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Einleitung

Von Christian Clement

SKA 6 (2017), XXI-CLII

 

[…] diesen Vorzug haben die theosophischen Systeme vor allen bisher geltenden, daß in ihnen wenigstens eine Natur ist, wenn auch eine ihrer selbst nicht mächtige, in den andern dagegen nichts als Unnatur und eitel Kunst. Aber so wenig Natur der recht verstandenen Kunst, so wenig ist die Fülle und Tiefe des Lebens recht verstandener Wissenschaft unerreichbar.

 

(Friedrich Wilhelm Joseph Schelling)

 

 

Theosophie als ›spirituelle Anthropologie‹

Einer der spannendsten und in der Forschung umstrittensten Momente in der Biographie Rudolf Steiners ist die um 1900 vollzogene Wende des bis dahin vor allem als Goethe-Philologe, Nietzsche-Verehrer und Freidenker hervorgetretenen Publizisten zu jenem Mystiker, Theosophen und Begründer der Anthroposophie, als der Steiner dann im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts hervortrat und als der er bis heute überwiegend bekannt ist. Dieser Schritt in die Esoterik wurde äußerlich markiert durch seinen Beitritt zur Theosophical Society und seine 1902 erfolgte Ernennung zum Generalsekretär von deren deutscher Sektion. In dieser Funktion repräsentierte der bis dahin als unabhängiger und kritischer Schriftsteller geltende Steiner ein gutes Jahrzehnt lang die von Helena Petrowna Blavatsky ins Leben gerufene und in Europa vor allem von Annie Besant vertretene anglo-indische Theosophie vor der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit.

Dann aber, zur Jahreswende 1912/13, gründete Steiner die Anthroposophische Gesellschaft und ging institutionell seine eigenen Wege, wobei ihm der größte Teil der deutschen Theosophen Gefolgschaft leistete. Infolge dieses Schismas wurde die weltweit bis heute mitgliederstarke Theosophical Society in Deutschland in eine kulturelle Randstellung gedrängt, aus der sie sich seither nicht befreit hat; die Anthroposophie hingegen stieg zur bedeutendsten esoterischen Bewegung in den deutschsprachigen Ländern, aber auch in den Niederlanden und in Skandinavien auf, mit Enklaven in praktisch allen Teilen der Welt.

Die Hinwendung des Philosophen Steiner zur Theosophie und die anschließende Ausbildung seiner Anthroposophie sind somit als kulturgeschichtlich bedeutsame Entwicklungen zu betrachten, deren genauere Erforschung, sowohl in systematischer wie in historischer Hinsicht, derzeit überwiegend noch aussteht. Der vorliegende Band möchte zu solcher Forschung anregen und beitragen, indem er die beiden anthropologischen Grundschriften, in denen die oben angedeuteten Entwicklungsschritte Steiners paradigmatisch zum Ausdruck gekommen sind – die Theosophie von 1904 und das Fragment Anthroposophie von 1910 – zum ersten Mal in einer gemeinsamen Ausgabe und in textkritischer Edition vorlegt. Der Herausgeber hofft, damit der Forschung ein hilfreiches philologisches Instrument an die Hand zu geben, sowohl für das Verständnis der Genese des steinerschen Denkens und seiner ›spirituellen Menschenkunde‹ als auch für die Erforschung der allgemeinen Esoterikgeschichte und besonders der Theosophie-Rezeption im wilhelminischen Deutschland.

 

Anthroposophie und Anthropologie

Zu Beginn dieser Einleitung sollte ein Wort über die für diesen Band gewählte Charakterisierung als Steiners ›Schriften zur Anthropologie‹ gesagt werden. Diese Bezeichnung liegt zum einen auf der Hand, da es in beiden der hier versammelten Texte in zentraler Weise um ein spirituelles Verständnis des Menschen geht. ›Anthropologie‹ bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch genau dies: eine ›Lehre vom Menschen‹ oder ›Menschenkunde‹. Problematisch wird diese Wortwahl dadurch, dass Rudolf Steiner in seinem Anthroposophie-Fragment von 1910 und auch an anderen Stellen (etwa in den Seelenrätseln von 1917) den Begriff ›Anthropologie‹ in einem engeren Sinne verwendet hat, und zwar als Ausdruck für eine auf rein sinnlicher Beobachtung beruhende und streng naturwissenschaftlich geprägte Betrachtungsweise des Menschen. Einer so verstandenen ›Anthropologie‹ hat er seine ›Anthroposophie‹ als eine auf – wie er es nannte – ›geisteswissenschaftlichen‹ und somit ausdrücklich nicht naturwissenschaftlichen Methoden beruhende ›spirituelle‹ Menschenkunde entgegengestellt (vgl. AN, 8 ff.).

Aufgrund dieses Sachverhalts wird mancher Kenner des steinerschen Werkes vielleicht den Einwand machen, die Verwendung des Titels ›Schriften zur Anthropologie‹ für die in diesem Band vorgelegten Texte laufe den Intentionen Rudolf Steiners zuwider, ja verfälsche geradezu deren Charakter. Dem sei entgegengehalten, dass die steinersche Wortwahl einem ungehinderten Dialog zwischen binnenanthroposophischer und akademischer Steinerforschung verschiedene Hindernisse in den Weg stellt. Das nicht geringste besteht darin, dass sie es unmöglich macht, terminologisch sauber der von ihm ins Auge gefassten naturwissenschaftlichen Anthropologie den Begriff einer anthroposophischen, spirituellen oder eben ›geisteswissenschaftlichen‹ Anthropologie zur Seite zu stellen und so zu einem Vergleich und fruchtbaren Austausch der beiden anthropologischen Ansätze zu kommen. Es erscheint daher sinnvoll, am gebräuchlichen Wortgebrauch festzuhalten und von einer ›anthroposophischen Anthropologie‹ bzw. von der ›Menschenkunde‹ Rudolf Steiners zu sprechen.

Ein weiteres terminologisches Problem ist Steiners Bezeichnung seines theosophischen und anthroposophischen Denkens als Ausdruck einer ›Geisteswissenschaft‹. Obwohl prinzipiell dieser Begriff treffend zum Ausdruck bringt, was Steiner in allen Phasen seiner intellektuellen Entwicklung im Blick gehabt hat, nämlich die Grundlagen einer Wissenschaft der Selbsterkenntnis des Geistes im Menschen zu legen, weicht er auch mit dieser Sprachregelung von dem ab, was im allgemeinen akademischen Diskurs, in Anknüpfung an Wilhelm Dilthey, unter ›Geisteswissenschaft‹ bzw. ›den Geisteswissenschaften‹ verstanden wird. Um also sowohl Steiners Konzeption als solche benennen und historisch würdigen zu können, zugleich aber der allgemeinen Konvention gerecht zu werden, wäre es wohl das Beste, immer dann, wenn von Steiners Gebrauch des Wortes die Rede ist, eine entsprechende Qualifizierung hinzuzufügen und etwa von ›anthroposophischer Geisteswissenschaft‹ oder von ›Geisteswissenschaft im Sinne Steiners‹ zu sprechen. So jedenfalls soll es in diesem Band gehandhabt werden.

 

Charakter der steinerschen Esoterik

Doch kommen wir zum Charakter der steinerschen Esoterik als solcher. Eine Hauptkontroverse innerhalb der Steiner-Rezeption dreht sich um die Frage, ob Steiners Hinwendung zur Theosophie und die sich anschließende Ausbildung der Anthroposophie als Brüche in seiner intellektuellen und spirituellen Entwicklung anzusehen sind, oder ob man die verschiedenen Phasen seiner Wirksamkeit als eine nachvollziehbare oder sogar konsequente Entwicklung verstehen kann. Weder den Anthroposophen noch der akademischen Forschung ist es bisher gelungen, völlig plausibel zu machen, warum dieser kritische Denker, der sich bis zur Jahrhundertwende vor allem in der geistigen Nachbarschaft Fichtes, Goethe und dann Nietzsches gesehen hatte, sich plötzlich einer in weiten Teilen der Gesellschaft als unwissenschaftlich und quasireligiös geltenden Geistesströmung wie der anglo-indischen Theosophie zuwandte und von dieser bewusst in Kauf genommenen Außenseiterposition aus sein weiteres Lebenswerk konzipierte und verwirklichte.

Eine in anthroposophischen Kreisen oft zu findende Erklärung lautet, Steiner sei schon von frühester Jugend an ›Hellseher‹ gewesen und bis zur Jahrhundertwende nur unter der Maske des Philosophen, später dann unter der Maske des Theosophen aufgetreten, bis er dann als Anthroposoph als der ›große Eingeweihte‹ auftreten konnte, der er schon von Jugend auf gewesen sei. Auf Seiten der akademischen Forschung hingegen findet sich häufig die gegenläufige Ansicht, zuletzt vehement vertreten durch den Historiker Helmut Zander, Steiner habe eine »theosophische Konversion« durchgemacht und sich aus Gründen, über die man nur spekulieren könne, von einer durch Monismus, Metaphysikkritik und Individualismus geprägten Freiheitsphilosophie zu einer dualistisch, metaphysisch und autoritär geprägten Esoterik bekehrt.

Die Theosophie von 1904 ist eines der faszinierendsten Dokumente dieser Phase von Steiners Entwicklung und somit ein Schlüsseltext für die Beantwortung der Frage, wie sein Lebenswerk insgesamt einzuordnen und zu bewerten ist. Einerseits tauchte Steiner hier tief in die Bilder- und Begriffswelt der Theosophie ein und eignete sich deren Ausdrucksformen als ein für ihn neuartiges Medium der Ideenvermittlung an; wohl wissend, dass er damit sein Ansehen in der akademischen Welt unwiderruflich kompromittierte. Statt wie bisher in der philosophischen Terminologie des Idealismus und des Neukantianismus über das Wesen des Erkennens, die Freiheit des Willens oder die innere Verwandtschaft von Kunst und Wissenschaft nachzudenken, beschrieb er nun, scheinbar unbekümmert um erkenntniskritische Bedenken, ›höhere Welten‹, den ›Astralleib‹ und die ›Aura‹ des Menschen, und legte detailliert dar, wie der Mensch sich in verschiedenen Wiedergeburten reinkarniert, wie er dem karmischen Schicksalsgesetz unterliegt und wie sich sein ›vorgeburtliches‹ sowie sein ›nachtodliches‹ Dasein gestaltet.

Steiner übernahm aber nicht einfach die Anschauungen der anglo-indischen Theosophie über das Wesen und die Evolution von Mensch und Kosmos, sondern suchte diese in das Licht derjenigen ontologischen, epistemologischen und anthropologischen Vorstellungen zu rücken, welche er selbst vor der Jahrhundertwende vertreten hatte. Die im Anfangskapitel der Theosophie von Steiner zitierten und in Thematik und Ton des Buches einführenden Autoritäten sind charakteristischerweise nicht Blavatsky oder Besant, sondern Fichte, Goethe und Lotze. Im Vorwort bringt Steiner unzweideutig zum Ausdruck, dass er, bei aller inhaltlichen und stilistischen Neuausrichtung, im Wesentlichen weiterhin in dieselbe Richtung zu gehen meinte wie zuvor:

Wer noch auf einem anderen Wege die hier dargestellten Wahrheiten suchen will, der findet einen solchen in meiner ›Philosophie der Freiheit‹. In verschiedener Art streben diese beiden Bücher nach dem gleichen Ziele. Zum Verständnis des einen ist das andere durchaus nicht notwendig, wenn auch für manchen gewiß förderlich. (TH, XIII)

 

Über die so angestrebte Synthese von Philosophie und Theosophie hinaus suchte Steiner zudem den Anschluss seines Denkens an die Vorgehensweisen und Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften. Die exakten und empirisch vorgehenden Methoden der modernen Physik, die er als Student an der Technischen Hochschule in Wien studiert hatte, aber auch die Entwicklungslehre Ernst Haeckels galten ihm als vorbildlicher und zukunftsträchtiger Ausdruck einer Wissenschaftlichkeit, an deren methodischer Strenge und kritischer Überprüfbarkeit sich sowohl der Philosoph wie der Esoteriker zu messen haben. In der Vorrede zur Neuauflage von 1908 zeigt er sich überzeugt,

daß man allen Anforderungen der Naturwissenschaft gerecht werden kann und gerade deswegen die Art der hier von der übersinnlichen Welt gegebenen Darstellung in sich gegründet finden kann. Ja, gerade echte naturwissenschaftliche Vorstellungsart sollte sich heimisch in dieser Darstellung fühlen. (TH, XV)

In der Tat unterscheiden sich Steiners methodischer Zugang, seine sprachliche und systematische Darstellungsweise, seine phänomenologische Ableitung der Inhalte sowie seine epistemologische Absicherung des Argumentationsganges in vieler Hinsicht grundlegend von denen seiner theosophischen Vorbilder. Eine vergleichbare methodenkritische Reflexion auf das eigene theosophische Sprechen findet sich nicht in dieser Form bei H. P. Blavatsky, Alfred Sinnett, Annie Besant oder Charles Leadbeater. In ähnlicher Weise, wie Steiner sich schon als Student die fichtesche Wissenschaftslehre vorgenommen und sie »Seite für Seite umgeschrieben« hatte, um sie seinen eigenen Vorstellungen anzuverwandeln, kann auch seine Schrift von 1904 so verstanden werden, dass er sich die anglo-indische Theosophie vornahm, insbesonders die Hauptschrift Besants, The Ancient Wisdom, und diese gewissermaßen ›Seite für Seite‹ gemäß den epistemologischen und anthropologischen Vorstellungen seiner vortheosophischen Phase umschrieb.

Auch Ziel und Anspruch des steinerschen Buches waren weitgehend andere als diejenigen der theosophischen Autoren vor ihm. Die ersten Schriften der Bewegung betonten ausdrücklich, dass es in ihnen darum ging, eine ›uralte Weisheit‹ wiederherzustellen, die einstmals Besitz der Menschheit gewesen, die dann aber, im Verlauf der Ausbildung eines abstrakt-gegenständlichen Bewusstseins, verlorengegangen sei – und ferner, dass dieses Wissen heutzutage einzig und allein aus den Händen erleuchteter eingeweihter ›Meister‹ empfangen werden könne. Erst in der zweiten Generation, bei Leadbeater und Besant und in späteren Texten Blavatskys, entwickelte sich nach und nach die Vorstellung, jeder Mensch könne mittels einer besonderen Schulung Fähigkeiten entwickeln, die zu solch ›höherer‹ Erkenntnis führen. Aber auch diese Schulung sollte gemäß den frühen theosophischen Darstellungen im Grunde nur dazu führen, den Schüler für die Belehrung durch die ›Meister‹ vorzubereiten, nicht aber dazu, ihn zu einem eigenständigen autonomen Erkennen anzuleiten. Erst bei Steiner bildete sich nach und nach die Vorstellung einer systematischen Erkenntnisschulung aus, durch welche der Mensch völlig oder zumindest weitgehend unabhängig von Meisterautorität zu einem eigenständigen Erkennen der ›verborgenen Weisheit‹ kommen sollte. Steiner wandelte innerhalb des Theorierahmens der Theosophie deren relativ unbestimmten Begriff vom ›höheren Wissen‹ sukzessive um in einen anthroposophischen Erkenntnisbegriff, der in eine differenzierte Theorie verschiedener Stufen des übersinnlichen Bewusstseins auslief (vgl. dazu Die Stufen der höheren Erkenntnis in SKA 7).

Indem Steiners Vorstellungen über die Quelle und die Natur des ›höheren‹ bzw. ›übersinnlichen‹ Erkennens sich nicht von spiritistischen, mesmeristischen und mediumistischen Traditionen herleiteten, sondern sich auf Goethe, Schiller und den deutschen Idealismus beriefen, konnte es für ihn in der Erkenntnisschulung nicht darum gehen, ein unwahrnehmbares ›Jenseits‹ im Sinne vorkritischer Metaphysik oder ein transzendentes ›göttliches‹ Wesen im Sinne volksreligiöser Traditionen erkennen zu wollen. Dass das menschliche Bewusstsein sich nicht selbst »überspringen« und in eine von den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten dieses Bewusstseins unabhängige Transzendenz eintauchen kann, darin war Steiner schon in seiner Dissertation von 1892 mit Kant, Fichte und der neukantianischen Schule einig (vgl. Einleitung zu SKA 2). Wohl aber postulierte er, an Fichte anknüpfend und damit über Kant hinausgehend, dass es andere, ›höhere‹ Formen des Bewusstseins bzw. des Erkennens gebe als das an sinnliche Wahrnehmungen gebundene ›gewöhnliche‹ Vorstellen. Diese, in jedem Menschen schlummernden ›höheren‹ Erkenntnisfähigkeiten, ihr Wesen, ihre Inhalte und die Bedingungen ihrer Verwirklichung, sind das zentrale Thema der steinerschen Theosophie – so wie die Idee der Wiedergewinnung einer verlorengegangenen ›uralten Weisheit‹ die Leitidee der blavatskyschen und besantschen Theosophie war. Dabei konstituiert die steinersche Konzeption der ›höheren Erkenntnis‹ eine Weiterentwicklung von epistemologischen und anthropologischen Vorstellungen, die Steiner bereits in seinem philosophischen Frühwerk entwickelt hatte.

 

Philosophische Grundlegung der steinerschen Theosophie

Ein Weg, Steiners Konzeption der ›theosophischen‹ bzw. ›höheren Erkenntnis‹ in der hier gebotenen Kürze zu charakterisieren, könnte darin bestehen, sein Verhältnis zum Denken Immanuel Kants zu beleuchten. Obgleich Steiner sich zeitlebens und nicht selten in sehr polemischer Form von Kant als einem weltanschaulichen Antipoden abzugrenzen versuchte und gegen den »ungesunden Kant-Glauben« innerhalb der Philosophie und der Naturwissenschaft seiner Zeit anschrieb, bestehen zentrale Gemeinsamkeiten zwischen beiden Denkern. Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft bekanntlich den Versuch unternommen, Wesen und Umfang des menschlichen Erkenntnisvermögens zu untersuchen, und war zu dem Schluss gekommen, dass der Mensch nur von dem etwas wissen könne, wovon er Erfahrung haben kann. ›Erfahrung‹ beschrieb er als etwas, das nur durch Interaktion von Wahrnehmung und Denken zustande komme. Nach Kant können weder eine rein sinnliche Wahrnehmung noch ein reiner Begriff als solche je Gegenstand der Erfahrung werden, denn der Mensch werde sich der Inhalte seines Wahrnehmens nur in bestimmten apriorischen Formen seines Anschauens und Denkens bewusst, welche die Struktur seines eigenen Erkenntnisvermögens ausmachen. Umgekehrt bedürfen die formenden und strukturierenden Tätigkeiten des Denkens und Anschauens nach Kant stets eines Stoffes, auf den sie sich beziehen. Was also ein Mensch erfahren kann, ist aus kantscher Perspektive notwendig immer schon in bestimmte, von der Struktur seines Erkenntnisvermögens vorgegebene Formen des Anschauuens (Raum und Zeit) und in bestimmte Formen des Urteilens (etwa die Kategorie der Kausalität) gekleidet: »Gedanken ohne Inhalt sind leer«, so eine bekannte Formulierung Kants, »Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Und so kam die kantsche Erkenntniskritik zu dem Schluss, dass es Erkenntnis und Wissen nur von einer solchen ›Welt‹ geben könne, die bereits von den Formen seines eigenen Anschauungs- und Denkvermögens geprägt ist, einer ›Welt, wie sie dem Menschen erscheint‹ – niemals aber Erkenntnis einer von den Formen des menschlichen Erkennens unabhängigen ›Welt an sich‹. Eine Philosophie, die sich in dieser Weise der notwendigen Abhängigkeit des Erkannten von den apriorischen Formen des menschlichen Erkennens bewusst ist, bezeichnete Kant auch als ›transzendental‹ – im Gegensatz zu einem ›naiven‹, ›unkritischen‹ oder ›dogmatischen‹ Denken, welches eine von der Struktur des Erkenntnisvermögens unabhängige Transzendenz zum Gegenstand seines Erkennens haben zu können meint.

Soweit ging Steiner durchaus mit Kant. Was er ablehnte, war die ebenfalls von Kant vertretene Vorstellung, jenseits der transzendentalen Erfahrungswelt des Menschen eine transzendente ›Welt an sich‹ anzunehmen, die dem Menschen aufgrund des transzendentalen Charakters seiner Erkenntnis als solche prinzipiell unerkennbar sei. In Anlehnung an Denkmodelle Goethes und später Fichtes argumentierte Steiner zum einen, dass die in der menschlichen Erkenntnis erscheinende Form der Wirklichkeit nicht bloß (im Sinne Kants) als subjektive Repräsentation des Seins im Menschen anzusehen sei, sondern zugleich als objektive Entwicklungsform dieses Seins selbst und dass somit die von Kant beschriebene unüberbrückbare Kluft zwischen subjektiver Erscheinungswelt und objektiver Welt-an-sich so gar nicht existiere – bzw. durch den Menschen im Erkenntnisakt überhaupt erst hergestellt werde. Zum anderen postulierte er, dass das menschliche Erkenntnisvermögen einer Entwicklung fähig sei und somit diejenigen Grenzen des Erkennens, die Kant im Hinblick auf das ›gewöhnliche‹ sinnengebundene Bewusstsein im Wesentlichen theoretisch korrekt beschrieben hatte, durch eine systematisch erworbene Schulung und Intensivierung des Denkens und eine damit verbundene Erweiterung des Bewusstseins überwunden werden könnten.

Steiners eigene Versuche, über Kant hinauszukommen, lehnten sich, wie schon diejenigen seiner idealistischen Vorbilder, eng an Kants eigene erkenntnistheoretische Grundbestimmungen an. So wie für Kant Begriffe ohne Anschauung »blind« und Wahrnehmungen ohne begriffliche Bestimmung »leer« waren, beschrieb auch Steiner das Erkennen als notwendige Verbindung von Wahrnehmung (Steiner sprach hier auch von »Erfahrung« bzw. vom »Gegebenen«) und Denken bzw. Intuition, behielt also Kants zentrales dichotomisches Erkenntnismodell bei und fasste nur den Begriff der Erfahrung etwas anders als dieser. Steiners »Dissensus von Kant« setzte da ein, wo er den Prozess der Verbindung von Sinneseindrücken mit Verstandesbegriffen im Erkenntnisakt nicht nur als transzendentale Voraussetzung von Erfahrung begriff, sondern zugleich als realen Vorgang innerhalb der objektiven Wirklichkeit. Wenn es daher dem Menschen gelänge, so Steiner unter Bezugnahme auf fichtesche Vorstellungen über die ›intellektuelle Anschauung‹, seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die subjektiv geprägten Produkte dieser Tätigkeit, die Vorstellungen, zu lenken, sondern sich dieser Tätigkeit selbst, als solcher, bewusst würde bzw. diese anzuschauen vermöchte – dann wäre ein Ausweg aus dem von Kant beschriebenen Dualismus zwischen Für-mich-Seiendem und An-sich-Seiendem gefunden und die Bedingungen der Möglichkeit einer ›höheren‹, nicht in die Grenzen des sinnlichen Bewusstseins eingeschlossenen Erkenntnisform wären prinzipiell gegeben.

Den Schlüssel zur Überwindung der Grenzen des ›gewöhnlichen‹ Erkennens sah Steiner in der Anschauung der erkennenden Tätigkeit als solcher. In solch ›intellektueller Anschauung‹ erwiesen sich nämlich alle Unterscheidungen, welche der Mensch im Hinblick auf die Natur des Seins und des Wissens treffen kann, also die klassischen Dichotomien von ›innen‹ und ›außen‹, ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, ›Ich‹ und ›Welt‹ usw. als von dieser erkennenden Tätigkeit selbst hervorgebracht und somit auch nur für diese gültig. Auch die von Kant getroffene Unterscheidung von ›Erscheinungswelt‹ und ›Ding an sich‹ wäre somit nur für und innerhalb des sinnengebundenen Vorstellens geltend und somit prinzipiell, durch Entwicklung dieses Bewusstseins, auch wieder aufzuheben. Und so mündet Steiners Denken schon in den philosophischen Frühschriften, ja bereits in seinen Goethe-Studien, in eine charakteristische Form gedanklicher Mystik ein, in welcher nicht nur die epistemologischen Grenzen zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ sich auflösen, sondern auch der ontische Gegensatz zwischen ›Ich‹ und ›Welt‹. Schon in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (2. Teil, 1887) heißt es:

Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was aussen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen. (EG, 93)

Und in der Philosophie der Freiheit von 1894:

Jeder Mensch umspannt mit seinem Denken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und insofern unterscheiden sich die Individuen auch durch den thatsächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind in einem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhalte aller Menschen umfaßt. Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott. (PF, 260)

Steiner hatte somit, als er 1902 an die Theosophie herantrat, bereits selbständig den Begriff einer ›höheren Erkenntnis‹ und einer ›verborgenen Weisheit‹ ausgebildet; aber seine ›verborgene Weisheit‹ war nicht von einer Art, die in uralten tibetischen Texten zu finden oder mysteriösen ›Meistern‹ abzuringen war, sondern die, wie die Weisheit Fichtes, Schellings und Hegels, durch Selbsterkenntnis des Geistes im erkennenden Menschen überhaupt erst einmal hervorgebracht werden muss, bevor sie dort gefunden oder erkannt werden kann. Dieses Konzept einer autonomen, an die Errungenschaften und das Reflexionsniveau neuzeitlich-abendländischer Philosophie und Wissenschaft anknüpfenden rationalen Theosophie war es, das er dem heteronom besetzten und zunehmend an östlichen Vorbildern orientierten Theosophiebegriff Blavatskys und Besants entgegenstellte. Eine Theosophie ganz eigener Prägung entstand, die zwar dem Buchstaben nach an die Anschauungen Blavatskys, Sinnetts, Besants und Leadbeaters anknüpfte, zugleich aber den Geist Kants und Fichtes, Goethes und Schellings atmete und dadurch das theosophische Denken auf eine andere Ebene zu führen suchte, als dies bei Steiners theosophischen Vorgängern der Fall gewesen war.

 

Idee und Problematik der steinerschen Initiationsdidaktik

Nachdem Steiner sich dazu entschlossen hatte, fernerhin im Kontext der Theosophischen Bewegung zu wirken, verfolgte er konsequent das Ziel, die Theosophie in eine Form zu bringen, in der diese nicht als Transzendenzlehre metaphysischen oder gar religiösen Charakters auftrat, sondern als Darstellung der menschlichen Wirklichkeitserfahrung bzw. -hervorbringung. Steiners Texte aus dieser Zeit, allen voran die Theosophie, machen deutlich, dass er an die Texte seiner theosophischen Vorgänger prinzipiell mit derselben kritisch-bewusstseinsphilosophischen Grundhaltung heranging wie an seine früheren Schriften. Dem Leser wird abverlangt, die ›Welten‹, die da vor seinem inneren Auge entstehen, nicht als transzendente, an sich bestehende ›Orte‹ vorzustellen, die unabhängig von dem sie erlebenden Bewusstsein existierten, sondern als transzendentale Modi von Wirklichkeitserfahrung, die sich, gemäß der verschiedenen Denk- und Anschauungsformen des Menschen, in Form verschiedener ›Welten‹ um ihn herum entfalten. Er hat sich ferner bewusst zu sein, dass der vor ihm liegende Text nicht eine seelische oder geistige Wirklichkeit abzubilden beansprucht, sondern seelische und geistige Erlebnisse schildert, die freilich rückübersetzt sind in solche Bilder und Begriffe, die das ›gewöhnliche‹ sinnengebundene Bewusstsein aufzunehmen und zu verarbeiten in der Lage ist. Und drittens soll er sich über die initiationsdidaktische Wirkabsicht des Textes klar sein, die nicht primär eine Information des Lesers beabsichtigt, sondern dessen Transformation. Theosophische bzw. anthroposophische Texte sollen also nach Steiners Auffassung nicht primär Erkenntnisse seelischer und geistiger ›Welten‹ vermitteln, sondern Katalysator sein für die Ausbildung einer zunächst gar nicht vorhandenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit für Seelisches und Geistiges.

Da Steiner für die in solchem Erkennen aufgehende ›Wirklichkeit‹ zunehmend den Begriff des ›Geistes‹ verwendete, meinte er, diese anzustrebende Wissenschaft der menschlichen Wirklichkeitserfahrung auch als Wissenschaft vom Geist bezeichnen zu können. In den sukzessiven Auflagen der Schrift und in seinen Vorträgen hat er daher den Begriff ›Theosophie‹ nach und nach durch denjenigen der ›Geisteswissenschaft‹ ersetzt – bis dann 1909 eine weitere Bezeichnung auftauchte, die nicht nur eine neue Phase in Steiners Entwicklung anzeigte, sondern zum Markenzeichen des steinerschen Denkens überhaupt und zum Namen der aus diesem Denken hervorgegangenen Kulturbewegung werden sollte: die ›Anthroposophie‹.

 

Theosophie und Anthroposophie

Steiners Wandel vom Theosophen zum Anthroposophen verlief ganz ähnlich seinem Übergang von der Goethe-Philologie und Philosophie zur Theosophie. Nach außen manifestierte er sich als abrupte Veränderung, nämlich in dem Austritt nicht nur Steiners sondern der gesamten Deutschen Sektion aus der theosophischen Muttergesellschaft und der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft zum Jahreswechsel 1912/13. Und wie die Theosophie von 1904 ein literarisches Dokument des ersten Wandels darstellt, so fand auch der zweite Entwicklungsschritt einen symptomatischen Ausdruck in einem Buch, welches freilich unvollendet blieb und zu Steiners Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde: der Anthroposophie von 1910, die als zweite Schrift Steiners zur Anthropologie in diesem Band abgedruckt ist.

Trotz ihres unvollendeten Charakters dokumentiert diese Schrift wie kaum ein anderer Text aus Steiners Feder sein intensives Bemühen, das in den theosophischen Quellen vorliegende Material inhaltlich und sprachlich so weiterzuentwickeln bzw. umzuformen, dass daraus nicht nur, wie noch in der Theosophie (und selbst noch in der Geheimwissenschaft von 1910), eine sprachlich und methodisch neu gestaltete und philosophisch stärker reflektierte, steinersche Form von Theosophie wurde, sondern eine tatsächliche ideengeschichtliche Weiterentwicklung, die eine eigene Bezeichnung rechtfertigte.

Nach Steiners eigener Auffassung setzte der Prozess der Umwandlung der Theosophie zur Anthroposophie allerdings nicht erst um 1910 ein oder gar erst 1913 mit der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft, sondern schon zu Beginn seiner theosophischen Laufbahn. In einem biographischen Rückblick des Jahres 1923 berichtet er von einem Vortragszyklus mit dem Titel Entwicklungsgeschichte der Menschheit an der Hand der Weltanschauungen von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposophie, den er schon im Jahr seines Beitritts zur Theosophischen Gesellschaft und zeitgleich mit der Begründung von deren deutscher Sektion gehalten und darin bereits eine eigenständige und von der Theosophie methodisch unabhängige Form von ›Geisteswissenschaft‹ vertreten habe (GA 258, 44). Da aber die Theosophenschaft das einzige Publikum gewesen sei, welches sich damals in Deutschland überhaupt für Fragestellungen wie die seinigen interessierte, habe er vor seiner neuen Zuhörerschaft zunächst nur in der Sprache und über die Dinge reden können, welche in diesen Zirkeln üblich waren. Sein Ziel jedoch sei von Anfang an gewesen, die Theosophie Besants und Blavatskys von innen her umzuformen und er habe von Anfang an die Hoffnung gehegt, »daß allmählich der anthroposophische Inhalt der Lebensinhalt der Theosophischen Gesellschaft überhaupt werden« könne (ebd., 110).

Unglücklicherweise gibt es keine Mitschriften oder sonstige Zeugnisse des oben erwähnen Vortragszyklus aus dem Jahr 1902. Betrachtet man jedoch Steiners Ausführungen über die »Entwicklungsgeschichte der Menschheit« in seiner Christentums-Schrift von 1902 oder auch in dem frühen Vortrag über Frühere Gottesvorstellungen (GA 88, 210–206), so kann man sich ein gutes Bild davon machen, was Steiner in diesem Zyklus wahrscheinlich vorgetragen haben wird. Wie bei diesen Gelegenheiten wird es auch in Steiners allererstem Vortragszyklus über Anthroposophie um die Frage gegangen sein, inwiefern die »Weltanschauungen von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart« als ein Spiegel der Entwicklungsgeschichte der Selbsterkenntnis des Geistes im Menschen verstanden werden können.

Zum Zeitpunkt der Abfassung der Anthroposophie waren bereits sechs Jahre der intensiven Auseinandersetzung mit theosophischen Inhalten vergangen. Mit der Vollendung der Geheimwissenschaft um 1909 war die Phase der theosophischen Theorieaneignung und -umbildung in gewissem Grade abgeschlossen und ausgereizt, und in den Ausführungen, welche jetzt die Seiten von Steiners Anthroposophie-Schrift füllten, trat ganz Neuartiges hervor. Die charakteristischen Grundaspekte seiner bisherigen theosophischen Theoriebildung, die ›Wesensgliederlehre‹ und die ›Dreiweltentheorie‹, waren als solche kaum noch zu erkennen; statt dessen entwickelte er seine Anschauungen jetzt auf der Grundlage einer völlig neuartigen Sinneslehre, innerhalb derer neben den traditionellen Sinnen weitere, leibliche, seelische und geistige Sinne unterschieden wurden. Steiner hatte diese Sinneslehre zum ersten Mal in einem Vortragszyklus des Jahres 1909 entwickelt, der anlässlich der Generalversammlung der deutschen Sektion gehalten wurde und der ebenfalls den programmatischen Titel Anthroposophie trug. Auf den Generalversammlungen der beiden folgenden Jahre führte er dieses Projekt weiter und hielt Vorträge über Psychosophie (1910) und Pneumatosophie (1911). Die drei Vortragszyklen zusammen geben eine gute Vorstellung von der ganz neuen methodischen Ausrichtung, die Steiner damals in den Blick nahm und welche er offenbar in einer Trilogie von Schriften formulieren wollte, innerhalb der die Anthroposophie von 1910 den ersten Teil bilden sollte (vgl. GA 45, 213 f.).

Die geplante Trilogie wurde jedoch nie geschrieben. Und auch ihr erster Teil, die Anthroposophie von 1910, blieb unvollendet liegen und wurde erst 1951 als ein Text aus dem Nachlass zum ersten Mal veröffentlicht. In den ihm nach der Abfassung noch verbleibenden 15 Jahren seines Lebens hat Steiner zwar seine anthroposophischen Anschauungen sowohl theoretisch in einem Vortragswerk von beträchtlichem Umfang nach vielen Richtungen hin ausbauen als auch praktisch durch Anwendung auf die verschiedensten gesellschaftlichen und kulturellen Praxisfelder fruchtbar machen können; aber eine definitive schriftliche Darstellung anthroposophischen Denkens, die seiner Philosophie der Freiheit, seiner Theosophie oder seiner Geheimwissenschaft an Geschlossenheit und Kohärenz gleichkäme, hat er nicht vorgelegt.

