffassung, so Steiner, kann der Mensch nicht die Erfahrungsinhalte aus der einen Wirklichkeitssphäre ziehen und die Denkinhalte aus einer anderen, sondern er muss beide aus ein und derselben identischen Wirklichkeit gewinnen. Und wenn er dies tatsächlich tue, dann erzeuge er durch ebendiesen Akt ‒ indem er die einheitliche Wirklichkeit zugleich als Erfahrender und als Denkender auffasst ‒ den in seinem Bewusstsein auftretenden scheinbaren Gegensatz einer inneren und einer äußeren Welt.

Von dieser Tatsache kann sich nach Steiner jeder Mensch leicht selbst überzeugen, und zwar nicht durch rein logische Argumente, sondern durch konkrete Erfahrung. (Ein Abschnitt der Grundlinien [GE, 23–25] heißt programmatisch: »Berufung auf die Erfahrung jedes einzelnen Lesers«.) In der Beobachtung des Denkens nämlich könne jeder Mensch praktisch erleben, wie sich die Spaltung der Wirklichkeit in Erfahrungsinhalte und Denkinhalte vollzieht und, indem dies erkannt wird, sich zugleich aufhebt. Denn während bei allen übrigen Erfahrungsinhalten der jeweilige Denkinhalt, mit dem das Ich sich über seine Erfahrungen aufklärt, zu diesen als eine Zutat hinzuzukommen scheint, könne diese Illusion hier gar nicht auftreten, weil der Erfahrungsinhalt als identisch mit dem Denkinhalt erlebt wird. Zu einem Gedanken, den das Ich durch innere Erfahrung auffasst, muss es den jeweiligen Inhalt nicht noch extra hinzudenken; dieser liegt schon vollständig im aufgefassten Gedanken selbst. Im Erfassen dieser Einheit von Erfahrungsinhalt und Denkinhalt ‒ nicht als abstraktes Argument, sondern als lebendige Erfahrung durch Beobachtung des Denkens ‒, werde somit die vom Monismus postulierte Einheit allen Seins faktisch erfahren und der Dualismus praktisch widerlegt. Und von diesem Erlebnis aus, so die Grundlinien weiter, falle dann auch ein neues Licht auf das Wesen der Erkenntnis überhaupt, indem sich in der nunmehr geschärften Beobachtung bei allen Erfahrungsinhalten ihr jeweiliger Denkinhalt als wesenhaft zu diesem gehörig erweist und die Trennung von ›Ding‹ und ›Begriff‹ als überhaupt nur durch das menschliche Bewusstsein hervorgerufen erlebt wird. Von dieser non-dualen Erfahrung der Wirklichkeit in der Denkbeobachtung aus führt also nach Steiner der Erkenntnisweg zu der Einsicht, dass die sich dem Bewusstsein zunächst darstellende Welt reiner Erfahrungsinhalte als solche genauso wenig für sich selbst existiert wie die ihr scheinbar entgegengesetzte Innenwelt der bloßen Gedanken. Zudem wird erkannt, dass deren scheinbare Getrenntheit Ergebnis einer Abstraktionshandlung des erkennenden Menschen ist, der als Erfahrender der Wirklichkeit nur einen Teil entnimmt, als Denkender aber einen anderen, und dann der Illusion verfällt, die von ihm selbst geschaffene Kluft bestehe nicht nur in seinem Bewusstsein, sondern auch in der Wirklichkeit. Tatsächlich aber stelle das Ich, wenn es Erfahrungsinhalte mit Denkinhalten durchsetzt, nur subjektiv diejenige Einheit des Seins wieder her, die objektiv vor und außer dem Erkenntnisakt immer schon bestehe.

Mit dieser Charakterisierung des Erkenntnisvorgangs meint Steiner, dem Illusionismus der Neukantianer die theoretische Basis entzogen zu haben. Von einem illusorischen Weltbild kann seiner Meinung nach nur dann gesprochen werden, wenn man glaubt, dass die Inhalte der Erfahrung subjektive Repräsentationen einer an sich bestehenden Wirklichkeit sind. Dies sind sie aber, wie wir gesehen haben, in Steiners Modell gerade nicht; vielmehr sind sie Repräsentationen jenes Aktes der Trennung, in dem diese Wirklichkeit innerhalb des menschlichen Bewusstseins sich selbst in Erfahrungsinhalte und Denkinhalte zergliedert. Wirklichkeit selbst besteht immer in der Einheit dieser beiden Komponenten; und indem das menschliche Erkennen diese Einheit zunächst zerreißt, dann aber wieder herbeiführt, ist das dadurch gewonnene Wissen eben nicht illusorisch, sondern wirklichkeitsgemäß ‒ allerdings nicht im Sinne der bloßen mentalen Repräsentation einer Wirklichkeit, die auch ohne den Akt des Erkennens besteht, sondern im Sinne einer im und durch das Erkennen gesteigerten Form ebendieser Wirklichkeit. Es muss also stets im Auge behalten werden, dass in Steiners monistischer Konzeption die Wirklichkeit selbst es ist, die, indem sie die Form des menschlichen Bewusstseins annimmt, diese scheinbare Spaltung und Wiedervereinigung ihrer selbst vornimmt, und durch ebendiesen Akt der Selbsttäuschung, im menschlichen Bewusstsein und durch dasselbe, sich ihrer selbst bewusst wird. Das menschliche Wissen ist somit nicht bloß, wie Steiner immer wieder betont, die mentale Widerspiegelung einer außerhalb des Erkenntnisaktes bereits fertigen Wirklichkeit, sondern eine gesteigerte, nunmehr ihrer selbst bewusste Form dieser Wirklichkeit selbst. Der Akt des Erkennens ist demnach nach Steiner ein Vorgang, durch den sich ebendiese Wirklichkeit – und damit auch den daran beteiligten Menschen bzw. das beteiligte Bewusstsein ‒ auf eine höhere Stufe ihres Daseins hebt.

Steiner stimmt also mit den ›Illusionisten‹ durchaus darin überein, dass die vom Menschen erkannte Wirklichkeit nicht dieselbe ist, die sie vor diesem Erkanntwerden war. Aber für ihn ist sie deshalb nicht ›Illusion‹ und ›weniger wirklich‹ als diese, sondern gewissermaßen ›wirklicher‹, gerade weil sie nicht Repräsentation, sondern die höchste Daseinsform ebendieser Wirklichkeit selbst ist (oder zumindest eine höhere Daseinsform als ihr Dasein als Gegenstand der sinnlichen Erfahrung).

Obwohl also nach diesem Verständnis für Steiner das menschliche Erkennen in diesem Sinne nicht als ›illusorisch‹ sondern als ›wirklichkeitsgemäß‹ aufzufassen ist, ist es zugleich auch immer der Form nach subjektiv. Denn der beschriebene Vorgang des Erkennens vollzieht sich naturgemäß nur in individuellen Menschen, in denen diese Spaltung und Wiedervereinigung der Wirklichkeit sich ja notwendig nach Maßgabe individueller Erfahrungen und Gegebenheiten vollziehen muss. Aber auch diese Subjektivität allen Wissens rechtfertigt nach Steiner nicht ihre Charakterisierung als illusorisch. Im Gegenteil müsse gerade das oben charakterisierte wirklichkeitsgemäße Erkennen immer einen subjektiven Charakter tragen. Die Subjektivität des Wissens kann nur für denjenigen einen negativen Beigeschmack haben, der es als Repräsentation einer schon bestehenden Wirklichkeit versteht. Versteht man hingegen das Wissen als jenen oben beschriebenen Akt der Selbststeigerung der Wirklichkeit im Menschen, so wird man es auch als positiv verstehen müssen, wenn sich dieser Akt in vielfältigen Individuen auf vielfältige Weise vollzieht. Denn es lasse sich ja überall als Tendenz der Wirklichkeit bzw. der Natur erkennen, möglichst vielfältige Formen anzunehmen. Zur Illustration dieses Gedankens zitiert Steiner immer wieder die goethesche Formulierung: »Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige« (EG, 131). Gerade der subjektive Charakter des Wissens verbürgt seiner Auffassung nach deren Wirklichkeitsgemäßheit: In einem von aller Individualität und Subjektivität freien Weltbild schafft die Wirklichkeit sich nicht eine neue und einzigartige Form, sondern wiederholt stets nur eine bereits geschaffene. In anderen Worten: Nach Steiner ergibt sich der goethesche Individualismus als Konsequenz der goetheschen Konzeption des Erkennens.

*

Die Charakteristik der steinerschen Erkenntnistheorie wurde an dieser Stelle so ausführlich geschildert, weil nur sie verständlich macht, inwiefern die später von Steiner ausgebildete Anthroposophie in der Tat bereits in diesen Ausführungen von 1886 ihre epistemologische und ontologische Begründung erfahren hat. Wenn Steiner später als Anthroposoph Schilderungen einer vor unerdenklichen Zeiten vor sich gehenden Weltschöpfung formulierte, als ob er persönlich bei der Erschaffung der Dinge dabei gewesen wäre, so wird schon hier in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie die philosophische Rechtfertigung dieses vielen Zeitgenossen sicher anmaßend erscheinenden Anspruchs formuliert. Der Vorgang des Erkennens, wie Steiner ihn hier aus epistemologischer Perspektive beschreibt, ist seiner Auffassung nach tatsächlich analog zu, ja in gewisser Weise identisch mit jenem, durch den, aus ontologischer Perspektive betrachtet, die Welt und alle Dinge entstehen. Auch der Weltprozess, wie Steiner ihn in seinen kosmologischen Darstellungen schildert, ist ein solcher, in dem sich eine einheitliche Wirklichkeit in Gegensätze aufspaltet, um an diesem Gegensatz ein Bewusstsein ihrer selbst hervorzubringen und dann, durch einen weiteren Evolutionsschritt ebenjenes Bewusstseins, die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen. Der Mensch wiederholt bzw. vollzieht also, indem er die Welt erkennt, in gewisser Weise denselben Akt, durch den die Welt selbst entstanden ist und in jedem Augenblick immer noch entsteht. Und indem er dies klar durchschaut, erzeugt er in sich bereits jenen Zustand, auf den die kosmische Weltentwicklung als fernes Ziel zusteuert. Schon in der Einleitung von 1884 findet sich dieser Gedanke, wenn Steiner schreibt: »Goethe sucht so gleichsam das im Geiste nachzubilden, was die Natur bei der Bildung ihrer Wesen vollzieht« (EG, 20). Später, in den Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert, wird er Schelling als Kronzeugen desselben aufrufen und immer wieder dessen Satz zitieren: »Über die Natur philosophieren heißt soviel als die Natur schaffen« (RP[I], 139). Wenn man nun zusätzlich noch davon ausgeht, dass Zeit und Raum selbst nichts anderes sind, als Erscheinungsformen des Wirklichen im menschlichen Bewusstsein (und Steiner macht, wie noch zu zeigen sein wird, ein ausführliches Argument für die Idealität des Raumes in der Einleitung von 1890), dann kann das im Erkenntnisakt des Menschen sich vollziehende Geschehen nicht länger als Nachvollzug, sondern muss als tatsächlicher Mitvollzug desselben Geschehens verstanden werden, das im raum-zeitlichen Bewusstsein als sich entfaltende Weltschöpfung erscheint. Insofern, so würde Steiner dem Vorwurf der Verstiegenheit wohl erwidern, sei er in der Tat, und sei jeder des Denkens fähige Mensch bei der Weltschöpfung buchstäblich ›dabei gewesen‹, bzw. in jedem Augenblick dabei, und könne daher, sofern er ein klares Bewusstsein von dieser Partizipation seiner Erkenntniskräfte am Ursprungsvorgang der Welt erlangt hat, sehr wohl darüber berichten.

*

Nur im Lichte dieses alternativen Begriffs von Erkenntnis, nach dem das Wissen nicht bloß eine Reproduktionsleistung, sondern schöpferischer Selbstvollzug des Wirklichen selbst ist, lässt sich nach Steiner die Eigenart der goetheschen Naturforschung verstehen. Nehmen wir etwa den goetheschen Begriff des ›Typus‹. Der Typus der ›Urpflanze‹ stellt, wie oben skizziert, nach Goethes Auffassung die Gesamtheit der Bildungs- und Entwicklungsgesetze des pflanzlichen Lebens dar. Goethe war überzeugt, diesen Typus nicht theoretisch ersonnen zu haben, sondern beschrieb ihn als Erfahrungsinhalt, der sich zwar nicht dem physischen Auge, wohl aber dem inneren ›geistigen‹ Auge darstelle. Steiner fasst dies so auf, dass dasjenige, was da vor Goethes innerem Auge stand, als Produkt seiner Einbildungskraft aufgefasst werden muss. Mit ›bloßen Augen‹ kann, nach Steiners Auffassung, niemand die Urpflanze sehen. Vielmehr habe sich der Typus in Goethes Phantasie, als Ergebnis jahrelanger systematischer Beobachtungen des Pflanzenlebens, zunächst eine imaginative Bildgestalt seiner selbst schaffen müssen, um in der beschriebenen Weise innerlich angeschaut werden zu können. Nun kann aus Sicht des von Kant herkommenden modernen Verständnisses von Wissenschaft nur dasjenige wissenschaftlich untersucht werden, was sich der sinnlichen Wahrnehmung darbietet (bzw. durch irgendeinen Apparat nachweisbar und messbar ist). Der goethesche Typus, der nur mittels eines Phantasieprodukts anschaulich und erfahrbar wird, würde sich somit vor diesem modernen Wissenschaftsverständnis durch seine eigene Definition als möglicher Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis disqualifizieren. Etwas wie die ›Urpflanze‹ könnte allenfalls zum Erkenntnisgegenstand für die Geistes- und Kulturwissenschaften werden, als ein vom Menschen erzeugtes Phantasieprodukt unter anderen, hätte aber doch wohl in den Naturwissenschaften nichts verloren.

Gegen diese Auffassung, die Steiner als den philosophischen und wissenschaftlichen Konsens seiner Zeit wahrnahm, verteidigt er in den Grundlinien den Standpunkt, dass auch Erzeugnisse der Einbildungskraft durchaus Medium naturwissenschaftlicher Erkenntnis werden bzw. instrumentell für diese Erkenntnis sein können. (Nicht alle Erzeugnisse der Einbildungskraft, wohlgemerkt, aber eben doch bestimmte, nach exakten Gesetzen gebildete wie der goethesche ›Typus‹.) Denn die in den menschlichen Erkenntniskräften waltenden Prozesse sind, wie wir oben gesehen haben, nach Steiner dieselben, die auch in dem walten, was dem Menschen als äußere Natur erscheint. Steiner stellt daher die herausfordernde Frage, wieso der Inhalt einer äußeren sinnlichen Erfahrung, etwa meine Wahrnehmung dieser bestimmten Pflanze in meinem Garten, ein legitimer Gegenstand bzw. legitimes Mittel naturwissenschaftlicher Erkenntnis sein soll, der Inhalt einer inneren Erfahrung (wie die Anschauung der goetheschen Urpflanze) aber nicht. Eine entsprechende Antwort von Seiten der Naturwissenschaft dürfte lauten: Die äußere Wahrnehmung der Gartenpflanze sei schließlich mentale Repräsentation eines tatsächlichen, in der Außenwelt existierenden Objekts, während das Phantasieprodukt ›Urpflanze‹ nur in Goethes Imagination existiere und ihm nichts in der materiellen Außenwelt entspreche. Doch vor dem Hintergrund des oben skizzierten Erkenntnis- und Wirklichkeitsverständnisses fällt ein solches Argument in sich zusammen, denn die von unserem hypothetischen Naturwissenschaftler postulierte vermeintlich ›wirkliche‹ materielle Außenwelt, deren mentale Repräsentation die Sinneswahrnehmung sein soll, stellt sich in Steiners Sicht ja als ebensolches ›Phantasieprodukt‹ heraus, wie aus Sicht des Naturwissenschaftlers die goethesche Urpflanze. Wenn aber die vom Naturwissenschaftler angenommene wirkliche materielle Außenwelt als sinnlich wahrnehmbare ebenso nur im menschlichen Bewusstsein existiert wie das Phantasiebild der Urpflanze, wenn überhaupt die Trennung der Wirklichkeit in (subjektive) Innenwelt und (objektive) Außenwelt nirgendwo anders als im menschlichen Bewusstsein existiert, dann ist es um die postulierte Überlegenheit der Sinneswahrnehmung gegenüber dem Phantasiebild als Basis wissenschaftlicher Erkenntnis getan. Der reinen, vom Denken unberührten Beobachtung gegenüber haben sie nach Goethe und nach Steiner beide als genuine Erfahrung zu gelten, denen gegenüber nun die denkende Tätigkeit des Wissenschaftlers einzusetzen hat, um zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis desselben zu kommen.

Natürlich wird man nach diesem Modell im Prozess des Erkennens irgendwann auch dazu übergehen müssen, zwischen sinnlichen Wahrnehmungen und Phantasieprodukten zu unterscheiden, und auch in beiden Kategorien zwischen erkenntnisrelevanten und irreführenden Inhalten zu unterscheiden. (Also etwa im Bereich der Sinneswahrnehmung zwischen korrekten Wahrnehmungen und Sinnestäuschungen, und im Bereich der Phantasieprodukte zwischen rein subjektiven Einbildungen und nach strengen Gesetzen gebildeten Gestalten wie der ›Urpflanze‹). Aber solche Unterscheidungen und Bewertungen kommen nach dem steinerschen Modell erst durch den Akt des Erkennens zustande; sie dürfen daher nicht schon vor dem Erkennen getroffen werden, weil so bestimmte Formen der Erfahrung, die potentiell Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis werden könnten, von vornherein willkürlich ausgeschlossen werden.

Fassen wir zusammen: Wie in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der aktive Vollzug des Erkennens es ist, der den Menschen in den Illusionismus und in die Erkenntnisresignation hineinführt, so kann auch der Weg aus dieser Situation nicht durch bloßes Theoretisieren gefunden werden, sondern nur durch den tatsächlichen Vollzug eines bestimmten Erkenntnisaktes. Der das illusionistische Bewusstsein prägende Dualismus muss nach Steiners Auffassung nicht durch ein Argument theoretisch widerlegt, sondern durch einen realen kognitiven Akt praktisch überwunden werden. Was sich dem dualen Bewusstsein notwendig als unvermittelbare Zweiheit darstelle, als Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Innenwelt und Außenwelt, von Begriff und Wahrnehmung, werde in diesem Akt in seiner essenziellen Einheit erlebt. Und von diesem ersten genuinen non-dualen Einheitserlebnis aus stelle sich nun der Vorgang des Erkennens und infolgedessen auch die Struktur der Wirklichkeit ganz anders dar, als dies zuvor im dualistisch geprägten Bewusstsein der Fall war. Goethe, so Steiners Überzeugung, sei mit diesem Erlebnis der Non-Dualität vertraut gewesen und habe von ihm ausgehend jenes alternative Erkenntnis- und Wissenschaftsverständnis entwickelt, von dem seine Naturstudien der praktische Ausdruck seien.

Von dieser Argumentation ausgehend hätte Steiner nur das Ergebnis seines Ansatzes in den Grundlinien wie folgt beschreiben können: Kant und der moderne Illusionismus haben im Prinzip recht, wenn sie beschreiben, wie sich die Welt dem dualen Bewusstsein darstellt und wie dieses Bewusstsein sich in eine selbstgeschaffene Illusion einspinnt. Doch übersehen sie dabei, dass, wie am Beispiel Goethes zu zeigen ist, prinzipiell die Möglichkeit besteht, vom dualen Bewusstsein aus zu einer non-dualen Form der Wirklichkeitserfassung zu gelangen, von dem aus gesehen sich das Wesen der Erkenntnis und der Wirklichkeit anders darstellt. Denn alle Dinge entwickeln sich und sind einem Evolutionsprozess unterworfen; auch und besonders das menschliche Bewusstsein. ‒ In späteren Schriften hat Steiner dieses Argument denn auch genauso vorgebracht, am deutlichsten vielleicht in seinem Aufsatz Philosophie und Theosophie von 1908. Hier räumt Steiner die von Kant gezogenen Grenzen des Erkennens völlig ein, macht aber deutlich, dass dies eben die Grenzen des gewöhnlichen dualen Bewusstseins sind und dass dem gegenüber die prinzipielle Möglichkeit, ja die natürliche Tendenz besteht, höhere Formen des Bewusstseins auszubilden. In den Texten von 1884 und 1886 allerdings wird dieses Argument so noch nicht vorgebracht. Statt zu betonen, dass an dem Unterschied zwischen Kant und Goethe ein Evolutionsschritt des menschlichen Bewusstseins abzulesen sei, betont der frühe Steiner, dass der von Kant ausgehende Begriff des Erkennens grundsätzlich ein falscher sei und durch eine auf Goethes Anschauungen beruhende Epistemologie zu berichtigen sei. Dies ist umso frappanter, als der Entwicklungsbegriff ja schon 1884 im Zentrum seiner Darstellung steht und von ihm als grundlegend charakterisiert wird. Aber auf das Erkennen bzw. das Bewusstsein selbst wendet Steiner diesen Entwicklungsbegriff erst später dezidiert an. In der Philosophie der Freiheit von 1894 werden beispielsweise die Moralität und die Freiheit des Menschen unter dem Gesichtspunkt des Entwicklungsbegriffs betrachtet, noch nicht aber das Bewusstsein als solches. Diesen die anthroposophische Perspektive charakterisierenden Schritt zu einer umfassenden Theorie der Evolution des erkennenden Bewusstseins hat Steiner erst nach seiner Hinwendung zur Theosophie gemacht, und zwar am ausführlichsten und eindrücklichsten in den Rätseln der Philosophie von 1914.

Die Struktur der Wissenschaft

Nachdem Steiner anhand der Schlüsselbegriffe von Denken und Erfahrung seinen alternativen Erkenntnisbegriff dargestellt hat, geht er im vierten Kapitel der Grundlinien dazu über, anhand des dadurch Gewonnenen eine Einteilung der Wissenschaftsbereiche vorzunehmen. Sein Gedankenmodell versucht dem zuvor entwickelten Monismus Rechenschaft zu tragen, indem es den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen einen einzigen Wissensbegriff zu Grunde zu legen sucht. Aus der dreifachen Art, wie dieser universale Wissensbegriff in der unbelebten Natur, in der Welt der Lebewesen und im Bereich des menschlichen Kultur- und Geistesschaffens in Anwendung kommt, ergeben sich dann die drei grundlegenden Wissenschaftsformen: 1. anorganische oder physikalisch-chemische Wissenschaft, 2. Organik oder Wissenschaft der Lebewesen und 3. Geisteswissenschaft.

Im Hintergrund dieses Modells stehen wieder mehr oder weniger unausgesprochen Vorstellungen aus dem deutschen Idealismus, und zwar in diesem Fall besonders die Geistphilosophie Hegels. Nach dieser steht bekanntlich im Ursprung und hinter aller Entwicklung die sogenannte ›absolute Idee‹, welche sich im Lauf der Naturgeschichte in die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Natur ausgießt und in dieser Form die verschiedenen Naturreiche schafft und durchläuft, bis sie im Menschen zum Bewusstsein wird und sich, qua dieses Bewusstseins, einer Welt von sinnlichen Erscheinungen gegenübersieht, welche sie, obzwar diese objektiv Ausdruck ihres eigenen sich entwickelnden Wesens ist, subjektiv als ein Anderes und ihm Fremdes erlebt. Die Idee überwindet dann aber diese Selbstentfremdung durch die Ausbildung und Vollendung des Selbstbewusstseins, in welcher sie zum ›Geist‹ wird, der die Identität von Bewusstsein und Welt durchschaut und in dieser Erkenntnis die ursprüngliche Einheit aller Dinge, die an sich immer bestand, nun auch für sich realisiert.

Auf der Grundlage dieses im Hintergrund schwebenden Modells unterscheidet Steiner nun drei prinzipielle Möglichkeiten der Erkenntnis. Die im Menschen zum Geist gewordene Idee kann zum einen solche Phänomene betrachten, in denen diese sich ganz in das sinnlich wahrnehmbare Geschehen ausgegossen hat. Dadurch entstehen die Gegenstände der Wissenschaft von den anorganischen Phänomenen. Hier findet der Geist alles, was er zur Erklärung der wahrgenommenen Phänomene bedarf, in diesen selbst bzw. in den Verhältnissen zwischen diesen, welche er als Denkender auffasst. So kommt er zur Erkenntnis der Naturgesetze bzw., in der Terminologie Goethes, zur Auffassung der ›Urphänomene‹. ‒ Im Bereich des Lebendigen hingegen findet der Geist, dass er hier nicht vollständig in den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren eingetreten ist, sondern dass ein Teil seiner selbst gewissermaßen außerhalb des sinnlichen Phänomens verblieben ist. In diesem Fall muss er über die sinnliche Beobachtung hinaus gehen und zur übersinnlichen Wahrnehmung dieses verbliebenen Restes kommen, in Goethes Sprache zur Anschauung des ›Typus‹. Es bedarf einer inneren Anschauung der Urpflanze und des Urtieres, um eine einzelne Pflanzen- oder Tierform zu verstehen. Und während in der unorganischen Welt jedes Vorkommnis immer als Einzelfall eines allgemeinen Gesetzes oder Urphänomens zu erklären ist (und so mit jedem Vorkommnis derselben Art vollkommen identisch ist), kann in der organischen Welt der einzelne Organismus nicht bloß als besonderer Fall des Typus verstanden werden, sondern muss als Ergebnis einer Metamorphose desselben, d. h. einer Entwicklung von einer Verwirklichung des Typus zum anderen begriffen werden. »Nicht durch äußerliche Gegenüberstellung von Allgemeinem und Besonderem kommt die organische Wissenschaft zustande«, schreibt Steiner, »sondern durch Entwicklung der einen Form aus der andern« (GE, 82). Und während in der unorganischen Welt das einen Vorgang regelnde Gesetz dem betrachtenden Menschen als diesem gewissermaßen äußerlich erscheint, so erscheint ihm die den Organismus regelnde Gesetzmäßigkeit als in diesem selbst liegend: »Das Gesetz beherrscht die Erscheinung als ein über ihr Stehendes; der Typus fließt in das einzelne Lebewesen ein« (GE, 81). Die Welt der Lebewesen kann daher für Steiner nicht durch eine Wissenschaft verstanden werden, die bloß allgemeine Naturgesetze erkennt und anerkennt, sondern sie bedarf der Fähigkeit des Forschers, die je einzigartigen und unter kein äußeres Gesetz fallenden Metamorphosen des Typus in den sich wandelnden Organismenformen anzuschauen. Wohl gilt auch hier die von Steiner für alles Erkennen formulierte allgemeine Form: dass zu einer Erfahrung denkend der Begriff gebildet werden muss. Aber der Gegenstand der Erfahrung, der Typus, ist in der Organik ganz anders geartet als in der Physik, da er nicht in die sinnliche Wahrnehmung fällt und daher die Ausbildung einer besonderen Auffassungsfähigkeit voraussetzt. Und auch das Denken muss hier ein anderes sein, um jene beweglichen Begriffe bilden zu können, die der fließenden Natur des Typus und des Metamorphosegeschehens entsprechen. Dies »setzt eine intensivere Betätigung des Geistes voraus« (GE, 84), die Steiner dann auch, wie schon in der Einleitung von 1884, unter dem Begriff der Intuition fasst.

Im dritten Wissenschaftsbereich der Kultur- und Geschichtsforschung hingegen richtet sich die Erkenntnis des Geistes nach Steiners Modell überhaupt nicht mehr auf sinnlich Wahrnehmbares als solches, sondern allein auf diejenigen Erzeugnisse des menschlichen Geistes, welche die Ursachen des historischen und kulturellen Geschehens sind. Der Geist betrachte sich selbst hier also nicht länger in einer ihm äußerlichen Form, sondern ganz ideell. Deshalb müsse zur Geisteswissenschaft in diesem Sinne, mehr noch als für die Wissenschaft der organischen Natur, die Fähigkeit vorausgesetzt werden, nicht nur das sinnlich wahrnehmbare Geschehen zu beobachten, sondern Gedanken und Gedankensysteme (bzw. menschliche Persönlichkeiten als die Erzeuger und Träger derselben) anzuschauen und zu erleben. Dasselbe Argument, mit dem also die Trennung zwischen organischen und anorganischen Wissenschaften überwunden werden soll, dient Steiner auch zur Infragestellung einer grundsätzlichen Trennung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Die Form des Wissens, so Steiners Argument, ist in allen drei Bereichen dieselbe ‒ immer geht es darum, dass dem Geist eine Erscheinungsform seiner selbst als Erfahrung gegenübertritt und er diese Erfahrung dann mit den im Denken aufgefundenen Zusammenhängen durchdringt. Aber die Objekte der Erfahrung, die Phänomene, sind in den verschiedenen Bereichen eben unterschiedlicher Natur. In den anorganischen Wissenschaften tritt das vom Denken Gefundene ganz sinnlich auf (als Urphänomen), in den organischen Wissenschaften nur innerlich anschaulich (nämlich als Typus), und in den Geisteswissenschaften völlig unsinnlich (als Persönlichkeit bzw. als Inhalt von deren Geist). Aber die Einheit der Wissenschaften ist dadurch gesichert, dass sinnliche Wahrnehmungen, Urphänomene, Typen, Gedanken und Persönlichkeiten allesamt Erscheinungsformen einer und derselben Wirklichkeit, der Idee, sind.

Ein Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft besteht hingegen in den Grundlinien darin, dass sich die Idee im Typus immer nur als Allgemeines offenbart, im menschlichen Geist hingegen als Individualität bzw. als Persönlichkeit. Der Pflanzentypus wie von Goethe als ›Urpflanze‹ beschrieben (wie auch in Steiners esoterischer Sprache der ›Ätherleib‹ der Pflanze) erweist sich in allen Pflanzen als derselbe; im Tier multipliziert er sich in die vielfachen Organsysteme, aber doch bei jedem Exemplar einer Art auf gleiche Weise; im Menschen hingegen erscheine er in jedem als je individueller Geist. Das Individualitätsprinzip, das in der unorganischen Welt nur als Vielheit der Gesetze, im Pflanzen- und Tierreich nur als Vielfalt der Arten auftritt, steigt hier gewissermaßen in die individuelle Erscheinung herab. Der Mensch als selbstbewusstes Wesen ist vom andern Menschen so verschieden, wie in der Organik eine Spezies von der andern, wie in der Physik ein Naturgesetz vom andern. Daher besteht das Ziel der wissenschaftlichen Erklärung in den Geisteswissenschaften nach Steiner darin, alles kulturelle Geschehen auf die Tätigkeit individueller geistiger Entitäten zurückzuführen. Einen allgemeinen ›Menschen also solchen‹ wie etwa die eine allgemeine ›Urpflanze‹ gibt es nach dieser Auffassung nicht. Wohl aber postuliert Steiner neben den individuellen geistigen Entitäten im Menschen auch noch solche, welche hinter ethnischen Gruppen von Menschen stehen, die sogenannten ›Volksseelen‹. Dies war eine im neunzehnten Jahrhundert gängige Vorstellung. Schon Hegel hatte von solchen Volksseelen gesprochen, und auch Schröer bediente sich dieses Ausdrucks. Deshalb ist nach der Darstellung der Grundlinien in den Wissenschaften neben der Individualpsychologie auch eine ›Völkerpsychologie‹ berechtigt bzw. erfordert.

Insofern der Geist, indem er als individuelle Persönlichkeit auftritt, sich selbst die Gesetze gibt, nach denen er handelt, eröffnet sich hier ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Geisteswissenschaft in diesem Sinn und den beiden Formen der Naturwissenschaft. In letzteren bestimmt das allgemeine Gesetz die individuellen Erscheinungen; erstere hingegen erkennt in den Individuen die Gesetzgeber der allgemeinen historischen und kulturellen Entwicklungen:

Wenn es uns gelingt, der Geschichte allgemeine Gesetze abzulauschen, so sind diese nur insofern solche, als sie sich von den historischen Persönlichkeiten als Ziele, Ideale vorgesetzt wurden. Das ist der innere Gegensatz von Natur und Geist. […] Daß das Besondere zugleich das Gesetzgebende ist, charakterisiert die Geisteswissenschaften; daß dem Allgemeinen diese Rolle zufällt, die Naturwissenschaften. (GE, 92)

Indem es im Bereich der Geisteswissenschaften immer individuelle Geister sind, deren Denken und Handeln die zu erforschenden Phänomene und deren innere Gesetzmäßigkeit hervorbringt, und indem im menschlichen Geist dessen Tätigkeit und das diese Tätigkeit bestimmende Gesetz nicht, wie sonst überall in der Natur, auseinanderfallen, kommt nach Steiner in diesem Bereich dem Begriff der Freiheit eine zentrale Bedeutung zu. Denn dieses Prinzip der Selbstgesetzgebung ist für Steiner, wie für Kant und alle Denker des deutschen Idealismus, das eigentliche Wesen der Freiheit. Wo sich die Idee als anorganisches Phänomen, wo sie sich als Pflanze oder Tier zeigt, fallen Tätigkeit und Gesetz auseinander. Das Naturgesetz und der Typus, obwohl dem Wesen nach zum Phänomen gehörig, müssen im Vorgang des Erkennens erst anderswo aufgefunden werden, um dann als Erklärung des Beobachteten dienen zu können. Beim menschlichen Geist, so Steiner in Ausführung seines Freiheitsbegriffes, sei es dieser selbst, der sich das Gesetz seiner Tätigkeit gibt. Daher sei die Freiheit nicht nur als ein wichtiger Begriff innerhalb der Geisteswissenschaft zu verstehen, sondern als die zentrale Wesensbestimmung des Geistes und somit diejenige des Menschen (und diejenige von Wirklichkeit) überhaupt. Der Mensch kann als solcher nur verstanden werden, wenn das Wesen der Freiheit als zentrale Grundbestimmung des Geistes verstanden wird. Steiner fordert daher eine Psychologie, welche den menschlichen Geist nicht als leidendes sondern als tätiges Prinzip begreift und den Menschen und seine inneren Erfahrungen nicht unter die Herrschaft irgendwelcher äußeren oder unerkennbaren Mächte stellt, wie seiner Ansicht nach die moderne Psychologie (einschließlich der Psychoanalyse), sondern die dem menschlichen Geist die Möglichkeit einräumt, durch Selbsterkenntnis Herr im eigenen Haus sein oder zumindest werden zu können. »Man hat sich eben auch hier«, so Steiners Kommentar zur zeitgenössischen Psychologie, »zu jenem falschen Standpunkt verleiten lassen, der die Methoden der Mechanik, Physik usw. auf alle Wissenschaften anwenden will« (GE, 95).