Angesichts dieser Tatsachen drängt sich die Frage auf, ob vielleicht, trotz der oben erwähnten, vergleichsweise breiten gesellschaftlichen Akzeptanz für Waldorfschulen, biodynamische Landwirtschaft und anthroposophische Medizin, das Kernprojekt ›Anthroposophie‹ mit seinem Anspruch, die Grundlagen eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas entwickelt zu haben, möglicherweise ebenso gescheitert und Torso geblieben ist, wie das gleichnamige Fragment aus dem Jahre 1910. Mit gleichem Recht könnte allerdings auch umgekehrt gefragt werden, ob diese Unabgeschlossenheit der Theoriebildung, dieses Fehlen eines definitiven und vollständigen ›Werkes‹ zur Anthroposophie von Rudolf Steiner weniger als Zeichen eines Scheiterns dieses Projekts zu verstehen ist, sondern vielmehr als Ausdruck der Natur dessen, worum es im anthroposophischen Denken eigentlich geht. Es wäre zu fragen, ob die Idee von anthroposophischer Geisteswissenschaft, wie sie Steiner vorschwebte, sich vielleicht prinzipiell dagegen verwahrt und verwahren muss, als abgeschlossenes Gedankengebäude, als festgeschriebenes und festschreibendes ›Werk‹ aufzutreten? – Steiner selbst hat sich vielfach dahingehend geäußert, dass Darstellungen im Sinne seiner Vorstellung von ›Anthroposophie‹ nicht die Aufgabe hätten, allgemeine Wahrheiten in allgemein-gültiger Form an ein allgemeines Publikum zu vermitteln, sondern sich vielmehr, als Schilderungen der Erkenntniserlebnisse eines Individuums, an Individuen richteten, um in diesen je ganz individuelle Entwicklungs- und Erkenntnisprozesse anzuregen. Und dass die so in jedem Menschen angeregte eigene Welt- und Menschenerkenntnis wiederum notwendig eine je individuelle Form annehmen müsse, um genuin zu sein. Diese Auffassung von der notwendig individuellen und erlebnishaften Natur einer jeden Erkenntnis des Geistigen deutete sich schon in Steiners frühen Texten an. So schrieb er bereits 1894 an seine damalige Freundin Rosa Mayreder: »Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen« (GA 39, 233). Der gleiche Gedanke zeigt sich ferner in der im vorliegenden Band herausgegebenen Theosophie, wenn Steiner seinen Lesern versichert, in der Schrift finde sich »nur in diesem Sinne Selbsterlebtes«, welches umgekehrt auch vom Leser wieder »erlebt werden« müsse, um irgendeinen Sinn zu haben (TH, XII).

Solche lebensphilosophisch und existentialistisch anmutenden Äußerungen reiben sich freilich mit dem Anspruch des späteren Steiner, dass Anthroposophie trotz dieser subjektivistischen und individualistischen Ausrichtung als Wissenschaft auftreten könne. Ferner bestand Steiner darauf, dass der oben umrissene Charakter anthroposophischer Texte niemals eine Rechtfertigung für unkritischen Umgang, blindgläubige Akzeptanz oder autoritätsgläubige Apologetik bilden dürfe. Die Anthroposophie von 1910 etwa lädt den Leser ausdrücklich zur Prüfung ihrer Aussagen durch kritisches und logisches Denken ein und geht davon aus, dass sachlich unzutreffende Aussagen und Fehler in anthroposophischen Texten mittels »des gesunden Wahrheitssinnes und der unbefangenen Logik immer festzustellen« seien (AN, 11). In dieser Spannung zwischen einem auf Goethe und Nietzsche verweisenden Individualismus und einem im deutschen Idealismus verwurzelten Wissenschaftsanspruch bewegen sich bis heute sowohl das anthroposophische Selbstverständnis als auch die akademische Debatte um Charakter und Validität von Steiners theoretischem Werk.

Steiners Anthropologie in der neueren Forschung

Die kritische Literatur zu den beiden in diesem Band vorgelegten Schriften Steiners ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr spärlich. Zwar liegt ein reiches binnenanthroposophisches Schrifttum zu den einzelnen Themen der Theosophie und der Anthroposophie vor, zur Reinkarnationslehre etwa oder zu den ›Wesensgliedern‹, besonders auch zur Sinneslehre, aber eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Texten bzw. eine historische oder werkbiographische Kontextualisierung findet hier in der Regel nicht statt. Diese Literatur sei daher an dieser Stelle ausgeklammert und einer gesonderten Untersuchung vorbehalten.

 

Kritische Literatur zu Steiners Theosophie

Innerhalb des akademischen Diskurses über Steiner kann man die Arbeiten, die sich speziell dessen theosophischer Phase, seiner Rolle innerhalb der Theosophical Society und dem Thema der Umwandlung der Theosophie zur Anthroposophie widmen, an einer Hand abzählen. Während die Goethe-Studien Steiners schon seit einem guten Jahrhundert Gegenstand kritischer Forschung sind und während seit der Studie Philosophie und Anthroposophie von Hartmut Traub (2011) auch sein philosophisches Werk ins Blickfeld der akademischen Forschung geraten ist, steckt die kritische Literatur über Steiners theosophische und anthroposophische Schaffensphase derzeit noch in den allerersten Anfängen. Einige brauchbare Untersuchungen sind im Kontext religionsgeschichtlicher Studien zu Steiners esoterischen Vorstellungen entstanden, etwa Anthroposophie und Gnostizismus (1992) von Thomas Geisen oder Anthroposophie und Christentum (1993) von Klaus Bannach. Allerdings unterscheiden diese, wie die Titel bereits andeuten, nicht ausdrücklich zwischen dem theosophischen und dem anthroposophischen Denken bei Steiner, was ihre Brauchbarkeit für das Verständnis der steinerschen Entwicklung einschränkt. Die Arbeit Helmut Zanders, Anthroposophie in Deutschland (AiD) aus dem Jahre 2007, schuf hier Abhilfe, indem sie ausführlich Steiners Verhältnis zur theosophischen Strömung von einer historischen Perspektive aus untersuchte und dabei generell zwischen einer theosophischen und einer anthroposophischen Phase im steinerschen Werk differenzierte. Allerdings lässt Zanders Arbeit dezidierte inhaltliche und stilistische Untersuchungen zum Verhältnis dieser beiden Werkepochen vermissen und die Frage, worin sich die ›Anthroposophie‹ Steiners von seiner ›Theosophie‹ unterscheidet, bleibt auch hier weitgehend unbeantwortet.

Neben diesen großangelegten Untersuchungen wurden im Rahmen der neuesten Esoterikforschung in den letzten Jahren auch einige präliminarische Studien veröffentlicht, die sich dezidiert dem theosophischen Element in Steiners Entwicklung widmen, etwa von Olav Hammer, Katharia Brandt und Egil Asprem, über die noch zu sprechen sein wird. Diese Arbeiten machen Hoffnung, dass ein Verständnis der Eigentümlichkeit des theosophischen Denkens bei Steiner in Zukunft zum selbstverständlichen Thema im akademischen Diskurs um Rudolf Steiner und sein Werk gehören wird.

Die textkritische Auseinandersetzung mit Rudolf Steiners Theosophie setzte genau ein Jahrhundert nach deren erstem Erscheinen ein, als Daniel Hartmann zum einhundertsten Erscheinungsjubiläum der Schrift im Jahr 2004 eine textkritische Edition derselben herausgab. Diese Ausgabe darf als Meilenstein der kritischen Steinerforschung gelten, denn sie war die erste textkritische Edition eines steinerschen Textes überhaupt. Zuvor hatte es nur Materialsammlungen zu bestimmten Schlüsselschriften Steiners sowie Reprints von wichtigen Erstausgaben gegeben. Durch Hartmanns Ausgabe wurde zum ersten Mal anschaulich, in welchem Maße Steiner in seine eigenen Texte nachträglich eingegriffen hat und welche Chancen für die Steinerforschung in der genaueren Untersuchung dieser Textentwicklung liegen. Hartmann edierte den Text auf eine Weise, in der sämtliche Textvarianten aus den verschiedenen Neuauflagen synoptisch in den fließenden Lesetext integriert wurden, so dass die verschiedenen Versionen simultan gelesen werden konnten. Dadurch wurden zwar die Textvarianten deutlich, aber der Text als solcher war weitgehend fragmentiert und eine flüssige zusammenhängende Lektüre der Schrift damit erschwert. Auch ließen Hartmanns begleitende Betrachtungen zur Textentwicklung eine historische oder werkgenetische Kontextualisierung vermissen und berücksichtigten an keiner Stelle Steiners intellektuelle Verwurzelung im deutschen Idealismus oder das theosophische Umfeld, aus und in dem das Buch entstand.

Diese Lücke, welche Hartmann offengelassen hatte, versuchte drei Jahre später der Historiker Helmut Zander in seiner oben erwähnten Studie zu schließen. Diese enthielt eine eingehende Darstellung und Analyse von Steiners intellektueller Entwicklung, besonders auch seines ›Wegs in die Theosophie‹ (ebd., 545–570), und bot auf der Grundlage dieser Analysen eine etwa zehnseitige Interpretation der Theosophie und ihrer Textentwicklung (ebd., 570–580). So ergiebig aber Zanders Studie im Hinblick auf den sozialen und historischen Kontext war, in welchem die Theosophie entstand, ignorierte sie die besonderen stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten des Buches, die gedanklichen Eigenleistungen Steiners gegenüber der theosophischen Tradition und die dichtgewobene Intertextualität der Theosophie mit Steiners früheren, besonders auch den philosophischen Veröffentlichungen. Ausgehend von diesem Ansatz formulierte Zander folgende Zentralthesen:

(1) Steiners Hinwendung zur Theosophie um die Jahrhundertwende sei nur durch die Annahme einer ›Konversion‹ zu erklären (AiD, 568), durch die er mit dem kritisch-idealistischen Denken seiner vortheosophischen Zeit radikal gebrochen habe.

(2) Steiner habe die grundlegenden theosophischen Lehrinhalte erst zur Zeit seines Beitritts kennen gelernt bzw. sie sich erst im Prozess des Schreibens seiner Theosophie und ihrer Neuauflagen angeeignet (572).

(3) Steiner habe sich mit dieser Schrift als eigenständiger Esoteriker zu profilieren gesucht, wobei er die theosophischen Lehrinhalte aus den Schriften Blavatskys, Sinnetts und Besants übernommen, dann aber diese »Leseerfahrungen« sich selbst und seinen Lesern gegenüber »als eigenes Erlebnis ›übersinnlicher Welten‹ gedeutet« habe (ebd).

(4) Dasjenige in der Schrift, was nicht originär theosophischen Ursprungs ist, wird grundsätzlich nicht als originelle Denkleistung Steiners angesehen, sondern als Ergebnis der Rezeption sonstiger Quellen aufgefasst (574), auch wenn solche Quellen konkret nicht benannt werden können.

(5) Die Theosophie weise keine klare Struktur auf, sondern sei in der für Steiner typischen »additiven« Kompositionsweise entstanden, in welcher theosophische Inhalte, wie sie Steiner in seiner Lektüre eben entgegentraten, »in bunter Folge« (571), d. h. ohne Rücksicht auf ihren systematischen Zusammenhang, aneinandergereiht bzw. in »nervöser Kombinatorik« (566) zusammengestellt worden seien.

Zander kommt zu dem Fazit, dass die steinersche Theosophie ausschließlich aus der Rezeption und Adaption theosophischer Literatur hervorgegangen sei und dass seine früheren Begegnungen mit Goethe, dem deutschen Idealismus oder der Mystik bei ihrer Entstehung keine signifikante Rolle gespielt hätten.

Diesen Ergebnissen wurde von anthroposophischer Seite in massiver Weise entgegengetreten. Auf akademischer Seite hingegen wurde Zanders Studie überwiegend positiv rezensiert und gilt heute allgemein als Standardwerk zum Thema; nennenswerte weitere Forschungsarbeiten wurden durch sie jedoch bisher nicht angeregt.

Einen dritten Weg schlug Robin Schmidt in seiner Arbeit über Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie (2010) ein. Anhand historischer Dokumente und unter Berücksichtigung von Steiners Veröffentlichungen und Selbstzeugnissen hat Schmidt diesen Weg detailliert nachgezeichnet und besonders diejenigen Stationen genauer betrachtet, die bei Zander weniger Beachtung finden oder völlig fehlen, ohne auf der anderen Seite in eine rein binnenanthroposophische oder apologetische Haltung zu verfallen. Schmidt widersprach der Deutung Zanders vor allem in folgenden Punkten:

(1) Steiner habe die theosophischen Lehren nicht erst zur Jahrhundertwende kennen gelernt, sondern zu diesem Zeitpunkt auf eine fünfzehnjährige, intensive und existentiell gefärbte Vertrautheit mit der Theosophie und ihren führenden Vertretern zurückblicken können.

(2) Steiners philosophisches Denken der achtziger Jahre sei bereits so stark mystisch geprägt und seine Bekanntschaft mit der Theosophie und ihren Vertretern schon damals so profund gewesen, dass die Charakterisierung seiner Hinwendung zur Theosophie als ›Bruch‹ oder ›Konversion‹ nicht sachgemäß erscheint.

(3) Steiner habe bereits in den neunziger Jahren einen ausgeprägten Esoterik-Begriff entwickelt, welcher seinen Beitritt zur Theosophie nachvollziehbar macht und seine Esoterik als Versuch einer Synthese von Mystik und Wissenschaft oder, genauer, einer Erweiterung empirisch-methodischer Wissenschaft durch die Legitimierung ›inneren‹ bzw. ›mystischen‹ oder ›übersinnlichen‹ Erlebens als genuiner Quelle wissenschaftlichen Erfahrungswissens erscheinen lässt.

Neben diesen theosophiehistorischen Studien Schmidts zu Steiner hat in jüngerer Zeit auch innerhalb der akademischen Esoterikforschung ein Diskurs zu diesem Themenbereich begonnen. Von diesen seien im Folgenden exemplarisch zwei charakteristische Arbeiten kurz betrachtet, und zwar ein Buchkapitel von Olav Hammer und Katharina Brandt über Steiner als Repräsentant der theosophischen Kulturströmung, Rudolf Steiner and Theosophy, veröffentlicht im Handbook of the Theosophical Current (2013) sowie ein Kapitel aus Egil Asprems Buch The Problem of Disenchantment (2014), in dem ein Vergleich zwischen den Erkenntnismethoden Rudolf Steiners und Alister Crowleys gezogen wird.

Hammer und Brand geben in ihrem Artikel eine knappe und gut lesbare Übersicht über Steiners Entwicklungsgang und formulieren im Hinblick auf den Übergang zur Theosophie die folgende These:

Obwohl Rudolf Steiner sein Werk nicht in einer Weise darstellen wollte, als speise es sich aus idealistischen und orientalischen Quellen, ließ er es doch zu, sich durch die orientalisierende theosophische Weltanschauung inspirieren und formen zu lassen. Theosophische Vorstellungen und Steiners frühere philosophische Unternehmungen befruchteten sich gegenseitig [...]. Im Verlauf dieses Prozesses begrifflicher Überlagerung wurden die Grundlagen für Steiners erste anthroposophische Bücher gelegt. (Hammer/Brandt [2013], 118)

Wenn es allerdings darum geht, diesen Gedanken einer ›gegenseitigen Befruchtung‹ von Philosophie und Theosophie zu konkretisieren, schildern Hammer und Brandt nicht die tatsächlichen konzeptionellen Zusammenhänge zwischen Steiners theosophischen Aussagen und seinen früheren philosophischen Überzeugungen, sondern interpretieren Steiners Vorgehen nur ganz allgemein als charakteristisches Beispiel einer ›Rhetorik der Abgrenzung‹:

Anthroposophie entwickelte sich, indem sie zum Teil Vorstellungen aufnahm, die im okkulten und theosophischen Milieu um 1900 kursierten, sich zum Teil aber von eben diesen Vorstellungen dann wieder abgrenzte. In dieser Hinsicht folgte Steiner einem Modell der Identitätsstiftung, das aus der Religionsgeschichte gut bekannt ist. [...] Ein Schlüsselelement in dem, was wir eine ›Rhetorik der Abgrenzung‹ nennen wollen, ist die Tatsache, dass Steiner seine weltgeschichtlichen, menschenkundlichen oder christologischen Anschauungen als Resultat einer quasi-wissenschaftlichen visionären Methode hinstellte, die einem sorgfältig kontrollierten Erkenntnisprozess entsprungen sein sollten. Steiner stellte die Einzelheiten dieser Methode in verschiedenen Werken um die Jahrhundertwende dar, und bis heute wird das Vorhandensein einer solchen visionären Technik von solchen Kommentatoren, die der Anthroposophie wohlwollend gegenüberstehen, als Schlüsselargument dafür hervorgehoben, dass Anthroposophie ein einzigartiger spiritueller Pfad sei. Steiner mag einige Elemente theosophischer Theorie benutzt haben, so dieses binnenanthroposophische Argument, aber er habe es nur getan, um Ideen zu vermitteln, die originär seine eigenen waren und die er mittels seiner hochentwickelten Fähigkeit zu übersinnlicher Wahrnehmung entdeckt habe. (ebd., 118 u. 128 f.)

Hammer und Brandt verfolgen also das von ihnen aufgestellte allgemeine Postulat, dass die theosophischen Texte Steiners aus einem Prozess gegenseitiger Befruchtung esoterischer und philosophischer Vorstellungen hervorgegangen seien, im Detail nicht weiter. Dies leistete, zumindest in Ansätzen, Egil Asprem in einem Kapitel zu Steiner in seinem Buch The Problem of Disenchantment (2014). Asprem versucht dort nachzuzeichnen, dass es gerade Steiners philosophische Interessen und Anschauungen waren, die ihm die Theosophie attraktiv erscheinen ließen und auf welche Weise er sich von der Arbeit mit esoterischen Vorstellungen ganz neue Möglichkeiten einer Verfolgung dieser Interessen versprach. Er schreibt:

Die Betonung der Spannung zwischen individueller Freiheit und Naturgesetz war ein zentrales philosophisches Problem, mit dem Steiner sich in seiner Doktoraldissertation von 1892, Wahrheit und Wissenschaft, auseinandergesetzt hatte, wie auch in seinem philosophischen Hauptwerk, welches darauf folgte, der Philosophie der Freiheit (1894). Das Problem übernahm Steiner hauptsächlich aus der Tradition des deutschen Idealismus und suchte es durch eine Auseinandersetzung mit den Werken Fichtes, Schopenhauers und Nietzsches zu lösen. Nachdem er jedoch den Okkultismus entdeckt hatte, begann Steiner nach neuen Wegen zu suchen, die mit Freiheit, Erkenntnis und Naturgesetzlichkeit verbundenen Probleme zu lösen. (Asprem [2014]), 519)

Asprem verweist insbesonders auf die Theosophie als einen solchen Versuch Steiners, die philosophischen Fragen seines Frühwerks weiter zu verfolgen:

In seinem Buch Theosophie lehrt Steiner beispielsweise, dass die höhere Wahrnehmung dem Individuum dabei helfe, sich von ›äußerlichen‹ Erscheinungen, Zwängen und Einschränkungen zu befreien, indem es sich auf das ›unvergängliche‹ und ›ewige‹ innere ›Ich‹ konzentriere. Esoterisches Wissen über das Selbst wird so ein Weg zu absoluter Freiheit, denn »Freiheit ist Handeln aus sich heraus. Und aus sich darf nur handeln, wer aus dem Ewigen die Beweggründe schöpft.« Verbunden damit ist eine im Wesentlichen platonische Moraltheorie, denn Steiner betont, dass übersinnliches Schauen es möglich mache, die ewigen Gesetze des rechten Handelns zu sehen, die ausdrücklich mit den Gesetzen der Mathematik verglichen werden. Wenn man fähig ist, die ewigen und wahren Gesetze von zufälligen Leidenschaften und Bedürfnissen zu unterscheiden, die aus der Beziehung des Leibes zu äußerlichen Dingen entspringen, dann kann der Eingeweihte sich wahrhaft dafür entscheiden, höheren Prinzipien zu folgen. Nach solchen höheren Prinzipien zu handeln, ist die einzig wahre Freiheit. (ebd.)

Aber nicht nur den Freiheitsbegriff des frühen Steiner, auch dessen ontologischen Monismus findet Asprem in den theosophischen Texten nach 1904 wieder. So referiert er Steiners Haltung zum ontologischen Verhältnis zwischen den verschiedenen, innerhalb der theosophischen Lehre unterschiedenen Welten folgendermaßen:

Es gibt [nach Steiner] wirkliche Unterschiede zwischen der Gestaltung von geistigen und materiellen Dingen, aber dies sind keine wesenhaften Unterschiede. Die Trennung zwischen geistigen und materiellen Wirklichkeiten ist somit mehr eine epistemologische Hürde als eine wirkliche ontologische Differenz. (ebd., 521)

Eine eingehende Untersuchung des Prozesses der »gegenseitigen Befruchtung« von Philosophie und Esoterik in Steiners Werk hätte natürlich tiefer auf diese Dinge einzugehen, als Asprem dies in seinem kurzen Kapitel leisten kann. Auch wäre, neben dem Einfluss von Steiners philosophischem Denken auf seine Theosophie, auch umgekehrt die Befruchtung seiner Philosophie in ihren verschiedenen Phasen durch mystische und esoterische Vorstellungen zu untersuchen. Dennoch hat Asprem mit seinen Andeutungen auf eine Linie hingedeutet, welche fruchtbar für das Verständnis der Entwicklung Steiners erscheint und die daher, in Verbindung mit dem von Schmidt geschaffenen historischen Rahmen, der leitende systematische Gesichtspunkt der weiter unten folgenden Darstellung von Steiners Weg aus der Philosophie in die Theosophie und von dort aus in die Anthroposophie sein soll.

 

Kritische Literatur zu Steiners Anthroposophie

Während zur Theosophie zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenigstens einige alternative Deutungsansätze vorliegen, findet sich die bisher einzige kritische Analyse des Anthroposophie-Fragments von 1910 in dem dieser Schrift gewidmeten Kapitel von Helmut Zanders Anthroposophie in Deutschland. Diese nimmt allerdings, obwohl es sich um Steiners erste und einzige schriftliche Darstellung seines Anthroposophiebegriffs und mit Sicherheit um einen der schwierigsten bzw. anspruchsvollsten Texte aus Steiners Feder handelt, bei Zander nur knappe zwei Seiten ein. Seine Lektüre endet in der These, dass der im Fragment entwickelte Begriff von ›Anthroposophie‹ mit der gleichnamigen, von Steiner nach 1914 entwickelten Welt- und Menschenanschauung, »nichts zu tun« habe (AiD, 675). Das konzediere nicht nur der Herausgeber des entsprechenden Bandes der Gesamtausgabe, Cornelius Bohlen, sondern das sei auch Steiners eigene Auffassung gewesen: »Auch Steiner war der Meinung«, schreibt Zander, »dass er erst später die ›eigentliche Anthroposophie gegeben‹ habe (GA, 322, 106)«. Die Schrift sei nicht als theoretischer Neuansatz gegenüber der Theosophie zu sehen, sondern als ein weiterer Versuch Steiners, sich innerhalb des theosophischen Rahmens zu profilieren. Ihre Fertigstellung sei daher 1913, nach der Abspaltung von der Theosophical Society, überflüssig geworden.

Wer allerdings die Vortragsnachschrift in GA 322 konsultiert, sucht vergeblich nach der von Zander zitierten Aussage. Steiner spricht in diesem rückblickenden Vortrag vom 2. Oktober 1920 in keiner Weise davon, dass er eine »eigentliche Anthroposophie«, die in dem Fragment von 1910 noch nicht enthalten gewesen wäre, erst später »gegeben« hätte. Vielmehr erhebt er den umgekehrten Anspruch: dass er nämlich die »eigentliche Anthroposophie« bereits 1909 in der dem Buch vorausgegangenen Vortragsreihe Anthroposophie umrissen habe, und dass es ihm später nicht gelungen sei, diese damals mündlich entfaltete »eigentliche Anthroposophie« auch in dem ein Jahr später geschriebenen Buch adäquat darzustellen. – Ein weiterer Blick in GA 45 zeigt, dass der Herausgeber des Bandes, Cornelius Bohlen, keineswegs der Ansicht ist, dass der Text von 1910 mit Steiners späterer Anthroposophie »nichts zu tun habe«. Vielmehr schreibt Bohlen:

So kam es, dass die bereits weitgehend gedruckte Schrift liegen blieb. Wie in den Selbstzeugnissen am Ende dieser Ausgabe nachzulesen, sollte es dabei bleiben: auf der einen Seite war die Darstellung nicht in eine gültige Form zu bringen, auf der anderen Seite bezeichnete Steiner sie [die Darstellung von 1910, C.C.] noch 1920/21 als die »eigentliche Anthroposophie«, die immer noch zu Ende zu schreiben sei. (GA 45, 7)

Darüber hinaus formuliert Zander ein grundsätzliches Urteil über den Stil und die Originalität der Schrift. Er moniert eine auch in anderen Schriften Steiners zu konstatierende »Tendenz zur additiven Verfertigung von Büchern«, erkennt die im Text formulierte Theorie von zehn menschlichen Sinnen nicht als originale Gedankenschöpfung Steiners an und diskutiert eine Reihe von möglichen Quellen, ohne allerdings ein konkretes Vorbild ausmachen zu können: »Die Herkunft dieser Sinneslehre ist unklar;« so Zanders Fazit, »sie dürfte aber aus der Physiologie des 19. Jahrhunderts stammen und hängt möglicherweise mit Konzepten Franz Brentanos oder Herbarts zusammen.«

Eine inhaltliche und stilistische Analyse bestätigt die steinersche Selbsteinschätzung, dass in den Ansätzen von 1909 und 1910 in der Tat schon die »eigentliche Anthroposophie« dargestellt worden ist, die dann später breit entfaltet wurde; sicherlich nicht formvollendet und inhaltlich nur in Ansätzen, aber doch ihrem eigentümlichen Charakter nach. Bei aller Fragmentarität der Anthroposophie scheint das Charakteristische anthroposophischer Gedankenentwicklung, mit dem Steiner sich substantiell über das theosophische Denken hinaus entwickelt hat und das den Vortragsstil seiner späteren Zeit in unverkennbarer Weise prägt, an verschiedenen Stellen des Fragmentes deutlich auf. Wer wissen möchte, wie Rudolf Steiner seine Anthroposophie von der Öffentlichkeit aufgefasst und verstanden haben wollte, wird sich somit, trotz ihres unvollendeten und skizzenhaften Charakters, an die Schrift von 1910 (und die wenigen Texte in ihrer Nachfolge) zu halten haben, nicht aber, wie in der bisherigen Anthroposophieforschung zumeist geschehen, an das zwar unvergleichlich umfassendere, an Illustrationen und Applikationen reiche und zweifellos ›sensationellere‹ Vortragswerk. Denn dieses war nicht für die außeranthroposophische, und schon gar nicht für die kritisch-akademische Rezeption bestimmt, sondern für die meditative und erkenntnisschulische Arbeit innerhalb der Mitgliederschaft. Das Anthroposophie-Fragment hingegen war ausdrücklich für die Veröffentlichung bestimmt und an das allgemeine Lesepublikum gerichtet. Es spricht somit vieles dafür, diese Schrift entgegen der Deutung Zanders als wichtigen Grundtext für das Verständnis des steinerschen Anthroposophiebegriffs anzusehen und sie in der Steinerforschung deutlich stärker heranzuziehen als bisher.

 

Rudolf Steiners ›Weg in die Theosophie‹

Als Helena Petrowna Blavatsky 1875 eine Bezeichnung für die von ihr und ihren Anhängern ins Auge gefasste Gesellschaft brauchte, suchte sie nach einem Wort, welches zum Ausdruck bringen sollte, dass es in der zu gründenden Gesellschaft nicht primär um die Formulierung neuer Erkenntnisse und Theorien gehen sollte, sondern darum, eine zu allen Zeiten und in allen Kulturen bestehende ›ewige Weisheit‹ oder philosophia perennis wiederzuentdecken und diese dann, unter anderem auch als Antwort auf die damals schwelende Debatte um den Spiritismus, an ein allgemeines Publikum zu vermitteln. Dieses verlorengegangene ›uralte Wissen‹ sollte, so Blavatskys Anspruch, eine plausible Erklärung geben für die in allen damaligen Medien kontrovers diskutierten spiritistischen Phänomene und diese zugleich mit modernem, naturwissenschaftlichem Denken vereinbaren bzw. irrtümliche Anschauungen der Naturwissenschaft korrigieren helfen. Auf der Suche nach einer passenden Bezeichnung für die postulierte Weisheitstradition soll sie, so der offizielle Gründungsmythos, die Seiten eines Wörterbuches durchgeblättert und bei dem Eintrag ›theosophy‹ hängen geblieben sein.

Mit ihrer Deutung des Begriffes ›Theosophie‹ als Bezeichnung für ein universelles, in allen Zeiten und Kulturen nachzuweisendes und in der Neuzeit weitgehend verloren gegangenes mystisch-monistisches Verständnis des Seins und des Menschens standen Blavatsky und ihre Anhänger Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs allein da. Auch im etablierten akademischen Diskurs der Zeit wurde der Begriff in ganz ähnlicher Weise verwendet, wenn auch ohne die für die theosophischen Autoren charakteristische ideologische Vereinnahmung desselben für den eigenen weltanschaulichen Standpunkt. Otto Willmann etwa benutzt in seiner vielgelesenen und auch von Steiner geschätzten und oft zitierten Geschichte des Idealismus den Begriff ›Theosophie‹ für eine ganze Reihe von idealistisch geprägten Weltanschauungen, die zu einer Aufhebung der Trennung zwischen individuellem und universellem Geist tendieren und damit den menschlichen Geist in die Nähe des göttlichen Geistes rücken. Willmann hatte keine Skrupel, so unterschiedliche Texte wie die Upanishaden und die Texte des Vendanta, die Lehre der Essäer und die jüdische Kabbalistik, aber auch die Philosophie eines Plotin oder die Mystik eines Meister Eckhart unter dem Begriff ›Theosophie‹ zu subsumieren. In diesem Zusammenhang unterschied er freilich, als guter Katholik, zwischen einer akzeptablen, von christlicher Theologie zu billigenden Theosophie, in der »Gott als die letzte Quelle und der höchste Gegenstand der Weisheit« erkannt und verehrt werde, und einer vom christlichen Standpunkt abzulehnenden, in welcher der menschliche Geist »sich eine mit Gott geteilte und zur Gottgleichheit führende Weisheit anmaßt« (Willmann I, 166). Ein anderes generelles Kennzeichen theosophischen Denkens war für Willmann wie auch Blavatsky der konsequent durchgehaltene ontologische Monismus, welcher die von der tradierten christlichen Lehre geforderte grundsätzliche Seinsdifferenz zwischen Gott und Welt bzw. zwischen Gott und Mensch in Frage stellte. Blavatsky freilich und die sich ihr anschließenden modernen Theosophen hatten eben diesen für den christlichen Theologen Willmann unakzeptablen ›häretischen‹ Monismus im Auge, wenn sie von ihrer ›modernen Theosophie‹ als einer keineswegs neuen Weltanschauung, sondern einer dem modernen Denken gemäßen Erneuerung einer alten und seit jeher im orientalischen wie im abendländischen Denken nachzuweisenden Geistesströmung sprachen. Und auch für Rudolf Steiner sollte der Begriff ›Theosophie‹ zum Synonym für einen Monismus werden, mit dem die traditionellen anthropomorphen und dualistischen Gottesvorstellungen der monotheistischen Volksreligionen nicht vereinbar waren. In der steinerschen Theosophie sollte der freie, sich selbst verwirklichende Mensch die Rolle Gottes als Schöpfer der Wirklichkeit übernehmen und alle Gottesvorstellungen als in ein imaginatives Jenseits projektierte Veräußerungen des eigenen schöpferischen Wesenskerns begreifen lernen.

 

Mesmerismus und Spiritismus als

Vorbereiter der modernen Theosophie

Der unmittelbare geistesgeschichtliche und sozio-kulturelle Boden, aus dem die ›moderne Theosophie‹ letztlich hervorging, bestand weder in der über Böhme vermittelten westlich-christlichen Theosophie, noch in der Tradition des philosophischen Monismus oder in der orientalischen Mystik und überhaupt in keiner der von den Theosophen als Ausdruck der postulierten philosophia perennis identifizierten Weltanschauungen. All diese Autoren und Schulen wurden erst nachträglich von Blavatsky und den übrigen theosophischen Autoren zu Zeugen der behaupteten historischen Verwurzelung ihrer Vorstellung herbeigerufen. Die unmittelbaren Wurzeln bzw. Vorläufer der von Blavatsky inaugurierten Bewegung lagen vor allem in den Kulturströmungen des Mesmerismus und des Spiritualismus.

Der von Franz Anton Mesmer (1734–1815) ins Leben gerufene Mesmerismus, auch als ›animalischer Magnetismus‹ bekannt, war eine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in weiten gesellschaftlichen Kreisen praktizierte und in Kunst, Literatur und Wissenschaft stark rezipierte Kulturerscheinung. Mesmer hatte ein Menschenbild entwickelt, welches von der Existenz eines im menschlichen Leib wirksamen magnetischen ›Fluidums‹ ausging, einer Art ›Lebenskraft‹, welche von entsprechend geschulten bzw. natürlich begabten Menschen mittels hypnotischer Einflussnahme manipuliert werden könne. (Im englischen Sprachraum ist der Begriff ›mesmerizing‹ noch heute weit verbreitet und bedeutet soviel wie »in den Bann ziehend, faszinierend«.) Durch die Manipulation des Fluidums im Zustand der Hypnose, das sogenannte ›Mesmerisieren‹ oder ›Magnetisieren‹, sollten nach Mesmer zunächst vor allem Krankheiten geheilt werden können. Später trat innerhalb der Bewegung zu dieser therapeutischen Funktion der weitere Aspekt, dass die mesmerisierten Personen offenbar in mediumnistische Bewusstseinszustände versetzt werden konnten, in welchen sie bisher ungekannte, übernatürliche Erfahrungen machten. Der Mesmerismus wurde somit als Therapie diskutiert und praktiziert und galt zudem als eine Methode der Bewusstseinserweiterung und Erforschung des Unbewussten bzw. Übersinnlichen.