Steiner fasst dann sein Wissenschaftsmodell in der folgenden prägnanten Formulierung zusammen, nach welcher alle Wissenschaftsdisziplinen ‒ also nicht nur die Geistes-, sondern auch und besonders die Naturwissenschaften ‒ am Ende in eine Wissenschaft von der Idee und somit in einen philosophischen Idealismus einmünden müssen:

Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß der wahre Inhalt der Wissenschaft überhaupt nicht der wahrgenommene äußere Stoff ist, sondern die im Geiste erfaßte Idee, welche uns tiefer in das Weltgetriebe einführt, als alles Zerlegen und Beobachten der Außenwelt als bloßer Erfahrung. Die Idee ist Inhalt der Wissenschaft. (GE, 103)

Auch in der Einleitung von 1887 konstatiert Steiner: »Wahre Wissenschaft im höheren Sinn des Wortes hat es nur mit ideellen Objekten zu tun; sie kann nur Idealismus sein« (EG, 200).

In solchen Formulierungen, in denen sich wie in ersten Andeutungen die Signatur der später von Steiner ausgebildeten anthroposophischen Geisteswissenschaft abzeichnet, wird einmal mehr deutlich, dass im Hintergrund seiner Überlegungen in den 1880er Jahren eigentlich eher schellingsche und hegelsche Vorstellungen standen als genuin goethesche. Der in die Anschauung verliebte Goethe hätte sich mit einem solchen absoluten Idealismus wahrscheinlich wenig identifizieren können. Bei Schelling hingegen finden sich fast wortgleiche Formulierungen. Man vergleiche nur die folgende Passage aus dem System des transzendentalen Idealismus:

Die höchste Vervollkommnung der Naturwissenschaft wäre die vollkommene Vergeistigung aller Naturgesetze zu Gesetzen des Anschauens und des Denkens. Die Phänomene (das Materielle) müssen völlig verschwinden, und nur die Gesetze (das Formelle) bleiben. Daher kommt es, dass, je mehr in der Natur selbst das Gesetzmäßige hervorbricht, desto mehr die Hülle verschwindet, die Phänomene selbst geistiger werden, und zuletzt völlig aufhören. Die optischen Phänomene sind nichts anderes als eine Geometrie, deren Linien durch das Licht gezogen werden, und dieses Licht selbst ist schon von zweideutiger Materialität. In den Erscheinungen des Magnetismus verschwindet schon alle materielle Spur, und von den Phänomenen der Gravitation, welche selbst Naturforscher nur als unmittelbar geistige Einwirkung begreifen zu können glaubten, bleibt nichts zurück als ihr Gesetz, dessen Ausführung im Großen der Mechanismus der Himmelsbewegungen ist. – Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste. (SSW I/3, 340 f.)

Diese Sätze könnten so auch in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie stehen. Man kann somit die Frage aufwerfen, ob der Titel dieser Schrift sachgemäßer nicht eigentlich wie folgt hätte lauten sollen: Grundlinien einer Erkenntnistheorie des deutschen Idealismus, mit besonderer Rücksicht auf Goethes Einsicht in die Bedeutung der Phantasie für die Erkenntnis der organischen Natur.

Warum Steiner in den achtziger Jahren aber am Ende doch immer, trotz seiner großen Nähe zum deutschen Idealismus, von der eigenen Weltanschauung als von einer ›goetheschen‹ statt von einer ›fichte-, schelling-, hegelschen‹ gesprochen hat, geht aus dem Abschlusskapitel der Grundlinien hervor, in dem Steiner noch einmal auf die Frage nach dem Verhältnis der Kunst zu dem nunmehr entwickelten idealistischen Wissenschaftsbegriff kommt. Fichte, Schelling und Hegel hatten zwar auch ausgiebig über das Verhältnis von Kunst und Philosophie nachgedacht und hatten dabei bereits viele der späteren steinerschen Ansichten vorgebildet; doch waren diese Denker, anders als Goethe, eben nicht selbst künstlerisch oder naturwissenschaftlich tätig gewesen. Entscheidend für Steiner war offensichtlich die Tatsache, dass im goetheschen Werk diese beiden Formen der Wirklichkeitsauffassung nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis verbunden waren. Fichte, Schelling und Hegel hatten mit ihren großartigen Gedankensystemen zwar eine Blüte der Philosophie bewirkt, aber weder in der Kunst noch in der Naturwissenschaft bedeutsame praktische Veränderungen angestoßen. Wohl gab es im 19. Jahrhundert eine blühende, an Schelling sich anschließende Naturphilosophie, doch diese trat im Laufe der Zeit fast völlig in den Schatten einer als überlegen wahrgenommenen materialistischen Naturwissenschaft. Goethe hingegen hat nicht nur über Kunst und Wissenschaft nachgedacht, sondern großartige Dichtungen von Weltbedeutung geschaffen und zudem in der Naturwissenschaft mit seinen morphologischen Arbeiten und seiner Farbenlehre Ergebnisse vorgelegt, mit denen sich nicht nur die Philosophen, sondern auch die Naturwissenschaftler seiner Zeit, wenn auch überwiegend ablehnend, auseinandersetzten. Dies muss Steiner in besonderem Maße angezogen haben, der ja selbst auch nie die theoretischen Ausbildungen seiner Weltanschauung in den Vordergrund stellte, sondern immer deren künstlerische Umsetzung und praktische Anwendung im kulturellen Leben. Und so erscheint es im Rückblick als nicht nur biographisch nachvollziehbar, sondern auch als historisch völlig sachgemäß, dass Steiner sich, bei aller nachweisbaren Prägung durch den philosophischen Idealismus, für Goethe als primäre Identifikationsfigur und als Namenspatron für die zu schaffende Geisteswissenschaft entschieden hat.

 

Wissenschaft und Kunst

Im Licht des oben Gesagten erscheint es konsequent, dass im Abschlusskapitel der Grundlinien einer Erkenntnistheorie die Frage nach dem Verhältnis des Wissens zur Kunst und zum Leben noch einmal auf der Tagesordnung steht. Schon in der Einleitung von 1884 war, wie oben erwähnt, die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft aufgeworfen worden, doch hatte sich dort die Frage aus der Biographie des Dichterfürsten ergeben. Ausgehend von der Tatsache, dass sich in der Persönlichkeit Goethes dichterische und wissenschaftliche Interessen vereint finden, wurde gefragt, welche Aspekte in Goethes Persönlichkeit und Denkweise dazu führten, dass er sich sowohl für Kunst und Wissenschaft interessierte. In den Grundlinen wird die Affinität beider Bereiche des Kulturschaffens aus dem nunmehr entwickelten Wissenschaftsbegriff abgeleitet. Die Wissenschaft sei der Kunst darin verwandt, so Steiners Argument, dass das in ihr hervorgebrachte Wissen in gleicher Weise eine Art ›gesteigerte Natur‹ und somit eine höher entwickelte Form der absoluten Idee darstelle, wie die Kunst. Goethe hatte bekanntlich in den Werken der Kunst eine Art »höhere Natur in der Natur« (EG, 10) gesehen, indem er davon ausging, dass es dieselben grundlegenden Naturgesetze sind, die in der Natur die Formen des Lebens und in der Phantasie des Künstlers die Formen der Kunst hervorbringt. Genau dasselbe gilt nun aber auch für den in den Grundlinien entwickelten Wissensbegriff. Das durch den Erkenntnisprozess gewonnene Wissen darf nach Steiner nicht als bloße mentale Reproduktion einer bestehenden Wirklichkeit, als Spiegelbild einer fertigen Welt verstanden werden, sondern hat sich seiner Meinung nach als eine höhere Form ebendieser Wirklichkeit bzw. dieser Welt erwiesen. »Die Gestalt von der Wirklichkeit, welche der Mensch in der Wissenschaft entwirft«, so Steiner in hegelschem Duktus, »ist die letzte wahre Gestalt derselben« (GE, 63). Die absolute Idee selbst ist es, die, nachdem sie die verschiedenen Naturreiche durchlaufen hat und sich dann im Menschen zum Denken und schließlich zum seiner selbst bewussten Denken, zum Geist gesteigert hat, sich nun noch einmal steigert und in der Wissenschaft wie in der Kunst weitere Steigerungen ihres sich entwickelnden Wesens hervorbringt. Hegels Phänomenologie des Geistes steht deutlich im Hintergrund, auch wenn Steiner hier die Religion als eine weitere Stufe dieses Prozesses unter den Tisch fallen lässt.

Verwandt sind Kunst und Wissenschaft in den Grundlinien natürlich auch dadurch, dass Steiner im Anschluss an Goethe der menschlichen Einbildungskraft, der Phantasie, eine zentrale Bedeutung für den Erkenntnisprozess zuschreibt. Während die Wahrnehmungen der Sinne, welche Grundlage der Erkenntnis der anorganischen Welt sind, keine besondere Eigentätigkeit des Bewusstseins erfordern, ist schon die Wahrnehmung des Typus in der organischen Wissenschaft an die Fähigkeit zur aktiven Erzeugung einer inneren Anschauung gebunden: an die Fähigkeit zur Erfassung des ›intuitiven Begriffs‹, wie es in den Grundlinien noch heißt. Später wird Steiner von der Fähigkeit zur Hervorbringung von Imaginationen sprechen und diese in seiner Philosophie der Freiheit, insofern sie in praktischen Urteilen zum Tragen kommt, als »moralische Phantasie« (PF, 197) bezeichnen. Ja, man könnte diese Forderung, die Einbildungskraft als grundlegendes Prinzip nicht nur des künstlerischen Schaffens, sondern auch des wissenschaftlichen Erkennens gelten zu lassen, vielleicht als den grundlegendsten und einflussreichsten Gedanken verstehen, den Steiner in seiner Auseinandersetzung mit Goethe entwickelt und später in seine Anthroposophie mit hineingetragen hat. Auf dem Postulat, dass die Phantasie des Menschen diesen nicht nur dazu befähigt, als Künstler schöpferisch tätig zu sein, sondern auch jene seelisch-geistige Grundkraft darstellt, die es ihm nach entsprechender Schulung ermöglicht, zu einer wirklichkeitsgemäßen Erkenntnis nicht nur der leblosen Natur, sondern auch der Lebewesen, der menschlichen Geistesschöpfungen und letztlich des Geistes als solchem zu kommen, beruht nicht nur Steiners frühe Goethe-Deutung, sondern auch der gesamte und kaum zu überschauende Ideenorganismus seiner später geschaffenen Anthroposophie. Es ist daher nur konsequent und auf einer Linie mit seinen frühesten Veröffentlichungen, wenn Steiner später als Theosoph und als Anthroposoph der Kunst in zunehmendem Maße eine zentrale Rolle bei der praktischen Vermittlung seiner Weltanschauung an die Kultur und das Leben seiner Gegenwart zuschrieb. Und ohne seine unermüdlichen Versuche, Anthroposophie in künstlerische Tätigkeit zu übersetzen, hätten seine gedanklichen Impulse sicher nicht die prägende Wirkung gehabt, aufgrund derer sie noch heute ein bedeutender Kulturfaktor sind.

 

Die Änderungen von 1924 im Lichte

des steinerschen Entwicklungsbegriffs

Im Gegensatz zu anderen Schriften, in denen der spätere Steiner seine früheren Texte grundlegend revidiert hat, weisen die Grundlinien einer Erkenntnistheorie nur wenige solcher nachträglichen Änderungen auf. Und wo sie im Text vorkommen, stellen sie oft nur stilistische Umformulierungen dar. Inhaltlich relevante Änderungen, wie Steiner sie in anderen Schriften vorgenommen hat, wenn etwas früher Geschriebenes im Rückblick als nicht mit anthroposophischem Denken im Einklang stehend erscheinen konnte, gibt es in den Grundlinien nicht. Steiners Äußerung in der Vorrede, dass er seine frühere Schrift »unverändert« wieder abdrucke, kann also als relativ unkontrovers gelten. Die Entwicklung des jungen Goethe-Forschers zum Anthroposophen kommt aber im Buch durchaus zur Sprache, und zwar in den Anmerkungen und der Vorrede, die der Neuausgabe von 1924 hinzugefügt worden sind.

Die vielleicht bedeutungsvollste Aussage Steiners in dieser Vorrede ist die folgende:

Indem ich [diese Schrift] heute wieder vor mich hinstelle, erscheint sie mir auch als die erkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung von alle dem, was ich später gesagt und veröffentlicht habe. Sie spricht von einem Wesen des Erkennens, das den Weg freilegt von der sinnenfälligen Welt in eine geistige hinein. (GE, XI)

In der anthroposophischen Literatur ist diese Aussage oft so verstanden worden, als habe Steiner sagen wollen, er sei im Prinzip schon in den achtziger Jahren ›Geistesforscher‹ im Sinne seiner späteren Anthroposophie gewesen, habe sich aber damals noch, aus welchen Gründen auch immer, in der Sprache des philosophischen Idealismus ausdrücken müssen. Dabei wird also die von Steiner beanspruchte Kontinuität seines Denkweges so verstanden, als habe es in diesem Denken keine wirkliche Entwicklung gegeben, als habe er als Anthroposoph dieselbe Lehre ausgebreitet, die er schon als Goethe-Forscher unausgesprochen in sich getragen habe.

Wir haben jedoch oben bereits gezeigt, dass in der Tat tiefgehende Entwicklungsprozesse bei Steiner stattgefunden haben. So hat er etwa den Evolutionsgedanken zwar schon früh in seiner fundamentalen Bedeutung erkannt, diesen aber zunächst nur auf Naturprozesse, dann auf die moralische Entwicklung und erst später auch auf das menschliche Bewusstsein insgesamt angewendet. Seine 1914 in den Rätseln der Philosophie vorgetragene Evolutionsgeschichte des philosophischen Bewusstseins findet sich nicht in früheren Texten, nicht einmal ansatzweise. Und die Kant-Attacken des frühen Steiner lassen nirgendwo die Einsicht des späteren Anthroposophen durchblicken, dass der Schritt von ›kantschem‹ zu ›goetheschem‹ Erkennen einer ist, der in der Entwicklung des Bewusstseins selbst liegt und von jedem Menschen im Lauf seiner Entwicklung durchzumachen ist. Letztere Vorstellungen deuten sich zwar in den Schriften der achtziger Jahre bereits an, erscheinen aber in ihrer charakteristischen Ausprägung erst nach und nach und treten vollends erst nach Steiners Assimilation der Theosophie in seinen ideellen Kosmos auf.

Die akademische Steiner-Forschung hat die Unhaltbarkeit des oben skizzierten vereinfachenden Kontinuitätsverständnisses vielfach erkannt, wusste ihm aber meist nicht besseres entgegenzusetzen, als die These von ›Brüchen‹ und ›Konversionen‹, die in Steiners Entwicklung zu konstatieren seien. Diese Bruch-Theorie erweist sich jedoch, wie in den Einleitungen zu SKA 2‒8 vielfach gezeigt worden ist (und wie inzwischen auch von ehemals führenden Vertretern derselben zugegeben wird), im Lichte eines hermeneutisch orientierten Zugangs zu den steinerschen Schriften als ebenso verfehlt, wie die schlichte Kontinuitätsthese. Ein sachgemäßeres Verständnis der Evolution von Steiners Denken kann gewonnen werden, wenn man den aus diesem Denken selbst hervorgegangenen Entwicklungsbegriff auf dasselbe anwendet. Da dieser Entwicklungsbegriff, wie früher bereits erwähnt, auch den hermeneutischen Ansatz der vorliegenden Einleitung und der SKA insgesamt maßgeblich leitet, soll er im Folgenden etwas näher charakterisiert werden.

Steiner hat in vielen seiner Schriften über den Entwicklungsgedanken reflektiert. Dabei hebt er ab etwa 1897 besonders hervor, dass der Gedanke von Neubildungen in der Natur und deren wissenschaftlicher Erklärung eine der zentralen Errungenschaften der Entwicklungstheorie des neunzehnten Jahrhunderts waren. In Goethes Weltanschauung, in Haeckel und seine Gegner sowie in den Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert wird am Beispiel der hallerschen Einschachtelungslehre und deren Überwindung erst durch Wolff und Goethe und dann durch Darwin und Haeckel immer wieder das Argument entwickelt, dass Entwicklung im Sinne der modernen Evolutionstheorie nicht so zu verstehen sei, dass etwas in einer früheren Entwicklungsform bereits Vorhandenes in späteren Entwicklungsformen neue Form annimmt, sondern dass es sich bei Evolutionsprozessen um genuine Neubildungen handelt:

Wolff zeigte, daß in dem Ei nichts von der Form des ausgebildeten Organismus vorhanden ist, sondern daß dessen Entwickelung eine Kette von Neubildungen ist. Diese Ansicht macht erst die Vorstellung eines wirklichen Werdens möglich. Denn sie erklärt, daß etwas entsteht, was noch nicht dagewesen ist, also im wahren Sinne ›wird‹. (RP[I], 198)

Innerhalb eines im Sinne Darwins gedachten Entwickelungsvorgangs ist das Vollkommene in keiner Weise in dem Unvollkommenen schon enthalten. Denn die Vollkommenheit eines höheren Wesens entsteht durch Vorgänge, die mit den Vorfahren dieses Wesens schlechterdings gar nichts zu tun haben. […] Es war in der Beuteltierform so wenig die Halbaffenform enthalten, wie in der Richtung einer rollenden Billardkugel der Weg enthalten ist, den sie einschlägt, nachdem sie von einer zweiten Kugel gestoßen worden ist. (RP[II], 50 f.)