Eine zweite Generation von Mesmeristen versuchte Ende des 19. Jahrhunderts, das erweiterte Menschenbild des Mesmerismus nicht nur an westlich-naturwissenschaftliche Vorstellungen anzupassen, sondern für die Konzeption des ›Fluidums‹ auch historische Vorbilder in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Strömungen wie dem Alchemismus und dem Paracelsismus, im Kabalismus und in der fernöstlichen Mystik zu finden. Die später für die theosophische Bewegung charakteristische Form historischer Traditionskonstruktionen hatte also hier ein unmittelbares Vorbild: Ähnlich wie später Blavatsky, Besant und Steiner ihre Vorstellungen in allen möglichen historischen Vorgängern vorgebildet fanden, so hatten schon die Mesmerismen ihre Ideen über das magnetische Fluidum und dessen Zentren im menschlichen Leib im ›spiritus vitae‹ des Paracelsus, in der Lebenskraft (›Ka‹) der Ägypter, im indischen ›Prana‹, im ostasiatischen ›Chi‹ und in der tantrischen Vorstellung der ›Chakren‹ vorgebildet gesehen.

Noch bedeutender aber als der Mesmerismus war für die Entstehung der anglo-indischen Theosophie das Aufkommen des Spiritismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dessen Geschichte begann 1848 im Bundesstaat New York, im Farmhaus des Bauern John Fox, als dessen Töchter seltsame Klopfgeräusche im Haus zu vernehmen meinten und dann sogar mit den mysteriösen Klopfern zu kommunizieren anfingen. Die Angelegenheit beschäftigte zunächst Freunde und Nachbarn, wurde dann von der Presse weitergegeben und löste einen Ansturm von Menschen aus, die sich selbst von den ruchbar gewordenen übersinnlichen Phänomenen überzeugen wollten. Bald wollte man auch an anderen Orten ähnliche Phänomene nachgewiesen haben und eine Welle der Begeisterung für unerklärliche Phänomene, vom ›Klopfen‹ und ›Tischerücken‹ über ›Visitationen‹ von Geistern verstorbener Freunde und Verwandte, rollte über Amerika und bald auch Europa hinweg.

Das Phänomen des Spiritismus ließ und lässt sich nicht damit erklären, dass einige Scharlatane mit zweifelhaften Methoden und Täuschungen eine unkritische Menge von spirituell heimatlosen Leichtgläubigen zu blenden vermocht hätten. Auch eine Erklärung als bloß irrationale Gegenreaktion auf den Siegeszug des Rationalismus und des Materialismus im 19. Jahrhundert, der zur Erosion religiöser und spiritueller Gewissheiten geführt hatte, griffe zu kurz. Vielmehr ist der Spiritismus, wie Robin Schmidt schlüssig formuliert hat, als ein durch alle Gesellschafts- und Bildungsschichten gehender Versuch zu verstehen, sich

unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts mit den alten Themen wie Körper und Geist, Leben und Tod, Endzeit und Fortschritt, Jenseits und Diesseits zu befassen. Der Spiritismus war eine Antwort auf die Sehnsucht, die im 19. Jahrhundert sich vollständig trennenden Erfahrungswelten von Wissenschaft, Lebenswelt und Religion neu zu verbinden – und dies unter Aspekten der Moderne selbst: Wissenschaftlichkeit, Fortschrittsidee, Rationalität, Autonomie und Individualisierung waren gleichermaßen Schlagworte des Spiritismus wie der Moderne selbst. (RST, 18)

Es traf am Ende des 19. Jahrhunderts also nicht einfach eine wissenschaftlich-kritische Modernität auf eine sich nach verlorener transzendenter Geborgenheit sehnende Blindgläubigkeit. Vielmehr zeigte sich, ganz ähnlich wie schon im Mesmerismus, dass grundsätzliche Fragen und Erkenntnisbedürfnisse für viele Menschen der Zeit offenbar weder von der positivistischen Wissenschaft noch von den traditionellen Religionen zufriedenstellend beantwortet werden konnten – und man daher nach einer Weltanschauung suchte, welche sowohl das wissenschaftlich-kritische Denken und die Autonomie des Individuums anerkennen und zugleich die spirituellen Bedürfnisse der Zeit befriedigen konnte. Mesmerismus und Spiritismus können somit als sozio-kulturelle Symptome einer »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Georg Lukács) der modernen westlichen Kultur verstanden werden, welche der spirituellen Geborgenheit und der damit verbundenen Unmündigkeit früherer Kulturstufen entwachsen war und nach einer neuartigen Intergration von logos und sophia verlangte, welche die traditionellen sinnstiftenden Institutionen (Religion und Wissenschaft) nicht mehr bzw. noch nicht geben konnten. Die Theosophien Blavatskys, Besants, Steiners und anderer traten offen mit dem Anspruch auf, das beschriebene geistige Vakuum mit einer zeitgemäßen, Rationalität und Spiritualität harmonisierenden Weltanschauung erfüllen zu können und damit zugleich Erklärungen zu liefern für die im Mesmerismus und Spiritismus aufgetretenen übersinnlichen Phänomene, die anscheinend weder durch Predigten noch durch wissenschaftliche Experimente wegzuerklären waren.

 

Die Entwicklung der modernen Theosophie in Deutschland

bis zu Rudolf Steiners Beitritt

In diesem ideengeschichtlich aufgeladenen Klima erfolgte, wie bereits erwähnt, 1875 in New York die Gründung der Theosophical Society. Sie war das Ergebnis der Begegnung H. P. Blavatskys mit Henry Steel Olcott, die sich in bedeutungsträchtiger Weise auf der Farm der Familie Fox ereignete, dem Geburtsort der spiritistischen Bewegung. Olcott ließ sich von Blavatsky davon überzeugen, dass die spiritistischen Phänomene zum überwiegenden Teil keine Botschaften von Verstorbenen aus dem Jenseits waren, sondern Phänomene, die jeder gute Mesmerist durch Beherrschung des ›Fluidums‹ sowie durch seelische und geistige Manipulation von Medien bzw. des Publikums hervorzubringen in der Lage sei. Um die beiden bildete sich bald ein Kreis von Gleichgesinnten, der sich zum Ziel setzte, ein Forum für die wissenschaftliche Erforschung und Erklärung der spiritistischen Phänomene zu schaffen. Die erste offizielle Publikation der neuen Bewegung, Blatavskys Isis Unveiled von 1877, versuchte durch eine Sichtung der philosophischen, theologischen und wissenschaftlichen Traditionen in Ost und West herauszuarbeiten, worin genau die postulierte ›universelle und ewige Weisheit‹ bestehen sollte und diese in den Diskurs zwischen den Spiritisten und ihren Kritikern einzubringen. Dabei stellte Blavatsky schon in dieser ersten Schrift den Anspruch, dass ihre Einsichten nicht von ihr stammten, sondern von sogenannten Mahatmas oder ›Meistern‹ – also von geistig hoch entwickelten Individuen, welche ihr, sei es durch unmittelbare Inspiration oder durch physische Übermittlung in geheimnisvollen Briefen, den Inhalt ihrer Darstellungen in die Feder diktierten. Diesen Anspruch auf einen ›übersinnlichen‹ Ursprung ihrer Vorstellungen behielt sie für alle folgenden Veröffentlichungen bei und etablierte damit eine Tradition, die von den nachfolgenden theosophischen Autoren fortgeführt wurde.

Die in der Isis noch vorherrschende Ausgewogenheit in der Behandlung westlicher und östlicher Traditionen begann schon bald einer Bevorzugung der fernöstlichen Mystik Platz zu machen. Bereits Ende der 1870er Jahre fand eine Vereinigung der Theosophical Society mit der hinduistischen Reformbewegung Arya Samja statt. 1879 verlegten dann Blavatsky und Olcott ihren Wohnsitz und damit das Hauptquartier der Gesellschaft nach Indien, zuerst nach Bombay und später nach Adyar (daher die Bezeichnung ›Adyar-Theosophie‹ für die auf Blavatsky zurückgehende Strömung). In Indien stieß der Journalist Alfred Sinnett zu der Bewegung und lieferte schon bald die nächsten wichtigen Publikationen, in welcher die künftige theosophische Lehre zum ersten Mal konkrete systematische Gestalt annahm: The Occult World (1881) und Esoteric Buddhism (1883). Während erstere Schrift im Grunde größtenteils in einer Schilderung der ›Meister‹ und der besonderen Art ihrer übernatürlichen Kommunikation bestand (auch Sinnett behauptete, all seine Informationen aus dieser Quelle erhalten zu haben), formulierte der Esoterische Buddhismus die charakteristischen Kernthemen der künftigen theosophischen Doktrin und somit auch das inhaltliche Grundgerüst der theosophischen Schriften Rudolf Steiners. Die Inhalte der Schrift wurden bei Sinnett allerdings nicht mehr so deutlich wie noch in der Isis in die Tradition einer globalen und überzeitlichen Weisheitstradition gestellt; statt dessen wurden sie als geheimes Wissen einer in Tibet lokalisierten ›weißen Loge‹ von ›Meistern‹ charakterisiert.

Die nächste wegweisende theosophische Publikation, Blavatskys The Occult Doctrine (1887), nahm sowohl die zentralen Inhalte der Schrift Sinnetts sowie seine Tendenz zur Orientalisierung der ›ewigen Weisheit‹ auf und unterzog beides einer ausführlichen Erweiterung und Vertiefung. Nicht nur stellte sie die theosophische Lehre jetzt vornehmlich in den Kontext buddhistischer, hinduistischer und tantrischer Traditionen, sondern konzipierte auch das Werk insgesamt als ausführlichen Kommentar zu einem angeblich uralten tibetischen Text, den sogenannten Dhyan Stanzen, die physisch zwar nicht vorlagen, von denen Blavatsky aber in Anspruch nahm, sie gesehen und studiert zu haben. Die östliche Weisheits-Tradition wurde so zunehmend innerhalb der Adyar-Theosophie als maßgeblich und der westlichen überlegen betrachtet.

Dies warf bald schwerwiegende Fragen auf, besonders unter den in Europa verbliebenen Mitgliedern. Zum einen vertraten Persönlichkeiten wie George Wyld und Anna Kingsford innerhalb der britischen Gesellschaft die Auffassung, in Europa und Amerika seien nicht die indischen, sondern die westlichen intellektuellen und spirituellen Traditionen, besonders auch ein esoterisch verstandenes Christentum, zur Grundlage der theosophischen Arbeit zu machen. Andere fragten, wie diese beiden Positionen mit dem theosophischen Grundsatz vereinbar seien, das »keine Religion über der Wahrheit« und damit auch keine der historisch gewachsenen spirituellen Traditionen über der anderen stehen dürfe. Auch die Frage nach der Bedeutung der individuellen kulturellen Prägungen einzelner Nationen wurde bewegt: Konnte Theosophie, trotz ihres universalistischen Anspruchs, auch eine spezifisch indische, angloamerikanische oder deutsche Ausprägung annehmen? Der Streit um diese Fragen führte bald zu Fraktionsbildungen und Abspaltungen. Die bereits 1895 erfolgende Abspaltung der amerikanischen Theosophen unter William Quan Judge und dessen Nachfolgerin Katherine Tingley, die Gründung der sogenannten Quest Society durch George Robert Stow Mead im Jahre 1909 und auch Steiners Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft zum Jahreswechsel 1912/13 gehören in diese Geschichte kulturideologisch begründeter Abspaltungen innerhalb der Theosophie.

Ein zweiter zentraler Konflikt innerhalb der theosophischen Bewegung war der ›Hodgson-Bericht‹, durch den die sogenannte ›Coulomb-Affäre‹ an eine breite Öffentlichkeit gelangte. Die 1882 gegründete und von Spiritisten wie Wissenschaftlern angesehene Londoner Society for Psychical Research, die sich um die wissenschaftliche Untersuchung spiritistischer Phänomene bemühte, wurde damit beauftragt, die sagenumwobenen mediumistischen Fähigkeiten Blavatskys sowie die mysteriösen Umstände um die sogenannten ›Meister-Briefe‹, die vorgebliche Quelle der theosophischen Anschauungen, zu untersuchen. Blavatsky war von verschiedenen Seiten, vor allem aber von den ehemaligen Angestellten und Vertrauten Emma und Alexis Coulomb, schwer belastet worden. Der 1885 erschienene Bericht Richard Hodgsons wirkte sich für die Theosophische Gesellschaft katastrophal aus, denn die Fähigkeiten Blavatskys und die ›Meister-Briefe‹ wurden darin im Wesentlichen als Manipulationen und Betrügereien bewertet. Das öffentliche Ansehen der Gesellschaft wurde schwer beschädigt und ein massiver Mitgliederschwund setzte ein. Bedeutsam war auch, dass infolge des Skandals die »gesellschaftliche Innensicht und der Blick der Außenwelt auf die Theosophische Gesellschaft auseinander zu fallen begannen« (RST, 46 f.). D. h. die Sachlage wurde innerhalb der Theosophie esoterisch begründet und legitimiert, nämlich als von der ›materialistischen Wissenschaft‹ und von ›okkulten Widersachermächten‹ gesteuerte Gegnerschaft, während die Außenwelt die Sache ausschließlich am Maßstab naturwissenschaftlicher und juristischer Kategorien bewertete und die theosophische Innenperspektive (insbesonders bezüglich der Quellen des theosophischen Wissens) nicht ernsthaft zu erwägen bereit war. So wurden die Theosophie und später auch die Anthroposophie von Seiten der akademischen Wissenschaft, wenn überhaupt, fast ausschließlich aus historischer Perspektive erforscht und eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung findet erst in neuester Zeit statt.

Infolge des Skandals kehrte Blavatsky nach Europa zurück und verblieb in London, wo sie 1891 starb. Danach fiel die Leitung der Gesellschaft zunächst an Olcott; doch neben diesem stieg bald die charismatische Frauenrechtlerin Annie Besant zur einflussreichsten Persönlichkeit und führenden Theoretikerin innerhalb der Adyar-Theosophie auf und wurde nach Olcotts Tod 1907 Präsidentin der Gesellschaft. Dieser Generationswechsel leitete eine neue Phase innerhalb der Entwicklung der Adyar-Theosophie ein und in den neunziger Jahren wurde ein neues Organisationsmodell für die Gesellschaft entwickelt und etabliert. Es gab, unter dem Dach einer internationalen Muttergesellschaft, verschiedene Sektionen, und unter diesen war eine die europäische Sektion, in der einzelne nationale Logen oder Ländergesellschaften in relativ unabhängiger Weise, nach Maßgabe der jeweiligen lokalen Gegebenheiten, arbeiteten.

Schon vor ihrer Ernennung zur Präsidentin war Besant als führende Theoretikerin innerhalb der Theosophical Society aufgetreten. An ihre Seite trat später Charles Leadbeater, dem ungewöhnliche hellseherische Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Besant und Leadbeater verfassten in den Jahren von 1894 bis 1897 sieben theosophische Handbücher (Theosophical Manuals), ein zusammenfassendes Lehrwerk, The Ancient Wisdom (1897), sowie eine Reihe weiterer Schriften und Vortragsmitschriften, welche die Lehrinhalte der Gesellschaft auf den neuesten Stand brachten, systematisierten und in einer leichtverständlichen populären Art darstellten. So wurde den von unübersichtlicher Detailversessenheit, überbordender Kommentar- und Interpretationsfreudigkeit, polemischen Abschweifungen sowie einer insgesamt unsystematischen und oft konfusen Darstellungsweise geprägten dickleibigen Schriften Blavatskys eine gut lesbare theosophische Standardliteratur zur Seite gestellt, die denn auch von einer breiten Leserschaft rezipiert wurde. Zugleich sprachen Besant und Leadbeater nicht mehr ausschließlich von den ›Meistern‹ als einziger Quelle theosophischen Wissens, sondern behaupteten die Möglichkeit, dass jeder Mensch mittels einer entsprechenden Schulung die Fähigkeit zu übersinnlicher Wahrnehmung erwerben und sich so von der Wahrheit der theosophischen Lehren selbst überzeugen könne.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund sei nun ein Blick auf die Entwicklung in Deutschland geworfen. Hier war 1879 die erste unabhängige Loge Isis in Hamburg gegründet worden. Die erste Loge unter dem Dach der Theosophical Society hingegen war die Theosophische Sozietät Germania, die 1884 in Elberfeld mit dem deutschen Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden als Präsident gegründet wurde. Zu dieser Loge stieß auch Franz Hartmann, der später eine eigene Richtung von Theosophie vertrat und eine bedeutende Anhängerschaft hinter sich versammeln konnte. Bedeutsam war auch die Gründung der Theosophischen Gesellschaft in Wien 1886 durch Friedrich Eckstein, einen Freund und engen Vertrauten Steiners. 1892 fand eine weitere Gründung statt, nämlich die der Theosophischen Vereinigung in Berlin, wiederum durch Hübbe-Schleiden. Dies war die Gruppe, durch die Rudolf Steiner 1902 offiziell in die theosophische Arbeit einstieg.

All diese Gruppierungen waren eigenständige Vereinigungen, entweder völlig unabhängig oder nur lose unter dem Dach der Theosophical Society organisiert. Ein institutioneller Anschluss deutscher Theosophen an die Adyar-Gesellschaft fand erst 1894 statt, indem die oben erwähnte Berliner Theosophische Vereinigung sich der Europäischen Sektion der Gesellschaft eingliederte, die ihren Sitz in London hatte. Daneben existierten weiterhin unabhängige Logen und Vereinigungen, deren einflussreichste in den Gefolgschaften von Franz Hartmann und Katherine Tingley bestand. Aber auch Richard Bresch, Vorsitzender der Loge in Leipzig und Herausgeber der theosophischen Zeitschrift Der Vahan, Ludwig Deinhard, Leiter eines Münchner Zweiges und Mitarbeiter der Sphinx sowie der Unternehmer Günther Wagner waren führende Persönlichkeiten im theosophischen Umfeld, die allesamt als potentielle Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs einer zu gründenden deutschen Sektion galten. Während sich in anderen europäischen Nationen nach und nach unabhängige Landesgesellschaften formierten, kam eine solche Bildung in Deutschland lange Zeit nicht zustande. Zwar waren um 1900 die von den Statuten her geforderten sieben Landeslogen vorhanden (Berlin, Charlottenburg, Dresden, Hannover, Hamburg, Leipzig und München), aber es gab unterschiedliche Auffassungen darüber, wer eine solche Landesgesellschaft führen sollte und wie diese ideologisch ausgerichtet sein sollte: Hübbe-Schleiden etwa vertrat die Auffassung, dass vor einer solchen Gründung die Aufgabe der wissenschaftlichen Rechtfertigung der Theosophie zu leisten sei und bestand darauf, wie später auch Rudolf Steiner, dass eine deutsche Theosophie vor allem auf dem kulturellen Erbe der deutschen Geistesgeschichte begründet werden müsse; andere vertraten eine eher orientalisierende Richtung nach dem Vorbild Blavatskys und Besants. Hinzu kam, dass die an Adyar orientierten Logen in Konkurrenz standen mit den unabhängigen und zahlenmäßig stärkeren Gruppierungen hinter Franz Hartmann und Katherine Tingley.

In dieser Situation erschien um die Jahrhundertwende Rudolf Steiner auf der Bühne der theosophischen Vereinigungslandschaft. Aufgrund einiger Vortragsreihen in der theosophischen Bibliothek in Berlin stieg er innerhalb kurzer Zeit zu einer unter deutschen Theosophen weithin bekannten Persönlichkeit auf und wurde bald als potentielles Mitglied, ja als Kandidat für die Leitung einer zu gründenden Landesgesellschaft gehandelt. Sein offizieller Beitritt am 11. Januar 1902 fiel in eine Zeit intensiver Diskussionen und Rangeleien darum, welche Persönlichkeit mit dieser Aufgabe am besten zu betrauen sei. Ergebnis der Verhandlungen war, dass man sich sehr bald darauf einigte, Rudolf Steiner das Amt des Generalsekretärs der zu gründenden Landessektion anzutragen. Steiner wurde um den 26. April 1902 vorgeschlagen und muss spätestens am 6. Mai seine Zusage gegeben haben. Am 22. Juli wurde, per Anzeige im Vereinsorgan Der Vahan, die Sektionsgründung offiziell von Olcott genehmigt und Steiner wurde als designierter Generalsekretär genannt. Die eigentliche Gründung fand dann im Oktober statt; dazu reiste Besant persönlich nach Berlin und überreichte Steiner die offizielle Charter.

Steiners erste Begegnungen mit Theosophen

während der achtziger Jahre

Der überraschend schnelle Aufstieg Steiners vom Außenstehenden und Kritiker der Theosophie zu deren führendem Vertreter in Deutschland erinnert in mancher Hinsicht an seine zwei Jahrzehnte zuvor erfolgte und für viele überraschende Berufung zum Herausgeber einer kritischen Goethe-Ausgabe, ohne dass er einen akademischen Abschluss oder irgendwelche Editionserfahrung gehabt hätte. Und ähnlich wie diese Berufung dadurch erklärlicher wird, dass Steiner um 1882 zwar keine umfassende Goethe-Kenntnis, wohl aber eine tiefe Vertrautheit mit der Ideenwelt des deutschen Idealismus vorweisen konnte, so wird auch sein verhältnismäßig schneller Aufstieg in der Theosophischen Gesellschaft verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass er zum Zeitpunkt seines Beitritts mit deren Lehrmeinungen und führenden Vertretern bereits seit gut zwei Jahrzehnten bestens bekannt war. Schon während der achtziger Jahre in Wien hatte er Kontakte zu prominenten Vertretern der theosophischen Bewegung geknüpft und zu einigen von ihnen engere persönliche Beziehungen aufgebaut. Auch eine theoretische Kenntnis der theosophischen Weltanschauung kann spätestens für das Jahr 1885 vorausgesetzt werden: Steiner hat zu dieser Zeit nach eigenem Bekunden die theosophischen Standardwerke von Alfred Sinnett und Mabel Collins nicht nur rezipiert, sondern auch an Bekannte weiterempfohlen.

Dieser frühen Begegnung Steiners mit der Theosophie ist Robin Schmidt in seiner Studie Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie (2010) ausführlich nachgegangen und hat damit die Grundlage gelegt zur Korrektur eines bis dahin maßgeblich durch Zander geprägten Bildes von Steiners ›Weg in die Theosophie‹. Dessen These, dass Steiner sich die Inhalte der Theosophie erst nach der Annäherung an die Theosophical Society und dann im Prozess der Abfassung eigener theosophischer Schriften ab 1904 sukzessive angeignet habe, ist im Lichte von Schmidts Untersuchung nicht länger haltbar. Steiners Beitritt von 1902 und sein baldiger Aufstieg zum führenden Vertreter der Theosophie in Deutschland waren, so abrupt und unerwartet sie aus der Außenperspektive erscheinen mögen, vom Gesichtspunkt seiner geistigen Entwicklung aus schlüssige Konsequenzen einer beinahe zwanzigjährigen Beschäftigung mit den Themen, Problemen und Vertretern der theosophischen Weltanschauung.

Auch Steiner selbst sprach rückblickend von »intimen Beziehungen«, die er in den achtziger Jahren mit der sich gerade formierenden Wiener Theosophischen Gesellschaft aufgenommen habe. Über den Spiritismus und die sich formierende Theosophie wurde damals in weiten Kreisen diskutiert. Selbst ein so etablierter Philosoph wie Eduard von Hartmann, den Steiner damals glühend bewunderte und mit dem er in persönlichem Kontakt stand, schrieb 1885 eine ausführliche Rezension von Sinnetts Esoterischem Buddhismus sowie eine populäre Schrift über den Spiritismus, die Steiner mit Sicherheit gekannt hat. Das Buch Sinnetts ist Steiner, nach seiner Autobiographie Mein Lebensgang, zu dieser Zeit von einem nicht namentlich genannten Freund überreicht worden, mit dem er nach eigenem Bekunden damals viel über esoterische Fragen, vor allem aber über die Reinkarnationstheorie diskutierte. Dieser Freund war mit großer Wahrscheinlichkeit Friedrich Eckstein, ein gebildeter und in der Wiener Gesellschaft allgemein bekannter Esoteriker, mit dem Steiner eine enge Freundschaft verband. Eckstein war, wie bereits erwähnt, der Begründer und erste Präsident der Wiener Theosophischen Gesellschaft und pflegte persönliche Bekanntschaften mit Blavatsky, Besant, Olcott, Sinnett und anderen prominenten Theosophen. Über ihn wird Steiner wahrscheinlich schon in den achtziger Jahren ausgiebig und aus erster Hand über die Inhalte der Theosophie und ihre öffentlichen Vertreter informiert gewesen sein. Und auch zu Fragen der esoterischen Dimension im Werk Goethes war Eckstein, wie Steiners Briefwechsel zeigt, ein interessierter und kundiger Gesprächspartner.

Weitere theosophische Kontakte hatte Steiner in dieser Zeit durch seine Zugehörigkeit zu einem Zirkel von Künstlern und Gebildeten, der sich in Wien um Marie Lang gebildet hatte. Hier verkehrten neben Eckstein, der Steiner wahrscheinlich in den Kreis einführte, der oben erwähnte Franz Hartmann und Graf Karl zu Leiningen-Billheim, seines Zeichens Sekretär der Wiener Theosophischen Gesellschaft. Auch andere Mitglieder des Kreises waren an spiritistischen und theosophischen Themen zumindest interessiert und esoterische Inhalte wurden in den häufigen, bisweilen täglich stattfindenden Treffen des Kreises intensiv diskutiert. Ein weiteres Mitglied des Kreises um Lang war Rosa Mayreder, eine ebenfalls an der Theosophie interessierte Künstlerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, zu der Steiner eine tiefgehende Freundschaft entwickelte. Steiner nahm an den theosophischen Gesprächen dieses Kreises nicht nur kühl distanziert teil; in einem Brief des Jahres 1891 an Pauline Specht, in dem er auf jene Zeit zurückblickte, spricht er von einem »Untertauchen in das mystische Element«, in welchem er »eine Zeitlang in Wien fast besorgniserregend geschwommen habe.« Deutlicher als alle biographischen Zeugnisse sprechen Steiners Texte aus dieser Zeit von diesem »Untertauchen«. Seine Schriften zu Goethe aus den achtziger Jahren und seine philosophischen Veröffentlichungen in den Neunzigern machen deutlich, dass sich Steiner bereits vor seiner Begegnung mit der Theosophie denkerisch in einem ›mystischen Element‹ bewegte, welches sich damals jedoch noch vorwiegend der Sprache des deutschen Idealismus bediente. Seine Begegnungen und Freundschaften mit Theosophen und Theosophinnen während seiner Wiener Zeit waren ganz sicher auch Ausdruck dieser Affinität seines mystisch geprägten philosophischen Idealismus zu der mystischen Ausrichtung des theosophischen Denkens.

 

Steiners Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft

Neben dem Aufweis, dass Steiner zum Zeitpunkt seines Beitritts zur Theosophical Society mit deren Lehren und Vertretern bereits bestens bekannt war, ist die Studie Schmidts auch in einer zweiten Hinsicht bedeutsam. Sie zeigt nämlich, dass Steiner bereits in den achtziger Jahren einen deutlich ausgeprägten Esoterik-Begriff entwickelt hatte. Diesen Esoterik-Begriff brachte Rudolf Steiner gewissermaßen im Handgepäck mit, ebenso wie den in seinen philosophischen Schriften entwickelten mystikaffinen Idealismus, als er nach der Jahrhundertwende vor die Frage gestellt wurde, ob er sich vorstellen könne, statt wie bisher als ›Mystiker im Gewand des Philosophen‹, nunmehr gewissermaßen als ›Philosoph im Gewand des Theosophen‹ aufzutreten und sich der Bewegung offiziell anzuschließen. Mit den verschiedenen Inhalten und Problemen der Theosophie war er damals, wie oben dargestellt, bestens vertraut und der darin zum Ausdruck kommenden Mystik gegenüber war er grundsätzlich positiv eingestellt. Andererseits wurde deutlich, dass er gegenüber der Theosophical Society als Institution wie auch gegenüber der Art, wie Theosophie von Persönlichkeiten wie Franz Hartmann in der Öffentlichkeit vertreten wurde, eine tiefsitzende Skepsis hegte und darin eine sich selbst missverstehende Esoterik sah. Wie also kam es dazu, dass Steiner trotz dieser Vorbehalte schließlich doch den Schritt in die Theosophie machte?

Schauen wir für einen Moment auf die Zeit unmittelbar vor diesem Schritt. 1897 hatte Steiner seine Tätigkeit in Weimar beendet. Seine Pläne für eine akademische Laufbahn hatten sich ebenso zerschlagen wie seine Hoffnung, zum Herausgeber der Schriften Nietzsches berufen zu werden. Er ging nach Berlin, wo er hauptsächlich als Herausgeber des Magazins für Literatur, daneben aber auch als Lehrer an einer Berliner Arbeiterschule tätig war. Während dieser Zeit, im September des Jahres 1900, wurden der Graf und die Gräfin Brockdorff, ihrerseits führende Mitglieder der oben erwähnten Berliner Theosophischen Vereinigung, auf Steiner aufmerksam. Beeindruckt von einem seiner öffentlichen Vorträge, schlugen sie dem jungen Redner vor, doch einmal in der Berliner theosophischen Bibliothek zu sprechen, in der damals regelmäßig Vorträge gehalten wurden. Steiner sagte zu und sein Vortrag über Nietzsche kam bei dem vorwiegend theosophischen Publikum so gut an, dass weitere Veranstaltungen vereinbart wurden. Von Oktober 1900 bis April 1901 hielt Steiner einen ganzen Zyklus von Vorträgen, in denen er das Verhältnis zwischen der abendländischen Mystik und dem modernen naturwissenschaftlichen Denken beleuchtete. Diese Vorträge wurden unter dem Titel Die Mystik im Aufgange des abendländischen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung als Buch veröffentlicht. Im kommenden Jahr folgte ein weiterer Zyklus, wieder von Oktober bis April, der ebenfalls zu einem Buch führte: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums. Diesmal beleuchtete Steiner besonders das Christentum und interpretierte dieses (ähnlich wie vor ihm bereits Blavatsky in der Isis und Annie Besant in der Schrift Esoteric Christianity) als einerseits in der geistigen Nachfolge einer mystischen Tradition stehend, die von den Mysterienkulten des Altertums über Platon und den Neuplatonismus zu verschiedenen Formen spätantiker und mittelalterlicher Mystik geführt habe, andererseits aber, nämlich insofern es zur Kirchenbildung geführt hatte, als Verfallserscheinung eben dieser mystisch-gnostischen Tradition, gegen die es fortan als Gegnerin aufgetreten sei.

Theosophische Zuhörer dieser beiden Vortragszyklen empfanden Steiners Darstellungen als kompatibel mit, ja kongenial zu theosophischen Anschauungen und er wurde eingeladen, der Gesellschaft beizutreten. Er zögerte einerseits und wandte ein (nach der Schilderung Marie Steiners): »Das ist unmöglich, denn ich mache einen großen Unterschied zwischen morgenländischer und abendländischer Mystik« (GA 264, 491). »Es würde das, was ich zu vertreten habe, sich einer falschen Beurteilung aussetzen, wenn ich sagen würde: ich will Mitglied sein einer Gesellschaft, welche zu ihrem Schibboleth orientalisierende Mystik hat« (ebd., 406). Andererseits empfand er offenbar sehr deutlich die Affinität seines eigenen Denkens zu den Grundanschauungen der Theosophie und interpretierte die Anfrage der Theosophen anscheinend als eine Art Schicksalsruf: »Die Frage war mir gestellt, und ich konnte, nach den geistigen Gesetzen, beginnen, auf eine solche Frage eine Antwort zu geben« (ebd., 492).

Die Frage, vor die Steiner sich aus seiner Perspektive im Jahr 1902 gestellt sah, könnte folgendermaßen formuliert werden: War es möglich, die stark an orientalischen Vorbildern orientierte und von manchen Theosophen offenbar buchstäblich aufgefasste Begriffs- und Bilderwelt der theosophischen Weltanschauung mittels seines eigenen objektiven Idealismus und gemäß dem eigenen philosophisch geprägten Esoterik-Begriff so zu durchdringen und umzuwandeln, dass Theosophie nicht als unkritisch hinzunehmende Offenbarung, als unverifizierbare Erzählung von einem transzendenten Jenseits aufträte, sondern als Medium der Vermittlung einer spirituellen Selbsterfahrung und einer damit verbundenen Transformation der Erkenntnisfähigkeit, wie Steiner dies in seiner Philosophie der Freiheit ja mit abstrakten philosophischen Gedankengestalten bereits einmal versucht hatte? Und war all dies auf eine Art möglich, in welcher den aus der mystischen Erfahrung stammenden Bildern der Tradition weder »eine abendländische Rationalität aufgepropft« noch in naiv-realistischer Weise »die Bilder für die Sache selbst genommen« werden würden? Ließ sich Theosophie so vermitteln, dass sie nicht als eine Art Ersatzreligion mit dogmatischem Wahrheitsanspruch auftrat, sondern als eine moderne, auf methodischer und kritischer Forschung beruhende Wissenschaft von der Selbsterkenntnis des Geistes im Menschen? Und, vielleicht noch wichtiger: Würde ihm persönlich die Position als Leitfigur der theosophischen Bewegung diejenige geistige Freiheit und Unabhängigkeit gewähren, die, gemäß den Ergebnissen seiner Philosophie der Freiheit, das Fundament aller geistigen Arbeit und Entwicklung ist?

Eine Lösung dieses Dilemmas fand Steiner nach eigener Darstellung in der Vorstellung, dass nicht er es war, der sich der Theosophical Society anschloss, sondern dass umgekehrt die in dieser Gesellschaft aktiven Menschen und somit gewissermaßen die Wirklichkeit selbst an ihn herantrat mit der Aufforderung, in dieser gemäß seinen eigenen Vorstellungen gestaltend tätig zu werden. In seiner Autobiographie schrieb er rückblickend:

dass ich mich nicht einer Gesellschaft eingliederte, sondern dass ich hineinging, um das zu geben, was vorher nicht darinnen war, was sie vorher nicht hatte. Niemals war von meiner Seite irgendein Antrag gestellt worden, Mitglied der Gesellschaft zu werden, sondern ich habe mir gesagt: Wenn die Gesellschaft mich haben will, kann sie mich haben. (GA 264, 164)

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf: Am 11. Januar 1902 trat Steiner der theosophischen Gesellschaft bei und wurde am 17. Januar zum Vorsitzenden der Berliner Loge ernannt. Man hatte ihm offenbar ausreichende Versicherungen gegeben, dass er im Sinne der oben skizzierten Voraussetzungen würde arbeiten können. Hinzu kam wohl auch der Umstand, dass Steiner im Kreis der Berliner Theosophen seine künftige Frau und engste Mitarbeiterin kennengelernt hatte, die junge Theosophin Marie von Sievers. »Wenn sie mitmacht«, soll Steiner gegenüber Graf Brockdorff gesagt haben, »kann man es wagen.« Der bisher als Philosoph und Freidenker bekannte Rudolf Steiner trat von nun an öffentlich als Theosoph und Esoteriker auf.

 

Vom Eintritt in die Theosophical Society

zur Veröffentlichung der Theosophie

Steiners theosophische Wirksamkeit zwischen dem Beitritt zur Gesellschaft und der Veröffentlichung seiner Theosophie im Mai 1904 hatte drei Schwerpunkte. Zum einen nahm er die Aufgabe in Angriff, die bisher immer noch unter dem Dach der europäischen Sektion stehenden deutschen Theosophen in einer unabhängigen Landessektion zu organisieren. Dieser Prozess endete, wie oben bereits angedeutet, im Oktober 1902, als Annie Besant der deutschen Sektion in Berlin ihre Charter überreichte. Ein zweiter Schwerpunkt war eine nunmehr einsetzende umfassende Vortragstätigkeit. Im Mai und April 1902 hielt Steiner Vorträge im Berliner Giordano Bruno Bund, in denen er zum ersten Mal öffentlich als Theosoph an die Öffentlichkeit trat und vor diesem kritisch-wissenschaftlich ausgerichten Forum die Vereinbarkeit der Theosophie mit den Anforderungen modernen wissenschaftlichen Denkens darzustellen versuchte. Ende Juni reiste er dann zur Generalversammlung der europäischen Sektionen nach London und hielt dort, als designierter deutscher Generalsekretär, ein Plädoyer für eine spezifisch deutsche, an die Wurzeln der abendländischen Geistesgeschichte anknüpfende Form von Theosophie. Ab 1903 begann eine intensive öffentliche Vortragstätigkeit, hauptsächlich in Weimar und Berlin, aber auch in Köln und Hamburg. Und im September desselben Jahres begann eine Serie öffentlicher Vorträge im Berliner Architektenhaus, eine Tradition, die Steiner bis 1918 fortsetzte. Im Rahmen dieser Reihe hielt er jedes Jahr 15 bis 20 Vorträge und sprach auf populäre Weise über Grundvorstellungen der Theosophie, deren Verankerung im westlichen Geistesleben und deren Verhältnis zum wissenschaftlichen Denken der Gegenwart. Besonders bedeutsam für die Theosophie war ein Vortragszyklus vom Oktober 1903 bis Februar 1904 in Berlin, in dem Steiner eine erste zusammenhängende Darstellung dessen entwickelte, was später das dritte Kapitel der Theosophie ausmachen sollte, d. h. die Schilderung des seelischen und geistigen Erlebens im ›leibfreien‹ bzw. im ›nachtodlichen‹ Zustand.

Ein drittes Aufgabengebiet neben der Sektionsgründung und der Entfaltung einer regen Vortragstätigkeit suchte Steiner darin, ein monatlich erscheinendes Publikationsorgan für die theosophische Arbeit in Deutschland zu schaffen. Obwohl der von Gräfin Brockdorff herausgegebene Vahan, das Nachfolgeorgan der Sphinx, noch bis 1906 erschien, gab Steiner schon im Juni 1903 die erste Ausgabe einer eigenen Zeitschrift namens Lucifer heraus. In dieser publizierte er vor allem eigene Beiträge, aber auch solche von Marie von Sievers, Ludwig Deinhart und anderen. Wichtige Artikel aus dieser Zeit, in denen Steiner wiederum primär die Theosophie vor dem Forum der Wissenschaft zu rechtfertigen versuchte, waren: Luzifer, Einweihung und Mysterien, Reinkarnation und Karma, Wie Karma wirkt, Theosophie und Sozialismus sowie Theosophie und deutsche Kultur. Im Januar 1904 schloss sich der Lucifer mit der Zeitschrift Gnosis zur Lucifer-Gnosis zusammen. In dieser brachte Steiner zunächst weiter grundlegende programmatische Einzelaufsätze: Von der Aura des Menschen, Die übersinnliche Welt und ihre Erkenntnis, Theosophie und Naturwissenschaft sowie Theosophie und modernes Leben. Ab Juni 1904 wurde die Zeitschrift zum Forum umfassender Artikelserien, aus denen später zentrale Grundschriften der steinerschen Theosophie hervorgehen sollten: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Aus der Akasha-Chronik und Die Stufen der höheren Erkenntnis.

In diesen Vorträgen und Aufsätzen finden sich sämtliche zentrale Inhalte der im Mai 1904 herauskommenden Theosophie bereits dargestellt: die Theorie der Wesensglieder und der Aura, Reinkarnation und Karma, die Darstellung des seelischen und geistigen Erlebens im leibfreien Zustand, die Dreiweltenlehre und der Schulungsweg. Darüber hinaus hatte Steiner bereits im Jahr 1903 einen ausführlichen Entwurf einer theosophischen Kosmogonie und einer darin integrierten Entwicklungsgeschichte der Menschheit entworfen sowie die Grundzüge seiner späteren Hierarchienlehre entwickelt. Die Theosophie erschien jedoch ohne diese drei für die spätere Anthroposophie zentralen Elemente; seine entsprechenden Vorstellungen veröffentlichte Steiner erst später in der Artikelserie Aus der Akasha-Chronik (1905–1908) sowie in seiner Geheimwissenschaft im Umriss (1910). Rückblickend rechtfertigte er diese Verzögerung folgendermaßen:

Ursprünglich war mein Plan, seinen Inhalt [die Kosmogonie samt der Hierarchienlehre und der Menschheitsentwicklung, C.C.] als letztes Kapitel meinem lange vorher erschienenen Buche ›Theosophie‹ anzufügen. Das ging nicht. Dieser Inhalt rundete sich damals, als die ›Theosophie‹ ausgeführt wurde, nicht in der Art in mir ab wie derjenige der ›Theosophie‹. Ich hatte in meinen Imaginationen das geistige Wesen des Einzelmenschen vor meiner Seele stehen und konnte es darstellen, nicht aber standen damals schon die kosmischen Zusammenhänge, die in der ›Geheimwissenschaft‹ darzulegen waren, ebenso vor mir. Sie waren im einzelnen da, nicht aber im Gesamtbild. Deshalb entschloß ich mich, die ›Theosophie‹ mit dem Inhalte erscheinen zu lassen, den ich als das Wesen im Leben eines einzelnen Menschen erschaut hatte, und die ›Geheimwissenschaft‹ in der nächsten Zeit in aller Ruhe durchzuführen. (GU, VII)

Damit wäre unsere Darstellung von Steiners ›Weg in die Theosophie‹ an dem Punkt angelangt, an dem er mit der Theosophie seine erste eigene systematische Darstellung des Gesamtgebietes der theosophischen Anschauungen (wie gesagt, mit Ausnahme der Entwicklungsgeschichte des Kosmos und des Menschen sowie der Hierarchienlehre) vorlegte. Der folgende Abschnitt wird zunächst den Gedankengang der Theosophie in der Erstfassung von 1904 skizzieren und dann einige zentrale Aspekte ihrer späteren Textentwicklung nachzeichnen. Dabei sollen die verschiedenen Entwicklungsstufen der Schrift deutlich werden, die in der bisherigen Rezeption deutlich vernachlässigt worden sind, indem das Buch fast ausschließlich in der letzten Entwicklungsstufe von 1922 gelesen und gedeutet worden ist. Da die Theosophie von 1922 in vieler Hinsicht ein anderes Buch ist, als diejenige von 1904 und auch als die von 1914, wird sich eine solche textgenetische Betrachtung für eine sachgerechte Rezeption als hilfreich erweisen.

 

 

Inhalt und textuelle Entwicklung der Theosophie

Rudolf Steiner knüpfte in seiner Theosophie in vieler Hinsicht an die einschlägige theosophische Literatur seiner Zeit an, insbesonders an die Texte Annie Besants. Aus diesem Grund ist das Buch immer wieder in den Verdacht geraten, eine bloße Imitation, ja ein Plagiat dieser Vorbilder zu sein. Demgegenüber wurde und wird auf anthroposophischer Seite oft behauptet, Steiner habe seine esoterischen Anschauungen ausschließlich auf der Grundlage seiner übersinnlichen Forschungen entwickelt und stehe daher in keinerlei Abhängigkeit von der theosophischen Tradition. Beide Positionen halten einer sachlichen Prüfung nicht stand. Steiner nahm nachweislich konkreten Bezug auf anthropologische Vorgaben bei Blavatsky, Sinnett, Besant und Leadbeater, verfolgte aber von Anfang an einen eigenständigen Zugang zu den theosophischen Inhalten und bildete denselben in den sukzessiven Auflagen der Theosophie immer deutlicher heraus. Dabei suchte er die verschiedenen Inhalte, die von Sinnett und Besant als Offenbarung der ›Meister‹ charakterisiert und ohne weitere Begründung ihren Lesern vorgelegt worden waren, systematisch aus einer phänomenologischen Untersuchung der leiblichen, seelischen und geistigen Alltagserfahrung abzuleiten. Darüber hinaus bot er Denkmöglichkeiten an, wie die in der Vorgängerliteratur relativ unvermittelt nebeneinander stehenden drei-, sieben- und neungliedrigen Hüllenmodelle als kompatibel untereinander und als vereinbar mit seinen eigenen Darstellungen verstanden werden konnten. Der folgende kritische Vergleich der verschiedenen Textschichten macht deutlich, wie Steiner sich zunehmend von theosophischen Denk- und Sprachvorgaben löste und eigenständige Lösungen zu entwickeln suchte.

Die im Verlauf der verschiedenen Auflagen zunehmende konzeptionelle und sprachliche Eigenständigkeit von Steiners spiritueller Anthropologie gegenüber ihren theosophischen Vorläufern ist in der Literatur bisher kaum untersucht worden. Die Gründe dafür müssen freilich teilweise bei Steiner selbst gesucht werden. Zum einen hat er die in frühen Ausgaben seiner Schriften durchaus noch vorhandenen Hinweise auf seine theosophischen Quellen in späteren Bearbeitungen systematisch eliminiert oder unkenntlich gemacht. Ferner hat er die später vollzogene Ersetzung theosophischer Fachterminologie durch Eindeutschungen und sprachliche Neubildungen seinen Lesern gegenüber kaum je transparent gemacht. Eine zentrale Aufgabe der künftigen Forschung bestünde somit darin, den Umgang Steiners mit seinen Quellen sachlich darzustellen und dabei sowohl die zweifelsfrei bestehenden systematischen und terminologischen Abhängigkeiten als auch die zu konstatierenden gedanklichen Eigenleistungen Steiners sauber herauszuarbeiten. Der folgende Überblick versteht sich als erster Schritt in diese Richtung.

 

Von den ›Prinzipien‹ zu den ›Wesensgliedern‹:

Steiners theosophische Menschenkunde

Die theosophische Wesensgliederlehre

Dem heutigen Leser können die verschiedenen Hüllen- und Wesensgliedermodelle der theosophischen Literatur leicht exotisch und als kulturelle Importe fernöstlich-mystischer Provenienz erscheinen. Den Zeitgenossen Steiners ging es vielfach nicht anders. Dennoch haben solche Vorstellungen auch in der abendländischen Ideengeschichte eine lange Tradition und sind besonders charakteristisch für bestimmte sehr einflussreiche Theorien über das Wesen des Menschen in der Antike und im Mittelalter. Schon Platon stellte die Hypothese von drei grundlegenden ›Gliedern‹ oder ›Teilen‹ der menschlichen Seele auf. Die neuplatonische Schule entwickelte diese Vorstellungen weiter und übermittelte sie an das Mittelalter. Platons Schüler Aristoteles formulierte in seiner Schrift Über die Seele (gr.: Περὶ Ψυχῆς, auch unter ihrem lateinischen Titel De Anima bekannt) elaborierte psychologische und geisttheoretische Vorstellungen, welche denen der theosophischen Autoren in mancher Hinsicht nahestehen. Diese aristotelische Anthropologie bestimmte in ganz zentraler Weise das philosophische Denken des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Noch im Paracelsismus finden sich Echos dieses Denkens, freilich modifiziert und erweitert durch hermetische, astrologische, alchemische und andere Einflüsse. Indem die theosophischen Autoren in der Nachfolge Alfred Sinnetts ab 1883 eine auf Vorstellungen indischer Mystik Bezug nehmende Wesensgliederlehre entwickelten, arbeiteten sie somit mit einem Modell philosophischer Anthropologie, welches im westlichen Geistesleben auf eine lange Tradition zurückblicken konnte und dort erst in neuerer Zeit durch cartesianische Erklärungsmodelle verdrängt worden war. Selbst konkrete theosophische Termini wie ›Astralleib‹, ›Äther‹ oder ›Aura‹ stammten aus dieser europäischen Tradition und nicht aus Indien.

Das anthropologische Basismodell der Isis war im Wesentlichen ein trichotomisches in aristotelischer Tradition; es beschrieb den Menschen als ein Wesen aus Leib, Seele und Geist. Blavatsky führte zahllose Beispiele aus der Geistesgeschichte des Ostens und des Westens auf, um diese dreigliedrige Anthropologie als eine in allen Kulturen verbreitete Lehre auszuweisen. Besonders interessierte sie sich dabei für den frühneuzeitlichen Paracelsismus, denn diesen sah sie als unmittelbaren historischen Vorläufer und Inspirator des für sie selbst bedeutsamen Mesmerismus an, wobei sie das ›seelische‹ Prinzip mit dem paracelsischen ›Astralleib‹ und dem mesmeristischen Magnetismus in Verbindung brachte. Der Begriff ›Astralleib‹ verband in der Isis noch diejenigen anthropologischen Bestimmungen, die sich später bei Besant, Leadbeater und Steiner in die Vorstellungen ›Ätherleib‹ und ›Astralleib‹ ausdifferenzierten. Zwar erwähnte schon die Isis auch siebengliederige Hüllenmodelle, aber nur im historischen Referat; zum Kernbestand der ›uralten Weisheit‹ gehörte die Siebengliederung erst seit Sinnetts Esoteric Buddhism.

Blavatsky übernahm dieses siebengliedrige Modell in The Secret Doctrine (vgl. etwa SD, 153), hielt aber daneben weiter an der Trichotomie fest und stellte in ihrem Referenzwerk The Key to Theosophy von 1889 eine anthropologische Ordnung vor, welche beide Modelle vereinte, indem sie nunmehr neun Wesensglieder unterschied, diese aber systematisch aus der ursprünglichen Trichotomie von Leib, Seele und Geist ableitete. Annie Besants erste Darstellung der Prinzipienlehre findet sich im ersten der sieben theosophischen Handbücher, The Seven Principles von 1892. Dabei ignorierte sie die Neufassungen ihrer Lehrerin und hielt sich im Wesentlichen an das siebengliederige Modell Sinnetts. Erst vier Jahre später revidierte sie (im siebten Handbuch, Man and his Bodies von 1896) diese Version in mehreren Punkten: Zum einen galt ihr nun, unter Verweis auf Aussagen Blavatskys, die Lebenskraft (prana) nicht länger als eigenständiges ›Wesensglied‹ oder ›principle‹, und zum andern verwendet sie die Begriffe ›astral body‹ und ›etheric double‹ nicht länger synomym, sondern betrachtet diese als zwei verschiedene Wesensglieder. Dabei ging das ursprüngliche vierte Prinzip (kama) jetzt im ›astral body‹ auf.

 

Steiners Wesensgliederlehre in der Erstausgabe von 1904

Der eigenständige Charakter des steinerschen Zugangs zur theosophischen Lehre von den ›Wesensgliedern‹ bzw. den subtle bodies zeigt sich schon an der Begrifflichkeit. Die theosophischen Autoren vor Steiner sprachen von sieben ›Prinzipien‹ oder ›Ursachen‹ (principles), die das Wesen des Menschen ausmachen sollten; Steiner hingegen redete von ›Gliedern‹ und von ›Hüllen‹ des menschlichen Wesens. ›Prinzipien‹ aber sind unveränderbare Elemente oder Gesetzmäßigkeiten, ein Letztes, auf das man zurückgehen und das auf nichts anderes mehr zurückgeführt werden kann. ›Glieder‹ hingegen sind Aspekte eines Ganzen, wobei die Identifikation eines Gliedes und seine Trennung vom Ganzen letztlich immer eine künstliche, vom Betrachter geschaffene und nur für diesen bestehende ist. Ähnlich ist es mit dem Begriff der ›Hülle‹, der ebenfalls impliziert, dass der jeweils betrachtete Aspekt des menschlichen Wesens nicht an und für sich besteht, sondern nur eine Modalität, eine Art und Weise darstellt, in der dieses Wesen bestimmte Aspekte seiner selbst verhüllt – und sich in dieser Verhüllung zugleich offenbart.

Schon rein begrifflich sind also eine ›Prinzipienlehre‹ und eine Theorie von ›Wesensgliedern‹ bzw. -hüllen zwei ganz verschiedene Dinge. Dem entspricht der weitere Befund, dass die theosophischen Hüllenmodelle als relativ steife Theoriekonstruktion dastehen, während sich Steiners Denkmodelle als elastisch und veränderbar erweisen. So läßt die Theosophie drei-, vier-, sieben- und neungliedrige Modelle nebeneinander gelten als unterschiedliche Weisen, das menschliche Wesen vorzustellen. Was schließlich das steinersche Wesensgliedermodell vollends von der traditionellen theosophischen Prinzipienlehre unterscheidet, ist die Tatsache, dass Steiner immer wieder darauf hindeutet, dass seine Darstellungen in einem transzendentalen (d. h. einem durch die Struktur des menschlichen Erkennens bedingten) Sinne aufzufassen sind, dass also sämtliche Aufgliederungen der als einheitlicher verstandenen Wirklichkeit in verschiedene Seinsebenen, -hüllen und -glieder allesamt als durch und für das erkennende Bewusstsein bestehend aufzufassen sind. Diese Auffassung zeigt sich in vielen Formulierungen der Theosophie, auf die später noch einzugehen ist; Steiner hatte sie schon in seiner Mystik-Schrift von 1901, also vor seinem Eintritt in die TS, im Zusammenhang seiner Schilderung der paracelsischen Wesensgliederlehre unmissverständlich formuliert:

Nichts anderes will Paracelsus mit diesen sieben Grundteilen der menschlichen Natur zum Ausdruck bringen als Thatsachen des äusseren und inneren Erlebens. Dass in höherer Wirklichkeit eine Einheit ist, was sich für die menschliche Erfahrung als Vielheit von sieben Gliedern auseinanderlegt, das bleibt dadurch unangefochten. Aber gerade dazu ist die höhere Erkenntnis da: die Einheit in allem aufzuzeigen, was dem Menschen wegen seiner körperlichen und geistigen Organisation im unmittelbaren Erleben als Vielheit erscheint. (MA, 90)

Das erste und einfachste der Modelle, mit denen Steiner operiert, ist das bereits mehrfach erwähnte dreigliederige Modell von ›Leib‹, ›Seele‹ und ›Geist‹. Dieses trichotomische Modell ist der fundamentale Rahmen, in den bei Steiner alle weiteren Wesensgliedermodelle eingespannt werden, und es ist später auch die Grundlage der Parallelisierung von Anthropologie und Ontologie. Leib, Seele und Geist als Glieder des Menschenwesens sollen, gemäß dem hermetischen Prinzip der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos, den in späteren Kapiteln dargelegten drei grundlegenden Seinsmodi der Wirklichkeit entsprechen: der ›physischen‹ (bzw. ›sinnlichen‹), der ›seelischen‹ (theosophisch: ›astralen‹) und der ›geistigen‹ (theosophisch: ›mentalen‹) Welt.

Dieses dreigliedrige Modell wird dann, in Anlehnung an entsprechende Vorbilder bei Blavatsky, zu einem neungliederigen ausgefaltet, indem jedes der drei Grundglieder wiederum trichotomisch entfaltet wird. Das ›Leib‹-Prinzip transzendiert jetzt die reine Physikalität und manifestiert sich nun allgemeiner als Form- oder Gestaltungsprinzip. Als solches vermag es nicht nur die physische Materie, sondern auch die Sphären des biologischen und des seelischen Lebens in gewisser Weise zu gliedern und kann somit als (1) ›physischer‹ bzw. ›mineralischer Leib‹, als (2) ›Ätherleib‹ oder ›Lebensleib‹ und als (3) ›Astralleib‹ oder ›Seelenleib‹ gefasst werden.

Eine ähnliche Differenzierung wie der Leib-Begriff erfährt auch derjenige der ›Seele‹. Seelisches Leben differenziert sich nach Steiner in gefühls- und empfindungshafte, sinnengebunden-verstandesmäßige und durch sinnlichkeitsfreies Denken und Selbstbewusstheit gekennzeichnete Tätigkeiten. Und indem er diese seelischen Tätigkeiten um der Anschaulichkeit willen gedanklich zu ›Seelenteilen‹ verdinglicht, kommt er zu der Dreigestalt von ›Empfindungsseele‹, ›Verstandesseele‹ (oder Gemütsseele) und ›Bewusstseinsseele‹. Der Leser muss sich dabei immer bewusst sein, dass diese drei Begriffe sich letzlich auf Tätigkeiten beziehen und nicht auf irgendwelche Entitäten. Genau gesprochen, hat der Mensch nach Steiner keine Verstandesseele, sondern ist, indem er Vorstellungen bildet, Verstandesseelentätigkeit. Entsprechendes gilt für die übrigen Wesensglieder.

Auch die geistige Tätigkeit wird in drei grundsätzliche Bereiche aufgeteilt und gedanklich zu Wesensgliedern verdichtet. Sie wird zum einen in ihrer Zentrierung auf das individuelle Subjekt betrachtet, in dem und durch welches die denkende Tätigkeit ihrer selbst bewusst wird, und insofern als ›Geistselbst‹ bezeichnet. In ihrer Eigenschaft als Vermittler zwischen individueller geistiger Aktivität und allgemeiner geistiger ›Außenwelt‹ hingegen, wird sie zum ›Lebensgeist‹. Und in ihrem transsubjektiven Aspekt wird sie, drittens, als ›Geistesmensch‹ beschrieben. Auch im Hinblick auf diese drei geistigen Wesensglieder ist ihre Charakterisierung als ›Teile‹ oder ›Glieder‹ des Geistes wieder nur eine vereinfachende Sprechweise für verschiedene Tätigkeiten und Beziehungsverhältnisse.

Steiner betont im Text immer wieder, dass solche Versuche der begrifflichen Untergliederung des an sich einheitlichen Menschenwesens und der Reifizierung von seelischen und geistigen Tätigkeiten bzw. Prozessen zu ›Wesensgliedern‹ als uneigentliche Sprechweisen aufzufassen seien und daher die verschiedenen Glieder nicht verabsolutiert oder als getrennt voneinander betrachtet werden dürften. Jegliche Reduktion und Versteifung derartiger anthropologischer Betrachtungen auf ein bestimmtes gedankliches Modell wäre somit unsachgemäß. Wie um dies durch ein Beispiel zu illustrieren, verwandelt Steiner selbst im unmittelbaren Anschluss das soeben beschriebene neungliederige Modell durch Zusammenfassung bestimmter Glieder in eine siebengliederige Form (vgl. TH, 42). Ferner fügt er in der Neuausgabe von 1910 noch zwei weitere Metamorphosen der gedanklichen Grundgestalt hinzu, in denen alle geistige Aktivität im ›Ich‹ vereinigt wird, so dass sich die bisherige Gestalt auf ein vierstufiges Modell reduzieren lässt: Physischer Leib, Lebensleib, Astralleib und ›Ich‹ (TH, 43). Dies ist unverkennbar jene Viergliederigkeit, die Steiner in seinem im selben Jahr entstandenen Anthroposophie-Fragment entwickelt hatte. Ausgehend von diesem vierten Modell wird dann noch ein fünftes formuliert, diesmal wieder ein siebengliederiges, indem das so ins Zentrum des Menschenbildes gestellte ›Ich‹ jetzt unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, dass es aktiv und verwandelnd in seelische, geistige und sogar physische Aspekte des menschlichen Lebens einzugreifen vermag. So ensteht das klassisch anthroposophische Bild vom ›Ich‹ als ›Baumeister‹ oder besser als ›Künstler‹, das an seinen verschiedenen Hüllen wie an einem künstlerischen Material ›arbeitet‹ und diese dadurch in Geistiges verwandelt (TH, 45). Das so zustandekommende dynamische Wesensgliedermodell Steiners hat außer der Siebenzahl mit den Prinzipienmodellen Sinnetts und Besants nur noch eine entfernte Ähnlichkeit.

 

Die Textentwicklung des Wesensglieder-Kapitels

Im Folgenden sei skizziert, wie sich das Kapitel zur Wesensgliederlehre in den verschiedenen Neuausgaben der Theosophie verwandelt hat. In der Ausgabe von 1908 werden dem Kapitel zunächst zahlreiche Zusätze hinzugefügt, in welchen Steiner sich bemüht, den Charakter der verschiedenen Wesensglieder und ihre Verhältnisse untereinander deutlicher zu fassen. Einschübe finden sich im Kontext der Darstellung des Ätherleibs (TH, 22 f.), des Seelenleibes (TH, 25), der Bewusstseinsseele (TH, 31) und des ›Ich‹ (TH, 34 f.), ferner zur Klärung des Verhältnisses von ›Ich‹ und Bewusstseinsseele (TH, 36) und zur ›aurischen Hülle‹ (TH, 39). Andere Eingriffe bemühen sich um die Beseitigung von Unklarheiten, welche sich durch den Wortlaut der Erstausgabe ergeben.

Eine zweite Tendenz neben dem Bemühen nach Verdeutlichung und Klärung ist der Versuch Steiners, den spezifischen Charakter des seelischen Erlebens deutlicher zu charakterisieren, gleichzeitig aber die hermetische Analogie zwischen individuellem seelischen Erleben und allgemeiner ›Seelenwelt‹ stärker hervorzuheben. Dabei hebt Steiner in mehreren Einschüben die zentrale Bedeutung des Denkens im geistig-seelischen Haushalt des Menschen deutlicher hervor. Ein ganzer Paragraph wird eingefügt, um darzulegen, dass der Mensch das nüchterne Denken ja nicht gering schätzen dürfe neben dem scheinbar reicheren und lebensvolleren Fühlen und Empfinden. Im Gegenteil seien auch die höchsten Empfindungen und Gefühle des Menschen solche, »welche in energischer Gedankenarbeit errungen« würden (TH, 18 f.).

Ein dritter auffälliger Punkt in der Überarbeitung von 1908 ist die Aufmerksamkeit, die Steiner auf eine deutlichere Differenzierung zwischen tierischem und menschlichem Erleben legt. Während das tierische Leben in der Erstfassung primär durch die Fähigkeit zur Eigenbewegung charakterisiert worden war, definiert Steiner dasselbe nun durchgehend durch die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Innenerlebnis (vgl. TH, 13 u. 14). Auch zur Frage, ob und in welcher Weise Tiere Gedanken haben können, meint Steiner jetzt präziser formulieren zu müssen.

In der Fassung von 1910 finden sich weitere verdeutlichende und erklärende Zusätze im Text, aber der inhaltlich bedeutsamste Zusatz dieser Neuauflage ist zweifellos die oben bereits erwähnte Hinzufügung zweier weiterer Wesensgliedermodelle am Schluss des Kapitels, wodurch die steinersche Anthropologie hier zum ersten Mal ihre spezifisch anthroposophische Gestalt annimmt. Dabei entspricht die nunmehr favorisierte Viergliederigkeit – physischer Leib, Astralleib, Ätherleib und ›Ich‹ – den Ausführungen Steiners in dem zeitgleich entstandenen Fragment Anthroposophie und ist somit im Kontext seiner damaligen Bemühungen um eine Profilierung des anthroposophischen Denkens gegenüber dem theosophischen zu sehen. Mit den Begriffen der ›Tätigkeit‹ und der ›Metamorphose‹ treten sowohl das fichtesche wie das goethesche Element im Denken Steiners wieder deutlich hervor und geben ein gutes Beispiel dafür, wie Steiner die theosophischen Vorbilder von innen heraus gemäß seiner philosophischen Überzeugungen umzugestalten sucht.

Die Neuauflage von 1914 bringt deutlich weniger Zusätze und Erläuterungen und man kann den Eindruck gewinnen, dass Steiner inhaltlich jetzt prinzipiell mit seiner Darstellung der Wesensgliederlehre zufrieden war. Dafür finden sich tiefgreifende Eingriffe auf der terminologischen Ebene. Durchgängig werden die in der theosophischen Fachliteratur üblichen orientalisierenden Ausdrücke gestrichen, also sthula sharia für den physischen Leib, linga sharia für den Ätherleib, kama rupa für den Astralleib, ›niederer Manas‹ bzw. kama manas für die Verstandesseele, ›höherer manas‹ für die Bewusstseinsseele sowie budhi und atma für den Lebensgeist und den Geistesmenschen (vgl. TH, 42). An anderen Stellen behält Steiner etablierte Begriffe zwar bei, doch werden Hinweise auf die »theosophische Literatur« als Quelle dieser Bezeichnungen durchweg gestrichen. Das ursprüngliche Bemühen um die Betonung einer Kompatibilität seiner Darstellung mit theosophischen Vorbildern weicht einer Tendenz zur Ausblendung der letzteren. Dieses Vorgehen ist vor dem Hintergrund der damals sich vollziehenden Abspaltung der Anthroposophischen Gesellschaft von der Theosophical Society und der daraus entstehenden Profilierungsnot Steiners zwar verständlich, erscheint aber vom Standpunkt wissenschaftlicher Transparenz aus problematisch.

Ein zweiter Aspekt der Ausgabe von 1914 ist eine auffällige Tendenz, den oft gebrauchten Ausdruck: dieses oder jenes Wesensglied »nenne man« so oder so zu ersetzen durch Formulierungen wie, »man könne« sie so oder so nennen bzw. bezeichnen (vgl. etwa TH, 32). Diese Tendenz hängt zusammen mit dem oben skizzierten Bestreben einer terminologischen ›Enttheosophisierung‹ der Schrift. Da Steiner sich jetzt nicht mehr explizit auf die Autorität der theosophischen Schriften beziehen will, ist auch deren Terminologie nicht mehr die einzig mögliche und er verlegt sich zunehmend auf Eindeutschungen und Eigenbildungen.

Eine dritte Tendenz der dritten Auflage besteht darin, solche Stellen umzuformulieren, an denen der Eindruck entstehen kann, der Hellseher sei in der Lage, ins ›Innerste‹ eines anderen Menschen hineinzusehen. So hieß es etwa in vorhergehenden Fassungen, das Innere des Menschen läge vor dem Hellseher »wie ein aufgeschlagenes, für ihn lesbares Buch«. Nun aber wählt Steiner die behutsamere Formulierung: dass dieses Innere des Anderen vor ihm läge »wie eine äußere Wirklichkeit« (TH, 25). Die Vorstellung, dass es in der Gegenwart eines ›Hellsehers‹ keine Privatsphäre gibt, war möglicherweise auf Unbehagen in der Leserschaft gestoßen.

Steiners Eingriffe in das Wesensgliederkapitel in der Fassung von 1918 sind quantitativ deutlich geringer als 1908 und 1914. Allerdings fällt ins Auge, dass an sämtlichen Stellen, wo bisher für den menschlichen Leib die Metapher des ›Werkzeugs‹ verwendet worden war, nunmehr alternative Ausdrücke gesucht werden, welche den Leib weniger als mechanisches Instrument und mehr als etwas Lebendiges und Organisches beschreiben (TH, 18, 34). So wird vom Leib als von den »leiblichen Bedingungen« und von der »leiblichen Grundlage« seelischer und geistiger Prozesse gesprochen. Ferner kann festgestellt werden, dass Steiner weiterhin bemüht ist, solche Passagen aufzufinden und zu modifizieren, welche zu einem missverständlichen Begriff der übersinnlichen Erfahrung führen könnten. Steiner wollte offenbar dem Eindruck entgegenwirken, dass man in der übersinnlichen Erfahrung einzelne konkrete Gefühle und Empfindungen, die ein anderer Mensch gerade hegt, in der gleichen Weise übersinnlich wahrnehmen könne, wie seine physischen Bewegungen oder sprachlichen Äußerungen. Stattdessen betont er jetzt, der ›Hellseher‹ könne im anderen Menschen nur allgemeine geistige und seelische Qualitäten wahrnehmen, nicht aber konkrete Gedanken oder Gefühle.

In der Ausgabe von 1922 gibt es, im Vergleich mit den übrigen Neuauflagen, nur wenige Textveränderungen, und diese können größtenteils als stilistische bzw. sprachkünstlerische Umformulierungen gelten, nicht aber als inhaltliche Änderungen. Um dies zu verdeutlichen, sei ein kurzer statistischer Hinweis erlaubt. Von den insgesamt 369 Änderungen innerhalb des Kapitels fallen immerhin 70, also ein gutes Fünftel, auf die Fassung von 1922. Und doch sind von diesen nur 14 inhaltlicher Art, der Rest betrifft nur Orthographie und Punktuation. Von diesen 14 wiederum sind 10 rein stilistischer Art und nur 4 Eingriffe ändern tatsächlich die inhaltliche Aussage der jeweiligen Passage.

Zwei Beispiele für den Charakter dieser subtilen Änderungen von 1922 seien hier kurz genannt: An einer Stelle spricht Steiner darüber, ob zwei Menschen eine Sinnesempfindung in genau der gleichen Art wahrnehmen. Dabei benutzt er 1922 das Verb »erleben« statt zuvor »wahrnehmen« (TH, 16). Und wo es zuvor hieß, die Empfindungsseele habe ihr eigenes »Leben, das sie durch das Denken auf der anderen Seite ebenso befruchtet wie durch die Empfindungen auf der einen«, korrigiert Steiner jetzt zu »Leben, das sich [...] befruchtet« (TH, 41).

Das ›selbstgezimmerte Schicksal‹:

Reinkarnation und Karma

Die Reinkarnations-Vorstellung in der Theosophie

Ein zweiter großer Themenkomplex in der Theosophie sind die Vorstellungen über ›Reinkarnation‹ und ›Karma‹. Blavatsky hatte die Wiedergeburt als ein für alle Menschen geltendes Entwicklungsgesetz in der Isis zunächst noch abgelehnt. Sie hielt die Reinkarnation zwar für möglich, aber nur als eine Art Ausnahmeerscheinung, die in seltenen Fällen unter bestimmten Umständen auftrete. Durch Sinnetts Esoteric Buddhism hingegen wurde der Reinkarnationsgedanke zentraler Bestandteil der theosophischen Lehre. Dabei wurden die Umstände einer bestimmten Reinkarnation als abhängig von Erfahrungen und Taten in früheren Inkarnationen vorgestellt und das diese Zusammenhänge steuernde universelle Bedingungsgesetz wurde als ›Karma‹ beschrieben. Blavatsky hat diese Vorstellungen später aufgenommen und zu einem zentralen Thema ihrer Secret Doctrine gemacht. Besant widmete dem Themenfeld das zweite und das vierte der theosophischen Handbücher, Reincarnation (1892) und Karma (1895), sowie zwei Kapitel in The Ancient Wisdom.