Die Einsicht, dass der Begriff von Neubildungen für ein wissenschaftliches Verständnis von Entwicklungsprozessen zentral ist, hat Steiner offenkundig erst in der Auseinandersetzung mit Haeckel ausgebildet und ihn dann nachträglich auch auf Goethe angewendet. So etwa in Goethes Weltanschauung von 1897 (vgl. GW 118 ff.). In den Schriften der achtziger Jahre ist von ihr noch keine Rede. Einmal aber ausgebildet, war es nur konsequent, den Gedanken nicht nur wie Haeckel auf Naturprozesse, sondern auch auf seelische und geistige Phänomene anzuwenden. Und in dieser Anwendung entstand im Laufe der Zeit das anthroposophische Modell einer Evolutionsgeschichte des Bewusstseins, das zwar sowohl von haeckelschen wie von theosophischen Einflüssen geprägt ist, aber doch eine ganz originäre Gedankenschöpfung Steiners darstellt.

Die Vorstellung, diese Bewusstseinstheorie und andere anthroposophische Vorstellungen fänden sich bereits beim frühen Steiner, muss nicht nur anhand der oben dargelegten Textlage zurückgewiesen werden, sondern erscheint auch im Licht von Steiners Überlegungen zum Entwicklungsbegriff absurd. Natürlich lässt sich im Nachhinein, nach Vollzug eines Entwicklungsprozesses, begrifflich nachzeichnen, wie dieser sich vollzogen hat. So wie die Entwicklung biologischer Arten in der Natur, lassen sich auch gedankliche Entwicklungsprozesse wie Steiners Weg vom idealistischen Goethe-Verehrer zum Nietzscheaner, zum Haeckelianer, zum Theosophen und Anthroposophen im Nachhinein als Kontinuitäten erklären. Aber eben nur im Nachhinein, weil das zu Erklärende ‒ die neue Spezies bzw. die gewandelte Weltanschauung ‒ vor und während des Wandlungsprozesses eben noch gar nicht existierte. Steiner wäre daher sicher der erste, der die Idee zurückweisen würde, die später von ihm entwickelte Anthroposophie habe quasi »eingewickelt« bereits im Geist seines früheren Selbst gelegen, wie das »Küchelchen im Ei« (RP[II], 55). Auch der Schreiber dieser Zeilen weist diese Vorstellung als absurd zurück, und wenn er in dieser und anderen SKA-Einleitungen immer wieder betont hat, dass sein methodischer Zugang zu Steiner im verstehenden Nachvollzug solcher gedanklichen Entwicklungen liegt, so möchte er seinen Verständnisansatz doch nicht verwechselt sehen mit jener durch nichts zu rechtfertigenden Ansicht, die im Philosophen Steiner bereits den verkappten Anthroposophen erblickt.

Interessanterweise deutet Steiner selbst in der Vorrede zur Neuauflage der Grundlinien von 1924 zart an, wie er seine eigene intellektuelle und spirituelle Entwicklung verstanden sehen wollte, indem er im Anschluss an seine Deutung der Schrift als »erkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung« seiner späteren Geisteswissenschaft klarstellt, dass damit keinesfalls eine ›Anthroposophie im philosophischen Gewand‹ gemeint ist. Er tut dies, indem er die biologische Metapher des Keims heranzieht und schreibt:

Ich würde, schriebe ich sie [die Grundlinien einer Erkenntnistheorie] heute, manches anders sagen. […] Aber, was ich heute schriebe, würde nicht so treulich die Keime der von mir vertretenen geistgemäßen Weltanschauung in sich tragen können. So keimhaft kann man nur schreiben im Anfange eines Erkenntnislebens. Deshalb darf vielleicht diese Jugendschrift gerade in der unveränderten Form wieder erscheinen. (GE, XI)

Vertreter der oben angedeuteten Einschachtelungsthese werden diese Worte vielleicht als Bestätigung ihrer Sicht ansehen und meinen: Steiner mache doch gerade durch diesen Vergleich deutlich, dass seiner Meinung nach die Anthroposophie bereits in der Schrift von 1886 lebte, so wie die spätere Pflanze im Samen. Sie übersehen dabei, dass es gerade nach Steiners späterer Sicht der Dinge zum Wesen des Keims gehört, dass er die später aus ihm hervorgehenden Gestalten als solche eben noch nicht in sich trägt. Er trägt allenfalls das Potential dazu in sich, dass sich aber als solches im Wirklichen in vielerlei Form gestalten kann. Man vergleiche dazu die folgende Aussage Steiners aus Goethes Weltanschauung:

Für Goethe ist der Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber nicht der äußeren Erscheinung, sondern der Idee nach. Die äußere Erscheinung betrachtet auch er als eine Neubildung. (GW, 119)

Das Konzept der Neubildung beinhaltet somit, dass die spätere Lebensform zwar in der früheren der Möglichkeit nach angelegt sein muss, dass aber zugleich unendlich viele andere Möglichkeiten in diesem Keim ebenfalls liegen und die tatsächliche Richtung der Verwirklichung von äußeren und mehr oder weniger zufälligen Faktoren abhängt, die eben nicht wie der Keim in der früheren Gestalt vorliegen.

Man denke: eine gewisse Entwickelungsreihe sei bei den Beuteltieren angelangt. In der Form der Beuteltiere liegt nichts, rein gar nichts von einer höheren, vollkommeneren Form. Es liegt in ihr nur die Fähigkeit, sich im weiteren Verlaufe ihrer Fortpflanzung wahllos zu verwandeln. Es treten nun Verhältnisse ein, die von jeder ›inneren‹ Entwickelungsanlage der Beuteltierform unabhängig sind, die aber solche sind, daß sich von allen möglichen Wandelformen aus den Beuteltieren die Halbaffen erhalten. (RP(II), 50.)

Diese Äußerungen aus den Jahren 1900/1901 können ein Licht darauf werfen, was Steiner damit gemeint haben mag, als er 1924 davon sprach, die Grundlinien von 1886 hätten bereits die ›Keime‹ seiner späteren anthroposophischen Weltsicht in sich getragen. Dasjenige, was nach der goethe-steinerschen Morphologie den physischen Pflanzenkeim in die vollentwickelte Pflanze überführt (der ›Typus‹ bzw. der ›Ätherleib‹), ist selbst nicht physischer Natur und somit weder im Keim noch in der Blüte enthalten. Zur Erklärung der Metamorphose einer lebendigen Gestalt müsse man sich daher zur Wahrnehmung jenes unsichtbaren dritten erheben, das die Transformation der einen Gestalt in die andere vornimmt. Liest man Steiners Keim-Metaphorik von 1924 im Licht seiner Ausführungen über den Entwicklungsbegriff, so kommt darin der Gedanke zum Ausdruck, dass die 1886 erschienenen Grundlinien durchaus auch dann als ›Keim‹ der späteren Anthroposophie angesehen werden könnten, wenn sich in Hinblick auf die konkreten Gedankenformen gar nichts eigentlich Anthroposophisches darin fände. Und zwar, weil es ein Drittes ›etwas‹ geben muss, dass ‒ wie der Typus bei der Pflanze ‒ den Übergang der einen Gedankengestalt in die andere erklärt. Und was dieses ›etwas‹ nach Steiners Auffassung ist, hat er ja in seinen Ausführungen über die Geisteswissenschaften klar dargelegt: der individuelle Geist, welcher diese Wandlung vollzogen hat. Das Bild vom Keim besagt somit nicht, dass man die Gedankeninhalte der anthroposophischen Schriften Steiners bereits in den Grundlinien suchen solle (denn diese Wandlung wurde bestimmt von all dem was, zufällig oder schicksalbedingt, in der Zwischenzeit an Steiner herantrat, wie etwa die Theosophie), sondern vielmehr, dass man durch die Beobachtung der Metamorphose, durch welche die erste Gestalt sich in die zweite gewandelt hat, zur geistigen Anschauung des in diesem Wandel wirksamen Geistigen gelangen kann.

Die zarten Hinweise auf den ›keimhaften‹ Charakter der Schrift von 1889 machen somit deutlich: Rudolf Steiners geistige und intellektuelle Entwicklung so verfolgen, wie in der vorliegenden Darstellung, bedeutet Geisteswissenschaft im Sinne der Grundlinien betreiben. Wie im Beuteltier der später sich entwickelnde Halbaffe nicht schon vorhanden war, sondern allenfalls nur als Potential, dessen tatsächliche Ausbildung aber von den Zufällen der natürlichen Auslese bestimmt wurde, so lag Anthroposophie selbstverständlich schon als Keim in den Grundlinien vor, doch nicht als Aktualität, sondern als Potential, das seine spätere Form infolge von Steiners intellektueller Biographie annahm und ganz andere Formen hätte annehmen können, wenn diese Biographie anders verlaufen wäre. Nicht ohne Grund spricht Steiner in der Zeit seiner Hinwendung zur Theosophie davon, dass er inzwischen zum »Zufallsanbeter« geworden sei.

*

So viel zu Steiners Keim-Metapher, deren Implikationen wir hier aus gegebenem Anlass etwas breiter entfaltet haben. Die neben dem Vorwort der Neuausgabe von 1924 hinzugefügten Anmerkungen, welche weitere Beispiele für die Entwicklung Steiners vom Goethe-Ausleger zum Anthroposophen enthalten, können wir im Folgenden kurz abhandeln.

So macht Steiner deutlich, dass seine Vorstellungen vom Wesen der Erkenntnis, die er 1886 mit Blick auf Goethe entwickelt hatte, auch angesichts der später ausgebildeten und in eine ganz andere Richtung gehenden anthroposophischen Erkenntnistheorie noch gelten. So habe er in den Grundlinien vor allem die Erkenntnis der sichtbaren Welt im Auge gehabt, und noch nicht die Erkenntnis der geistigen Welt. Seine Definition von damals gelte aber auch für die höheren Formen der Erkenntnis. Auch wenn der Mensch im Zuge seiner spirituellen Entwicklung die Fähigkeiten der Imagination, Inspiration und Intuition entwickle, so seien doch auch der Inhalt dieser höheren Erfahrungen eben nur Erfahrung im Sinne der Grundlinien, die also an sich kein Wirkliches darstellten, sondern wieder nur eine »halbe Wirklichkeit« (PF, 136), die erst dann zu wirklichkeitsgemäßer Erkenntnis führe, wenn sie vom Denken durchdrungen werde.

Ferner macht Steiner deutlich, dass sein 1886 entwickelter Begriff von Geisteswissenschaft nicht identisch sei mit dem, was er später als Anthroposophie bezeichnete. Dieser frühere Begriff gehe nur bis zur wissenschaftlichen Durchdringung der menschlichen Geisteserzeugnisse und sei somit kompatibel mit dem von Dilthey entwickelten allgemeinen Begriff von Geisteswissenschaft. Begriffe wie ›Geist‹ und ›Geistesleben‹ seien hier in dem Sinne verstanden worden, dass sie die Erzeugnisse der menschlichen Kulturtätigkeiten betreffen, wie sie sich dem gewöhnlichen Bewusstsein darstellen. Wenn er später die Anthroposophie eine Geisteswissenschaft genannt habe, so Steiner weiter, dann habe dies insofern eine Erweiterung des ursprünglichen Begriffs bedeutet, als dass in der anthroposophischen Betrachtung das Geistige insofern in den Blick genommen wird, als es sich der imaginativen, inspirativen und intuitiven Erkenntnis darstellt. Die dreigliedrige Darstellung der Wissensformen von 1886 sei also durch seine späteren Darstellungen nicht obsolet geworden, sondern müsse nur durch den Begriff einer anthroposophischen Geisteswissenschaft erweitert werden.

Herausgabe des zweiten und dritten Bandes

der Kürschner-Ausgabe (1887/1890)

Während Steiner am Manuskript der Grundlinien einer Erkenntnistheorie arbeitete, ging die Arbeit an der Kürschner-Edition weiter. Am 21. November 1886 lieferte er das Manuskript für den zweiten Band ab, allerdings noch ohne Einleitung. Diese wurde vermutlich im Mai 1887 abgeschlossen. Der dritte Band hingegen ging am 7. August 1888 an Kürschner. Wieder musste die Einleitung noch nachgeliefert werde, außerdem ergaben sich Schwierigkeiten mit den von Steiner gewünschten Abbildungen. Auch verzögerte sich die Bearbeitung der Korrekturfahnen mehrfach, sodass der dritte Band erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1890 herauskam. Neben den geschilderten Schwierigkeiten trug zu diesen Verzögerungen ferner bei, dass Steiner fortfuhr, andere Aufgaben anzunehmen. Parallel zu weiteren Lexikonartikeln, um deren Bearbeitung Kürschner ihn gebeten hatte, fuhr er fort, Artikel zur Literatur, zu seinen Goethe-Studien und zum Zeitgeschehen zu veröffentlichen. Außerdem arbeitete Steiner ab 1888 bei der Deutschen Wochenschrift mit, für einige Zeit auch als Redakteur, und steuerte in diesem Rahmen mehrere eigene Artikel für diese Zeitschrift bei. Die Geschichte dieser zahlreichen Verzögerungen hat Helmut Zander ausführlich dokumentiert.

Charakter und zentrale Inhalte

der Einleitungen von 1887 und 1890

Verglichen mit dem ersten Band, zeigen die Einleitungen zu den Bänden 2 und 3 der GNS methodisch eine deutlich veränderte Gewichtung. 1884 hatte Steiner den größten Teil seiner einleitenden Bemerkungen (etwa die Hälfte) der Darstellung der goetheschen Morphologie gewidmet, während die zweite Hälfte seiner herausgeberischen Einschätzung von Charakter und Bedeutung der goetheschen Arbeiten gegolten hatte. Für die Darstellung seiner eigenen Positionen als Herausgeber und deren Verhältnis zu Goethe waren nur einige wenige Seiten am Anfang und gegen Ende der Einleitung reserviert. Dieses relativ ausgewogene Verhältnis von rein darstellenden und interpretierenden bzw. argumentierenden Teilen verändert sich in den Folgebänden drastisch. Die Einleitung zum zweiten Band beschäftigt sich zum allergrößten Teil (etwa 90% des Textes) nicht mit expliziten Aussagen Goethes, sondern mit einer Zusammenfassung dessen, was Steiner in den Grundlinien als ›Goethesche Erkenntnistheorie‹ entwickelt hatte. Die entsprechenden Abschnitte (VI‒VIII sowie X.1, 3 und 5) lesen sich wie ein Inhaltsverzeichnis zu den Grundlinien und lassen sich thematisch fast lückenlos den Kapiteln dieser Schrift zuordnen.

Thematisch neu gegenüber der Schrift von 1886, aber ebenfalls inhaltlich mehr der steinerschen Interpretation der goetheschen Schriften gewidmet als diesen selbst, sind die Abschnitte XI (»Verhältnis der Goetheschen Denkweise zu anderen Ansichten«) und XII (»Goethe und die Mathematik«). Der tatsächlichen Schilderung der naturwissenschaftlichen Forschungen Goethes sind nur wenige Seiten gewidmet, nämlich die abschließenden und sehr knapp gehaltenen Abschnitte XIII (»Das geologische Grundprinzip Goethes«) und XIV (»Die meteorologischen Vorstellungen Goethes«). Auf eine detaillierte genetische Entwicklung von Goethes Gedanken und deren Einordnung in die goethesche Biographie, der in der Einleitung von 1884 ein erheblicher Teil der Darstellung gewidmet worden war und die viel zu deren Lebendigkeit und Anschaulichkeit beitrug, verzichtet Steiner jetzt fast vollständig.

Dieselben Tendenzen prägen auch die Einleitung zum dritten Band von 1890. Auch hier ist der überwiegende Teil der Darstellung der Konstruktion einer goetheschen Erkenntnistheorie gewidmet sowie der Profilierung derselben gegenüber den Methoden und Aussagen der modernen Naturwissenschaft und der zeitgenössischen Philosophie. Schon an den Überschriften der beiden Hauptabschnitte lässt sich dies ablesen, denn diese lauten »Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus« (XV) und »Goethe als Denker und Forscher« (XVI). Das eigentliche Thema des Bandes, die goethesche Farbenlehre, wird nur in zwei Unterabschnitten des letzteren Kapitels behandelt, nämlich in Abschnitt XVI, 2 (»Der Begriff des Urphänomens«) und XVI, 4 (»Das System der Farbenlehre«). Die eigentliche Darstellung der Farbenlehre umfasst nur knapp drei der immerhin 38 Seiten langen Einleitung.

Für beide Einleitungen gilt also, dass Steiner jetzt der Ausarbeitung und Verteidigung der ›Denkart‹ und der ›Erkenntnistheorie‹ Goethes deutlichen Vorrang gibt vor der Darstellung dessen, was dieser tatsächlich geforscht und geschrieben hatte. Was Steiner 1884 programmatisch als Leitlinie seiner Goethe-Deutung formuliert hatte ‒ dass die Bedeutung Goethes nicht in den Ergebnissen seiner Forschung, sondern allein in deren Methode liege (EG, 1 f.) ‒ bestimmt nun völlig die Darstellung. Und wo es dann doch einmal um die Darstellung dieser Forschungsergebnisse geht, lässt Steiner es bei einem kurzen Referat bewenden und verzichtet auf eine historische und biographische Kontextualisierung. In der Erstfassung der dritten Einleitung wird eine solche noch für den Folgeband angekündigt. Dazu kam es allerdings nicht, und in der Neuauflage von 1926 erklärt Steiner das Ausbleiben derselben damit, dass Goethe sich ja über die Entstehung seiner Farbenlehre selbst ausführlich genug geäußert habe (vgl. EG, 227). Ferner ist festzustellen, dass Steiners persönliche Identifikation mit der goetheschen Sichtweise in diesen Einleitungen zunehmend deutlicher in den Vordergrund tritt und zunehmend in weltanschaulich-kämpferische Polemik verfällt. Hatte Steiner im ersten Band in zwar leidenschaftlicher aber überwiegend doch sachlich begründeter Form für eine neue Sicht auf Goethes als bisher unverstandenen Schöpfer eines neuartigen wissenschaftlichen Zugangs zur organischen Natur geworben, so wird die goethesche Denkart in den Bänden zwei und drei zunehmend als Ausdruck einer allein wirklichkeitsgemäßen idealistischen Naturanschauung präsentiert, der gegenüber sich die zeitgenössische Naturwissenschaft und Philosophie fast durchweg auf einem materialistischen und positivistischen Irrweg befanden und als deren einsamer Versteher und kämpferischer Apologet Steiner sich jetzt inszenierte.