Bei all diesen Autoren wird deutlich, dass es sich bei ihrer Reinkarnationsidee nicht um eine Variante der alteuropäischen Seelenwanderungsidee handelt, wie sie sich bei Platon oder den Pythagoräern findet: Nach theosophischer Vorstellung wandert nicht eine ›Seele‹ von einem Leben ins nächste, von einem Leib in den anderen, sondern die Seele bzw. die Persönlichkeit ist, wie auch der physische Leib, nur ein ›Vehikel‹ des Reinkarnationsstroms, der sich nach dem Tod genauso in ihrer entsprechenden seelischen Umwelt wieder auflöst wie der physische und der ätherische Leib in der ihren. Der Mensch löst sich jedoch auch nicht, wie in der klassischen buddhistischen Wiederverkörperungslehre, vollständig auf und gibt sozusagen nur ein völlig unpersönliches ›Bündel‹ seelischer und geistiger Tendenzen weiter. Nach theosophischer Vorstellung bleibt vom Menschen sehr wohl eine einheitliche Entität übrig, eine Gestalt, die jedoch nicht seelisch, sondern rein geistig konstituiert ist. Es ist das ›höhere Selbst‹, welches aus dem früheren Leben nichts als die gemachten Erfahrungen mitnimmt, die sich dann später, in einer erneuten Inkarnation in einem neuen Körper und einer neuen ›Seele‹, in entsprechende Fähigkeiten und Talente verwandeln.

Eine weitere Gemeinsamkeit aller anthroposophischen Autoren ist, dass sie den Reinkarnationsgedanken in einen engen Zusammenhang mit der modernen Entwicklungstheorie Darwins und Haeckels bringen. Ihr Standardargument, welches auch Steiner in seinen Aufsätzen um 1903 sowie in seiner Theosophie anführt, besagt, dass nur mittels des Reinkarnationsgedankens die Entstehung und Entwicklung des geistig-seelischen Lebens im Individuum wie in der Menschheit als ganzer ähnlich schlüssig zu erklären sei wie die Entstehung und Entwicklung der biologischen Lebensformen durch die Evolutionstheorie. Steiner geht zunächst sogar so weit, die Reinkarnationsidee als notwendig aus konsequentem naturwissenschaftlichen Denken hervorgehend zu bezeichnen; in der Theosophie beschränkt er sich allerdings darauf, sie als mit der Naturwissenschaft vereinbar zu beschreiben. Die naturwissenschaftliche Betrachtung der Evolution des Menschen, so das Argument, bereite somit das Verständnis der seelisch-geistigen Gesetzmäßigkeiten von Reinkarnation und Karma vor. Die klassische Evolutionstheorie wird gewissermaßen als Vorstufe und Propädeutik esoterischer Anthropologie verstanden; das Gesetz der Abstammung, mit welchem sie die Entwicklung der Körperformen beschreibt, sei in der Esoterik auch auf seelische und geistige Gestaltungen anzuwenden.

 

Das Reinkarnations-Kapitel in der Erstausgabe von 1904

Der eigenständige methodische Zugang Steiners zu den Inhalten der Theosophie zeigt sich im Kapitel über »Reinkarnation und Karma« noch deutlicher als in der Wesensgliederlehre. Denn noch stärker als dort ist im zweiten Kapitel die Eigenständigkeit der gedanklichen Konstruktion bzw. Ableitung dieser Inhalte. Statt an theosophische Texte knüpft Steiner vor allem an Theoreme aus seinen philosophischen Schriften an – etwa an seine Theorie der Vorstellungsbildung und der Erinnerung – und sucht seinen Gegenstand ohne Anknüpfung an theosophische Vorgaben vollständig aus der phänomenologischen Betrachtung der alltäglichen Erfahrung heraus zu entwickeln. So ist der methodische Zugang zum Thema dezidiert bewusstseinsphilosophisch bzw. psychologisch ausgerichtet und kann als eine Phänomenologie des Erinnerungsaktes charakterisiert werden. Das Dauerhaftwerden einer Erfahrung in der Erinnerung wird zum zentralen Modell für die Ableitung eines Karma-Begriffs als ein analog zur Erinnerung zu verstehendes Dauerhaftwerden des Innenlebens in der Außenwelt (oder genauer: in der als ›Außenwelt‹ erlebten Wirklichkeit). Im Karma-Kapitel der Theosophie, so könnte man sagen, argumentiert Steiner fast schon im Sinne anthroposophischer Theorieentwicklung, fünf Jahre bevor er die Eigenart anthroposophischen Denkens zum ersten Mal systematisch dargelegt hat.

Ansatzpunkt Steiners ist wieder das trichotomische Bild vom Menschen als einem leiblichen, seelischen und geistigen Wesen. Dieses Wesen wird nun aber nicht länger nur in seiner Ausfaltung in verschiedene Glieder oder Hüllen betrachtet, sondern auch in seiner Entwicklung in der Zeit. Zunächst wird, in platonisch anmutender Manier, die ›Wahrnehmungswelt‹ in ihrer inhärenten Gegenwärtigkeit charakterisiert und mit der überzeitlichen Natur der Inhalte der geistigen Erfahrung kontrastiert. Die Gegenstände der sinnlich-leiblichen Wahrnehmung bestehen nach Steiners Darstellung immer nur im und für den Moment ihres Wahrgenommenwerdens; die Gegenstände der geistigen Wahrnehmung hingegen, die Gedankeninhalte, erwiesen sich als unveränderlich und somit überzeitlich. Dabei greift Steiner auf das grundlegende epistemologische Modell seiner philosophischen Schriften zurück, die Dialektik von ›Wahrnehmung‹ und ›Begriff‹, betrachtet diese aber jetzt nicht länger nur in ihrer innerlich-prozesshaften Seite als Tätigkeit des ›Ich‹, sondern gewissermaßen von außen her, d. h. gedanklich zu Seinssphären verdinglicht. Derart umgestülpt, verwandelt sich die Polarität von Wahrnehmung und Begriff in der Theosophie in diejenige von sinnlich-materieller ›Außenwelt‹ und geistiger ›Innenwelt‹.

Zwischen beiden Sphären, d. h. zwischen ›Außenwelt‹ und ›Innenwelt‹ und somit auch zwischen ›Augenblick‹ und ›Ewigkeit‹ erweist sich für Steiner das Seelische als Mitte und Vermittlerin. In ihm vereint sich die an den Moment gebundene ›Wahrnehmungswelt‹ mit der jenseits des Zeitlichen stehenden ›Begriffswelt‹ zur ›Vorstellungswelt‹; die seelische Tätigkeit verleiht dem an sich Augenblicklichen Dauer, indem sie dieses, in der Vorstellungsbildung, an das Geistige heranbringt.

Vor dem Hintergrund dieses Rahmens werden dann Vorstellungen und Erinnerung deutlicher differenziert. Die Erinnerung ist für Steiner nicht eine einmal gebildete Vorstellung, die aus einem wie und wo auch immer vorzustellendem Reservoir wieder hervorgeholt werden könnte; vielmehr bestehe das Erinnern darin, jene Beziehung wiederum wahrzunehmen, die – im Verlauf eines früher vollzogenen Vorstellungsaktes – zwischen einem Aspekt der Wahrnehmungssphäre und einem Aspekt der Denksphäre hergestellt wurde. Denn diese Beziehung habe, so Steiner, durch ihre Verknüpfung mit der überzeitlichen Natur des Begriffs nun selbst überzeitlichen Charakter angenommen. Indem so der Mensch in der Vorstellungsbildung die Sphäre des ›Zeitlichen‹ mit der des ›Überzeitlichen‹ verbinde und mittels der Erinnerung dem seiner Eigennatur nach Augenblicklichen Dauer zu verleihen im Stande sei, schlägt er nach Steiner die Brücke zwischen den an sich unvereinbaren Welten.

Mit dieser Charakterisierung des Erinnerns meint Steiner zugleich auch die erste und elementarste Form einer ›übersinnlichen Wahrnehmung‹ erwiesen zu haben. Denn in der Erinnerung nehme der Mensch unleugbar etwas wahr, was als solches nicht durch Sinneserfahrung gegeben ist, nämlich die Beziehung eines Wahrnehmungserlebnisses zu einem Begriffserlebnis. Da diese Beziehung zweifellos sowohl bei der Wahrnehmung wie bei der späteren Erinnerung anwesend und wirksam sein muss, kann sie nach Steiner nicht anders als überzeitlich, d. h. geistig vorgestellt werden. Das Erinnern ist somit seiner Ansicht nach praktischer Beweis für die Existenz eines Geistigen und Prototyp übersinnlicher bzw., wie Steiner sich in der Sprache der Theosophie ausdrückt, ›hellseherischer‹ Erfahrung. Und somit steht für ihn die Frage im Raum: Gibt es noch andere Formen übersinnlicher oder geistiger Wahrnehmung neben der Erinnerung?

Mit dieser Frage kommt der Geist als solcher in den Blick. Diesen hatte Steiner zunächst gekennzeichnet als Träger derjenigen überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten, die der Mensch als Denkender mittels seiner Erkenntnis erfasst. Jetzt kommt hinzu, dass, indem der Mensch sich mittels seelischer Tätigkeit an seine Erkenntnisse erinnern kann, ein Aspekt seines Wesens, der zunächst Teil der zeitlichen Erfahrung war, vom ›Ich‹, d. h. von etwas Geistigem, erlebt wird und somit selbst in den Bereich des Geistes getragen wird. Was der Mensch im Zeitlichen erlebt, wird so, halbbildlich gesprochen, für Steiner ein Teil des Ewigen, wird sozusagen in das Geistige heraufgehoben. Genauer gesagt, nur ein Teil des seelisch Erlebten könne auf diese Weise ins Geistige aufgenommen werden, und diesen Teil versucht Steiner in der Metapher der ›Früchte‹ des irdischen Lebens begrifflich zu fassen. Nicht die seelischen Erlebnisse als solche würden im Menschen dauerhaft und somit geistig, sondern dasjenige, was sich der Geist im Durchmachen dieser Erlebnisse an Fähigkeiten und Gewohnheiten bilde. Und so kommt Steiner zu dem Resümee: Was den menschlichen Geist gegenüber seiner Seele auszeichne, sei die Fähigkeit, seelische Erlebnisse in geistige Fähigkeiten zu verwandeln, sie dauerhaft zu machen und dadurch sich selbst zu entwickeln.

Bis zu dieser Stelle versucht das zweite Kapitel nichts weiter als darzustellen, wie innerhalb des gewöhnlichen menschlichen Lebens sinnliche bzw. seelische Erlebnisse mittels der Erinnerungstätigkeit zu dauerhaften geistigen Eigenschaften werden können. Nun aber wird die entscheidende Frage gestellt: ob nämlich ein solches Dauerhaftwerden von subjektiv-individuellem Erleben nur innerhalb dessen möglich ist, was der Mensch als seine ›Innenwelt‹ erlebt (also als Erinnerung) – oder ob dasselbe auch für diejenige Sphäre der Wirklichkeitserfahrung möglich sei, die dem ›gewöhnlichen‹ Bewusstsein als ›Außenwelt‹ erscheint. Anders gefragt: Können die Taten und Erlebnisse des Menschen in der ›Außenwelt‹ – als sein ›Karma‹ – ebenso dauerhaft werden und dabei an das ›Ich‹ geknüpft bleiben, wie die Erinnerungen in der ›Innenwelt‹? Wenn die Antwort auf diese Frage positiv ausfiele, so Steiners Argumentation, dann wäre ein wissenschaftlich solides Argument für die Plausibilität desjenigen gewonnen, was in indischer Spiritualität und in der Theosophie als ›Karma‹ bezeichnet wird.

Dasjenige Phänomen, welches für Steiner diese prinzipielle Möglichkeit verbürgt, ist die Tatsache der Vererbung. Wie mittels der Erinnerung im Kontext der ›Innenwelt‹ die Zeitlichkeit des Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungslebens überwunden wird, so wird nach Steiner auch die physische menschliche Gestalt in der ›Außenwelt‹ dauerhaft und transzendiert die individuelle Inkarnation, indem sie sich von den Eltern auf die Kinder vererbt. Indem die leibliche Gestalt des Menschen eine Art ›Wiederholung‹ der leiblichen Gestalt seiner Vorfahren darstellt, ist sie für Steiner gewissermaßen eine physische ›Erinnerung‹ an diese. Und diesen Gedanken weiterführend fragt er: Kann die geistige Gestalt des Menschen, das individuelle ›Ich‹, in ähnlicher Weise als ›Nachkomme‹ eines Vorgängers verstanden werden, wie seine physische Gestalt? – Steiner hält diesen Gedanken nicht nur für plausibel, sondern sogar für zwingend. Da die geistigen Eigenschaften eines Kindes sich nicht, wie die physischen, aus denen der Eltern erklären ließen, aber notwendig als Wirkung einer Ursache verstanden werden müssten, so könne diese Ursache nirgendwo anders als in einem ›geistigen Vorfahren‹ gesucht werden. Der Ursprung der geistigen Individualität müsse somit in gleicher Weise in einer anderen geistigen Individualität gesucht werden, wie gemäß der Vererbungstheorie der Ursprung eines menschlichen Leibes notwendig in einem anderen menschlichen Leib zu finden ist.

Mit diesem Gedankengang meint Steiner die Reinkarnationsidee als plausible und mit wissenschaftlichem, psychologischem und philosophischem Denken vereinbare Antwort auf die Frage nach dem geistigen Ursprung des Menschen erwiesen zu haben. Anschließend daran formuliert er die weitere Frage, ob sich ein ähnliches Argument auch für die Vorstellung eines universellen Karmagesetzes machen ließe. Die oben skizzierten Darlegungen zum Erinnerungs-Begriff weiterführend, wirft er die Frage auf: Ist es vorstellbar, dass die Folgen einer äußerlichen Tat (etwa einer beleidigenden Äußerung) in der ›Außenwelt‹ in ähnlicher Weise dauerhaft werden, und zwar als ein Teil der Natur desjenigen, der die Tat begangen hat, wie in der Erinnerung eine innere Tat, ein inneres Erlebnis dauerhaft wird und Teil des der Erinnerung fähigen Menschen wird?

Steiners Antwort auf diese Frage ist wiederum positiv. Er argumentiert, dass bei konsequentem Denken in demselben Maße, wie die Taten und Handlungen des Menschen eine permanente Auswirkung auf sein eigenes geistiges Innenleben haben, dies auch im Hinblick auf seine äußere Umwelt angenommen werden muss. Das Argument wird freilich nur verständlich, wenn man sich bewusst ist, dass für Steiner die Kluft zwischen ›Innenwelt‹ und ›Außenwelt‹ nur in der und für die menschliche Erfahrung besteht und dass an sich beide ›Welten‹ nur Erscheinungsformen ein und derselben Wirklichkeit sind. Von dieser Voraussetzung ausgehend argumentiert Steiner, dass (1) die Tat selbst und somit auch deren Konsequenzen ›draußen‹ eine Wirkung gewisser seelischer Vorgänge ›drinnen‹ sind (also etwa die Beleidigung Wirkung eines Zorngefühles), dass ferner (2) die ›äußeren‹ Vorgänge und deren ›innere‹ Ursachen in ähnlicher Weise miteinander verbunden sind und bleiben, wie Wahrnehmung und Begriff in der Vorstellungsbildung, und dass daher (3) die Tat samt ihrer Folgen ›draußen‹ ebenso permanent zum Täter gehört und in gewisser Weise sogar wieder zu ihm hinstrebt, so wie die potentielle Erinnerung ›drinnen‹ gewissermaßen darauf wartet und ihre Verwirklichung darin findet, wenn tatsächlich erinnert wird.

Wenn daher, so Steiners abschließendes Argument, die geistige Individualität in eine Reinkarnation eintritt, so bestehe zwischen ihr und den Einprägungen, welche sie in früheren Inkarnationen durch ihre Taten in ihrer Umwelt hinterlassen hat, ein Band, eine Affinität. Der Mensch werde daher gewissermaßen seelisch hingezogen zu solchen Wesen und Ereignissen, die in sich die Spuren seines früheren Einflusses auf dieselben tragen, und umgekehrt. Wie der Leib unweigerlich den Gesetzen der leiblichen Vererbung unterliege, so Steiners Fazit, so auch die Seele den Gesetzmäßigkeiten des selbstgeschaffenen Karma und der Geist denjenigen der Reinkarnation.

 

Die Textentwicklung des Reinkarnations-Kapitels

In der Fassung von 1908 finden sich im Reinkarnations-Kapitel zunächst einige begriffliche Neubestimmungen. So wird, wie schon im ersten Kapitel, auch hier der besantsche Begriff des ›Äther-Doppelleibes‹ zugunsten des Ausdrucks ›Ätherleib‹ aufgegeben. Ferner ersetzt Steiner durchgängig den Begriff ›Geistesmensch‹ durch den Ausdruck ›geistiger Mensch‹; anscheinend fand er, dass hier der Begriff des zuvor beschriebenen höchsten Wesensgliedes in der Gefahr war, durch zu allgemeinen Gebrauch an Profil zu verlieren. Drittens fällt ein Bemühen auf, die Ausdrücke ›Gedächtnis‹ und ›Erinnerung‹ deutlicher auszuschärfen und gegeneinander abzugrenzen. Steiner versteht unter ›Gedächtnis‹ jetzt mehr den in Frage stehenden Inhalt, und unter ›Erinnerung‹ vor allem die entsprechende seelische Tätigkeit (vgl. etwa TH, 68), auf die es ihm vor allem ankommt. Diese Dynamisierung des Erinnerungsbegriffs zeigt sich in mehreren sprachlichen Nuancen, etwa wenn Steiner den Ausdruck »in der Erinnerung« durch aktivere Formulierung wie »für die« und »durch die Erinnerung« ersetzt (TH, 47). Auch wird an mehreren Stellen jetzt »Erinnerung« statt »Gedächtnis« geschrieben.

Ein weiterer Begriff, der 1908 eine Ausschärfung erfährt, ist derjenige der ›Fortpflanzung‹. Deutlicher als zuvor unterscheidet Steiner zwischen physischer Fortpflanzung, die er als ›Vererbung‹ fasst, und geistiger Fortpflanzung, wie sie in der Reinkarnation zum Ausdruck komme, und führt dann in einem längeren Zusatz aus, warum seiner Meinung nach die Weitergabe geistiger Eigenschaften unmöglich durch die Gesetze physischer Vererbung zu erklären ist.

Ein anderer ausführlicher Zusatz am Schluss des Kapitels argumentiert, dass der Mensch durch rein logisches Durchdenken der im Kapitel ausgeführten Gedankengänge »zu der Überzeugung vom Karma- und Reinkarnationsgesetz kommen« könne. Einen ähnlich weitreichenden Anspruch hatte Steiner bereits Ende 1903 in dem Aufsatz Reinkarnation und Karma. Vom Standpunkte der Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen formuliert. 1918 jedoch schwächte er den Anspruch dahingehend ab, dass man durch das Durchdenken des Kapitels vielleicht nicht zu einer »Überzeugung«, aber doch wenigstens zu einer »Vorstellung von den wiederholten Erdenleben und dem Gesetze des Schicksals kommen« könne (vgl. TH, 74).

Die folgende Auflage von 1910 bringt verhältnismäßig wenige Neuerungen. Steiner setzt verschiedentlich den Begriff ›Lebensleib‹ statt ›Ätherleib‹ und verbindet das Reinkarnationskapitel etwas enger mit der Wesensgliederlehre: Er bringt z. B. die Begriffe ›Lebensgeist‹ und ›Lebensleib‹ in ein neues Verhältnis, indem er ersteren in eben derselben Weise als ›Träger‹ geistiger Vererbung bzw. des ›Karma‹ charakterisiert, wie schon zuvor den ›Ätherleib‹ als Träger physischer Vererbung (TH, 65). Abgeschlossen wird die inhaltlich relativ folgenlose Bearbeitung des Kapitels durch eine Schlusssbemerkung am Ende des Buches, in denen Steiner auf seine mittlerweile erschienenen Schriften Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (Buchausgabe 1909) und Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910) verweist (vgl. TH, 189).

Die Neuausgabe von 1914 blieb, obgleich in anderen Kapiteln in diesem Jahr massive Eingriffe stattgefunden haben, für das Reinkarnationskapitel relativ folgenlos. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass im Hinblick auf Steiners Bemühen um eine Eliminierung theosophischer Begrifflichkeiten, die in anderen Teilen des Buches zu vielen Veränderungen geführt hat, hier kein Anlass zur Revision bestand. Denn das Reinkarnationskapitel zeichnete sich ja von Anfang an durch systematische und terminologische Eigenständigkeit gegenüber theosophischen Vorbildern aus. Zu nennen sind daher nur ein kurzer Einschub zur verstärkten Abgrenzung der menschlichen Biographie von der Beschreibung individueller Charakteristiken bei Tieren (TH, 57) sowie ein weiterer, in dem die gesetzmäßige Verbindung der Seele mit den Folgen ihrer Taten noch einmal herausgestrichen wird (TH, 71).

Inhaltlich neu ist das Bemühen Steiners, bei der Darstellung der Gesetzmäßigkeit des ›Karma‹ die zwischenmenschliche Dimension dieses Begriffs mehr herauszustreichen. So beschreibt er in einem Zusatz gegen Ende des Kapitels, wie die Seele sich nicht nur zu den Folgen ihrer Taten in der äußeren Umwelt hingezogen fühle, sondern in ganz besonderer Weise auch zu Menschen, mit denen sie gemeinsame Erlebnisse geteilt habe. Daher würden oft Menschen mit einem seelischen Band eine gemeinsame ›Wiederverkörperung‹ zur gleichen Zeit anstreben.

1918 fand dann eine tiefgreifende Umarbeitung des Reinkarnationskapitels statt. Deren Eingriffe waren so zahlreich und massiv, dass das Kapitel sich an Umfang beinahe verdoppelt hat.

Die erste sprachlich auffällige Änderung ist die Ersetzung des platonisch anmutenden und metaphysisch wie theologisch hoch aufgeladenen Begriffes der ›Ewigkeit‹ durch den schlichteren der ›Dauer‹. Eine weitere grundlegende Tendenz der Überarbeitung von 1918 ist eine nochmalige Durcharbeitung und Konkretisierung des mit den Begriffen ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ Gemeinten. So machte Steiner jetzt deutlicher als zuvor, dass die Erinnerung keineswegs darin bestehe, eine früher gebildete Vorstellung, die irgendwo im Menschen abgespeichert wäre, wieder in das Bewusstsein zu rufen. Die Vorstellung selbst gehe nämlich verloren, sobald der Akt des Vorstellens aufhört; wohl aber entstehe durch diejenigen Prozesse, die während der Vorstellungsbildung zwischen der vorstellungsbildenden Seele und der wahrgenommenen Außenwelt vor sich gingen, eine Beziehung zwischen den beiden. Und diese Beziehung sei es, die im Prozess der Erinnerung wiederum wahrgenommen werde, wohingegen der Inhalt der Erinnerung als neugebildete Vorstellung anzusehen sei. – Diese Beziehung zwischen dem vorstellungsbildenden Ich und der vorgestellten Wirklichkeit sei, so Steiner, etwas »Dauerndes« gegenüber dem rein augenblicklichen Charakter der Vorstellungen, und als solches könne sie als Äquivalent zu demjenigen »Dauernden« betrachtet werden, das durch die Taten des Menschen der Wirklichkeit eingeprägt werde und somit Grundlage der karmischen Attraktion zwischen dem ›Ich‹ und den Folgen seiner Taten sei.

 

Damit ist zugleich dem Begriff des ›Ich‹ innerhalb des Kapitels eine deutlich stärkere Bedeutung zugeschrieben, als dies bisher der Fall war. Statt nur auf die Vorstellungs- und Erinnerungsbildung einerseits und die Taten des Menschen andererseits zu blicken, wird jetzt hervorgehoben, dass in beiden Fällen das ›Ich‹ der jeweils tätige Agent sei, welcher sowohl als Vorstellender wie als Handelnder in Beziehung zur Welt trete und dieser damit etwas einpräge, was dann später zu ihm zurückkehren könne, sei es als ›Erinnerung‹ im Innern oder als ›Karma‹ bzw. als ›Schicksal‹ von außen. Implizit wird damit ein transsubjektiver Ich-Begriff vertreten, welcher sich nicht auf das Innere bzw. die Subjektivität des Menschen beschränkt, sondern das ›Ich‹ als etwas auffasst, was einerseits von ›innen‹ nach ›außen‹ wirkt (etwa im Erkennen und im Handeln), zugleich aber, als Erinnerung bzw. als ›Schicksal‹, von ›außen‹ her das ›Innere‹ bestimme. In der Theosophie wird dieser stark an Fichte gemahnende transsubjektive Ich-Begriff nicht explizit ausformuliert und schwingt eher zwischen den Zeilen mit (er klingt allerdings durch das ausführliche Fichte-Zitat im ersten Kapitel als eine Art ›Obertonschwingung‹ an); an anderen Stellen seines Werkes hat Steiner ihn deutlicher ausgesprochen.

Im Einzelnen arbeitet Steiner 1918 auch an anderen Zentralbegriffen des Kapitels, z. B. am Begriff der ›Vererbung‹, wo er eine deutlichere Unterscheidung macht zwischen den »stofflichen« Faktoren der Vererbung und den »seelisch-geistigen«, für welche erstere nur die Grundlage abgeben, nicht aber mit diesen identisch sind (vgl. Zusatz TH, 55). Ein weiterer bearbeiteter Begriff ist derjenige der ›Präexistenz‹; Steiner formuliert einige Argumente gegen den möglichen Einwand, die geistige Gestalt könne vielleicht auch ohne vorhergehendes Erdenleben, durch eine rein geistige Präexistenz erklärt werden (vgl. Zusatz TH, 58 f.).

Auf Steiners 1918 formulierte Einschränkung des früheren Anspruchs, seine Darstellung von Karma und Reinkarnation sei so zwingend wie ein naturwissenschaftlicher Beweisgang, haben wir oben bereits hingewiesen. Der Wert der Darstellung besteht jetzt seiner Auffassung nach eher in der Vorbereitung eines gesteigerten Denkvermögens als in einem direkten Beweis des Reinkarnationstheorems (TH, 72). Auch die Schlussbemerkung TH, 188 f. unterstreicht noch einmal, dass das Buch den Reinkarnationsgedanken wohl nicht, wie früher noch behauptet, beweisen, diesen sehr wohl aber »gedanklich vorbereiten« könne.

Die Ausgabe von 1922 bringt nur kleinere stilistische Eingriffe, aber keine inhaltlichen Änderungen von Bedeutung für das Reinkarnationskapitel. Es sei daher zum folgenden Kapitel übergegangen.

Vom ›Himmel‹ durch die ›Welt‹ zur ›Hölle‹:

Steiners Darstellung der ›drei Welten‹

als Modi menschlichen Selbsterlebens

Die theosophische Drei-Welten-Lehre

Die theosophische Ontologie zeichnet sich, wie oben bereits angedeutet, durch eine intensive Spannung aus zwischen dem einerseits formulierten fundamentalen Monismus, dem gemäß alle Dinge Manifestationen des einen und unteilbaren Seins sind, und den andererseits geschilderten vielfältigen und bisweilen ausufernden Aufspaltungen dieses einen Seins: zunächst in die Trichotomie der ›drei Logoi‹ – ›Bewusstsein‹, ›Leben‹ und ›Form‹ – bzw. in die Dreiheit von ›Geist‹, ›Seele‹ und ›Leib‹, und dann weiter in die verschiedenen Septenarien, die für das theosophische Denken so charakteristisch sind: die sieben ›Bewusstseins‹-, ›Lebens‹- und ›Formzustände‹, die sieben ›Welten‹, ›Globen‹ oder ›Plane‹, sieben ›Prinzipien‹ oder ›Wesensglieder‹, sieben ›Wurzelrassen‹, ›Unterrassen‹, ›Kulturepochen‹ und so weiter. Die oben skizzierte Hüllenanthropologie bietet ein gutes Beispiel für diese Spannung, denn auch in dieser muss der Mensch, ob er sich nun in drei oder sieben oder neun Gliedern manifestiert, bei aller Differenzierung letztlich doch als ein einheitliches Wesen verstanden werden. In ähnlicher Weise wird in den theosophischen Texten auch die ›Wirklichkeit‹ insgesamt (bzw., in der Isis, die ›Natur‹) als eine einzige vorgestellt, die sich jedoch zugleich in Form eines Systems mehrerer ›Welten‹, ja am Ende als Konglomerat von verschiedenen, simultan auf verschiedenen Seinsebenen sich entwickelnden Weltsystemen darstellt. Die verschiedenen ›Prinzipien‹, welche die Wesenheit des Menschen ausmachen sollen, werden als Ausdruck von sieben ›Welten‹ verstanden, in denen der Mensch qua seiner Wesensglieder lebt und an ihnen teilhat: Seine physische Hülle etwa gilt als Teil einer ihn umgebenden physischen Welt, sein ›Ätherleib‹ partizipiert an einer elementarischen Umwelt, sein ›Astralleib‹ lebt in einer seelischen Umgebung usw., immer gemäß der hermetischen Vorstellung einer Entsprechung von Mikrokosmos (Mensch bzw. ›innere‹, subjektive Wirklichkeit) und Makrokosmos (Welt bzw. ›äußere‹, objektive Wirklichkeit).

Auch dieses Denkmodell hat, wie die Wesensgliedertheorie, Entsprechungen in der europäischen Geistesgeschichte, die sich mindestens bis in die Einheitsspekulationen eines Parmenides zurückverfolgen lassen. Ihren vielleicht prägendsten Ausdruck fand diese Tradition in der christlichen Trinitätslehre, nach welcher die Gottheit sich in drei Personen äußert und dabei doch stets die eine und einzige bleibt. Nicht nur Theologen, sondern auch Philosophen und Mystiker knüpften immer wieder an diese Denkfigur an und beschrieben mit ihrer Hilfe die Natur Gottes sowie, je nach Kontext, die Dreifaltigkeit des Seins, des Geistes, der Natur oder der Seele. Ein prominentes Beispiele eines solchen elaborierten Transfers der theologischen Dreifaltigkeitslehre auf das Gebiet der allgemeinen Ontologie war die einflussreiche Drei-Prinzipienlehre Jakob Böhmes. Und auch im Hinblick auf Hegel wird bis heute kontrovers diskutiert, »ob Hegel als ›Philosoph der Trinität‹ oder als Vorläufer des Atheismus und pantheistischer Zerstörer des christlichen Glaubens an den dreieinigen Gott anzusehen ist«. Andere einflussreiche Monismus-Konzepte im europäischen Kontext, die sich weniger an die Trinitätsidee anlehnten, waren die Gedankensysteme Giordano Brunos und Spinozas, aber auch der neuzeitliche Materialismus, welcher besonders in Gestalt der Entwicklungslehre Haeckels einen ähnlich tiefen Einfluss auf Rudolf Steiner ausübte wie der philosophische Monismus der Denker des deutschen Idealismus.

Die theosophische Einheitsontologie war also ebensowenig genuin orientalischer Natur wie die Wesensgliederlehre und knüpfte an ein im Abendland lange bestehendes ontologisches Denkmodell an. Auf die hermeneutischen Probleme, die durch den postulierten Monismus und die gleichzeitige Segmentierung des Seins in vielfache ›Welten‹ und ›Ebenen‹ entstehen, wird in den theosophischen Texten allerdings nur selten philosophisch reflektiert. Wo dies geschieht, zeigen sich zwei verschiedene Lösungsvorschläge. Der erstere ist mehr ontologischer Art und beschreibt den Unterschied zwischen verschiedenen Seinssphären mittels der Vorstellung gradueller Abstufung. Leadbeater und Besant etwa operieren oft mit dem Begriff der ›Dichte‹ und postulieren, die physische, ätherische, astrale und selbst die geistige Welt bestünden allesamt aus ›Materie‹; diese sei in der physischen Welt einfach am ›dichtesten‹ oder ›gröbsten‹ und würde dann, in der ätherischen, astralen Welt und darüber hinaus, immer ›feiner‹ oder ›subtiler‹. Oder es wird von ›Vibrationen‹ der ›geistigen Urmaterie‹ gesprochen, die in den verschiedenen Welten unterschiedlich ausgeprägt sei. Neben diese deutlich von der zeitgenössischen Naturwissenschaft geprägten Begründung des theosophischen Monismus tritt bisweilen auch eine bewusstseinsphilosophische, allerdings eher angedeutet als konkret ausgestaltet, etwa durch die aus dem indischen Denken entlehnte Vorstellung, alle Unterscheidungen innerhalb des Seins seien als ›Maya‹ aufzufassen, d. h. als Illusion, die nur in der menschlichen Wahrnehmung bestehe. Aber auch dieser Maya-Begriff, welcher besagt, dass Wirklichkeit nur in der Einheit bestehe und alle Vielheit nur Schein sei, hatte im abendländischen Denken eine lange Tradition, die bis zu Parmenides und Platon zurückreicht.

Ein besonders faszinierender Aspekt der theosophischen Drei-Welten-Lehre ist die Beschreibung der menschlichen Erfahrung dieser ›Welten‹ im nachtodlichen Zustand. Zur Schilderung dieses Erlebens griffen die theosophischen Autoren auf traditionelle Jenseitsvorstellungen, Unterweltsschilderungen und Himmels- bzw. Höllenvisionen zurück, wie sie sich in den verschiedenen Mythologien und Religionen sowie in Kunstwerken wie Dantes Göttlicher Komödie und Goethes Faust niedergeschlagen haben. Die Theosophen verstanden diese Jenseitsdarstellungen (ähnlich übrigens wie die Begründer der modernen Tiefenpsychologie, Sigmund Freud und C. G. Jung) als in Symbolik gehüllte Schilderungen seelischer und geistiger Aktivität, welche aber gewöhnlich unter der Oberfläche des gewöhnlichen Bewusstseins verläuft. Sie deuteten die Vorstellungen über das Leben nach dem Tod nicht als Produkte von Wunschdenken oder als willkürliche Erzeugnisse der Phantasie, sondern als einen nach bestimmten Gesetzen hervorgebrachten Spiegel einer Sphäre menschlicher Selbst- und Wirklichkeitserfahrung, die sich zwar unterhalb der Schwelle des gewöhnlichen sinnlichen Bewusstseins abspielt, deshalb aber um nichts weniger real und relevant ist als die Sphäre der bewussten Erlebnisse und Erfahrungen. Den in Mythen und Religionen beschriebenen ›Abstieg‹ der Seele in die verschiedenen ›Höllenkreise‹ oder ihren ›Aufstieg‹ in die verschiedenen ›Himmelsregionen‹ deuteten die Theosophen als Verbildlichung dieser verborgenen Erlebnisregionen, die dem Menschen ihrer Auffassung nach gewöhnlich erst dann bewusst würden, wenn das gewöhnliche sinnliche Bewusstsein erlischt – nach dem Tod also, oder in besonderen Ausnahmezuständen, in denen sich schon während des Lebens die seelische und geistige Tätigkeit von ihren gewöhnlichen physischen Organen unabhängig mache.