Dabei lässt sich zwischen den Einleitungen von 1887 und 1890 eine deutliche Steigerung dieser Tendenzen feststellen. In der Einleitung zum zweiten Kürschner-Band sind Ton und Haltung Steiners noch relativ gemäßigt, vergleichbar dem Stil der Grundlinien. Goethe wird leidenschaftlich, aber immer noch weitgehend sachlich als bedeutender Denker dargestellt, dessen wahre Bedeutung aber verkannt werde, weil seine idealistische Weltsicht von einer überwiegend materialistisch bzw. neukantianisch orientierten Gegenwart nicht verstanden werde. Dabei macht Steiner unverhohlen deutlich, dass es ihm, wie in den Grundlinien angekündigt, bei der Erklärung und Verteidigung der goetheschen Weltanschauung auch um die Darstellung und Rechtfertigung der eigenen Position geht:

Wenn es mir wenigstens teilweise gelungen ist: erstens meinen Standpunkt so zu entwickeln, dass er auch in andern lebendig wird, und zweitens die Ueberzeugung herbeizuführen, dass dieser Standpunkt wirklich der Goethesche ist, dann betrachte ich meine Aufgabe als erfüllt. (EG, 95)

Die Gepflogenheiten des gewissenhaften wissenschaftlichen Arbeitens, beispielsweise die durchgehende Absicherung seiner Aussagen durch Zitate oder die Einbeziehung der bestehenden Forschungsliteratur, werden zunehmend außer Acht gelassen. Von den in der Druckvorlage insgesamt 93 Fußnoten des gesamten Buches fallen 83 auf die Einleitung von 1884, wobei sich Steiner überwiegend auf Goethe und nur gelegentlich auf andere Autoren bezieht. Die Einleitungen von 1887, 1890 und 1897 hingegen weisen zusammen nur 10 Fußnoten auf.

In der Einleitung zu GNS 3 werden diese Tendenzen fortgeführt, aber deutlich verschärft. Man vergleiche etwa den Anfang des Abschnittes XVI.1 (»Goethe und die moderne Naturwissenschaft«). Steiners Gestus ist nicht mehr von idealistisch-hoffnungsvollem Optimismus geprägt, sondern gibt sich eher realistisch-resigniert, anscheinend geprägt von der Einsicht, dass er mit seinem Ansatz in der wissenschaftlichen Welt isoliert dastand, und voll trotziger Entschlossenheit, dennoch nicht zu schweigen. Jenen Naturwissenschaftlern, die Goethes Anschauungen nicht nachvollziehen können, unterstellt Steiner »ungesunde« Denkweisen, in denen sich »Bequemlichkeit« oder »Gedankenlosigkeit« offenbare. Nicht mehr seine Zeitgenossen scheint Steiner hier anzusprechen, sondern eine zukünftig vielleicht einmal verständnisvollere Menschheit:

Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen, wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben. Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung in den Naturwissenschaften von seiten der Fachgelehrten erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein. Man wird in ihnen den dilettantenhaften Versuch eines Menschen sehen, einer Sache das Wort zu reden, die bei allen »Einsichtigen« längst gerichtet ist. (EG, 198)

In frappanter Weise klingen diese Äußerungen bereits wie jene Zeilen des Esoterikers Steiner, der 20 Jahre später sein esoterisches Hauptwerk, die Geheimwissenschaft im Umriss mit ähnlich resignierten und wenig Zuspruch erwartenden Worten in die Welt sandte.

Thematisch unterscheiden die Einleitungen von 1887 und 1890 sich dadurch von der früheren, dass jetzt nicht mehr die organische Natur im Vordergrund steht, sondern geologische und meteorologische Forschungen Goethes (die Steiner offensichtlich wenig interessieren) sowie die goethesche Farbenlehre (in GNS 3). Im Zentrum der steinerschen Überlegungen steht daher nicht länger der ›Typus‹-Begriff als theoretischer Mittelpunkt der goetheschen Morphologie, sondern die goethesche Konzeption des ›Urphänomens‹ als der Angelpunkt seiner Anschauungen über die anorganische Natur. Damit war die Herausforderung für Steiner natürlich eine ungleich größere als 1884. Denn dass eine rein mechanistische Naturwissenschaft im Geiste Newtons in Schwierigkeiten gerät, wenn sie mit rein physikalischen und chemischen Gesetzen Lebensvorgänge erklären soll, war damals unter Wissenschaftlern und Philosophen eine weit verbreitete Ansicht. Schon Kant hatte, wie oben erwähnt, eine strenge Wissenschaft vom Lebendigen aus diesem Grund für eine Unmöglichkeit erklärt, und die Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts hat bekanntlich vielfache Angebote entwickelt, wie mit dieser Schwierigkeit umgegangen werden könnte. Insofern durften Steiners Erörterungen über Goethes alternativen Zugang zur Erforschung der organischen Welt also auf eine prinzipiell offene und interessierte Zuhörerschaft treffen. In Hinsicht auf die unbelebte Natur war dies anders. Hier herrschte damals in ähnlicher Weise wie heute der überwiegende Konsens, dass die moderne Naturwissenschaft für die Phänomene der physischen Welt durchaus plausiblere Erklärungsmodelle anbot als die idealistisch-metaphysische Betrachtung der Natur des frühen 19. Jahrhunderts. Hier standen Goethes Ansichten also in viel größerem Maße dem allgemeinen wissenschaftlichen und kulturellen Konsens entgegen, und der Konflikt zeigte sich scharf in dem Gegensatz zwischen der phänomenologisch und idealistisch ausgerichteten Farbenlehre Goethes und Newtons rein physikalischer Erklärung der Farbphänomene.

Die Vermittlung der goetheschen Farbenlehre an das wissenschaftliche Publikum war somit eine ungleich schwierigere als das Eintreten für dessen Morphologie. Indem Steiner sich auch hier rückhaltlos auf die Seite Goethes stellte und nicht nur dessen Ablehnung der newtonschen Lichttheorie teilte und verteidigte, sondern der modernen Physik insgesamt den Kampf ansagte, manövrierte sich der 1884 noch überwiegend positiv wahrgenommene Herausgeber in eine hoffnungslose Gegenposition zu fast allen naturwissenschaftlich gebildeten Zeitgenossen. Schröer und die Fraktion der idealistisch gesinnten Goethe-Liebhaber, welche dem ersten Band noch eine willkommene Entgegennahme sichern konnten, vermochten ihm hier nicht länger beistehen, denn um auf dem Feld der Physik mitzusprechen, auf das Steiner sich hier wagte, fehlte ihnen die nötige Sprache und die nötige Sachkenntnis. Auch eine vitale Naturphilosophie im Geiste des deutschen Idealismus, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert noch geblüht hatte, gab es nicht mehr, um ihm für sein Vorhaben Schützenhilfe zu liefern. Mit seinem Versuch, von seiner idealistischen Weltanschauung her der modernen Naturwissenschaft auf Augenhöhe zu begegnen und für diese Begegnung eine Sprache zu entwickeln, stand Steiner isoliert da.

Vom ideengeschichtlichen Standpunkt gesehen, weist die Einleitung von 1887 gegenüber derjenigen von 1884, aber auch gegenüber den Grundlinien, eine deutlich stärkere Betonung des deutschen Idealismus als ideellem Hintergrund seiner Goethe-Deutung auf. Insbesondere auf Fichte wird nicht nur vielfach hingewiesen, sondern fichtesche Konzepte prägen zunehmend Steiners Darstellung. So betont Steiner jetzt im Hinblick auf die Ethik den Begriff der Liebe als das Zentrum und Grundprinzip moralischer Handlungen. Ferner operiert er zur Charakterisierung der goetheschen Position mit Oppositionen wie »dogmatische« vs. »immanente« Methode (EG, 132 ff.) und »Realismus« vs. »Idealismus« (134 ff.), wie sie bei Fichte eine große Rolle spielen.

Ein anderer Denker, der jetzt zum ersten Mal in den Vordergrund von Steiners Darstellung tritt, ist Eduard von Hartmann, auf den Steiner sich in seinen folgenden Schriften immer wieder beziehen wird. Es müsse am goetheschen Idealismus festgehalten werden, so das steinersche Argument, aber verbunden mit einem »höheren« (EG, 94) bzw. einem »rationellen Empirismus« (EG, 142), wie er in der Philosophie Hartmanns zu finden sei. Auch dieser Gedanke findet sich in Steiners späteren Schriften wieder, insbesondere in der Philosophie der Freiheit von 1894, welche den Untertitel Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode trug.

Der Verschärfung des Tons in der Einleitung von 1890 entspricht eine Radikalisierung des steinerschen Wissenschaftsverständnisses. Ausgehend von seiner Goethe-Deutung unternimmt Steiner nämlich nunmehr den Versuch, einen vollständig neuen Begriff von Naturwissenschaft zu entwickeln, welcher ohne den Begriff der Materie auskommt. Diese war in den Grundlinien im Prinzip schon angelegt, aber noch nicht in aller Schärfe ausgesprochen worden. Das cartesianische Prinzip einer substantiellen Entgegensetzung von Geist und Materie, nach Steiners Auffassung die ideologische Grundlage moderner Naturwissenschaft überhaupt, wird jetzt offen in Frage gestellt. Ausgehend vom Cartesianismus habe sich innerhalb der Naturwissenschaft der Konsens gebildet, dass die menschlichen Wahrnehmungen mentale Reproduktion einer unabhängig vom Menschen bestehenden materiellen Außenwelt seien, so Steiners Argument. Der anschließende Streit der Wissenschaftstheorien sei daher zum großen Teil um die Frage gegangen, ob diese Repräsentationen objektives Abbild der Wirklichkeit sind, oder als subjektive Repräsentationen derselben gelten müssen. Steiner meint, von diesen beiden Ansichten habe sich klar die subjektivistische bzw. ›illusionistische‹ Antwort durchgesetzt und sei in Philosophie und Wissenschaft zum allgemein geltenden Konsens geworden. Dagegen müsse nun, anknüpfend an den goetheschen Begriff des Urphänomens und an seine Analyse des Erkenntnisprozesses, die Einsicht gesetzt werden, dass die sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen eben nicht als (subjektives oder objektives) Abbild einer materiellen Welt von Molekülen und Atomen zu verstehen seien, ja überhaupt nicht als Abbild von irgendetwas, sondern als die Form, in welcher die Wirklichkeit sich dem menschlichen Bewusstsein (und diesem allein) zunächst darstellt, solange er nicht denkt, und die als solche, wenn das Denken in sie einschlägt (aber auch nur dann), eine Erkenntnis dieser Wirklichkeit vermittelt. Wirklichkeit tritt also unmittelbar in den Akt des Erkennens ein, ereignet sich in ihm, wird in ihm »hervorgebracht« (wie Steiners Lieblingsausdruck lautet, vgl. EG, 260), und versteckt sich nicht in irgendwelchen hypothetisch ›hinter‹ diesem Erkenntnisakt vermuteten (materiellen oder anderweitigen) Phantomen:

Nach diesen Ausführungen können wir sagen: das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie. (EG, 210)

Damit gibt es für diese neue idealistische Naturwissenschaft aber auch überhaupt keine ›Dinge‹ im klassischen Sinne mehr, d. h. keine materiellen Objekte in Raum und Zeit, welche Gegenstand der Forschung sein könnten. Denn, so Steiner: »Streng genommen ist ja das Ding nichts weiter als die Summe jener Vorgänge, als welche es auftritt« (EG, 208). Alles Ding- bzw. Objekthafte löst sich in prozessuale Vorgänge auf, die nicht in einer objektiven ›Aussenwelt‹ stattfinden und dann vom Forscher innerhalb einer subjektiven ›Innenwelt‹ noch einmal abgebildet werden müssen, sondern die innerhalb jener einen Wirklichkeit stattfinden, die nur im und für das Bewusstsein in die Getrenntheit von Forschendem, Erforschtem, Forschungsprozess und Forschungsergebnis zerfällt. Die Einleitung von 1890 fasst also eine vollständig andere Konzeption von Naturwissenschaft und von Wissenschaft überhaupt ins Auge, die mehr dem Vorbild der Naturphilosophien des 19. Jahrhunderts und besonders demjenigen Schellings entsprach. Von diesem Wissenschaftsbegriff aus ließ sich nicht nur Naturwissenschaft ganz anders verstehen, sondern es konnte ein innerer Zusammenhang von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft und somit die Idee einer Einheit der Wissenschaften formuliert und begründet werden. Auf der Grundlage des cartesianischen Dualismus, nach dem sich die Naturwissenschaften mit den Erscheinungsformen der materiellen Außenwelt und die Geisteswissenschaften mit den Produkten des menschlichen Geistes beschäftigen, kann eine solche Einheit grundsätzlich nicht gedacht werden. Nach Steiners Auffassung hingegen hat der kritisch denkende Wissenschaftler anzuerkennen, dass das ihm als Natur entgegentretende Bild einer scheinbar materiellen Außenwelt genauso Produkt seiner eigenen Erkenntnistätigkeit ist, wie jene Phänomene, die ihm in Kunst, Kultur und Geschichte entgegentreten. Zwar können in diesem Modell von Wissenschaft drei grundlegende Formen wissenschaftlicher Forschung unterschieden werden ‒ die anorganische Naturwissenschaft, die sich mit dem Naturgesetz bzw. dem ›Urphänomen‹ beschäftigt, die organische Naturwissenschaft, der es um den ›Typus‹ geht, und die Geisteswissenschaft, deren zentraler Gegenstand der ›Begriff‹ ist ‒, doch versteht Steiner Naturgesetz, Typus und Begriff als die drei Erscheinungsformen einer einheitlichen Wirklichkeit, mit der es alle drei Wissenschaftsdisziplinen letztlich zu tun haben. »Naturgesetz, Typus, Begriff«, heißt es da, »sind die drei Formen, in denen sich das Ideelle auslebt« (EG, 218).

Wie in früheren Einleitungen macht Steiner auch in diesem Zusammenhang klar, dass die Bedeutung von Goethes Farbenlehre nicht in den einzelnen von Goethe aufgestellten Lehrsätzen bestehe, ja nicht einmal in der Farbenlehre als solcher, sondern darin, dass Goethe im Rahmen seiner Arbeit über die Farben die prinzipiellen theoretischen Grundlagen für eine solche vom Materiebegriff befreite Naturwissenschaft gelegt habe. »Es fällt mir natürlich nicht ein«, betont er, »alle Einzelheiten der Goetheschen Farbenlehre verteidigen zu wollen. Was ich aufrecht erhalten wissen will, ist nur das Prinzip« (EG, 214 f.).

Eine weitere Neuerung der Einleitung von 1890 besteht darin, dass Steiner nun ein von Goethe ausgehendes Argument für die Idealität von Raum und Zeit formuliert. Für eine solche hatte bekanntlich auch Kant argumentiert und ebendiese Argumentation Kants war ein zentraler Stützpfeiler seiner gesamtem Transzendentalphilosophie gewesen. Allerdings hatte Kant Raum und Zeit als Formen der Anschauung verstanden, und dieser Auffassung setzt Steiner ‒ Kant wieder in produktiver Weise missverstehend ‒ seine eigene Vorstellung entgegen:

Der Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen. Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine Anschauung. (EG, 226)

Etwas zuvor hatte er bereits für die Idealität der Zeit argumentiert:

Die Zeit ist ja nicht ein Gefäss, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und ausserhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander in einer Folge abhängig sind. (EG, 209)

Wieder also stimmt Steiner im Prinzip mit Kant überein: Raum und Zeit sind nicht Eigenschaften oder ›Behälter‹ einer objektiv-dinglichen Außenwelt, sondern Produkte des Erkenntnisvorgangs, mit deren Hilfe der Mensch die Gegenstände seiner Erfahrung organisiert und strukturiert. Und doch ist die Folgerung aus dieser Einsicht bei Steiner eine entgegengesetzte zu der bei Kant; während dieser innerhalb seiner dualistischen Konzeption meinte, die Idealität von Raum und Zeit als Formen der Anschauung setze der menschlichen Erkenntnis unübersteigbare Grenzen, argumentiert der Monist Steiner, dass gerade die Einsicht in den ideellen Charakter von Raum und Zeit (und damit auch den der Materie) die Vorstellung solcher Grenzen als eine sinnlose erweist. Wie sollte Erkenntnis denn durch Strukturen begrenzt werden können, die sie selbst hervorgebracht hat und somit theoretisch auch anders hervorbringen könnte? (Der Anthroposoph Steiner wird später darlegen, wie im sogenannten ›imaginativen‹ und ›inspirierten‹ Bewusstsein ganz andere Verhältnisse von Raum und Zeit bestehen als im gewöhnlichen Dingbewusstsein, und dass diese im intuitiven Bewusstsein gewissermaßen gar keine Rolle mehr spielen.)

Interessant ist in der Einleitung von 1890 ferner, dass Steiner zwar auf der einen Seite, wie oben bereits bemerkt, hochpolemisch argumentiert und die goethesche Perspektive kategorisch als die überlegenere darstellt, andererseits jedoch gewisse Formulierungen einstreut, welche den Gegensatz zwischen Goethe und moderner Naturwissenschaft nicht als Alternative von ›falsch‹ und ›richtig‹ charakterisiert, sondern als zwei verschiedene und in ihrer Art jeweils berechtigte Formen der Weltanschauung. Solche Bemerkungen finden sich besonders in Abschnitt XVI.6. »Goethe, Newton und die Physiker«. Dort liest man etwa:

Die Farbenlehre Goethes bewegt sich somit in einem Gebiete, welches die Begriffsbestimmungen der Physiker gar nicht berührt. Die Physik kennt einfach alle die Grundbegriffe der Goetheschen Farbenlehre nicht. Sie kann somit von ihrem Standpunkte aus diese Theorie gar nicht beurteilen. Goethe beginnt eben da, wo die Physik aufhört. Es zeugt von einer ganz oberflächlichen Auffassung der Sache, wenn man fortwährend von dem Verhältnis Goethes zu Newton und zu der modernen Physik spricht und dabei gar nicht daran denkt, dass dies zwei völlig verschiedene Dinge sind. (GE, 231)

In der Neuauflage von 1925 modifiziert Steiner den letzten Satz noch einmal dahingehend, dass er jetzt schreibt, »dass damit auf zwei ganz verschiedene Arten, die Welt anzusehen, gewiesen ist.« An diesen Formulierungen wird wieder deutlich, dass sich Steiner schon 1890 einer morphologisch-evolutiven Betrachtung des Bewusstseins annäherte, wie diese für seine anthroposophische Phase charakteristisch ist, dass aber gegenüber solchen Andeutungen späterer Ansichten in den achtziger Jahren noch das kämpferisch-polemische Engagement für Goethes Denkweise als die ›richtige‹ überwiegt. Von der Einsicht, dass eine rein materialistische Sicht auf die Welt, als Entwicklungsschritt und Erziehungsmittel des menschlichen Bewusstseins, nicht nur berechtigt, sondern notwendig ist, spricht Steiner erst nach seiner Hinwendung zur Theosophie.

Rezeption der Kürschner-Bände von 1887 und 1890

Die Bände zwei und drei der GNS fanden deutlich weniger Echo in wissenschaftlichen Kreisen als der erste, und in denjenigen Reaktionen, die erfolgten, blieb das frühere einhellige Lob aus. Die Einschätzungen waren jetzt deutlich gemischter und zeigten sich insbesondere kritisch gegenüber der zunehmenden Identifikation Steiners mit dem Gegenstand seiner Darstellung. Die ausführlichste Besprechung lieferte Otto Harnack in den Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte. Positiv äußert sich Harnack insofern, als er auch gegenüber dem dritten Band einräumt, dass Steiners Arbeiten »unstreitig die wichtigsten« seien, »welche in den letzten Jahren Goethes wissenschaftlicher Thätigkeit gewidmet wurden«. Insbesondere lobt er die weiterhin charakteristische »gleichmässige philosophische, ästhetische und naturwissenschaftliche Gediegenheit und Selbständigkeit« der steinerschen Einleitungen. Steiner stelle zurecht »den Ausgangspunkt Goethes fest, der in dem blossen sinnlichen Phänomen liegt« und erweise damit »die Selbständigkeit und relative Berechtigung von Goethes Theorie […] sehr klar und überzeugend«. Allerdings seien diese neuen Einleitungen, so Harnack weiter, »durch die mehr affirmative als historisch forschende Geistesrichtung des Gelehrten an manchen Punkten nicht günstig beeinflusst«. Steiners »ausgeprägte philosophische Anschauung« habe zwar »mit der Goetheschen sehr viel Berührung« und erschließe ihm daher ein »Verständnis von Goethes Forschungsweise«; dass aber diese steinersche Position tatsächlich auch diejenige Goethes gewesen sei, davon habe er (Harnack) sich »nicht überzeugen können.« Ferner bleibe durch den affirmativen Zugang Steiners oft unklar, ob er jeweils über Goethes Vorstellungen oder über seine eigenen rede: »In der ausführlichen Einleitung S[teiner]s reden der erste, dritte und fünfte Abschnitt überhaupt nicht von Goethe; nach dem ganzen Zusammenhang aber muss man annehmen, dass der V[erfasser], indem er sein System entwickelt, auch das Goethesche zu entwickeln meint.« Kritisch äußert sich Harnack auch gegenüber der steinerschen Auffassung, dass Goethes Farbenlehre nicht nur eine »relative Berechtigung« innerhalb der goetheschen Weltanschauung habe, sondern »einen dauernden positiven wissenschaftlichen Wert«.

Steiner als Mitherausgeber der

Weimarer Goethe-Ausgabe (1890–1896)

Während Steiner an den Bänden zwei und drei der GNS arbeitete, nahm er zusätzlich zu diesem ihn bereits stark einnehmenden Pensum eine Einladung zur Mitarbeit an der damals im Entstehen begriffenen Weimarer Goethe-Ausgabe (im Folgenden WA) an. In den Jahren 1890 bis 1896 gab er im Rahmen dieser Edition sechs Bände mit naturwissenschaftlichen Schriften heraus, wodurch die Fertigstellung der Kürschner-Edition sich weiter verzögerte. Die im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der WA entstandenen Arbeiten Steiners sind zwar im vorliegenden Band nicht enthalten, doch weil diese Tätigkeit in einem engen Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Kürschner-Ausgabe stand und teilweise zeitgleich erfolgte, soll sie im Folgenden zumindest kurz skizziert werden.

Grundlage des Interesses der Verantwortlichen in Weimar war wahrscheinlich der positive Eindruck, welchen der gerade erschienene erste Band der Kürschner-Ausgabe allgemein gemacht hatte. Die Kuratorin der WA, Großherzogin Sophie von Weimar, schätzte die Arbeit von Karl Julius Schröer und setzte sich außer für diesen auch für eine Einbeziehung Steiners als Mitherausgeber ein. Eine erste Anfrage wurde Steiner bereits im Juni 1886 von dem damaligen Leiter des Weimarer Archivs, Erich Schmidt, unterbreitet, und zwar zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf eine eventuelle Besorgung der Farbenlehre. Steiner war sogleich interessiert, doch dauerten die Verhandlungen und Vorbereitungen noch mehrere Jahre, bis es tatsächlich zu seiner Einstellung kam. Spätestens mit Erscheinen des ersten Bandes der WA im Jahre 1887 aber stand seine Mitarbeit fest, denn hier wird er als Mitarbeiter der Edition ausdrücklich genannt. Seine ersten tatsächlichen Vorstudien im Goethe-Archiv in Weimar unternahm er im Sommer 1889. Ein unterzeichneter Arbeitsplan liegt mit Datum vom 2. August desselben Jahres vor. Nach diesem sollte Steiner seine neue Stellung in Weimar Anfang September 1890 antreten; tatsächlich aber geschah dies erst am 30. September. Die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags erfolgte am 30. Oktober. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings Erich Schmidt nicht mehr Archivleiter, sondern diese Funktion hatte mittlerweile Bernhard Suphan übernommen. Diesem oblag auch die Redaktion der meisten Bände mit den naturwissenschaftlichen Schriften und somit die Aufsicht über Steiners Arbeit als Herausgeber.

Während Steiner in der Kürschner-Ausgabe die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes komplett zu besorgen hatte und allein verantwortete, wurde ihm im Rahmen der Weimarer Ausgabe nur ein Teil dieser Texte zur Bearbeitung übergeben. Mit der Herausgabe der Farbenlehre (in der heutigen Zählung die Bände 1‒5 der II. Abteilung) wurde am Ende nicht Steiner, sondern Salomon Kalischer betraut. Die Bände über Osteologie (WA II, 8) besorgte Karl von Bardeleben, allerdings unter Mitarbeit von Steiner. Die übrigen Teile der naturwissenschaftlichen Schriften wurden ihm eigenständig übergeben, also nach der letztendlichen Aufteilung die Bände 6 und 7 (botanische Morphologie), 9 und 10 (Mineralogie, Geologie und Meteorologie) sowie 11 und 12 (Texte zur Naturwissenschaft im Allgemeinen). Nach dem oben erwähnten Arbeitsplan sollten die von Steiner zu bearbeitenden Bände bis zum 31. März 1891 fertig sein, aber wie bei der Kürschner-Edition zog sich auch die Herausgabe der WA-Bände weit über den ursprünglich geplanten Rahmen hin. Band 6 lag im August 1891 gedruckt vor, Band 7 und 9 kamen 1892 heraus, Band 11 1893, Band 10 im Folgejahr und Band 12 erst 1896.

Die Gründe für die Verzögerungen waren dieselben, welche auch die Herausgabe der GNS-Bände verlangsamten: Steiner unterschätzte das Arbeitspensum und überschätzte seine eigenen Fähigkeiten, nahm zusätzlich zur Editionsarbeit zahlreiche weitere Arbeiten an, verfasste eigenständige Schriften, und hatte zudem mit häufigen Erkrankungen zu kämpfen. In Weimar kam belastend hinzu, dass die Arbeit an der WA hauptsächlich aus philologischer Kleinarbeit bestand. Quellen, Lesarten und Textvarianten waren zu untersuchen und zu vergleichen, wozu Steiner weder Neigung noch Talent hatte. Zu dem was ihm seiner Natur nach lag, zur freien Entfaltung seiner Gedanken und zum systematischen Ausbau seiner Weltanschauung, wie in den Einleitungen zur Kürschner-Ausgabe, hatte er hier kaum Gelegenheit. Nur in kurzen Fußnoten unter dem Text konnte er hier seine Goethe-Deutung andeutungsweise einbringen. Und während er in Wien mit Schröer einen seelenverwandten Freund und Förderer zur Seite hatte, musste er sich in Weimar mit den Erwartungen und Forderungen von Kollegen und Vorgesetzten auseinandersetzen, die ganz andere professionelle und weltanschauliche Voraussetzungen mitbrachten und auch an die Goethe-Edition ganz anders herangingen. Hier lag der Schwerpunkt nicht auf enthusiastischem Engagement für das Zukunftsträchtige in Goethes Denken, sondern auf sachlicher wissenschaftlicher und philologischer Editionsarbeit. »Die philologische Wortkrämerei«, schreibt Steiner einmal, »mit der man jetzt einzig und allein in der sogenannten Goethe-Forschung operiert, ist mir ein Greuel.« Und seinem Vorgesetzten Suphan warf er vor, dieser habe »weder Verständnis noch Interesse für Goethe. Er wirft uns Wienern vor, daß wir Goethe ›singen‹, weil ihm unsere Hingabe an die Sache eigentlich zuwider ist.«

Bei allen Misslichkeiten gab es aber auch Lichtblicke. So stieß Steiner gleich zu Anfang seiner Tätigkeit im Weimarer Archiv auf einen bisher unbekannten goetheschen Aufsatz mit dem Titel »Erfahrung und Wissenschaft«, der viele der Ideen zu bestätigen schien, auf denen seine bisherige Goethe-Deutung beruhte. Ferner gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Bardeleben an dem Band über die osteologischen Schriften als erfreulich, denn dieser teilte viele Aspekte von Steiners Goethe-Interpretation. Auch fanden die beiden im Nachlass jenen Schafschädel, der bei Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens eine so prominente Rolle gespielt hatte (vgl. EG, 46). Insgesamt aber wird man sagen können, dass Steiner unter der neuen Situation in Weimar zunehmend litt. Er war weitgehend isoliert, wurde professionell in Frage gestellt, mehrfach kritisiert und gerügt und musste wegen der vielfachen Verzögerungen teilweise sogar Gehaltskürzungen hinnehmen. Dass er unter so misslichen Bedingungen dennoch die ihm gestellte Aufgabe vollendete, und dass Suphan ihn trotz der offensichtlichen Probleme bis zum Ende hielt, darf als bemerkenswert gelten.

Da die Weimarer Ausgabe Steiner keine Gelegenheit gab, seine eigene Weltanschauung und seine Goethe-Deutung in breiten Einleitungen zu entfalten, blieb ihm als wichtigstes Mittel der Durchsetzung seiner eigenen Ansichten die Auswahl und die Anordnung der Texte. Diese sollten sich, wie Steiner im Hinblick auf Band 6 bemerkte, »zu einem in sich geschlossenen, vollkommen organischen Ganzen gestalten, in dem die Schriften sich durch ihre Anordnung selbst kommentieren. Und zu Band 9 merkte er an: »Die Verteilung des Stoffes wurde in diesem Bande gemäß der Art vorgenommen, wie sich Goethes Gedanken naturgemäß zu einem systematischen Ganzen zusammenschließen.« Dabei war es ihm wichtig, auch unvollendete Arbeiten Goethes miteinzubeziehen. »Nähme man nämlich nur dasjenige in die Schriften […] auf, was in formeller Beziehung als abgeschlossenes Werk gelten kann,« meinte er, »dann wäre ein vollständiges Bild der Ideen und Anschauungen Goethes zu geben unmöglich.« Ausserdem fänden sich die »wertvollsten und für die Erfassung der historischen Stellung des Dichters innerhalb der Wissenschaft wichtigsten Ausführungen […] in fragmentarischen Darstellungen.« Was die Anordnung angeht, folgte er dem schon in der GNS verwirklichten Prinzip, die morphologischen Schriften an den Anfang zu stellen, damit der Leser vom Konkreten zum Allgemeinen geführt wird. Steiner stützte sich dabei auch auf einen im Weimarer Archiv aufgefundenen Plan von Goethes eigener Hand für eine Publikation seiner naturwissenschaftlichen Schriften vom 10. Juni 1831. Steiner musste diese Editionsphilosophie gegenüber Suphan und den übrigen Mitherausgebern hart erkämpfen, denn sie verstieß in mehreren Hinsichten gegen die Editionsprinzipien der Weimarer Ausgabe. So war es allgemein üblich, Schriften in chronologischer Folge anzuordnen. Außerdem wurden fragmentarische Texte nur als sogenannte ›Paralipomena‹ in die Edition aufgenommen, nicht aber in den Haupttext der Ausgabe. Am Ende aber wurde Steiners Zugang vom Kollegium akzeptiert, nicht zuletzt, weil er überzeugend nachweisen konnte, dass seine Prinzipien auf von Goethe selbst überlieferten Ansichten und Anordnungen beruhten.

Auf die gleichzeitig weiterlaufende Arbeit an den noch ausstehenden Bänden der GNS hatte Steiners Weimarer Tätigkeit relativ wenig Einfluss. Entdeckungen, die er im Weimarer Archiv und in seiner philologischen Tätigkeit machte, flossen kaum in die Bände der Kürschner-Ausgabe ein. Es galt die allgemeine Richtlinie, dass Mitarbeiter der WA ihre Forschungsergebnisse nicht außerhalb der Edition veröffentlichen durften. Zwar hatte Steiner bei der Großherzogin eine entsprechende Sondererlaubnis erwirkt, doch hat er von dieser nur im letzten Band der GNS Gebrauch gemacht, indem er in diesen den Aufsatz »Erfahrung und Wissenschaft« sowie einige im Archiv aufgefundene »Sprüche in Prosa« aufgenommen hat.