Die frühe Blavatsky hatte sich in der Isis für das ›leibfreie‹ bzw. nachtodliche Erleben des Menschen noch nicht besonders interessiert. Ein Ziel dieser Schrift war ja gewesen zu zeigen, dass die verschiedenen spiritistischen Phänomene, die von vielen Zeitgenossen für Einwirkungen der Seelen von Verstorbenen aus dem Jenseits verstanden wurden, als durchaus ›diesseitige‹ Phänomene zu erklären sind, die von einem Menschen durch Beherrschung der magnetischen Ströme in der Natur, durch den Einsatz von medial begabten Menschen oder durch Manipulation des Bewusstseins der Beteiligten erzeugt würden. Eine dezidierte Theorie vom individuellen Fortleben nach dem Tod gibt es daher in der Schrift nicht; vielmehr meinte die frühe Blavatsky, der Geist des Menschen gehe am Ende wieder in dem universellen ›Allgeist‹ auf, aus dem er ursprünglich gekommen ist.

Erst in Sinnetts Esoteric Buddhism wird die Darstellung der Erlebnisse des Menschen im leibfreien bzw. nachtodlichen Zustand zum zentralen Thema theosophischen Denkens. Die Schrift entwirft eine systematische Theorie zweier deutlich abgegrenzter Erlebnisbereiche neben dem gewöhnlichen sinnengebundenen Wachbewusstsein: einer Sphäre rein seelischen Erlebens (die ›Astralwelt‹) und einer Sphäre rein geistiger Erfahrung (die ›Mentalwelt‹). Methodisch ist diese Drei-Welten-Lehre eng an die Wesensgliederlehre geknüpft: Das Erleben der ›Astralwelt‹ versteht Sinnett als Ergebnis eines Heraustretens des Menschen aus dem physischen Leib, aufgrund dessen er dann nicht mehr in einer sinnlichen, sondern in einer rein seelischen Umwelt lebt. Was der Mensch normalerweise als seine ›Innenwelt‹ kennt, trete ihm in diesem Zustand sozusagen als eine seelische ›Außenwelt‹ entgegen. Entsprechend schildert Sinnett auch das Erleben der ›Mentalwelt‹: Dieses trete in dem Moment auf, in welchem dem Menschen seine eigene geistig-intellektuelle Wesenheit als eine rein gedankliche ›Außenwelt‹ gegenübersteht.

Für den gewöhnlichen Menschen verläuft nach Sinnett solch rein ›seelisches‹ bzw. ›geistiges‹ Leben unterhalb der Schwelle des Bewusstseins und wird erst im Zustand nach dem Tod wirkliche bewusste Erfahrung. In dieser besonderen Hinsicht, d. h. als Sphären nachtodlichen Erlebens, beschreibt er die ›Astralwelt‹ und die ›Mentalwelt‹ anhand der aus dem Sanskrit entliehenen Begriffe ›kama loca‹ und ›devachan‹. Den ersten Bereich charakterisiert er als ein intensives Erleben des Eigencharakters der Seele, insbesondere von deren Wunschnatur (kama), während Letztere seiner Darstellung nach in einem Erleben des Eigencharakters der eigenen Geistigkeit, d. h. der intellektuellen und spirituellen Interessen, Fähigkeiten und Gewohnheiten besteht. Sinnetts Darstellung dieser Erlebnisbereiche gleicht in vieler Hinsicht mittelalterlichen Beschreibungen der Hölle bzw. des Purgatoriums; was der Mensch hier erlebe, sei primär geprägt von der Qual unerfüllter bzw. unerfüllbarer Begierden. Seine Darstellung der Erfahrung der eigenen Geistigkeit hingegen gleicht traditionellen Himmelsbeschreibungen bzw. Paradieserfahrungen; dieser Zustand wird beschrieben als permanente und ungestörte geistig-intellektuelle Wunscherfüllung, als ein Umgebensein mit allem, was den Menschen im gewöhnlichen Leben interessierte und was er liebte. Nach einer gewissen Zeit in diesen beiden Sphären ende dann das Erleben von ›kama loca‹ und ›devachan‹ mit der erneuten Reinkarnation des Menschen. Sobald der Mensch wieder in einem physischen Körper lebe, würden die subtileren Erfahrungssphären vom gewöhnlichen Bewusstsein wieder überdeckt und leuchteten bestenfalls im Traumerleben oder in unnatürlichen Bewusstseinszuständen wie der Hypnose oder der Trance gelegentlich auf.

Blavatsky nahm diese Vorstellungen in The Secret Doctrine und im Key to Theosophy im Wesentlichen so auf, wie sie bei Sinnett dargestellt werden. Und auch Besant ging im dritten theosophischen Handbuch, Death and After von 1993, nach diesem Vorbild vor. Eine inhaltliche Erweiterung erfuhr dieses Themenfeld erst wieder, als Charles Leadbeater 1895 das fünfte und sechste der theosophischen Handbücher veröffentlichte: The Astral Plane und The Devachanic Plane. Zentrale Neuerungen Leadbeaters waren, dass er zur Beschreibung beider Bereiche eine Siebengliederung einführte. Sinnett hatte lediglich innerhalb des ›devachan‹ ein untere (rupa) und eine obere (arupa) Region unterschieden; Leadbeater aber lässt sowohl die ›astrale‹ wie die ›mentale‹ Erlebnissphäre aus sieben deutlich unterschiedenen Bereichen bestehen, in denen jeweils deutlich unterschiedene seelische und geistige Erlebnisse gemacht würden. Besant nahm später die leadbeatersche Siebengliederung der Seelen- und Geisteswelt in ihr Hauptwerk The Ancient Widsom auf. Dieses wiederum war eine zentrale Quelle für Steiners Schilderungen des nachtodlichen Bewusstseins in der Theosophie.

 

Die Drei-Welten-Lehre Steiners in der Erstausgabe von 1904

Rudolf Steiner lehnte sich 1904 stark an diese Vorbilder an und folgte besonders Besants Schilderungen in vielen Einzelheiten bis ins Detail (vgl. dazu die ausführlichen Textvergleiche im Stellenkommentar), wich allerdings an manchen Stellen auch signifikant von ihnen ab. Steiner schildert die drei ›Welten‹ zunächst, wie in der theosophischen Literatur üblich, als handle es sich um ontisch zu verstehende, raum-zeitliche Seinsbereiche, in welchen der Mensch ›lebe‹ bzw. in die er ›eintrete‹. Zugleich aber gibt er durch die verschiedenen Auflagen sich häufende Hinweise darauf, dass es sich hier eigentlich um epistemische Sphären, um Erlebniswelten handelt. Die drei ›Welten‹ erweisen sich als drei prinzipielle Bewusstseinsmodi, in denen Wirklichkeit sich im Menschen ihrer selbst bewusst wird: Erlebt der Mensch sich und seine Umwelt primär im Modus des durch die Sinneserlebnisse zustandekommenden Bewusstseins, so lebt er nach Steiner innerhalb der ›physischen Welt‹ und die beiden anderen ›Welten‹ bzw. Erlebnismodi laufen mehr oder weniger halb- bzw. unbewusst neben diesem her und werden in der Regel vom Menschen kaum beachtet. Erst wenn das gewöhnliche Tagesbewusstsein erlischt, etwa im Schlaf oder nach dem Tod, dann treten nach Steiners Auffassung diese tieferen Schichten seelischer und geistiger Aktivität in den Horizont des bewussten Erlebens.

Die bewusstseinsphilosophische Perspektive der Betrachtung hebt jedoch die ontologische nicht notwendig auf. Im Gegenteil wäre zu fragen, ob nicht nur das vorliegende Kapitel, sondern die gesamte Schrift und die steinersche Esoterik insgesamt missverstanden wird, solange man darüber disputiert, ob die Darstellung der drei Welten ›realistisch‹ als Schilderung objektiv bestehender Seinssphären oder ›idealistisch‹ als Darstellung subjektiver Erlebnissphären gemeint sei. Insbesonders angesichts der Ergebnisse von Steiners vortheosophischen Schriften wäre vielmehr zu fragen, ob es der Darstellung nicht gerade darum geht, ein Denken in dualen Gegensätzen wie ›real‹ und ›ideal‹, ›innerlich‹ oder ›äußerlich‹, zu vermeiden. Es spricht manches dafür, dass es Steiner in diesem Kapitel um eine Darstellung von Erlebnissen geht, die in einer Sphäre gemacht werden, in der es, wie er selbst in seinen philosophischen Frühschriften immer wieder betont hatte, ein ›außen‹ und ein ›innen‹ so nicht gibt.

Liest man die Theosophie aus der im philosophischen Frühwerk Steiners entwickelten hermeneutischen Perspektive, dann können die drei einleitenden Zitate der Schrift als Hinweise auf die besondere Art verstanden werden, wie Steiner das Kapitel rezipiert sehen wollte. Das erste dieser Zitate ist eine Äußerung von Hermann Lotze über die Bedingtheit der Sehwahrnehmungen durch die Organisation des menschlichen Auges. Im zweiten äußert sich Goethe darüber, dass jede Form von Wahrnehmung zunächst die Ausbildung eines entsprechenden Wahrnehmungsorganes erfordert. Die Vermutung liegt nahe, dass Steiner mit diesen Namen und Zitaten zugleich sein eigenes philosophisches Frühwerk aufruft (Goethe und Fichte, die beiden geistigen Pole dieses Frühwerks, waren ja schon im ersten Kapitel angeführt worden) und dieses seinen Lesern als hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Theosophie nahelegt. Die Botschaft wäre dann wohl diese: dass die zu schildernden ›höheren‹ Welten, die den postulierten ›höheren‹ Sinnen gegenüber aufgehen, ebenso von der Natur dieser höheren Sinne und des dadurch zustande kommenden Bewusstseins abhängen, wie die sinnliche Erscheinungswelt von der Natur des ›gewöhnlichen‹ gegenständlichen Bewusstseins. Und dass somit dasjenige, was auf den verschiedenen Stufen des ›höheren‹ Bewusstseins erlebt werden kann, nicht ›wirklicher‹ oder ›weniger wirklich‹ ist als das im gewöhnlichen Bewusstsein Erlebte, sondern nur ›auf andere Weise wirklich‹, da es durch andere Sinne zustande kommt. – Das dritte Zitat, wiederum von Goethe, könnte dann als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Leser für die nun folgende Schilderung des seelischen Erlebens nicht erwarten darf, darin ebensolchen fest abgegrenzten und voneinander getrennten ›Dingen‹ oder ›Objekten‹ zu begegnen, wie er sie aus der durch die gewöhnlichen Sinne erzeugten sinnlichen Erfahrungswelt kennt. Dass sie sich vielmehr in Form von Vorgängen, Prozessen sowie von Wirkungen dieser Prozesse aufeinander bzw. von deren Vermischung darstellt und somit dem ›Reich der Mütter‹ im zweiten Teil des Faust gleicht, wo es »nichts Festes« gibt, auf dem der Fuß, das Auge oder der Gedanke ruhen könnte, sondern nur Prozesse der »Gestaltung« und »Umgestaltung«.

Was immer Steiner mit den drei einleitenden Zitaten des dritten Kapitels bezweckt haben mag und wie immer er seine Darstellung gelesen und verstanden wissen wollte: In der Durchführung ließ er den formal und inhaltlich an die philosophischen Traditionen des Idealismus und des Neukantianismus anknüpfenden Duktus seines Frühwerks hinter sich und folgte im Wesentlichen der Methode, welche Alfred Sinnett in seinem Esoteric Buddhism vorgegeben hatte und dem alle theosophischen Autoren nach ihm gefolgt waren. Diese Methode bestand darin, die Darstellung der verschiedenen Erlebnissphären als Beschreibung des Erlebens zwischen Tod und neuer Geburt zu konzipieren, als ›Pilgerfahrt der Seele‹ »vom Himmel durch die Welt zur Hölle«. Das dritte Kapitel knüpft unmittelbar an diese Vorbilder an und tritt somit dezidiert als theosophische und nicht als philosophische Schrift auf, legt aber zugleich durch das Einstreuen verschiedener Hinweise, Einschübe und Zusätze eine ›ideogenetische‹ Deutung der Darstellung im Sinne der bewusstseinsphilosophischen Ausrichtung von Steiners philosophischem Frühwerk nahe. In dieser Vermischung von theosophischem Inhalt mit philosophischer Hermeneutik liegt eine besondere Faszination, aber auch eine besondere Problematik des dritten Kapitels und der steinerschen Theosophie insgesamt.

 

Die Seelenwelt

Steiners zentrale Medien für die Beschreibung des Erlebens im Seelischen sind die Begriffe ›Antipathie‹ und ›Sympathie‹. Deren Bedeutung ist hier allerdings eine andere als im allgemeinen Sprachgebrauch. Es geht Steiner nicht um dasjenige subjektive Erleben, welches das ›gewöhnliche‹ Bewusstsein als ›Antipathie‹ und ›Sympathie‹ kennt, sondern um Erlebnisformen, die sich allein im ›rein seelischen‹ Erleben zeigen. Schon Steiners erste Bestimmung der ›Seelenwelt‹ ist also eine durchaus uneigentliche und gewissermaßen metaphysische, vergleichbar vielleicht der bekannten Aussage des Empedokles, dass die Grundkräfte des Seins in ›Liebe‹ und ›Streit‹ bestünden. ›Antipathie‹ ist Steiners Metapher für die Eigenschaft seelischer Phänomene, sich von anderen abzugrenzen, sich gegenüber ihrer seelischen Umwelt gewissermaßen zu verschließen und ihr Eigensein zu behaupten; das ›Sympatische‹ hingegen besteht in der umgekehrten Fähigkeit der Hinwendung und Öffnung gegenüber der Umwelt, in der Fähigkeit zu Interaktion und Verschmelzung. Um diese Prozesse anschaulich zu machen, spricht Steiner von den beiden seelischen Phänomenen als von seelischem ›Stoff‹, aus dem sich die Inhalte der seelischen Welt bilden. Aus der Darstellung wird jedoch klar, dass man sich hier nicht eine verfeinerte Stofflichkeit vorzustellen hat, die ähnlich der physischen Materie zu denken wäre (nur etwa, wie bei Steiners theosophischen Vorgängern, ›weniger dicht‹ als diese); vielmehr scheint Steiner eine metaphysisch verstandene ›Stofflichkeit‹ im aristotelischen Sinne des Wortes ›Materie‹ (hyle) im Sinn gehabt zu haben, d. h. eine grundsätzliche Potentialität des Seelischen, sich als antipathische oder als sympathische Form zu verwirklichen bzw. von einer Form in die andere überzugehen.

Um die verschiedenen Formen der Interprozessualität der beiden seelischen Grundphänomene anschaulich werden zu lassen, greift Steiner die leadbeatersche Vorstellung von sieben hierarchisch angeordneten ›Regionen der Seelenwelt‹ auf, in deren niedrigster die Antipathie und somit Verlangen, Gier und Eigensucht vorherrschen, deren höchste hingegen als ein sympathisches Verströmen und Mitteilen charakterisiert wird und durch den Begriff der ›Liebe‹ beschrieben wird. Weitere Metaphern, die in der Theosophie neben der ›Stofflichkeit‹ und der Unterteilung in ›Regionen‹ zur Beschreibung des Seelischen verwendet werden, sind die Begriffe ›Reizbarkeit‹ und ›Berührung‹. Da sich Reizungen und Berührungen im eigentlichen Sinn nur zwischen physischen Objekten im Raum vollziehen können, sind auch diese Ausdrücke zur Beschreibung der seelischen Phänomene offensichtlich im uneigentlichen Sinne zu verstehen. Erstere beschreibt, so Steiner, das Maß der Fähigkeit und Inklination zur Interaktion eines seelischen Phänomens mit seiner Umwelt, letztere bezieht sich auf die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit zwischen seelischen Erscheinungen. Was also im Seelischen wesensverwandt ist, beschreibt die Theosophie im räumlichen Bild als einander ›nahe‹, seelische Verschiedenheit hingegen wird als räumliche Distanz dargestellt.

In diese ›Seelenwelt‹ tritt nun der Mensch nach Steiner mit dem Tode ein; wobei natürlich auch die Vorstellung des ›Eintretens‹ wieder als Bild zu verstehen ist, denn die hier in Frage stehenden Phänomene sind nach Steiner stets vorhanden, auch wenn sie sich gewöhnlich unterhalb der Schwelle des Bewusstseins abspielen. Wie das Bild der ›Regionen‹ beziehen sich auch die Metaphern des ›Eintritts‹ in diese bzw. des ›Wanderns‹ darinen offensichtlich auf verschiedene Formen und Grade der Bewusstheit des Menschen gegenüber dem Seelischen, innerhalb dessen er immer lebt, das er aber nach theosophischer Vorstellung gewöhnlicherweise nur im Zustand nach dem Tod in dieser Form bewusst erlebt.

Das bewusste Erleben der verschiedenen Verhältnisse des Seelischen untereinander wird geschildert im Bild des längeren oder kürzeren ›Aufenthalts‹ in den verschiedenen ›Regionen‹ der Seelenwelt. Dabei gehen jene Formen des Erlebens, welche ihren Ursprung in der leiblichen Verfasstheit des Menschen haben, zunehmend zurück, sie ›erlöschen‹ langsam, im Bild gesprochen, und zwar umso mehr, je deutlicher der Mensch das Seelische als solches, d. h. nicht durch sinnlich geprägte Vorstellungen vermittelt, zu erleben im Stande ist. Der Text schildert diesen Vorgang im mythischen Bild des Purgatoriums, also als einen ›Ort‹ der ›Läuterung‹ der Seele von aller Anhaftung als das Sinnliche. Die verschiedenen Formen der ›Läuterung‹ in den individuellen ›Regionen‹ der Seelenwelt illustrieren das Erleben verschiedener Grade, in denen der Mensch mit der Differenz zwischen seiner individuellen seelischen Verfasstheit und den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Seelischen konfrontiert wird. Diese Differenz schwindet, je tiefer der Mensch in die Seelenwelt eindringt bzw. je mehr er sich der höchsten ›Region‹ nähert. Wenn er in diese ›eintritt‹, ist die Differenz nach Steiner praktisch aufgehoben und sein individuelles seelisches Erleben hat jegliche Individualisierung, jegliche Anhaftung ans Sinnliche abgelegt. Es löst sich, so ein weiteres Bild Steiners, in der allgemeinen Seelenwelt praktisch auf wie Salz im Wasser.

Wenngleich aber diejenigen Alterationen, welche die Individualseele durch ihr Leben in der physisch-sinnlichen Welt erfahren hat, am Ende der Reise durch die Seelenwelt verschwunden sind, so verbleibt nach Steiner doch eine Art ›Essenz‹, ein Extrakt, nämlich dasjenige, was der Mensch als geistigen Zuwachs, als ›Frucht‹ seines vergangenen Lebens gelernt bzw. seiner geistigen Individualität hinzugefügt hat – ein ›Erdenrest‹, um das goethesche Bild aus Fausts Himmelfahrt zu gebrauchen. Diesen nehme der Mensch mit, wenn er die ›Seelenwelt‹ auf seiner nachtodlichen ›Reise‹ entgültig verlasse und in die ›Geisterwelt‹ eintrete.

 

Die Geisterwelt

Steiners Schilderung des ›Eintritts‹ in die ›Geisterwelt‹ ist wieder so zu verstehen, wie das frühere Bild der ›Reise‹ durch die ›Seelenwelt‹: So wie nach dem Tod und im Schlaf durch das Erlöschen des sinnengebundenen Bewusstseins die sinnlich-physische Welt für den Menschen verschwindet und dadurch neue Erlebnisbereiche vor ihm auftauchen, die immer da waren, aber zuvor nicht ins Bewusstsein eintraten, so ist es auch jetzt wieder: Durch die Auflösung des ›Seelischen‹ werde das ›Geistige‹, das der Mensch bisher nur in seinen Spiegelungen im gewöhnlichen Bewusstsein bzw. durch Vorstellungen vermittelt gekannt habe, jetzt in seiner ihm eigenen Wesenheit erlebbar.

Wie die ›Seelenwelt‹ primär durch die Phänomene von Abstoßung und Anziehung (Antipathie und Sympathie) charakterisiert worden war, so wird nun die ›Geisterwelt‹ durch die beiden Grundphänomene ›Gedanke‹ und ›Wille‹ charakterisiert. Wieder finden wir sieben ›Regionen‹, deren untere vier als gedankenartig beschrieben werden bzw. als Bereiche von ›Urbildern‹ im Sinne der platonischen Ideenlehre, deren obere hingegen durch ein Element gekennzeichnet sind, welches Steiner als Wille, Intentionalität, ›Absicht‹ bezeichnet. Auffallend ist, dass der hierarchische Aufbau dieser geistigen ›Regionen‹ ein anderer ist als derjenige der seelischen: Die Erlebnissphäre des reinen unvermischten urbildlichen Gedanklichen ist nicht die unterste (was analog zur untersten seelischen ›Region‹ der reinen Antipathie wäre), sondern die mittlere. Darunter liegen Regionen, in denen sich die Urbilder der physisch-sinnlichen Dinge (unterste Region) und dann diejenigen des Lebendigen und des Seelischen befinden (zweite und dritte Region). Während also die verschiedenen Formen des Seelischen nach Steiner als Verhältnisse zwischen antipathischen und sympathischen Tendenzen bewusst erlebt werden können, stellen sich die unterschiedlichen geistigen Erscheinungen als verschiedene Verhältnisse von Potentialität bzw. Sein-Können (Urbild) und Intentionalität bzw. Sein-Wollen (Absicht) dar.

Auf diese Weise entspricht Steiners ›Geisterwelt‹ strukturell derjenigen Alfred Sinnetts, welcher ebenfalls die devachan-Welt als zweifach gegliedert hatte in eine ›untere Region‹ von geformter Geistigkeit (rupa) und eine ›höhere‹ von reiner ungeformter Geistigkeit (arupa). Der Schritt von dieser relativ unbestimmten Zweiteilung innerhalb der Mentalwelt hin zu deren Bestimmung als von ›Gedanke‹ und ›Wille‹ geprägt hat unseres Wissens nach kein Vorbild in der theosophischen Tradition und kann daher als originärer Beitrag Steiners angesehen werden. Die sich hieraus ergebenden Möglichkeiten einer fruchtbaren Anbindung theosophischen Denkens an klassische philosophische Diskurse – etwa im Hinblick auf eine mögliche Vermittlung voluntaristischer und intellektualistischer Seinskonzeptionen – sind in der bisherigen Steinerforschung allerdings kaum gesehen worden.

Die drei oberen Erlebnissphären werden charakterisiert als ›Region der Absichten‹; hier überwiegt der intentionale Charakter des Geistigen gegenüber seiner Urbildhaftigkeit. Ferner war alles bisher erlebte Geistige bezogen auf einen Modus von Wirklichkeit, in dem die Urbildlichkeit des Geistigen einen äußerlichen Ausdruck findet; hier aber ist dieses Geistige nurmehr bezogen auf sich selbst. Zugleich aber schreibt Steiner, dass der Mensch in diesen Regionen nicht nur den allem Sein zugrundeliegenden »Absichten und Zielen«, sondern zugleich auch »seinem eigentlichen Selbst« gegenübertrete. Die fünfte ›Region‹ wird charakterisiert als Sphäre der Bewusstwerdung des eigenen ›Geistselbst‹, die sechste als Erlebnis der Ausgestaltung einer »göttlichen Sendung« für das folgende Erdenleben (TH, 129). Die siebte und höchste ›Region‹ des Geistigen beschreibt Steiner dann als eine solche, in welcher die »Absichten und Ziele«, die jetzt auch als »Lebenskerne« charakterisiert werden, als solche rein hervorträten. Ferner lösten sich hier für den Menschen alle noch verbleibenden »Rätsel der drei Welten« und er erkenne »das große ›Warum‹ des Daseins«. Drittens schließlich offenbarten sich hier die »großen Führer des Menschengeschlechtes«. Darüber hinaus heißt es, diese Region sei Grenze zu einer noch ›höheren‹ Erlebnissphäre, die aber als solche nicht mehr thematisiert wird. Nur soviel wird verraten, dass die ›Absichten‹ der höheren Geisteswelt aus dieser noch höheren ›Welt‹ stammen.

Wieder beschreibt Steiner die zu charakterisierende Erlebnissphäre als ›Reise‹ der Seele durch deren verschiedene ›Regionen‹. Zentrale Metapher ist jetzt die ›Dauer‹, welche die Seele in einer bestimmten Region verbringt; gemeint damit ist der Grad der geistigen Verwandtschaft, welche den Menschen mit den verschiebenen ›Regionen‹ verbindet. Ein anderes Bild spricht davon, dass der Mensch sich von den verschiedenen Regionen ›nähre‹, d. h. von ihnen geprägt werde und diese Prägung dann als Tendenz in seine nächste Inkarnation mitbringe. Eine dritte Zentralmetapher des Kapitels ist die Charakterisierung der verschiedenen ›Regionen‹ als Sphären, in denen der menschliche Geist mit Gruppen von wesensverwandten Individuen zusammenkomme: mit Künstlern und Wissenschaftlern, mit Anhängern der gleichen Religion und Weltanschauung, und, auf der höchsten Stufe, mit den ›großen Eingeweihten‹.

 

Die Textentwicklung der Drei-Welten-Kapitels

In der Ausgabe von 1908 zeigt sich ein deutliches Interesse Rudolf Steiners, treffendere sprachliche Formulierungen für den uneigentlichen Charakter der Darstellung zu finden. Von den vielen Änderungen, die hier zu nennen wären, seien nur einige charakteristische beispielhaft angeführt. Wurde die Seelenwelt ursprünglich noch als ein ›Ort‹ beschrieben, an den der Mensch nach dem Tod ›versetzt‹ wird, ist sie nun charakterisiert als »dasjenige, was nach dem Tod auf die Seele in bestimmter Weise wirkt« (TH, 98). Statt von bestimmten ›Regionen‹ wird an vielen Stellen von bestimmten ›Vorgängen‹ (TH, 99) oder ›Erlebnissen‹ (TH, 104) innerhalb des Seelischen gesprochen, und der ›Aufenthalt‹ in einer bestimmten Region wird jetzt als ›Verwandschaft‹ der Seele zu einer bestimmten Art von Erlebnissen beschrieben (TH, 121). Was zuvor im Bild der ›Zeit des Aufenthaltes‹ in einer Region charakterisiert worden war, wird nun illustriert als ›Menge der Kraft‹, welche die individuelle Seele durch Interaktion mit ihrer seelischen Umwelt schöpfen kann (TH, 127). Die frühere Metapher des ›Aufstiegs‹ der Seele in immer ›höhere Regionen‹ weicht dem Bild des »allmählichen Abstreifens« sinnengebundener Erfahrungen (TH, 104), und bei vielen Phänomenen innerhalb der Seelenwelt, von denen es zuvor hieß, sie seien hier »vorhanden«, spricht Steiner nun davon, man könne »sprechen von« dieser oder jener Erscheinung (TH, 112). Besonders fällt auch auf, dass Steiner schon 1908 beginnt, solche Vergleiche zurückzunehmen, in welcher in der Erstausgabe das seelische Erleben noch in der Metaphorik traditioneller Höllenschilderungen dargestellt wurde. (Besonders Annie Besant neigte dazu, sich seitenlang in solchen detailreichen dantesken Schilderungen zu ergehen). So wird nicht mehr von seelischer »Pein« gesprochen, sondern von Erlebnissen, welche dem Schmerz vergleichbar seien (TH, 101). In eine ähnliche Richtung gehen auch mehrere Zusätze, in denen Steiner die verschiedenen ›Regionen‹ nicht mehr strikt voneinander trennt, sondern von »fließenden Übergängen« spricht (TH, 90 sowie TH, 110). Dieser Prozess der Streichung von Stellen, die an traditionelle Höllenbeschreibungen erinnern, geht auch in späteren Auflagen weiter.

Ein zweiter wichtiger Aspekt dieser Neuauflage ist die Erweiterung der übersinnlichen Wahrnehmung um eine ganz neue Dimension. In der Erstauflage hatte Steiner nur von solchen übersinnlichen Wahrnehmungen gesprochen, die visuell-bildhaften Charakter haben (wofür er später den Begriff der ›Imagination‹ verwendete). Nun aber erfährt der Leser in einem ausführlichen Zusatz (TH, 108 ff.) von einer weiteren, laut-artigen bzw. dem Hören verwandten übersinnlichen Wahrnehmungsart (später von Steiner als ›Inspiration‹ bezeichnet). Dieses Hinzukommen der Inspiration zur Imagination, und ebenso ein weiterer Zusatz über das Vernehmen der »ewigen Namen« (TH, 113) entspricht inhaltlich dem Ausbau von Steiners Vorstellungen über die Natur der übersinnlichen Wahrnehmung, wie er sie inzwischen in seinen Aufsätzen Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten und Die Stufen der höheren Erkenntnis entwickelt hatte.

Auf verschiedene weitere Zusätze der zweiten Auflage (etwa TH, 77 und 96 f.) soll hier nicht näher eingegangen werden; erwähnenswert ist allerdings noch die Streichung einer Passage, in welcher Steiner 1904 deutlich auf Annie Besants Schrift Uralte Weisheit hingedeutet und sogar wörtlich daraus zitiert hatte (TH, 89). Schon 1908 begann Steiner also damit, die Spuren zu verwischen, welche den Leser ursprünglich noch auf seine theosophischen Quellen hingewiesen hatten. Und auch dies sei noch erwähnt, dass Steiner ursprünglich die im Kapitel beschriebenen geistigen ›Urbilder‹ weitgehend mit den vom Menschen erfassten Gedanken gleichgesetzt hatte, jetzt aber einen deutlichen Unterschied machte und das menschliche Denken als »Abglanz der Urbilder« charakterisierte (TH, 134) – eine Tendenz, die sich auch in anderen Texten Steiners zeigt und sich im Lauf seiner Entwicklung noch verstärkt hat. Erst allmählich formulierte Steiner auch in der Theosophie die in seinen philosophischen Schriften schon früher gemachte deutliche Unterscheidung zwischen dem gewöhnlichen ›Vorstellen‹ oder ›Gedanken haben‹ und dem ›reinen‹, ›leibfreien‹ oder ›sinnlichkeitsfreien‹ Denken.

In der Fassung von 1910 finden sich mehrere Stellen, an denen das Adjektiv ›seelisch‹ durch ›geistig-seelisch‹ ersetzt wird. Sucht man nach den Gründen dafür, so lässt sich ein Bestreben Steiners feststellen, den Begriff der ›Seele‹ bzw. des ›Seelischen‹ etwas anders zu fassen als zuvor. Während bisher das Seelische primär als eine eigene und gegenüber dem Geistigen unabhängige Seinsform erscheinen konnte, wird jetzt deutlicher betont, dass Steiner das erstere als eine Modalität bzw. eine Erscheinungsform des letzteren versteht: ›Seelisches‹ ist letztlich ›Geistiges‹, das in einer bestimmten Form auftritt. Und auch die Vorstellung von der Individualseele des Menschen wird modifiziert. Hieß es zuvor, die Seele gehe »in Auflösung über« wenn die Reise durch die ›Seelenwelt‹ vollendet ist, so liest man nun: »die Seele übergibt das der Auflösung, was sie nur innerhalb des Leibes erleben kann« (TH, 94). Oder: Zuvor hatte Steiner davon gesprochen, dass die Seele nach dieser ›Reise‹ »keine andere Aufgabe« mehr habe und »alles Eigenleben« verliere; nun aber wird gesagt, sie nehme dann »die Richtung nach dem Geiste« (TH, 95) und verliere lediglich die »Hinneigung zum Sinnlichen«. Ursprünglich hieß es sogar, die »Seele hört auf zu existieren«, wenn ihre Aufgabe erfüllt ist; jetzt schreibt Steiner, sie existiere nur insofern nicht weiter, als sie »ein Wesen [sei], das dem physisch-sinnlichen Dasein zugeneigt ist« (TH, 97). Steiner grenzt sich offenbar von der die buddhistische Reinkarnationsidee charakterisierenden (und auch in theosophischen Texten bisweilen zu findenden) Vorstellung einer vollständigen Auflösung des Individuums in einer allgemeinen Seinsumgebung ab. Dieser wird eine für die christliche Mystik charakteristische Vorstellung der Einswerdung von Individuum und absolutem Seinsgrund entgegen gesetzt, wobei das geistige Individuum als solches bestehen bleibe (TH, 98).

An anderen Stellen wird statt von »Auflösung« gar von »Befreiung« der Seele durch die beschriebenen Erlebnisse gesprochen. Damit greift die Theosophie einerseits ein besantsches Stichwort auf, knüpft aber auch unmittelbar an die philosophischen Frühschriften Steiners und insbesondere an die Philosophie der Freiheit an. Denn das Ziel der nachtodlichen Erlebnisse in der ›Seelenwelt‹ erscheint nun ganz analog demjenigen, wonach in Steiners Frühwerk die Entwicklung des Menschen und der Menschheit strebt, nämlich die Befreiung von den physischen und seelischen Bedingungen der Existenz durch Entwicklung eines reinen leibunabhängigen Denkens. – In dieselbe Richtung gehen auch einige Änderungen in der Beschreibung der sogenannten ›Absichten‹. Zuvor hieß es von diesen: Der Mensch lerne »das Walten der Absichten während [seiner] Verkörperungen selbst in diesem erhöhten Zustand kennen«. Nun aber schreibt Steiner: Der Mensch »lebt in dem Walten der Absichten [...] die er seinem eigenen Selbst eingliedert« (TH, 128). In anderen Worten: Die Freiheit des Menschen basierte 1904 noch darauf, dass ihm die Ziele seines Lebens aus der geistigen Welt heraus gegeben werden; jetzt aber beschreibt Steiner diesen zuvor bloß rezeptiven Vorgang als aktive Tat des Menschen. Dieser übernehme nicht einfach eine ihm von der Weltgeistigkeit vorgegebene Richtung, sondern werde auf dieser Stufe des Erlebens eins mit dieser und setze sich, aus diesem Einssein heraus, die weiteren Ziele seines Lebens selbst. Die Sache war Steiner anscheinend so wichtig, dass er auch noch eine Schlussbemerkung dazu hinzufügte (TH, 189), in welcher er darauf hinwies, dass man sich unter dem Begriff ›Absichten‹ nichts vorzustellen habe, was analog einer menschlichen ›Absicht‹ sei. Steiner sah offenbar schon 1910 ein Argumentationsproblem, welches dann auch 1918 in der Neuauflage seiner Philosophie der Freiheit virulent wurde, nämlich den grundsätzlichen Widerspruch, welcher zwischen seinem 1894 in dieser Schrift formulierten Begriff von Freiheit und der nunmehr postulierten Annahme einer im allgemein-Geistigen verankerten Teleologie der Weltentwicklung besteht. Die in der dritten Auflage beschriebene Erfahrung der Einswerdung des individuellen Geistes mit dem allgemein-Geistigen in der siebten ›Region‹ versucht anscheinend, diesen Widerspruch irgendwie denkbar zu machen.