Die Rezeption der Arbeit Steiners an der Weimarer Ausgabe fiel deutlich kritischer aus als die zumindest anfänglich positive Aufnahme der Kürschner-Ausgabe. Von Anfang an gab es Kritik und Infragestellung, nicht nur von Seiten seiner Vorgesetzten und Mitarbeiter, sondern auch von zeitgenössischen Rezensenten. Und auch spätere Beurteiler schlugen vornehmlich kritische Töne an. Besonders bemängelt wurden die Oberflächlichkeit seines Umgangs mit den Texten und die vielfachen Fehler, die ihm in der textkritischen Arbeit unterlaufen sind. Sicherlich lag dies zum Teil daran, dass die Materiallage für die naturwissenschaftlichen Schriften besonders ungünstig war, und dass Steiner zur Bewältigung des Materials kaum philologische Vorarbeiten oder Hilfsmittel zur Verfügung standen. Ein anderer Grund war wohl auch die Eile, mit der die Großherzogin Sophie alle Beteiligten zum Abschluss der Edition drängte. Aber es muss auch gesehen werden, dass Steiner in vieler Hinsicht nicht der richtige Mann für diese Arbeit war. Die philologische Kleinarbeit lag ihm nicht und interessierte ihn auch wenig, da es ihm vor allem um die goetheschen Ideen und deren Relevanz für den Kulturdiskurs ging. »Es war eben ein Verhängnis,« befand Eduard Castle in seiner Arbeit über die Weimarer Ausgabe, »dass man zur Lösung einer vornehmlich philologischen Aufgabe einen Systematiker berufen hatte.«

Steiner hat dies selbst auch gesehen und in verschiedenen Rückblicken offen zugegeben. »Ich werde nie in Abrede stellen,« schreibt er etwa in seiner Autobiographie, »daß, was ich bei Bearbeitung der Weimarischen Ausgabe in manchem Einzelnen gemacht habe, als Fehler von ›Fachleuten‹ bezeichnet werden kann. Diese mag man richtigstellen. […] Wenn es sich um einzelne sachliche Fehler da oder dort handelte, so könnte ich meine diesbezüglichen Kritiker auf noch viel Schlimmeres verweisen.« Zugleich aber beharrte er darauf, dass, bei allen philologischen Oberflächlichkeiten und Fehlern, sein grundsätzlicher Zugang zu Goethe, seine idealistische Deutung von dessen Weltanschauung und die von ihm gewählte Anordnung der Schriften davon nicht berührt würden und weiterhin Gültigkeit hätten. So fügte er dem oben zitierten Eingeständnis hinzu: »Aber man sollte nicht die Sache so darstellen, als ob die Gestalt der Ausgabe nicht von meinen Grundsätzen, sondern von meinem Können oder Nichtkönnen herrührte.« Und natürlich fehlt auch in dieser Äußerung nicht der beim späten Steiner obligate polemische Seitenhieb gegenüber jenen, die sich seiner idealistischen Goethe-Deutung nicht anschließen konnten. »Insbesondere sollte dieses nicht geschehen von einer Seite her, die zugibt, daß sie kein Organ hat zur Auffassung dessen, was ich in bezug auf Goethe dargestellt habe.«

In der Tat wurden die Auswahl und die Anordnung der naturwissenschaftlichen Schriften in den von Steiner bearbeiteten Bänden zumindest von der zeitgenössischen Kritik durchaus positiv gesehen. Nicht nur stimmten seine Mitherausgeber und Suphan den von ihm vorgebrachten Argumenten zu, auch der oben bereits zitierte Max Koch befand in seiner Rezension: »[…] so bringt die zweite Abteilung der Weimarischen Ausgabe nicht nur eine reiche Fülle neuen Materials, sie ermöglicht durch sachgemäße, Goethes eigenem Gedankengang treu entsprechende Gruppierung des Alten und Neuen einen Überblick von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten, wie er bisher unmöglich gewesen.« Neuere Forschungen haben allerdings gezeigt, dass Steiner seinem eigenen Grundsatz ‒ immer da, wo Goethes eigene Intentionen bekannt seien, diesen auch strikt zu folgen ‒ nicht immer konsequent gefolgt ist. So hat er in einigen Fällen durchaus von Goethe selbst gemachte Vorgaben zur Auswahl und Anordnung der naturwissenschaftlichen Texte ignoriert und ist andere Wege gegangen, freilich ohne dies den Lesern zu erklären oder auch nur mitzuteilen.

Trotz dieser vielfachen Mängel im Detail, die in den Arbeiten von Raub, Zander und Ziegler ausführlich dargestellt sind, kommen jedoch alle diese Beurteiler zu dem Ergebnis, dass Steiner in seiner undankbaren siebenjährigen Sisyphusarbeit an der Weimarer Ausgabe insgesamt doch Bemerkenswertes geleistet hat. Ziegler etwa fasst zusammen: »Es muss trotz aller Einwände abschließend festgehalten werden, dass Steiner in den wenigen Jahren seiner Mitarbeit an der Weimarer Ausgabe unter ungünstigen Umständen Beachtliches und zum Teil auch Gültiges erarbeitet hat.« Der durchaus kritische Raub befindet: »[Steiner] hat in den WA-Bänden immerhin ein Gebäude aufgeführt, das die Nachfolger umbauen und erheblich verbessern müssen, aber nicht unbeachtet lassen können.« Auch Dorothea Kuhn betont in ihrer Bewertung der Weimarer Ausgabe, dass an dieser Edition »besonders die zweite, die naturwissenschaftliche Abteilung, unbefriedigend« geblieben sei, setzt aber hinzu, »daß zu dieser Edition in der kurzen Zeit von 13 Jahren wichtige Arbeit geleistet worden« sei. »Die Mitarbeiter hatten sich mit einer großen Menge an schwierigem Quellen- und Nachlaßmaterial auseinanderzusetzen. Sie haben mit der Ausgabe trotz allem eine Basis geschaffen, auf die jeder spätere Bearbeiter dankbar Bezug nehmen kann.« Worin die besondere kulturelle Bedeutung von Steiners Beitrag als Goethe-Herausgeber bestand, hat vielleicht am besten Helmut Zander auf den Begriff gebracht:

Steiners vielleicht wichtigste Leistung war die Mitarbeit am Einstieg in eine Interpretationstradition, die Goethe von seinem naturwissenschaftlichen Werk her zu verstehen suchte, wofür vor Steiner die Namen Hermann von Helmholtz und vor allem Salomon Kalischer stehen. Damit wurde Goethes Selbstwahrnehmung, der ja in der Farbenlehre sein Hauptwerk sah, Rechnung getragen – im Gegensatz zur fast monokratisch dominierenden Rezeption über sein poetisches Werk beim lesenden Publikum und in der philologischen Wissenschaft.

Von den naturwissenschaftlichen Schriften her hat Steiner eine Totalitätskonzeption entworfen, die Goethes ganzheitlichen Anspruch in die zeitgenössische Weltanschauungsdebatte einbrachte und als ›Goethes Weltanschauung‹ zur Diskussion stellte. Bei allem Streitpotential über die Möglichkeiten einer solchen Konzeption bleibt positiv zu bewerten, daß Steiner sich Tendenzen einer beliebigen Fledderei von Goethes Schriften entgegenzustellen suchte, allerdings in weltanschauungspolitischer Absicht: um sie als Ensemble für die weltanschauliche Orientierung zur Verfügung zu halten. (Zander [2007], I, 468)

Dieses Urteil Zanders, dass sich bei ihm pauschal auf die Gesamtarbeit bezieht, trifft aber wohl für die Kürschner-Einleitungen und die Grundlinien deutlich mehr zu als auf die Arbeit an der WA, die auf das kulturelle Gespräch über Goethe so gut wie keinen Einfluss hatte. Symptomatisch ist auch, dass der entsprechende GA-Band mit Steiners Kommentaren im Rahmen der Weimarer Ausgabe erst 2017 erschienen ist. Sowohl für den allgemeinen Diskurs über Goethe als auch für Steiners eigene Entwicklung war die Kürschner-Ausgabe sicherlich die maßgebendere Arbeit. Wenden wir uns dieser also wieder zu.

 

Abschluss der Kürschner-Ausgabe (1897)

Durch Steiners Arbeit im Rahmen der Weimarer Ausgabe hatte sich die Fertigstellung der Kürschner-Edition erheblich verzögert. Zu der aufwendigen philologischen Arbeit am Goethe-Archiv kam hinzu, dass Steiner in dieser Zeit nicht nur zahlreiche weitere programmatische Aufsätze für den Literarischen Merkur und andere Journale verfasste, sondern auch die Betreuung zweier weiterer Werkausgaben übernahm und mehrere seiner grundlegenden Schriften verfasste: seine Dissertation Die Grundfrage der Erkenntnistheorie, welche 1892 unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft als Buch herauskam, seine Philosophie der Freiheit von 1894 und seine Monographie Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895). In den Weimarer Jahren 1891‒1896 wartete Kürschner daher vergeblich auf die lange versprochenen Manuskripte. Erst im Sommer 1896, als Steiners Tätigkeit in Weimar dem Ende zuging, konnte er endlich auch den letzten Goethe-Band für die National-Literatur abschließen und 1897 veröffentlichen. Das Material war mittlerweile zu einem Doppelband angewachsen, deren erster die Materialien zur Farbenlehre enthielt und deren zweiter eine von Steiner vorgenommene Auswahl von Sprüchen Goethes brachte. Einzelheiten darüber, wann die Entscheidung für die Aufnahme der Sprüche fiel und was Steiner und Kürschner in diesem Zusammenhang besprachen, sind in den erhaltenen Dokumenten aus dieser Zeit leider nicht überliefert.

 

Stil und Inhalt der Einleitungen von 1897

Jeder der beiden Teilbände enthielt je einen als »Einleitung« betitelten Einführungstext, im Umfang deutlich knapper als in den vorherigen Bänden. Die Kapitelüberschriften, unter denen sich diese Abschnitte heute in EG finden (XVII. »Goethe gegen den Atomismus« und XVIII. »Goethes Weltanschauung in seinen ›Sprüchen in Prosa‹«) wurden erst 1925 der Buchfassung hinzugefügt. In diesen letzten Einleitungen setzt sich Steiners Tendenz zur Abkehr von den traditionellen Pflichten eines Herausgebers fort, die sich schon in den früheren Bänden abgezeichnet hatte. Die erste Einleitung beschäftigt sich ausschließlich mit der Verteidigung von Goethes wissenschaftlichem Ansatz gegenüber der modernen Naturwissenschaft und erwähnt die Materialien zur Farbenlehre als solche gar nicht. Nirgendwo geht Steiner auf biografische oder historische Kontexte der Texte oder auf Quellen und Einflüsse auf Goethe ein. Und auch die zweite Einleitung beschäftigt sich mit den Sprüchen in Prosa nur in Hinsicht auf Steiners Begründung für die Aufnahme dieser Texte in eine Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften (was immerhin ein Novum gegenüber früheren Editionen darstellte) und für die von ihm vorgenommene Auswahl und Anordnung. Biographische Hinweise zur Entstehung der einzelnen Sprüche, Quellennachweise oder Textvarianten fehlen auch hier völlig, wozu Steiner lapidar anmerkt, er habe sich »nie davon überzeugen können, daß durch solche Nachweise zur Erkenntnis einer wirklich großen Persönlichkeit etwas beigetragen wird.«

Die Einleitung zum ersten Teilband nimmt im Prinzip die Argumentation von 1890 wieder auf und setzt das Plädoyer für eine Naturwissenschaft fort, die, anknüpfend an die phänomenologische Methode Goethes, ohne den Begriff der Materie auskommt. Wieder macht Steiner das Argument, dass der Materiebegriff, auf dem die gesamte moderne Naturwissenschaft seit Descartes beruhe, ein rein hypothetischer Begriff sei und dass sich eine Wissenschaft, die an dieser Hypothese festhalte, in unüberwindliche Widersprüche verwickeln muss. Steiner illustriert dies durch eine Auseinandersetzung mit dem Chemiker Wilhelm Ostwald, dem Philosophen Wilhelm Wundt und dem Physiologen Emil Du-Bois Reymond. Am Beispiel Ostwalds zeigt er etwa, dass dieser zwar die Widersprüche der materialistischen Naturwissenschaft erkannt habe, dann aber mit seiner Ersetzung des Begriffs der ›Materie‹ durch den der ›Energie‹ gar nichts gewonnen habe, da er nur einen neuen hypothetischen Begriff an die Stelle des alten gesetzt habe. Nur eine solche Wissenschaft der Natur, die von Urphänomenen im Sinne Goethes ausgehe und somit keine unwahrnehmbare Realität »hinter den Phänomenen« (EG, 241) postuliere, also weder eine hypothetische ›Materie‹, eine ›Energie‹ oder ein sonstiges bloß angenommenes Substrat der sinnlichen Erscheinungen, könne zu einer befriedigenden Weltanschauung führen. Wie in früheren Einleitungen können auch hier die steinerschen Ausführungen als Ausarbeitung jenes Wissenschaftskonzepts gelesen werden, dass er später als theosophische bzw. anthroposophische Geisteswissenschaft bezeichnet und vertreten hat. Nach dieser betrachtet der Mensch in der Natur nichts ihm Fremdes oder Äußerliches, nicht eine mentale Repräsentation einer ihm unzugänglichen Außenwelt, sondern eine von ihm selbst hervorgebrachte Repräsentation jener geistigen Wirklichkeit, die er, der Betrachtende, insofern er denkt, selbst ist.

Als Vorschau auf kommende Entwicklungen in Steiners Gedankenkosmos können auch jene Passagen der Einleitung verstanden werden, in denen diese sich mit Anton Lampa als charakteristischem Vertreter einer zeitgenössischen Tendenz auseinandersetzt, nach der Menschen ihre spirituellen Bedürfnisse in einer mystischen Weltsicht zu befriedigen suchen und dabei zugleich als Wissenschaftler an der mechanisch-atomistischen Weltsicht der modernen Naturwissenschaft festzuhalten suchen. Durch solch eine Haltung sieht Steiner eine Trennung zwischen spiritueller und wissenschaftlicher Haltung zementiert, die er für fehlgeleitet hält und der er Goethes Naturbetrachtung als ein Beispiel dafür entgegenhält, wie Spiritualität und Wissenschaftlichkeit harmonisch miteinander integriert werden können. Auch insgesamt äußert sich Steiner in diesen Einleitungen der Mystik gegenüber sehr kritisch und charakterisiert diese als eine »oberflächliche Weltanschauung« (EG, 261). Der traditionelle Mystiker sehe zwar zurecht die Begrenztheit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung und tue sich deshalb dieser gegenüber viel auf die Tiefe seines mystischen Erlebens zugute, doch sei die vermeintliche Tiefe solchen mystischen Erlebens in Wirklichkeit nur ein Schwelgen im Element des Gefühls, während aus der Sicht Goethes das vom Mystiker im Gefühl gesuchte Erlebnis der Einheit mit dem Weltgrund nur im Denken zu finden sei. »Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen«, hatte Steiner schon in der Einleitung von 1887 formuliert (EG, 93). ‒ Diese Ausführungen sind biographisch insofern besonders interessant, als Steiner sich wenige Jahre später mit der Theosophie selbst einer geistigen Strömung angeschlossen hat, die eben jene mystischen und orientalisierenden Tendenzen aufwies, die er hier noch scharf kritisiert. Und man kann schon hier die Art und Weise angedeutet finden, wie der Theosoph Steiner dann ab 1902 diese Theosophie im Sinne seiner am philosophischen Idealismus orientierten ‒ und somit westlich ausgerichteten und am Prinzip der Wissenschaftlichkeit festhaltenden ‒ Perspektive umzuformen suchte. Der Theosoph Steiner hatte denn auch viel Mühe, seine früheren kritischen Äußerungen über Mystik und Theosophie in späteren Auflagen seiner Schriften zu erklären, und er tat dies in der Regel dadurch, dass er sie als Kritik an einer »einseitig verstandenen« (GW, 38) Mystik auslegte.

Die Einleitung zum zweiten Teilband widmet sich den Gründen für die Aufnahme der Sprüche in Prosa (die in anderen Editionen auch unter dem Titel Maximen und Reflexionen zu finden sind) in eine Edition der naturwissenschaftlichen Schriften und expliziert die dem Band zugrundeliegenden Kriterien der Auswahl und Anordnung der Sprüche. Zur Rechtfertigung seiner Auswahl geht Steiner von dem bereits 1884 formulierten Argument einer Einheit der goetheschen Dichtung und Forschung als Ausdruck der goetheschen Persönlichkeit und Denkart aus. »Was aus den höchsten Bedürfnissen einer Persönlichkeit stammt, muss innerlich zusammengehören«, schreibt er da etwa. »Goethes Weisheitslehren antworten auf die Frage: was für eine Philosophie ist der echten Kunst gemäss? Ich versuche diese aus dem Geiste eines echten Künstlers geborene Philosophie im Zusammenhange nachzuzeichnen« (EG, 255). Die Sprüche sollten also deshalb in eine Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes gehören, weil auch sie, wenngleich nicht in Form eines Systems, sondern als Aphorismensammlung, ein Bild von der ›Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung‹ zu geben vermögen.

Zur Auswahl und Anordnung der Sprüche äußerte sich Steiner in einem gesonderten Abschnitt, der in den späteren Buchausgaben ausgelassen wurde und in der vorliegenden Edition zum ersten Mal wieder in den Text aufgenommen ist. Daraus geht hervor, dass Steiner sich bei der Strukturierung des Stoffes am Aufbau der Grundlinien einer Erkenntnistheorie orientiert hat: Am Anfang stehen Sprüche über die allgemeine Natur des menschlichen Erkennens, dann folgen solche, die sich auf die einzelnen Disziplinen der Wissenschaft beziehen (mathematisches, naturwissenschaftliches, psychologisches Erkennen) und am Schluss stehen Sprüche »die das Verhältnis des Menschen zum Menschen (Ethik, Soziales, Geschichte) und zu den höchsten Dingen (Religion und Kunst) zum Gegenstande haben« (EG, 265).

Für beide Einleitungen kann gesagt werden, dass sich der polemische Stil Steiners und die Abgrenzung gegenüber dem Zeitgeist und deren prominenten Vertretern gegenüber den Darstellungen von 1890 noch steigert. Das ›gesunde‹ Denken Goethes wird der ›Krankheit‹ der Moderne entgegengehalten, wobei Steiner sich nicht nur in seinen Formulierungen und Metaphern, sondern auch durch die Strukturierung des Textes in unbetitelte nummerierte Paragraphen an Nietzsche anlehnt, der in diesem Lebensabschnitt einen beträchtlichen Einfluss auf Steiners Denken und Schreiben hatte. Geradezu persönlich wird die Auseinandersetzung mit Karl Vorländer, den Steiner scharf angreift (Anmerkung 93 zu EG, 232) und dessen Reaktion ein Nachspiel hatte, das sich später in den Schriften Goethes Weltanschauung und Haeckel und seine Gegner fortsetzte. Auch der radikale Individualismus und Subjektivismus, den sich Steiner in dieser Zeit in seiner Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche und Max Stirner zu eigen gemacht hatte (und der später seinen radikalsten Ausdruck im dem Aufsatz Der Egoismus in der Philosophie von 1899 gefunden hat), beherrscht in den Einleitungen von 1897 nachhaltig die Darstellung. »Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur«, heißt es da etwa (EG, 256) oder »Von einer anderen als einer subjektiven menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven Erscheinungszusammenhang« (EG, 259). Zwar präsentiert Steiner solche Aussprüche als Ausdruck des goetheschen Individualismus, aber bei sachlicher Betrachtung ist es doch wohl mehr der nietzsche-stirnersche Subjektivismus in seiner steinerschen Adaption, der sich in ihnen niederschlägt. Dies zeigt sich z. B. in der Deutung der Erkenntnisakte als Internalisierung körperlicher Akte.

 

Zur Rezeption der Einleitungen von 1897

In der Rezeption wurden die Einleitungen von 1897 ähnlich ambivalent beurteilt wie diejenige von 1890. Auf der einen Seite wurde lobend anerkannt, dass Steiner »als einer der ersten dem seichten Absprechen über Goethe als Denker und Forscher ein Ende bereitet und vielen ein tieferes Verständnis für Goethes Natur- und Kunstphilosophie erschlossen hat.« Eduard Castle, von dem diese Äußerung stammt, bemerkt außerdem, dass Steiner »als erster die Sprüche in Prosa, die bis dahin manchem als ein irreleitendes Chaos erschienen waren, in einen systematischen Zusammenhang gebracht« habe. Auch Max Koch weist in seiner Rezension auf diese Tatsache hin und bezeichnet die von Steiner getroffene Anordnung nach Themengruppen, um dadurch die Persönlichkeit Goethes hervortreten zu lassen, als »eine näherer Prüfung werte Leistung.«

Neben diesen positiven Beobachtungen und Einschätzungen wurden aber auch die Schwächen der steinerschen Texte deutlich gesehen und hervorgehoben. Dass Steiner sich um die Gepflogenheiten des sauberen philologischen Arbeitens kaum noch kümmerte, wird von Koch nur kommentarlos bemerkt: »Auf die von Loeper einstens so kenntnis- und verdienstreich untersuchte Quellenfrage«, schreibt er lapidar, »legt Steiner keinen Wert«. Gegenüber dem polemischen und weltanschaulich geprägten Stil der Texte hingegen kann selbst dieser so wohlwollende Beurteiler sich einer kritischen Distanzierung nicht enthalten, und dieser Punkt wiegt für ihn anscheinend so stark, dass sie auch seine Gesamtbeurteilung prägt: »Steiners diesmalige Einführungen stehen weit hinter seinen früheren zurück«, schließt Koch seine Besprechung. »Er zersplittert sich in persönlicher Polemik, wendet sich entfernteren philosophischen Fragen zu, die ihn selbst bei seinen Nietzschestudien gerade interessieren, deren Erörterung jedoch ganz und gar nicht an diese Stelle paßt. Der Gegensatz zwischen Goethes und Kants Weltanschauung wird nun auf die äußerste Spitze getrieben, so daß man auch bei grundsätzlicher Zustimmung doch diesen neuesten Ausführungen widersprechen muß.«

Auf die argumentative Substanz der Ausführungen von 1897 allerdings, d. h. auf den von Steiner unternommenen Versuch der Begründung einer Naturwissenschaft, die ohne den seiner Meinung nach rein hypothetischen Begriff der Materie auskommt, wird in keiner der zeitgenössischen Besprechungen eingegangen. Diese Dimension seiner Einleitung ist, obwohl von Steiner selbst an den entsprechenden Stellen durch Sperrdruck deutlich als zentrales Anliegen hervorgehoben, von den damaligen Beurteilern offensichtlich gar nicht wahrgenommen worden. Sie wird auch heute in der Sekundärliteratur kaum diskutiert, obwohl sie – oder vielleicht gerade weil sie – das in sich widersprüchliche Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaft im Nerv trifft und herausfordert.

 

Steiners Publikationen zu Goethe nach

Abschluss seiner Herausgebertätigkeit

Im selben Jahr, in dem der letzte Band der Kürschner-Ausgabe erschien, veröffentlichte Steiner eine weitere Monographie mit dem Titel Goethes Weltanschauung, in welchem er Bilanz zog aus seinen nun gut 15 Jahren der Auseinandersetzung mit Goethe. Da dieser Band in Band 3 der SKA erschienen ist und dort ausführlich besprochen wird, sollen an dieser Stelle nur einige allgemeine Bemerkungen zu diesem Buch gemacht werden. In Stil und gedanklicher Ausrichtung folgt Goethes Weltanschauung über weite Strecken den Einleitungen der neunziger Jahre. Steiner tritt mit populärwissenschaftlichem Gestus auf, ohne sich mit Quellenarbeit oder mit der Konsultation der bestehenden Forschungsliteratur aufzuhalten, und die Darstellung ist weltanschaulich orientiert, engagiert bis kämpferisch und bisweilen polemisch. Er präsentiert seinen Zeitgenossen einen Goethe, der als Schöpfer einer dem Zeitgeist überlegenen Methode zur Erforschung der Welt des Lebendigen den Weg zu einer modernen Weltanschauung weisen soll, in welcher Spiritualität, Kunst und Wissenschaft nicht länger getrennte Wege gehen, sondern sich zu einer ganzheitlichen und integralen Sicht auf die Welt und den Menschen vereinen. Auch die Einbettung dieser Perspektive in jenen radikalen Individualismus, Subjektivismus und unapologetischen Anthropomorphismus, der Steiners Veröffentlichungen um die Jahrhundertwende prägt, findet sich in Goethes Weltanschauung wieder. ‒ Neu gegenüber den früheren Darstellungen ist, dass als Negativfolie dieser Zukunftsvision nicht länger nur die zeitgenössische Erkenntnistheorie und die materialistische Naturwissenschaft dienen. Steiner spannt den ideengeschichtlichen Bogen seiner Betrachtung jetzt weiter, verfolgt die historischen Wurzeln der dualistischen Weltbetrachtung durch die Geschichte der Philosophie bis zu ihrem Ursprung im Platonismus. Während er also in den 1880er Jahren Goethe noch platonisch auslegte (freilich ohne sich dessen bewusst zu sein), erscheint der in den Dualismus führende Platonismus jetzt als welthistorischer Gegenspieler des goetheschen Monismus. Neu an der Darstellung von 1897 ist ferner, dass Steiner jetzt zum ersten Mal nicht bloß als Interpret und Apologet Goethes auftritt, sondern sich stellenweise auch von seinem Vorbild distanziert und von Defiziten und Grenzen der goetheschen Weltsicht spricht. Goethe wird als Genie in der Beobachtung und Deutung der sinnlich wahrnehmbaren Natur charakterisiert, dem aber gerade deshalb sowohl die Neigung wie die Fähigkeit gefehlt habe, auch die Welt der nicht-sinnlichen Phänomene, das innere Leben des Menschen, in den Blick zu nehmen und nach der von ihm ausgebildeten Methode zu untersuchen. Steiner sieht sich daher jetzt nicht länger nur als Anwalt der goetheschen Weltsicht, sondern auch als deren Verbesserer und Vollender.

Die nächste ausführliche Darstellung Goethes aus der Feder Steiners findet sich im ersten Band der Schrift Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert, welche im Jahr 1900 erschien. Während auch in diesem Text Goethe in gewohnter Weise als weltgeschichtlicher Gegenspieler Kants dargestellt wird, fällt doch deutlich ins Auge, dass Steiner das Verhältnis dieser beiden Standpunkte jetzt stärker unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Bewusstseins sieht. Im Kapitel »Das Zeitalter Kants und Goethes« betrachtet er die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts als Entwicklungsgeschichte von einem radikalen Idealismus zu Beginn des Jahrhunderts (für den neben Goethe und Kant vor allem der Name Fichte steht) zu einer radikal materialistischen Naturwissenschaft, wie sie gegen Ende des Jahrhunderts durch die Entwicklungstheorie Ernst Haeckels vollendet worden sei. Während Steiner also weiterhin Kant und Goethe einander unter dem Gesichtspunkt ›Dualismus versus Monismus‹ entgegenstellt, stellt er sie im Hinblick auf ihre idealistischen Ansätze einander zur Seite. ‒ In der 14 Jahre später erscheinenden Neufassung des Buches unter dem Titel Die Rätsel der Philosophie wird das in der Erstausgabe nur in verhaltenen Ansätzen erkennbare Thema der Bewusstseinsentwicklung zum grundlegenden konzeptionellen Rahmen der Schrift. Die gesamte Entwicklung der abendländischen Philosophie wird jetzt unter dem Gesichtspunkt einer Evolution des erkennenden Bewusstsein gesehen, von dem aus Kant und die moderne Naturwissenschaft als Abschluss einer Entwicklung erscheinen, in welcher das zunehmend entwickelte und verfeinerte Gedankenleben das erkennende Subjekt in das Erlebnis einer vollkommenen Trennung von der Außenwelt geführt hat, während Goethe als Anfangspunkt einer neuartigen Entwicklungsrichtung verstanden wird, die vom bloßen Erzeugen von Gedanken zum »Erleben des Denkens« übergeht und mit diesem Schritt einen Weg darstellt, die Trennung des erkennenden Menschen von seiner Umwelt zu überwinden. In der Perspektive der Rätsel der Philosophie ist das Verhältnis der beiden Denker also nicht länger ein antagonistisches ›Goethe statt Kant‹, wie noch in den 1880er Jahren, sondern vielmehr ein evolutives ›von Kant zu Goethe‹. Nach diesem Entwicklungsmodell muss jeder Mensch zunächst durch jene Erfahrung der inneren Isolation gehen, welche Folge einer illusionistischen Weltanschauung ist, um in dieser Erfahrung jene seelischen und geistigen Kräfte zu entwickeln, die es ihm anschließend möglich machen, diesen Illusionismus im Sinne jenes bei Goethe, Fichte und anderen Idealisten des 18. Jahrhunderts zu konstatierenden Gedankenerlebens zu überwinden.

Ansätze zu dieser anthroposophischen Goethe-Deutung Steiners, wie sie in den Rätseln der Philosophie von 1914 zum ersten Mal in aller Deutlichkeit öffentlich ausgesprochen wird, finden sich allerdings schon deutlich früher, nämlich bereits mit Steiners Eintritt in die Theosophische Gesellschaft im Jahr 1902. Im Rahmen dieses neuen theosophischen Zugangs erscheint Goethe als ›Eingeweihter‹, der Zugang zu ›höherer Erkenntnis‹ hatte und diese in seine Dichtungen und Naturforschungen einfließen ließ. Dabei konzentriert sich Steiner jetzt nicht mehr ausschließlich auf die naturwissenschaftlichen Schriften, sondern zunehmend auch auf das künstlerische Werk, wobei esoterische Deutungen der beiden Teile des Faust und des Märchens aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten im Zentrum stehen. Die goethesche Weltanschauung, die Steiner vor der Jahrhundertwende stets als fortschrittliches Paradigma künftiger Naturwissenschaft präsentiert hatte, wird nun ‒ wie auch die Anschauungen Schillers, Fichtes, Hegels und anderer Idealisten ‒ als eine Vorwegnahme theosophischer bzw. anthroposophischer Weltbetrachtung gedeutet. Einen Vortrag über die Denker des deutschen Idealismus betitelt er: Theosophie in Deutschland vor 100 Jahren. Die Einzelheiten dieser theosophischen Goethe-Deutung hier im Einzelnen zu verfolgen würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen und muss daher einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. Eine solche Untersuchung dürfte zu dem Ergebnis kommen, dass Steiners theosophische Goethe-Deutung trotz ihrer oft mystifizierenden Terminologie und ihrem Entgegenkommen gegenüber den seelischen Bedürfnissen ihres theosophischen Publikums im Kern identisch ist sowohl mit der späteren anthroposophischen Perspektive, die sich in den Rätseln der Philosophie findet, als auch mit den Goethe-Deutungen des frühen Steiner, als deren organische Weiterbildung sich sein anthroposophisches Goethe-Bild verstehen lässt.

Nach den Welt- und Lebensanschauungen dauerte es nahezu 20 Jahre, bis Steiner sich wieder in einer öffentlichen Schrift ausführlich zu Goethe äußerte. Der Band, der 1918 unter dem Titel Goethes Geistesart erschien, versammelte zwei zum Teil stark überarbeitete ältere Aufsätze zu Goethe ‒ Goethes geheime Offenbarung (1899) und Goethes Faust als Bild seiner esoterischen Weltanschauung (1902) ‒ sowie ein anlässlich des Buches neu verfasstes Kapitel mit dem Titel Goethes Geistesart in seiner Offenbarung durch seinen Faust. Diese Texte werden in Band 12 dieser Edition erscheinen und sollen dort ausführlicher besprochen werden.

Als letzte Phase von Steiners schriftstellerischer Auseinandersetzung mit Goethe kann eine Reihe von Aufsätzen gesehen werden, welche er in den letzten Jahren seines Lebens im Rahmen der anthroposophischen Zeitschrift Das Goetheanum veröffentlicht hat. Während viele dieser Aufsätze sporadisch auf Goethe eingehen, sind einige von ihnen auch ausschließlich dem Denken des Dichterfürsten gewidmet, etwa Goethe, der Schauende, und Schiller, der Sinnende, Der werdende Goethe im Lichte Benedetto Croces, Die Schaffenshöhe Goethes im Lichte Benedetto Croces sowie Goethe und die Mathematik. Und so unternahm Steiner auch gegen Ende seines Lebens noch einmal den Versuch, wie schon ganz zu Beginn seiner öffentlichen Laufbahn, und später mehr oder weniger intensiv in allen Phasen seiner Entwicklung, das Wesen, die Bedeutung und die Zukunftsträchtigkeit seiner eigenen, aus spiritueller Erfahrung hervorgegangenen und trotzdem stets nach Mitteilbarkeit und Wissenschaftlichkeit strebenden Weltanschauung dadurch verstehbar und nachvollziehbar zu machen, dass er sie in das Licht jener Anschauungen stellte, die ein Jahrhundert vor ihm Johann Wolfgang von Goethe als Künstler, als Denker und als Naturwissenschaftler entwickelt hatte.

*

In der steinerschen Anthroposophie und ihren praktischen Kulturanwendungen haben wir das ›Ende‹ jenes Erkenntnisweges vor uns, der seinen ›Anfang‹ in Steiners Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Erörterungen Goethes nahm. Ihr Begründer verstand diese Anthroposophie als Morgenröte einer derzeit erst in keimhaften Anfängen befindlichen neuen Form von Wissenschaft, die unter den Begriffen ›Geist‹, ›Geistesleben‹ bzw. ›geistige Welt‹ etwas grundlegend Anderes und Subtileres in den Forscherblick zu nehmen versucht als die heute etablierten und allgemein anerkannten Geisteswissenschaften. Das von Steiner gemeinte ›Geistige‹, nach dem er schon Goethe streben sah, erschöpft sich nicht in den historisch greifbaren Erzeugnissen des menschlichen Geistes, den verschiedenen Weltanschauungen, Kunstwerken und sonstigen Kulturleistungen, sondern führt in die Sphäre subtiler seelischer und geistiger Erfahrungen, die von dem an die Organe des physischen Leibes gebundenen Bewusstsein als solche nicht wahrgenommen werden und somit für dieses Bewusstsein »gar nicht vorhanden« sind (RP[II], 217). Steiner war überzeugt davon, dass die Ausbildung der für solch eine Wissenschaft erforderlichen gesteigerten Bewusstheit in den natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen liegt, und dass sich nur durch eine aus derart vertieftem und geschärftem Bewusstsein hervorgehende neue Welt- und Lebensanschauung die dem modernen Menschen gestellten Herausforderungen werde meistern lassen. Eindringlich warnte er davor, welch verheerende physische, seelische, geistige und soziale Folgen es haben würde, sollte die Menschheit sich auf Dauer ausschließlich von einem rein naturwissenschaftlichen Bild des Menschen und der Wirklichkeit leiten lassen.

Ob Steiner mit seinen Warnungen und Vorhersagen Recht behalten wird oder nicht, kann vor dem Forum einer Wissenschaft, die nur das Bestehende und Vergangene ins Auge zu fassen vermag, selbstverständlich nicht entschieden werden. Der Flug der Minerva beginnt, wie schon Hegel wusste, immer erst in der Dämmerung, wenn »eine Gestalt des Lebens alt geworden« ist und erst eine Wissenschaft der Zukunft wird darüber richten können. Sollte er richtig gelegen haben, so dürfte seinem Lebenswerk für die von ihm anvisierte Wissenschaft des sich entwickelnden Geistes eine ähnliche kulturgeschichtliche Bedeutung zukommen, wie dem Werk eines Aristoteles in der Geschichte der Philosophie oder dem eines Darwin in der Naturwissenschaft. Aber auch wenn Steiner sich grundlegend geirrt haben sollte, wird seiner Vision als einer einzigartigen geistigen und kulturellen Leistung und als kühnem und umfassendem Entwurf einer besseren Welt ein Platz in der Geschichte der großen Gedankenleistungen gesichert sein. Gleichgültig aber, ob Steiners Zukunftsvision sich als prophetische Vorhersage oder als idealistische Utopie erweisen wird: Die akademische Wissenschaft der Gegenwart hat sich heute, nach einem guten Jahrhundert der nur zögerlichen Auseinandersetzung, der ›Herausforderung Steiner‹ in einer ihr angemessenen Weise anzunehmen. Indem im Jahr 2025 der einhundertste Todestag dieses außerordentlichen Denkers und Kulturschöpfers heranrückt, ist sie aufgefordert, sich dem steinerschen Werk endlich mit ihren besten Kräften zu stellen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Der vorliegende Band und die SKA insgesamt sind Versuche einer solchen Begegnung.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

bottom of page