Im Text der Neuauflage von 1914 zeigt das Kapitel erwartungsgemäß die schon in früheren Kapiteln konstatierte Tendenz zur terminologischen Enttheosophisierung. Von einer ›astralen‹ und einer ›mentalen‹ Welt ist nicht mehr die Rede, sondern es werden durchweg die Begriffe ›seelisch‹ und ›geistig‹ verwendet. Hinweise darauf, dass die sogenannte ›Begierdewesenheit‹ dem theosophischen ›kama‹ entspreche und der ›Ort der Begierden‹ theosophisch ›kama loca‹ heiße, werden durchweg gestrichen (TH, 79, 83). In die gleiche Richtung geht auch die Streichung der Erwähnung der Begegnung mit den ›großen Eingeweihten‹ als geistigem Erlebnis, die Steiner möglicherweise jetzt zu sehr nach einem Hinweis auf die theosophische ›Meister‹-Vorstellung aussah (vgl. TH, 130 f. sowie Steiners entsprechende Änderungen in WE, 3).

Neben dieser terminologischen Flurbereinigung fährt Steiner 1914 damit fort, einer einseitig-realistischen Lesart seiner Schilderungen entgegenzuarbeiten, etwa wenn er zu dem Begriff der ›Seelenstofflichkeit‹ nun hinzufügt, dass das Wort ›Stoff‹ »natürlich hier in einem sehr uneigentlichen Sinne gebraucht« werde (TH, 106). Auch bemüht er sich, im Zusammenhang der Schilderung karmischer Folgen der Vorstellung entgegenzuwirken, als handle es sich dabei um eine ›Strafe‹ für begangene Fehler oder um ein dem Menschen von außen auferlegtes Schicksal. Was aus der Perspektive des gewöhnlichen Bewusstseins als solches aussehen könne, erweise sich, so Steiner, in Wirklichkeit als Folge des im Vorgeburtlichen entwickelten eigenen Wunsches nach solchen Erlebnissen (vgl. Zusatz TH, 128).

Zuletzt sei noch eine Wendung erwähnt, welche an die antimystische Tendenz der zweiten Auflage anknüpft. Da hieß es zuvor, auf den höchsten Stufen des geistigen Erlebens nehme sich der Mensch »als ein Glied des Urgeistes« wahr und könne von sich selbst sagen: »Ich bin der Urgeist.« Jetzt formuliert Steiner, der Mensch nehme sich als ein »Glied der Urgeister« wahr; ferner erlebe der Mensch nicht sich selbst als der eine und einzige Urgeist (d. h. als Gott), sondern er fühle »in sich selbst des Urgeists Wort: ›Ich bin der Urgeist‹.« (TH, 129).

Die Ausgabe von 1918 führt die Enttheosophisierung des Textes weiter. Waren bisher vor allem theosophische Termini und Hinweise auf theosophische Quellen gestrichen worden, so ersetzt Steiner jetzt durchweg auch den noch an vielen Stellen stehengebliebenen Begriff ›Theosophie‹ als solchen durch denjenigen der ›Geisteswissenschaft‹. Fortgesetzt wird auch das Bemühen, den Leser auf die uneigentliche Natur der Darstellung aufmerksam zu machen. Der Begriff ›Region‹ für die verschiedenen seelischen und geistigen Erlebnisformen wird an vielen Stellen gestrichen und Steiner sucht stattdessen nach Ausdrücken, welche den Erlebnischarakter der beschriebenen Phänomene betonen. Statt von Ereignissen in einer bestimmten Region wird z. B. vom »Durchmachen« entsprechender Erlebnisse gesprochen (TH, 99). Auch die Rücknahme der ursprünglich in Anspruch genommenen Metaphorik von ›Himmel und Hölle‹ wird weiter fortgetrieben, indem Steiner statt von »furchtbaren Qualen« jetzt von »Entbehrungserlebnissen« spricht und die ›höheren‹ Erlebnisregionen statt durch ihre »Freundlichkeit« jetzt durch deren »Gleichartigkeit mit der Seele charakterisiert (TH, 104). Ein längerer Zusatz erläutert die uneigentliche Natur der Metapher von den ›geistigen Sinnen‹ (TH, 75), ein anderer diejenige des Bildes von den ›Elementarwesen‹. Steiner wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß »solche Beschreibungen nicht als Abbilder der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit gelten können«. Würden sie in diesem einseitig-realistischen Sinne verstanden, so »wäre die durch sie gemeinte Welt keine geistige, sondern eine grob-sinnliche« (TH, 142).

Fortgeführt wird auch die Reflexion über den Zusammenhang des über die ›Absichten‹ Gesagten und die damit zusammenhängende Aporie zwischen Freiheit und teleologischer Vorherbestimmung. Steiner widmet dem eine Fußnote (TH, 113), in welcher er den uneigentlichen Charakter der Metapher von den ›Absichten‹ noch einmal hervorhebt und unterstreicht, dass »ein Aufwärmen der alten ›Zweckmäßigkeitslehre‹« dabei nicht intendiert sei. Ähnliche Bemühungen um einen Ausgleich der hier vorliegenden Aporie finden sich übrigens auch in der im gleichen Jahr herausgekommenen Neuausgabe der Philosophie der Freiheit (vgl. PF, 195 f.).

Eine neu hinzukommende Tendenz der Bearbeitung von 1918 ist, die geschilderten Erlebnisse nicht mehr bestimmten individuellen Menschen oder Menschentypen zuzuordnen, sondern bestimmten Aspekten des Seelischen als solchem, wie es sich mehr oder weniger in jedem Menschen finde. An einer Stelle hieß es zunächst, dass solche Menschen, »deren Interessen ganz in [alltäglichen] Verhältnissen aufgehen«, den längsten Teil ihres geistigen Lebens in der zweiten ›Region‹ zuzubringen hätten. Nun hingegen spricht Steiner von »demjenigen im Menschen, dass mit seinen Interessen in diesen alltäglichen Verhältnissen aufgeht«; und dieses ›Etwas‹ in jedem Menschen verbringt nun nicht länger eine bestimmte Zeit in dieser geistigen ›Region‹, sondern »fühlt sich ihr verwandt«. Die Verwandtschaft drückt sich also nicht länger in der Dauer des Aufenthalts aus, sondern in der Intensität des Erlebnisses (TH, 120 f.).

Weitere sprachliche Änderungen des Kapitels entsprechen denen, die sich auch in früheren Teilen der Ausgabe von 1918 finden. Das Bild des ›Werkzeugs‹ für das Verhältnis des Leibes zum Menschen wird ersetzt durch organischere Begriffe oder Umschreibungen (TH, 92 u. 93). Steiner spricht statt vom »Apparat des Gehirnmechanismus« von den »Bedingungen des Gehirnorganismus« und bezeichnet den Leib nicht länger als »physischen Apparat«, sondern spricht von »physischen Bedingungen« (TH, 138). Teilweise sind die Veränderungen sehr subtil, etwa wenn Steiner das Wort ›Seelengebilde‹ durch ›Seelenbildungen‹ ersetzt (TH, 86). All diese Formulierungen zielen offenkundig darauf ab, die Darstellung dynamischer, weniger verdinglichend zu gestalten und das Prozesshafte aller geschilderten Inhalte zu betonen.

Von der Auflage von 1922 gilt wiederum, was schon im Zusammenhang der vorigen Kapitel gesagt wurde: Es gibt zahlreiche kleinere Eingriffe, aber diese liegen zumeist auf der Linie von bereits früher zu findenden Tendenzen: etwa die durchgängige Ersetzung des Begriffes der ›Hellsichtigkeit‹ durch denjenigen des ›Schauens‹ oder die Versicherung, dass der Leser des Buches zur Beurteilung nicht der eigenen übersinnlichen Erkenntnis bedarf, sondern nur des »klaren Blicks« darauf (TH, 143). Viele Änderungen betreffen stilistische Feinheiten, die inhaltlich nur minimal relevant sind.

Die Gedankenformen und die Auren

Auren und Gedankenformen in der theosophischen Literatur

Was die sogenannte ›Aura‹ angeht, so hatte Blavatsky schon in der Isis auf verschiedene Äquivalente dieser Vorstellung in der abendländischen Tradition hingewiesen, etwa im Paracelsismus und im Mesmerismus. In The Secret Doctrine hingegen erwähnt sie die Aura-Vorstellung nur beiläufig, ohne ausführliche Vorstellungen darüber zu entwickeln. Auch im Key to Theosophy finden sich keine näheren Ausführungen zum Thema, und das Theosophical Glossary gibt nur eine knappe Definition, welche die Aura vor allem aus mesmeristischer Sicht zu verstehen scheint:

Aura: A subtle, invisible essence or fluid that emanates from human and animal bodies and even things; it is a psychic effluvium, partaking of both the mind and the body, as it is the electro-vital and at the same time an electro-mental aura, called in Theosophy the akasic or magnetic.

Sinnett kannte den Begriff, entwickelte aber in Esoteric Buddhism dazu ebenfalls keine konkreten Vorstellungen. Besant sprach zum ersten Mal von der Aura im dritten theosophischen Handbuch, Reincarnation (1892), und zwar ganz im Sinne von Blavatskys Mesmerismus als eine Art »magnetic atmosphere«. Erst später, im vierten Handbuch (Karma von 1895), fügte sie hinzu, dass die verschiedenen Elemente der Aura sich der hellsichtigen Erkenntnis als farbartige Wahrnehmungen zeigen und dass in diesen Farbtönen der moralische Charakter eines Menschen abzulesen sei.

Diese Vorstellung wurde von Charles Leadbeater in Schriften wie Thought Forms (1901) und Man Visible and Invisible (1902) aufgegriffen und anhand detaillierter Aurenbeschreibungen breit ausgeführt. Ausführlich stellte Leadbeater bestimmte seelische und geistige Eigenschaften des Menschen, ja konkrete Gefühle und Gedanken, mit bestimmten Farbtönen innerhalb seiner Aura zusammen. Ferner stellte er neben die allgemeine farbliche Charakterisierung der Aura auch noch konkrete ›Gedankenformen‹ oder ›thought forms‹; so sollte der hellsichtigen Erkenntnis ein klar gefasster Gedanke als blitz- oder strahlartig, ein Gefühl der Zuneigung hingegen als blütenförmig erscheinen. Drittens erweitert Leadbeater die Konzeption dahingehend, dass er von drei verschiedenen Auren spricht: neben der ›kamic aura‹, die er als Visualisierung des ›astral body‹ versteht, charakterisiert er eine Aura des niederen und eine solche des höheren ›manas‹ und beschreibt verschiedene Eigenschaften der in den jeweiligen Auren wahrzunehmenden Farb- und Formphänomene.

 

Die Auren-Vorstellung in der Erstausgabe von 1904

Dieses leadbeatersche Modell kann als Vorbild der steinerschen Aura-Theorie gelten, wie sie in seinen Texten von 1903 und 1904 auftritt. Allerdings schenkt Steiner diesem Themenkomplex nach seiner Schilderung in der Theosophie kaum noch Aufmerksamkeit und ab 1911 fehlt sie völlig in seinen anthroposophischen Veröffentlichungen. Der theosophischen Aura-Vorstellung war offenbar für die anthroposophische Theoriebildung nicht viel abzugewinnen.

Steiners Darstellungen, sowohl in der Theosophie wie in einem ein Jahr zuvor erschienenen Aufsatz in der Luzifer-Gnosis, lehnten sich eng an diejenigen Leadbeaters an. Sein Kapitel darüber in der Theosophie schildert zunächst nur eine einzige Aura, wie Besant dies getan hatte, und charakterisiert diese als ein Wahrnehmungsphänomen, in welchem der übersinnlichen Betrachtung die seelisch-geistige Verfasstheit eines Menschen in Form einer eiförmigen Hülle von Lichterscheinungen entgegentrete. In diesem seien bestimmte Gefühle, Willensimpulse und Gedankenarten als bestimmte Farb- und Formerscheinungen wahrzunehmen. Im Verlauf der Darstellung differenziert Steiner dann, wie Leadbeater vor ihm, drei prinzipielle Arten von Phänomenen innerhalb der Aura: undurchsichtig-stumpfe, lichtartige und strahlend-funkelnde. Und aufbauend auf dieser Unterscheidung entwickelt er schließlich, ebenfalls im Anschluss an Leadbeater, die Vorstellung von drei verschiedenen Auren, die dann auch in die trichotomische Hüllentheorie integriert werden: Die erste Aura spiegele den Einfluss des Leibes auf die Seele, die zweite offenbare das Eigenleben des seelischen Lebens und in der dritten zeige sich die geistige Tätigkeit und deren Wirkung auf das Seelische. Diese grundlegende Konzeption von 1904 wird durch die verschiedenen Auflagen beibehalten und durch die späteren Revisionen kaum modifiziert. In späteren Texten wie auch in seinem Vortragswerk hat Steiner sich kaum noch über Auren geäußert. Dieser Vorstellungskomplex ließ sich für die anthroposophische Theorieentwicklung offenbar nicht so fruchtbar machen wie die Wesensgliederidee und die Karmavorstellung.

 

Die Textentwicklung des Abschnitts über die Auren

1908 kommt zu diesem Abschnitt eine Beschreibung der Aura des ›weisen‹ Menschen hinzu (TH, 150) sowie ein Zusatz mit Hinweisen auf die besonderen Schwierigkeiten bei der Beschreibung rein imaginativer Phänomene wie der ›Aura‹ (TH, 153). Außerdem spiegelt sich auch hier die Abkehr Steiners von der stark mystisierenden Ausdrucksweise der Erstfassung wieder, wenn er etwa die Formulierung, das »Göttliche selbst« strahle in die Aura hinein jetzt dahingehend modifiziert, dass er schreibt, es sei das »göttliche Selbst«, welches da zum Ausdruck käme (TH, 154). Besonders auffallend an dieser Revision ist auch die Streichung einer Passage, in welcher Steiner 1904 den Leser auf seine Bekanntschaft mit der Schrift Man Visible and Invisibe von Leadbeater und damit auf seine theosophischen Quellen aufmerksam gemacht hatte (TH, 149).

1910 zeigt sich in diesem Kapitel die schon an anderer Stelle beschriebene Bemühung Steiners, das Hellsehen nicht so erscheinen zu lassen, als ermögliche es den Einbruch in die Privatsphäre anderer Menschen. So betont er wiederum, in der Aura würden nicht die einzelnen konkreten Gedanken eines anderen Menschen sichtbar, sondern lediglich deren »Wirkungen in der Geistwelt« (vgl. Zusatz TH, 144). In dieser Fassung streicht Steiner auch eine besonders auffallende, in ihrer bildlichen Krassheit an Schilderungen Annie Besants erinnernde Passage, in denen er sich 1904 beklagt hatte, es sei »kein erfreulicher Anblick, die trägen Straßenbummler in unseren Großstädten, in ihren schmutziggrünen [aurischen] Wolken herumlungern zu sehen« (TH, 155).

In der Fassung von 1914 kommt ein längerer Zusatz hinzu, in dem Steiner noch einmal, wie schon in anderen Teilen der Schrift (und wie auch in den entsprechenden Passagen seines im selben Jahr revidierten Buches Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten), deutlich auf den uneigentlichen Charakter seiner und aller Aurenbeschreibungen hinweist (TH, 147). Der Hellseher sehe nicht wirklich Farben oder Formen, betont Steiner jetzt, sondern habe subtile seelische Erlebnisse, welche mit gewissen inneren Empfindungen vergleichbar seien, die der Mensch bei der sinnlichen Wahrnehmung bestimmter Farben und Formen habe. Ferner werden einige der früheren Farbangaben korrigiert bzw. präzisiert, etwa »Rot« zu »Rotgelb« (TH, 148) oder »schmutzig-gelb« zu »unklar-gelb« (TH, 155). Hinzu kamen schließlich auch einige neue Schlußbemerkungen. Eine davon begegnet dem Einwurf, man könne es bei der Aura mit einem Halluzinations-Phänomen zu tun haben (TH, 157). Ein anderer setzt sich mit dem Vorschlag eines kritischen Lesers auseinander (einem gewissem Dr. Hermann Westermann), man könne doch die Verlässlichkeit des Aurensehens, wenn man wolle, ganz leicht durch einen empirischen Versuch mit den Aussagen zweier Hellseher beweisen oder widerlegen (TH, 192 f.).

Die Fassung von 1918 führt mehrere der bereits angegebenen Tendenzen weiter. So wird weiterhin am sprachlichen Ausdruck gefeilt, um den uneigentlichen Charakter der Darstellung noch deutlicher zu machen und einer einseitig-realistischen Deutung der verschiedenen Aussagen entgegenzuwirken (TH, 148). Auch die Präzisierung der Farbvergleiche wird fortgesetzt (TH, 148 und 151). Am hervorstechendsten jedoch ist in dieser Auflage Steiners fortgesetztes Bemühen, alle Formulierungen auszumerzen, welche die Erforschung und Beschreibung von Auren als moralische Bewertung oder Klassifizierung der betreffenden Persönlichkeit erscheinen lassen könnten. So betont Steiner, es würden in diesen Beschreibungen nicht »Menschentypen« charakterisiert, sondern »verschiedenartige Seelenerlebnisse«. Statt von »Menschen, die stark ausgeprägte Affekte haben« wird jetzt gesprochen von »Seelenerlebnissen, die von stark ausgeprägten Affekten durchsetzt sind« (TH, 148); statt von »Denkernaturen« und »Affektnaturen« von Zuständen des »angestrengten Denkens« und »Affektzuständen«; statt von »hingebungsvollen Menschen« von »hingebungsvollen Seelenstimmungen« (TH, 149) und statt von »aktiven Seelen« von der »Aktivität der Seele« (TH, 150). Zuvor beschriebene »Menschen von geringer Denkkraft« heißen jetzt »Menschen, die nicht gewohnt sind, ihre Denkkraft zu entfalten« (TH, 149) und statt vom »Entwickelungsgrad« konkreter Menschen wird von der »Eigentümlichkeit des Seelenlebens« gesprochen.

Die Fassung des Aura-Kapitels von 1922 weist keine besonderen Änderungen auf. Daher sei nunmehr zum letzten zentralen Themenkomplex der Schrift, der Skizzierung eines theosophischen Schulungsweges, übergegangen.

 

Der Pfad der Erkenntnis

Der theosophische Schulungspfad

Ein letzter zentraler Themenbereich innerhalb der Theosophie ist der sogenannte ›Schulungsweg‹ oder ›Erkenntnisweg‹, d. h. die Idee einer systematischen Schulung des Charakters und der Seelenkräfte mit dem Ziel, die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen dahingehend zu erweitern, dass die oben skizzierten ›Welten‹ des normalerweise unbewussten seelischen und geistigen Lebens in den Horizont des gewöhnlichen Bewusstseins gelangen können. Indem Besant in der Darstellung ihres Schulungsweges starken Bezug auf orientalische Traditionen nahm, konnte auch dieses Konzept dem zeitgenössischen westlichen Leser um die Jahrhundertwende zunächst fremd und exotisch erscheinen, doch nur deshalb, weil eine jahrtausendealte europäische Tradition systematischer Erkenntnisschulung weitgehend in Vergessenheit geraten war. Diese europäische Tradition weist eine Vielfalt erkenntnisschulischer Methoden auf, die nicht nur religiös motivierte Meditationen, Gebete und Rituale einschloss, sondern auch vollständig säkulare philosophische Konzeptionen. Sie beinhaltet etwa die verschiedenen Formen von Mysterienpraxis im Altertum, die ihrerseits das Denken griechischer Philosophen wie Heraklit und Platon beeinflussten. Des letzteren Höhlengleichnis steht gewissermaßen wie ein Urbild initiationsdidaktischen Denkens über dem Eingangstor der abendländischen Literatur- und Ideengeschichte. Zu verweisen wäre ferner auf die vielfach ausgeprägte Exerzitien- und Meditationskultur des Mittelalters, auf den von Jakob Böhme geprägten »Weg zu Christo«, auf die praktisch ausgerichtete Religionsausübung bei den Pietisten, bei Ignatius von Loyola und anderen monastischen Gemeinschaften. Auch der oben erwähnte Mesmerismus und bestimmte Formen ritueller Magie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wären als Elemente dieser Tradition zu erwähnen, nicht minder aber auch die verschiedenen Konzepte philosophischer und ästhetischer Bewusstsseinsschulung und -erweiterung bei Schiller und Goethe, Fichte, Schelling, Richard Wagner und anderen. Indem die Theosophen ihre modernen Leser mit einer durch Denkschulung, Meditation und Ritual geprägten Methode charakterlicher und kognitiver Vervollkommnung konfrontierten, knüpften sie wiederum an eine reiche abendländische Tradition an, welcher die Idee einer ›Initiation‹ des Menschen mittels denkerischer Betätigung und ästhetisch-ritueller Erfahrung keineswegs fremd war.

Die Idee einer systematischen Methode zur Erlangung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten war jedoch nicht von Anfang an Teil des theosophischen Programms. Die frühen Texte Blavatskys und Sinnetts enthielten keinerlei Hinweise auf einen theosophischen ›Erkenntnispfad‹ oder ›Schulungsweg‹. Und sie bedurften eines solchen auch nicht, da ja die von ihnen vermittelte Weisheit unmittelbar von den ›Meistern‹ kam. Erst in der zweiten Generation änderte sich dies, indem zunächst Mabel Collins und H. P. Blavatsky ihre Meditationsschriften Light on the Path und The Voice of Silence vorlegten und dann Annie Besant, anknüpfend an hinduistische Modelle, systematisch einen solchen Pfad für die nach eigener Erkenntnis strebenden Theosophen entwickelte. Aber auch Besants ›Pfad‹ diente hauptsächlich dazu, den Schüler für die Begegnung mit den ›Meistern‹ vorzubereiten und würdig zu machen. Erst das von Rudolf Steiner entwickelte Konzept der Erkenntnisschulung war ein solches (bzw. entwickelte sich stufenweise in ein solches), in dem die Meister-Idee von sekundärer Bedeutung sein sollte. In diesem Konzept sollte es nicht primär darum gehen, mit den ›Meistern‹ in Kontakt zu kommen, um von diesen belehrt zu werden (dies wird von Steiner allenfalls als eine Art ›Nebeneffekt‹ beschrieben); stattdessen bestand das erklärte Ziel in einer Schulung und Verstärkung der verschiedenen Faktoren des ›gewöhnlichen‹ Seelenlebens – Vorstellen, Fühlen und Wollen –, damit infolge dieser Schulung der Mensch gewisse zwar immer vorhandene, in der Regel aber unbewusste bzw. halbbewusste Schichten seiner eigenen Wirklichkeitserfahrung in den Horizont klaren Bewusstseins zu heben befähigt werden sollte. Neben dem gewöhnlichen leibgebundenen Alltagsbewusstsein sollte der Übende sich eines neben diesem herlaufenden ›seelischen‹ und ›geistigen‹ Lebens in derselben Weise bewusst werden wie seines gewöhnlichen Vorstellungslebens.

 

Der ›Erkenntnispfad‹ in der Erstausgabe von 1904

Das Schulungskapitel der Theosophie lehnt sich in allen Fassungen eng an die Vorgaben theosophischer Quellen an, insbesondere an den Erkenntispfad Annie Besants, wie sie diesen in The Path of Discipleship und The Ancient Wisdom beschrieben hatte. Die besantschen vier Stufen der ›Vorbereitung‹ (der Path of Probation) – Unterscheidungsfähigkeit, Unabhängigkeit, sechs Vollkommenheiten, Verlangen nach Befreiung – tauchen ebenso in Steiners Darstellung auf wie ihre Theorie der sogenannten ›sechs Vollkommenheiten‹ (shatsampatti), die sich hier im Grunde nur in der Reihenfolge ihrer Darstellung bei Besant unterscheiden. Neben den Strukturelementen der ›vier Bedingungen‹ und ›sechs Vollkommenheiten‹ greift Steiner auch einige Elemente aus Besants Konzeption der Einweihungsstufen (dem Path of Initiation) auf, etwa das Motiv des Einlebens in eine ›geistige Heimat‹, die Überwindung von ›Zweifel‹, ›Aberglaube‹ und der ›Illusion des Selbst‹ oder die ›Meister‹-Begegnung. All dies freilich ohne jeglichen Hinweis auf die besantschen Vorbilder.

Relativ eigenständig gegenüber Besant ist Steiners Darstellung in zwei Punkten, welche er der Schilderung der ›sechs Vollkommenheiten‹ voranstellt. Es sind dies die Betonung des klaren und deutlichen Denkens als der wichtigsten und zentralen Grundlage des Schulungsweges und die Hervorhebung der Bedeutung des ›Studiums‹, d. h. der systematischen meditativen Arbeit mit dazu geeigneten Texten. Beide Punkte kommen zwar auch in Besants Texten vor, haben dort aber nicht ein derartiges Gewicht, wie Steiner es ihnen zuspricht. Steiner hebt beide Punkte wohl auch deswegen hervor, weil sie eine gedankliche Brücke zu seinen früheren Schriften schlagen, in denen er die Erfahrung des reinen sinnlichkeitsfreien Gedankens als erste Form übersinnlichen Erlebens und somit als für den modernen Menschen geeigneten Schlüssel zu einem ›höheren Bewusstsein‹ beschrieben hatte.

Bemerkenswert ist ferner, dass konkrete Anleitungen zur Meditation, wie Steiner sie in späteren Schriften vorgelegt hat, in der Theosophie nicht vorkommen. Lediglich die Abschnitte über die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem ›Ewigen‹ bzw. ›Dauernden‹ in den Dingen gegenüber dem Vergänglichen und Unbedeutenden haben bisweilen den Charakter von allgemeinen Meditationsbeschreibungen. Zum Meditationslehrer, der konkrete Übungsformen vorschlägt, entwickelte sich Steiner erst in der nach der Theosophie erscheinenden Aufsatzserie Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten; in der Theosophie beschränkte er sich darauf, eine allgemeine Vorstellung vom Charakter von theosophischer Erkenntnisschulung zu vermitteln.

Das Kapitel endet denn auch mit der Anmerkung, dass insgesamt nur einführende Hinweise gegeben worden seien und dass weitere Anweisungen nur durch einen persönlichen Lehrer gegeben werden könnten. Während also Steiner auf der einen Seite die Rolle der ›Meister‹ reduzierte und nach und nach aus dem Schulungskonzept völlig herausnahm und diesen somit gewissermaßen entmystifizierte, hat er auf der anderen Seite die Frage nach der Bedeutung des persönlichen Lehrers auf die Tagesordnung gesetzt. Die Rolle des spirituellen ›Lehrers‹ war in allen folgenden Texten Steiners zur Erkenntnisschulung zentrales Thema. Die Frage nach dem Verhältnis von autonom gesteuertem Erkenntnisfortschritt und von außen kommender ›geistiger Führung‹ wurde somit nicht gelöst, sondern nur auf eine andere Ebene verschoben. Zwar hing der Zugang zu höherer Erkenntnis bei Steiner nicht länger von mysteriösen ›Meistern‹ ab; aber es fragte sich jetzt, ob und in welchem Maße solcher Zugang vom Kontakt zu einem persönlichen Lehrer abhängt. Noch pointierter formuliert, da innerhalb der anthroposophischen Bewegung seit Rudolf Steiner kein Lehrer von vergleichbarem Rang aufgetreten ist: Es wäre zu fragen, in welchem Maße übersinnliche Erkenntnis im Sinne der anthroposophischen Wissenskonzeption vom Studium der Texte Steiners selbst abhängt oder unabhängig von ihm und seinen Vorgaben verwirklicht werden kann. Die Frage, ob es unabhängig vom Werk Rudolf Steiners eine anthroposophische Geisteswissenschaft geben kann, wird gegenwärtig im inneranthroposophischen Diskurs leidenschaftlich und kontrovers diskutiert.

 

Die Entwicklung der Darstellung des Erkenntnispfades

In der Fassung des Kapitels von 1908 fällt zunächst auf, dass Steiner solche Formulierungen zurücknimmt, in denen die höchste Stufe der Erkenntnis, die Intuition, in der Erstausgabe so dargestellt wurde, dass sie im Sinne buddhistischer Vorstellungen als eine Art völliger Auflösung des ›Ich‹, also als ein ›nirvanisches‹ Erlebnis verstanden werden kann. Steiner betont jetzt, dass sich nicht der Mensch als solcher im intuitiven Erleben auflöse, sondern dieser »mit allen seinen Vorurteilen« (TH, 163). Ein ganzer Absatz wird der Klärung dieser Frage gewidmet (TH, 179 f.), in dem Steiner zur Verdeutlichung das Gleichnis einer Reihe von farbigen Kreisen gibt, die selbst dann, wenn sie übereinanderliegen und so der Form nach zusammenfallen, der Farbnuance nach immer noch eine gewisse Eigenständigkeit behalten. Allerdings schränkt Steiner ein, vielleicht in Anlehnung an goethesche Vorstellungen, dass eine Auflösung der Individualität im Akt der Intuition nicht generell ausgeschossen sei, sondern lediglich »bei wahrer Entwicklung der Persönlichkeit« (TH, 179).

Weitere Änderungen des Jahres 1908 beinhalten eine deutlichere Formulierung hinsichtlich der Frage, in welcher Hinsicht der ›Glaube‹ an die übersinnliche Wirklichkeit und das Vertrauen in literarische Darstellungen derselben Voraussetzung für das eigenständige Erkennen und Erforschen dieser Wirklichkeit sei. Hatte Steiner zuvor noch geschrieben, dass der »Unglaube« ein Hindernis für die ›höhere‹ Entwicklung sei, so gilt dies nunmehr nur noch für den »unbegründeten Unglauben«; zwar werde unbefangenes Aufnehmen der Aussagen des Lehrers vorausgesetzt, nicht aber ein »blinder Glaube« an dieselben (TH, 162). Ferner ist auffällig, dass Steiner durchgehend das platonisch konnotierte Begriffspaar des »Guten und Wahren« durch dasjenige des »Schönen und Wahren« ersetzt (TH, 171 f.). – Bemerkenswert ist ferner ein Hinweis ganz am Ende des Kapitels. Hier hatte Steiner 1904 erklärt, dass weitere Hinweise über den Schulungsweg nicht gegeben würden, denn diese hätten »nur rechten Wert für den, der sich bis zu der geschilderten Stufe erhoben hat« (TH, 181). Nun aber wird für solche weiteren Hinweise auf die demnächst erscheinende Geheimwissenschaft verwiesen.

1910 fuhr Steiner damit fort, den Text von möglichen moralischen bzw. religiösen Konnotationen zu säubern, etwa wenn er im Zusammenhang der Bewertung menschlicher Eigenschaften nicht mehr den »Maßstab von gut und böse« anlegen will, sondern nur noch denjenigen von »anziehend und abstoßend« (TH, 164). Auch suchte er weiterhin nach Formulierungen, um die Bedeutung des Denkens hervorzuheben. Dabei machte er jetzt einen deutlichen Unterschied zwischen einem »abstrakten« und einem »lebensvollen« Denken und betonte, dass nur letzteres der Ausbildung übersinnlicher Fähigkeiten diene, während ersteres derselben schade (TH, 160 f.). In dieselbe Richtung ging auch ein Zusatz, in dem darauf hingewiesen wird, dass die in früheren Ausgaben zu findenden Aussagen über den Wert der Mathematik und des Denkens für die Erkenntnisschulung nicht einseitig aufzufassen seien (TH, 171). Man komme, so postulierte Steiner jetzt, auch ohne Mathematik zu treiben ganz gut zu einem »reinen, gesunden und lebensvollen Denken«.

Ein zweiter Schwerpunkt der Änderungen von 1910 ist das fortgesetzte Bemühen Steiners, solche Formulierungen aufzuspüren, in denen zuvor das übersinnliche Erleben noch im Sinne mystischer Traditionen als ›Einwerdung‹ des Menschen mit dem Absoluten beschrieben worden war. Wo es beispielsweise zuvor hieß, der Mensch werde im intuitiven Erleben selbst »Quellpunkt« des geistigen Lichts, wird nunmehr deutlich schwächer formuliert: Der Mensch werde in diesen Quellpunkt »versetzt«, ohne also dabei mit diesem identisch zu werden (TH, 179).

Die Überarbeitung von 1914 zeigt erwartungsgemäß die durchweg in dieser Fassung zu registrierende Tendenz zur Eliminierung theosophischer Fachbegriffe. Statt von »Theosophie« und vom »Theosophen« wird durchgängig von »Geisteswissenschaft« bzw. vom »Geistesforscher« gesprochen, und an die Stelle »höherer« Erfahrungen, Erkenntnisse und Tatsachen treten jetzt in vielen Fällen »geistige« (vgl. etwa TH, 166). In den Rahmen dieser terminologischen Abkehr vom theosophischen Erbe gehört auch die Streichung der an buddhistische Vorstellungen erinnernden Rede einer zu erstrebenden »Freiheit von der Persönlichkeit«; stattdessen gilt es jetzt, die »Freiheit von den Vorurteilen der Persönlichkeit« zu erüben (TH, 179).

Auch im Hinblick auf die grundsätzlichen Fragestellungen nach der Bedeutung des Denkens und der Rolle des Lehrers bei der Erkenntnisschulung finden sich einige auffallende Modifikationen. So ist es nun nicht länger der Gedanke als solcher, welcher – in seiner Mitteilung durch den Hellseher – stimulierend auf die Ausbildung eigener übersinnlicher Fähigkeiten wirkt, und auch nicht die Tatsache, dass dieser Gedanke Ausdruck eines Geistigen sei, sondern die Art und Weise der »Mitteilung diese Ausdrucks« (TH, 158). Damit wird der Darstellungskunst des ›Lehrers‹ bzw. der Komposition geisteswissenschaftlicher Texte eine deutlich größere Rolle zugeschrieben als zuvor. Außerdem vermeidet Steiner jetzt zunehmend die Verwendung der Schüler-Metapher für die Rolle des nach übersinnlicher Erkenntnis strebenden Menschen; statt vom »Lernenden« wird in diesem Zusammenhang jetzt durchweg vom »Forschenden« gesprochen (TH, 167). In diesen Kontext gehört auch ein Zusatz, in dem noch einmal der Unterschied zwischen einem berechtigten Vertrauen in geisteswissenschaftliche Darstellungen und einem »blinden Glauben« an dieselben betont wird (TH, 164).

In der Ausgabe von 1918 legt Steiner besonderen Wert auf einen Punkt, der in der bisherigen Darstellung kaum eine Rolle gespielt hatte und möglicherweise auf Einwände zurückgeht, die gegen das Buch inzwischen erhoben worden waren. Es ist die Frage, ob sich der Mensch durch den beschriebenen Schulungsweg nur bestimmte neue Fähigkeiten aneignet, oder ob er durch sie ein ganz anderes Wesen werde. Letzteres war offenbar von Lesern als problematisch empfunden worden, denn Steiner argumentiert jetzt vehement dafür, dass die Veränderungen im Menschen, die durch die Schulung bewirkt werden, sich nur auf die Momente »während des Geisterkennens« (TH, 168) bzw. auf die dabei zur Anwendung kommenen Fähigkeiten bezögen. Der Übende müsse »die beschriebenen Fähigkeiten nicht dauerhaft sich aneignen, sondern als Bedingungen in sich herstellen können« (TH, 170). Das gesteigerte Bewusstsein beruhe auch nicht auf ganz neuartigen Fähigkeiten, die man sich anzueignen habe; vielmehr nähmen die gewöhnlichen Tätigkeiten des Vorstellens, Fühlens und Wollens bloß »eine höhere Art an« (TH, 165). Auch würden nicht alle seelischen Erlebnisse derart transformiert, sondern nur diejenigen, »die sich auf die geistige Welt beziehen« (TH, 173). Der Übende löse sich nicht völlig aus der Welt des gewöhnlichen Erlebens heraus, sondern tue dies nur, »insofern er nach dem Geistigen sucht« (TH, 176 f.). Auch die frühere Aussage, durch die Schulung würde die »Persönlichkeit [...] unwesentlich«, gilt jetzt nur noch »in den Augenblicken der Geisterkenntnis« (TH, 179).

In denselben Zusammenhang gehört auch ein längerer Zusatz, in dem Steiner noch einmal zu vermitteln versucht, dass es sich bei der übersinnlichen Erfahrung nicht um das ›Hineinsehen‹ in transzendente Seinsbereiche handelt, sondern um die Schärfung der Aufmerksamkeit für Erfahrungsschichten, die permanent vorliegen und bloß wegen ihrer Subtilität der gewöhnlichen Achtsamkeit entgehen bzw. vom Tagesbewusstsein verdeckt werden (TH, 160). Und auch darauf macht Steiner 1918 verstärkt aufmerksam, dass die mit dem Übenden vorgehenden Veränderungen in keinerlei Weise schädlich sein könnten, und zwar vornehmlich deshalb, weil sie rein seelisch-geistiger Art seien und somit keinen Einfluss auf die leibliche Konstitution hätten (TH, 162).

Ein zweiter zentraler Punkt der Überarbeitung von 1918 besteht in dem Bemühen, der Schulung jeglichen autoritären Charakter zu nehmen und die Bedeutung des Lehrers oder der ›Meister‹ zurückzunehmen. So werden dem Übenden die Gesetze der inneren Entwicklung nicht mehr »vorgezeichnet«, sondern er selbst muss sie jetzt »sich vorzeichnen können« (TH, 172). In der ›höheren Erkenntnis‹ sagen ihm die Dinge nicht mehr, »wie er sich ihnen gegenüber verhalten soll«, sondern »wie sie, ihrem Wesen nach, selbst sind« (TH, 168). Die Einweihung wird nicht länger vollzogen »durch Wesen, die er vorher nicht kannte« [also durch die ›Meister‹], sondern »auf eine Art, deren Bedeutung ihm [dem Schüler] erst jetzt klarwerden kann«. Wurde dessen Entwicklung zuvor von einem persönlichen »Führer« geleitet, so jetzt allgemein von »Führermächten« (TH, 178), die sich nach Steiner jeder Schüler gemäß seiner spirituellen Vorlieben als inspirierende menschliche Vorbildgestalten, als Gottheiten oder als unpersönliche Kräfte vorzustellen die Freiheit hat.

Über die Überarbeitung von 1922 ist wiederum nicht viel zu sagen. Neben stilistischen Eingriffen finden sich einige inhaltliche Revisionen sehr subtiler Art. Eine Äußerung Steiners etwa, dass der Kritiker bzw. Leugner der übersinnlichen Erfahrung das Wesen des Gedankens nicht erfasse, weil er »den Gedanken als etwas Wesenloses, Abstraktes« ansehe, wird umformuliert zu: Er sehe »im Gedanken nur das Wesenlose, Abstrakte« (TH, 159). Eine weitere auffallende Änderung betrifft die durchgängige Streichung des Wortes ›Pfadsucher‹; dieses mag Steiner jetzt als zu theosophisch konnotiert empfunden haben.

Zur Werkgenese

 

Von der Philosophie der Freiheit zur Theosophie

Die obigen Betrachtungen zu Kontext, Inhalt und Entwicklung der steinerschen Theosophie sollen im Folgenden ergänzt werden durch einige schlaglichtartige Bemerkungen zu Steiners Anspruch, seine Philosophie der Freiheit und seine Theosophie strebten »in verschiedener Art […] nach dem gleichen Ziele« (TH, XIII). Dabei sollen besonders die drei fundamentalen theoretischen Grundpfeiler der Philosophie der Freiheit kritisch beleuchtet werden: Steiners Erkenntnisbegriff, sein Freiheitsverständnis und sein Wirklichkeits- bzw. Gottesbegriff. Zunächst wird gefragt, ob und in welcher Weise Steiners 1894 in diesen Bereichen gemachte Aussagen auch in der Theosophie in irgendeiner Form nachweisbar sind. Anschließend werden dann umgekehrt, d. h. von der Theosophie aus, deren vier fundamentale Themenkreise – Wesensgliederlehre, Karmabegriff, Dreiweltentheorie und Schulungsweg – darauf hin untersucht, ob und inwieweit deren Grundaussagen mit Steiners philosophischen Grundüberzeugungen kompatibel sind.

 

Steiners Erkenntnisbegriff 1894 und 1904

Im erkenntnistheoretischen Teil seiner Philosophie der Freiheit hatte Steiner Wahrnehmung (Erfahrung) und Denken (Intuition) als die beiden grundlegenden Faktoren des Erkenntnisprozesses charakterisiert und das Erkennen selbst als Akt der Verbindung dieser beiden Faktoren durch die erkennende Tätigkeit des ›Ich‹ beschrieben. Dabei erwies sich die dem naiven (vorphilosophischen) Bewusstsein natürliche dualistische Konstitution der Wirklichkeit in eine sinnliche Wahrnehmungswelt und eine mental-begriffliche Sphäre der Gesetzlichkeit als vom Menschen selbst herbeigeführt und somit nicht als Eigentümlichkeit des Wirklichen selbst. Auf diese Weise lief die steinersche Erkenntnistheorie in einen ontologischen Monismus aus, in dem Wirklichkeit als einzig und – außer in der menschlichen Erfahrung – unteilbar zu denken ist.

Diese epistemologischen Grundbestimmungen finden sich im Wesentlichen in der Theosophie so wieder, allerdings nicht in Gestalt einer formellen Erkenntnistheorie, sondern im Kontext der ›Dreiweltentheorie‹. Hier wird ebenfalls ›Wirklichkeit‹ als eine einzige verstanden, die jedoch in der menschlichen Erfahrung in verschiedene Erlebnissphären auseinanderfällt, nämlich in ›Sinneswelt‹, ›Seelenwelt‹ und ›Geisteswelt‹. Dabei entspricht die ›Sinneswelt‹ der Theosophie weitgehend demjenigen, was in der Philosophie der Freiheit als menschliche Vorstellungswelt, d. h. als Produkt des menschlichen Erkenntnisvorgangs firmiert. Es ist derjenige Modus des Erlebens von Wirklichkeit, welcher dem sinnengebundenen Alltagsbewusstsein des Menschen entspricht. Die ›Geisteswelt‹ hingegen entspricht derjenigen Sphäre, die innerhalb der Philosophie der Freiheit als Erleben der eigentümlichen Wesenheit des Denkens beschrieben wird, welches sich im Herstellen von Beziehungen und im Erkennen von Gesetzmäßigkeiten äußert. Die theosophische ›Seelenwelt‹ schließlich findet ihre Entsprechung in Steiners philosophischen Texten in der Darstellung des Gefühls-, Empfindungs- (bzw. Wahrnehmungs-) und Willenslebens. –

Betrachtet man von diesem Gesichtspunkt aus die ›drei Welten‹ der Theosophie, so können diese als eine Art ›Veräußerlichung‹ oder Verdinglichung der in der Philosophie der Freiheit beschriebenen drei Bereiche menschlichen Innenlebens verstanden werden, d. h. als eine projektive ›Ausstülpung‹ der seelischen und geistigen Tätigkeiten des Menschen in eine nun als ›Außenwelt‹ erscheinende Umwelt. Die ›sinnliche Welt‹ wäre dann zu verstehen als das als Außenwelt aufgefasste Vorstellungsleben, die ›geistige Welt‹ das von außen betrachtete Wesen des Denkens usw. Freilich könnte die Sache genauso gut umgekehrt betrachtet werden, indem man die anthropologischen Grundbestimmungen der steinerschen Erkenntnistheorie als eine ideelle ›Einstülpung‹ dessen versteht, was in der Theosophie als die ›drei Welten‹ beschrieben wird. Entscheidend für die hiermit vorgeschlagene Lesart ist nicht, welche dieser beiden Perspektiven die ›richtigere‹ ist, sondern dass die Texte als solche es grundsätzlich zulassen, auf diese Weise die Kerninhalte der einen als eine Art ›ideelle Umstülpung‹ der Grundbegriffe der andern zu verstehen.

Die innere Beziehung beider Schriften erschöpft sich jedoch nicht in solch allgemeinen Korrelationen und Analogien. Auch ganz konkret findet sich die in der Philosophie der Freiheit beschriebene Struktur des Erkenntnisprozesses in der Theosophie wieder; freilich nicht in abstrakten epistemologischen Bestimmungen, sondern in den anschaulichen Bildern der theosophischen Esoterik. So stellt Steiner im Kontext der Darstellung seiner ›Dreiweltenlehre‹ die Frage, ob und wie es möglich ist, dass der Mensch »in seinem Denken die Dinge verstehen« kann und antwortet darauf: die »Sinnendinge«, d. h. die aus der Wahrnehmung stammenden Gegenstände der gewöhnlichen menschlichen Erfahrung, stammten in Wirklichkeit »aus der Geisterwelt«, seien in Wirklichkeit nur »eine andere Form der Geisteswesenheiten« (TH, 133), welche zuvor als das Inventar der ›Geisteswelt‹ beschrieben worden waren. Im Erkennen blicke der Mensch zunächst auf die »sinnliche Form« dieser Geistwesenheiten (erkenntnistheoretisch: auf das ›Gegebene‹, die ›Wahrnehmung‹) und erhebe dann den Blick zu der »geistigen Form dieser Dinge« (erkenntnistheoretisch: zum ›Begriff‹ bzw. zur ›Intuition‹). Als ›Wirklichkeit‹ bzw. als Gegenstand der Erkenntnis ist somit auch im Sinne der Theosophie weder das ›Sinnending‹ in der ›Sinneswelt‹ allein, noch das ›geistige Urbild‹ in der ›Geisteswelt‹ als solches zu verstehen, sondern die Identität dieser beiden in der menschlichen Wahrnehmung getrennt erscheinenden Faktoren, die sich im Erkenntnisakt realisiert. Wenn Steiner somit in der Theosophie schreibt: »Weil die Dinge der Sinnenwelt nichts anderes sind als die verdichteten Geistwesenheiten, kann der Mensch, der sich durch seine Gedanken zu diesen Geistwesenheiten erhebt, in seinem Denken die Dinge verstehen« (ebd.), so könnte im Sinne der Sprache der Philosophie der Freiheit etwa so formuliert werden: »Weil die menschlichen Vorstellungen nichts anderes sind als die mit konkreten Wahrnehmungen zusammengeschlossenen Begriffe, kann der Mensch, der im Erkennen diese Vorstellungen hervorbringt, mittels ihrer die Dinge verstehen«. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen von Steiners objektivem Idealismus können somit, zumindest aus der von uns hier vorgeschlagenen Perspektive, als identisch mit denen seiner Theosophie verstanden werden.

 

Steiners Freiheitsbegriff 1894 und 1904

Betrachten wir als zweites die Freiheitslehre des jungen Steiner und vergleichen diese mit dem Karma- und Schicksalsbegriff der Theosophie. Auf den ersten Blick besteht hier ein unüberbrückbarer Widerspruch, und zwar aus drei Gründen. Erstens beruht die Freiheitslehre der Philosophie der Freiheit auf der Vorstellung, dass der Mensch sich die Ziele seines Handelns selbst zu geben vermag, dass er die ›moralischen Intuitionen‹, nach denen er handelt, selbst hervorbringt. Zweitens lehnt das Buch (jedenfalls in der Erstfassung) jegliche teleologisch gefasste ›Bestimmung des Menschen‹, d. h. einen dem Menschen von außen gegebenen prädeterminierten Zweck seines Handelns und seiner Existenz, vehement ab. Und drittens beruht diese Freiheitslehre auf dem strikten Monismus der steinerschen Philosophie, welche die Vorstellung eines außerhalb der menschlichen Erkenntnissphäre liegenden Seinsbereiches, aus dem allein eine solche Zweckbestimmung kommen könnte, konsequent ablehnt. Die Theosophie hingegen postuliert, dass das menschliche Leben und Handeln unter der universellen Gesetzmäßigkeit von Karma und Schicksal steht. Sie beschreibt ferner ganz klare Zwecke und Ziele innerhalb der menschlichen Entwicklung, welche nicht vom Individuum selbst herrührten, sondern von bestimmten geistigen Wesen – den sogenannten ›Absichten‹. Drittens verortet die Schrift den Ursprung dieser Weltabsichten in einer Seinsphäre jenseits der ›drei Welten‹ und somit jenseits aller (auch aller ›übersinnlichen‹) Erkennbarkeit für den Menschen (TH, 112 f.).

Trotz dieser Unterschiede plädiert Steiner in der Theosophie mehrfach dafür, dass zwischen diesen Konzepten kein Widerspruch bestehen muss. So greift er seinen bereits 1894 formulierten Freiheitsbegriff wieder auf, nach dem Freiheit (1) ein Handeln mit Wissen um die Beweggründe ist, wobei diese Beweggründe (2) vom Menschen hervorgebracht werden und (3) die vom Menschen hervorgebrachten Beweggründe zugleich in Harmonie mit der immanenten Gesetzlichkeit des Universums sind. Ganz im Sinne dieser Bestimmungen des Freiheitsbegriffs schreibt er dann auch 1904: »Freiheit ist Handeln aus sich heraus« (TH, 177) und fährt fort:

[...] aus sich darf nur handeln, wer aus dem Ewigen die Beweggründe schöpft. Wer dies nicht tut, handelt nach anderen Beweggründen, als den Dingen eingepflanzt sind. Ein solcher widerstrebt der Weltordnung. Und diese muß ihm gegenüber dann obsiegen. Das heißt: es kann nicht geschehen, was er will. Er kann nicht frei werden. Willkür des Einzelwesens vernichtet sich selbst durch die Wirkung ihrer Taten. (ebd.)

Verbunden mit der Freiheitsfrage ist das Problem der Teleologie. In der Philosophie der Freiheit von 1894 hatte Steiner die Anwendung des teleologischen Denkens auf die Handlungen des Menschen komplett ausgeschlossen und postuliert, dass es keine dem menschlichen Tun zugrundeliegende äußere Zweckmäßigkeit, keine ›Bestimmung des Menschengeschlechts‹ gebe. In direktem Widerspruch mit dieser Aussage erscheinen die Passagen in der Theosophie, in denen Steiner von den ›Absichtswesen‹ spricht, die hinter der menschlichen und kosmischen Evolution stehen und von denen der Mensch die Ziele seiner bevorstehenden Inkarnation empfängt. Sogar im Untertitel der Theosophie ist von eben jener »Menschenbestimmung« die Rede, die Steiner 1894 noch so vehement geleugnet hatte. Es drängt sich daher die Frage auf: Bestimmt sich hier der Mensch tatsächlich noch selbst, oder wird er nicht vielmehr von diesen ominösen kosmischen ›Absichten‹ bestimmt? – Steiner hat dieses Problem in der Neuauflage der Philosophie der Freiheit von 1918 gesehen und seine frühere Ablehnung des Zweckbegriffs modifiziert: Jetzt wurde die Menschheitsentwicklung nicht mehr durch Zwecke im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern durch »etwas höheres« als Zwecke (PF, 196) bestimmt. Diese Lösung befriedigt allerdings nicht völlig. Denn es läßt sich im Rahmen der steinerschen Ontologie zwar durchaus ein von den Weltabsichten gesetzter Zweck als ein vom Menschen selbst gesetzter auffassen – immerhin wird das innerste Wesen des Menschen als identisch mit dem innersten Wesen der Wirklichkeit gedacht –, aber auch ein selbstgesetzter Zweck bleibt doch immer ein Zweck. In der Theosophie suchte Steiner das Problem dadurch zu vermeiden, dass er in späteren Zusätzen darauf hinwies, dass das Sprechen von ›Absichten‹ nur gleichnishaft gemeint sei (TH, 113). Anders als in der Philosophie der Freiheit verweist er hier nicht bloß auf den uneigentlichen Charakter der Rede, sondern argumentiert darüber hinaus, dass auf der höchsten Stufe der Wirklichkeit keine eigentliche Trennung zwischen dem menschlichen ›Selbst‹ und den ›Absichten‹ bestehe, indem hier das ›Selbst‹ in Wesenseinheit mit den ›Absichten‹ lebe und handle, diese ebenso »befruchte«, wie es seinerseits von ihnen befruchtet werde und so die ›Absichten‹ »in sein eigenes Selbst eingliedert«.

 

Steiners Wirklichkeits- bzw. Gottesbegriff 1894 und 1904

Die These, dass der Wirklichkeits- bzw. Gottesbegriff der Theosophie im Wesentlichen mit demjenigen der Philosophie der Freiheit identisch ist, wurde schon von Egil Asprem formuliert, dessen Argument bereits angeführt wurde. In der Tat definieren beide Schriften ›Wirklichkeit‹ in einem streng monistischen Sinn als eine »einzige und unteilbare«, deren verschiedene ›Bereiche‹, ›Ebenen‹, ›Regionen‹ und ›Schichten‹ und ›Plane‹ immer und überall nur im und durch das Erkennen bzw. das Bewusstsein des Menschen als ontologisch ›verschieden‹ und ›getrennt‹ erscheinen. So heißt es bei Steiner schon 1892:

Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen, er ist in sie aufgegangen. Im Denken zeigt er sich in seiner vollendetsten Form, so wie er an und für sich selbst ist […] Im Denken sind uns nicht Behauptungen gegeben über irgendeinen jenseitigen Weltengrund, sondern derselbe ist substantiell in dasselbe eingeflossen. (GE, 62)

Und dass diese in das Sein völlig eingeflossene und aufgegangene ›Wirklichkeit‹, dieser ›Seins- und Weltengrund‹, für Steiner identisch mit ›Gott‹ bzw. ›dem Göttlichen‹ ist, zeigt sich in parallelen Formulierungen aus derselben Zeit:

Wir sollten endlich zugeben, daß der Gott, den eine abgelebte Menschheit in den Wolken wähnte, in unserem Herzen, in unserem Geiste wohnt. Er hat sich in voller Selbstentäußerung ganz in die Menschheit ausgegossen. Er hat für sich nichts zu wollen übrig behalten, denn er wollte ein Geschlecht, das frei über sich selbst waltet. Er ist in der Welt aufgegangen. Der Menschen Wille ist sein Wille, der Menschen Ziele seine Ziele. (GA 30, 237)

Von der Philosophie der Freiheit aus gesehen, kann also durchaus argumentiert werden, dass deren zentrale Themen und Grundanschauungen in der Theosophie aufgegriffen und weitergeführt werden. Dass aber dies auch umgekehrt so sei, wie Steiner 1908 behauptete, dass also die Grundmotive der Theosophie sich auch bereits in der Freiheitsphilosophie nachweisen ließen, erscheint auf den ersten Blick fragwürdig. Wo wären denn, so könnte gefragt werden, in der Schrift von 1894 oder in Steiners Frühwerk irgendwo Aussagen über ›höhere Welten‹, ›Wesensglieder‹, ›Reinkarnation‹ oder einen ›Schulungsweg‹ zu finden?

 

Wesensglieder und Ich-Tätigkeit

Betrachten wir im Folgenden also umgekehrt die Theosophie im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit dem Frühwerk Steiners. Zunächst wäre da die ›Wesensgliederlehre‹ in Betracht zu ziehen. In deren ursprünglicher theosophischer Gestalt von sieben oder neun ›Prinzipien‹, aus denen das Wesen des Menschen zusammengesetzt sein soll, hat die Hüllenanthropologie sicher wenig mit den anthropologischen Aussagen der Philosophie der Freiheit zu tun. Anders sieht dies jedoch aus, wenn man Steiners eigene Weiterbildung dieses Modells betrachtet, bei dem das menschliche ›Ich‹ im Zentrum steht und in dem sich die ›Wesensglieder‹ zum einen als diejenige Organisation darstellen, welche Grundlage der Ich-Tätigkeit ist (›physischer Leib‹, ›Ätherleib‹ und ›Astralleib‹) und zum anderen als Ergebnis der Arbeit des ›Ich‹ in und an dieser Organisation, d. h. als Umwandlung derselben durch das ›Ich‹. Genauso beschreibt Steiner auch in der Philosophie der Freiheit die Bedingungen und die Ergebnisse der Ich-Tätigkeit. Diese beruht dort auf der einen Seite auf der leiblichen und seelischen Organisation des Menschen, auf den Wahrnehmungen der Sinne und den Empfindungs- und Gefühlserlebnissen, und hat zugleich die Aufgabe, diese Bereiche mittels der Bearbeitung durch das Denken umzuwandeln und damit neue Wirklichkeitsbereiche zu schaffen. Die ›Wahrnehmungswelt‹ etwa, so Steiner 1894, werde mit Begriffen durchsetzt und so entstehe die Sphäre des menschlichen Vorstellungslebens. In ähnlicher Weise wird dort das individuelle Gefühlsleben (wie in der Theosophie der ›Astralleib‹) mittels denkender Durchdringung in den Bereich des Begrifflichen erhoben und somit universalisiert bzw. ›vergeistigt‹. Ein anderes Beispiel für eine solche Umwandlung eines Bereiches der Menschennatur durch das Denken wären Steiners Darlegungen über die verschiedenen leiblichen, seelischen und geistigen Charakteristiken des Menschen, die zunächst ›gattungshaft‹ sind, dann aber durch die Tätigkeit des ›Ich‹ individualisiert werden (vgl. PF, 250 f.).

Auf diese Weise ließe sich argumentieren, dass auch die Philosophie der Freiheit mit einer Theorie von ›Wesensgliedern‹ operiert, wenngleich diese auch anders strukturiert ist und mit anderen Begriffen und Parametern arbeitet. Diese philosophischen ›Wesensglieder‹ könnten, wollte man sie nach Art eines theosophischen Hüllenmodells auflisten, folgendermaßen aussehen: ›leibliche Organisation‹ des Menschen, ›Sphäre der reinen Wahrnehmung‹, ›Gefühls- und Empfindungsleben‹, ›gattungshaftes Seelenleben‹, ›Vorstellungsleben‹, ›universalisiertes Gefühlsleben‹, ›reines Denkerleben‹, ›Individualität‹, ›Freiheit‹ – oder auch anders. Wie immer man solche Analogien anordnen wollte, das zentrale Element, welches die Suche nach solchen Entsprechungen rechtfertigt, wäre dies: Sowohl die verschiedenen menschlichen Erlebnisbereiche in der Philosophie der Freiheit als auch sämtliche Wesensglieder in der Theosophie stellen für Steiner allesamt Modi dar, in denen und durch die das ›Ich‹ (1) sich auf verschiedene Weisen seines eigenen Wesens, d. h. seiner selbstschaffenden Tätigkeit bewusst wird und (2) durch diese tätige Umwandlung sowohl die eigene Natur wie diejenige der Wirklichkeit auf eine höhere Stufe hebt. Der Philosoph Steiner, so ließe sich postulieren, kennzeichnet diese vom Menschen erzeugten Wirklichkeitsbereiche mit Begriffen wie ›Wissen‹, ›Vorstellung, ›reines Denken‹, ›Liebe‹, ›moralische Phantasie‹ usw.; der Esoteriker Steiner hingegen spricht von ›Bewusstseinsseele‹, ›Geistselbst‹, ›Lebensgeist‹ usw.

Steiner hat auch selbst die theosophische Wesensgliederlehre ausdrücklich als esoterische Verbildlichung philosophisch-anthropologischer Kategorien ausgewiesen. So äußerte er etwa in einem öffentlichen Vortrag vom 9. Februar 1905 vor seinem Berliner Publikum, nachdem er zuvor die theosophische Wesensgliederlehre entwickelt hatte:

Nun habe ich versucht, die allmähliche Hinauferziehung des Menschen, die Reinigung des Menschen aus dem Seeli­schen in das Geistige, in einem Buche darzustellen, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe als meine ›Philosophie der Freiheit‹. Was ich jetzt dargestellt habe, finden Sie dort in den Begriffen der abendländischen Philosophie ausge­drückt. Sie finden dort die Entwickelung des Seelischen vom Kama zum Manasleben. Ich habe dort Ahamkara das ›Ich‹ genannt, Manas das ›höhere Denken‹, reines Denken, und die Buddhi, um noch nicht auf den Ursprung hinzuweisen, die ›moralische Phantasie‹. Das sind nur andere Ausdrücke für ein und dieselbe Sache. (GA 53, 214)

 

Karma und Erinnerung, Schicksal und Freiheit

Problematischer wird der Vergleich beider Schriften beim Thema ›Reinkarnation und Karma‹, denn die Reinkarnationslehre im engeren Sinne, wie Steiner sie in der Theosophie vertreten hat, lehnte er 1894 allem Anschein nach noch ab. Wohl aber lässt sich zeigen, dass die Philosophie der Freiheit einige zentrale theoretische Bestimmungen macht, auf deren Grundlage Steiner später für die Plausibilität der Vorstellungen von Reinkarnation und Karma argumentiert hat.

Zum einen beruht Steiners Karma-Kapitel in der Theosophie in zentralen Teilen auf seiner 1894 entwickelten Theorie der Vorstellungs- und Gedächtnisbildung. Es wurde bereits dargestellt, wie zentral Steiners Konzeption des Erinnerungsaktes für die Begründung der Plausibilität des Karma-Theorems in der Theosophie ist. Erinnern bedeutete für Steiner nicht, dass das ›Ich‹ eine irgendwo gespeicherte Vorstellung wieder hervorholt (wie immer man sich einen solchen ›Vorstellungs-Speicher‹ auch vorstellen möge), sondern darin, dass es dasjenige an sich selbst wahrnimmt, was in ihm ein anderes geworden ist, indem es im Moment der Vorstellungsbildung eine Beziehung zwischen einer Wahrnehmung und einem Begriff hergestellt hat. Erinnerung ist somit nach Steiner schon in der Philosophie der Freiheit eine Form der Selbstwahrnehmung des ›Ich‹ und insofern eine Art ›übersinnlicher‹ Wahrnehmung.

 

Neben der Auffassung des Erinnerns als einem Akt der Selbstwahrnehmung wird auch die ewige Natur des menschlichen Wesens in der Philosophie der Freiheit begründet. Dies geschieht über die Partizipation des ›Ich‹ an der überzeitlichen Natur des Denkwesens im Akt des Erkennens. Im Akt der Vorstellungsbildung stellt das ›Ich‹ nach Steiner, wie oben bereits erwähnt, eine Beziehung zwischen einer Wahrnehmung und einem Begriffsinhalt her. Durch diese Beziehung wird es selbst ein anderes und kann sich mittels einer Wahrnehmung dieser Modifikation an seiner eigenen Konstitution später an den entsprechenden Vorstellungsakt erinnern. In demselben Akt jedoch nimmt das ›Ich‹ nach Steiners Auffassung, insofern es eine Beziehung zu einem Begriff hergestellt hat, auch die überzeitlichen Natur dieses Begriffs in das eigene Wesen auf und erhebt dieses somit selbst in die Sphäre des Überzeitlichen, Ewigen. Einfacher und ganz in platonischer Tradition formuliert: Das ›Ich‹ macht sich selbst in dem Maße zu einem ewigen, ›unsterblichen‹ Wesen, in dem es als Erkennendes am überzeitlichen Wesen des Gedachten partizipiert. Mit dieser platonischen Denkfigur hatte schon Blavatsky in der Isis die Ewigkeit des Menschenwesens postuliert, ohne davon auf die Reinkarnationsidee zu schließen, und in genau derselben Weise tat Steiner dies in seiner Freiheitsphilosophie.

In diesem Zusammenhang ist ferner die Tatsache interessant, dass Steiner in den neunziger Jahren die Reinkarnationsidee der Theosophen offenbar als bildhaften »esoterischen« Ausdruck für die (auch von ihm selbst vertretene) philosophische Vorstellung angesehen hat, dass der Mensch »im Individuum den Allgeist, im Einzelwesen die Summe von Existenzen, die dasselbe zu durchlaufen hat« zu erkennen vermöge und somit »alle niederen Daseinsformen«, die gesamte »Stufenleiter« der Evolution des Lebendigen in sich selbst wiederfinden könne (GA 30, 511). Für den Steiner der neunziger Jahre bedeutete dies zunächst die Vorstellung, dass sich in der leiblich-seelischen Organisation des Menschen zugleich die unter ihm liegenden Naturreiche, die anorganische Natur und das Wesen des pflanzlichen und tierischen Lebens manifestieren und der Mensch somit durch Erkenntnis seines eigenen Wesens zur Erkenntnis des Seinsgrundes als solchem kommen könne. Das ein solches Partizipieren an der gesamten Stufenleiter der Evolution auch in der Form permanenter Wiedergeburt ein und desselben geistigen Wesens, d. h. als ›Reinkarnation‹ im Sinne theosophischer Lehre zum Ausdruck kommt – das wird offenbar erst um die Jahrhundertwende Steiners persönliche Überzeugung. Nichtsdestoweniger ist bemerkenswert, dass er bereits in den neunziger Jahren für ein Verständnis der Reinkarnationslehre als esoterischer Metapher für den allgemeinen Gedanken der Ewigkeit des menschlichen Geistes optiert hat. Wann genau er von hier aus den Schritt zur Reinkarnationsidee vollzogen hat, wird wohl auf absehbare Zeit eine kontroverse Frage der Steinerforschung bleiben.

 

Et hi tres unum sunt

Dreiweltentheorie und Monismus

Da die Philosophie der Freiheit methodisch als eine Phänomenologie des gewöhnlichen Bewusstseins aufgebaut ist, finden sich in ihr selbstverständlich keine detaillierten Schilderungen des Erlebens im nachtodlichen oder vorgeburtlichen Dasein. Auch eine trichotomische Ontologie, welche zwischen einer physischen, einer seelischen und einer geistigen Welt unterscheiden würde, findet sich in der Schrift nicht, zumindest nicht in der Erstausgabe von 1894. Dennoch werden, wie schon im Fall von Steiners anthropologischen Bestimmungen, auch hinsichtlich dieser ontologischen Grundvorstellung der Theosophie einige philosophische Grundlagen bereits in der Philosophie der Freiheit gelegt. Im Sinne des oben bereits Gesagten ließe sich argumentieren, dass schon die Schrift von 1894 eine Art von trichotomischer Ontologie enthält. Diese kennt zwar (1) keine ›physische Welt‹ im Sinne eines notwendig immer einseitigen Realismus, wohl aber, gemäß ihrer phänomenologischen Ausrichtung, eine subjektive ›Vorstellungswelt‹. Die Philosophie der Freiheit versteht (2) unter ›Geist‹ zwar vor allem die mentale Tätigkeit des Menschen und kennt insofern keine universelle, vom Menschen unabhängig bestehende ›geistige Welt‹ (von dieser ist erst in der Neu-Auflage von 1918 die Rede), fasst aber den überzeitlichen und universellen Charakter dessen, was in der Theosophie als ›geistige Welt‹ beschrieben wird, im Begriff des Denkens bzw. des absoluten Denkwesens. Und neben diesen beiden Wirklichkeitssphären beschreibt auch die Philosophie der Freiheit (3) eine dritte, ›seelische‹ Welt; diese basiert allerdings nicht auf dem Begriff der ›Seele‹, denn dieser spielt in der Erstausgabe der Schrift ebenfalls kaum eine Rolle. Wohl aber beschreibt Steiners Philosophie unter den Tätigkeiten des ›Ich‹ neben der ›Vorstellungswelt‹ und der ›Welt‹ des reinen Denkens eine innere und subjektige ›Welt‹ der menschlichen Empfindungen, Gefühle und Willensimpulse.

Das innerlich verbindende Element der beiden ›Dreiweltentheorien‹ von 1894 und 1904 ist somit, wie schon dasjenige der beiden Wesensgliedermodelle, der grundlegende Monismus des Steinerschen Denkens. In der Philosophie der Freiheit lässt sich dieser Monismus allerdings viel konsequenter durchhalten; in der Theosophie tritt aufgrund der Bildlichkeit und Konkretheit der esoterischen Darstellung eine Tendenz zum dualistischen und verdinglichenden Vorstellen auf, welche den monistischen Grundcharakter der Schrift überlagert und teilweise verdeckt. – In dieser Hinsicht könnte sich auch hier Steiners Vorschlag wiederum als hilfreich erweisen, die Theosophie aus der Optik der Philosophie der Freiheit zu lesen. Denn tut man dies, so wird beispielsweise deutlich, dass Steiner schon in der abstrakten Sprache der Freiheitsschrift bestimmte Zustände des Bewusstseins mit den Metaphern ›Ort‹, ›Region‹ und ›Welt‹ beschreibt, an denen sich aber eine verdinglichend-realistische Lesart von selbst ausschließt. So ist da die Rede vom ›Ort innerhalb des Gegebenen‹, von der ›Region des Ideellen‹ und der ›Welt des Denkens‹, wobei der Kontext der Darstellung unmissverständlich eine Phänomenologie des erkennenden Bewusstseins ist. Die Anwendung eines solchen an Steiners Philosophie geschulten Bewusstseins für die notwendige Uneigentlichkeit einer jeglichen Darstellung von Bewusstseinsphänomenen auf die Lektüre der Theosophie könnte diejenigen allzu ›realistischen‹ Deutungen vermeiden helfen, die in der Interpretationsliteratur zu Steiner sowohl bei Anthroposophen wie bei Kritikern immer wieder zu finden sind. Die Philosophie der Freiheit kann insofern als Mahnung gelesen werden, dass die esoterischen Texte Steiners nicht aus der Perspektive eines ›naiven Realismus‹ zu verstehen sind, aber auch nicht aus der eines ›metaphysischen Realismus‹, sondern aus der Perspektive des dort streng monistisch formulierten objektiven Idealismus.

 

Der ›philosophische Schulungsweg‹

nach Goethe, Fichte und Hartmann

Die These, dass die Philosophie der Freiheit als eine ›Schulungsschrift‹, also eine Anleitung zur Ausbildung ›höherer‹ sinnlichkeitsfreier Erkenntnis aufzufassen sei, hat schon Rudolf Steiner selbst in der Neuauflage der Schrift von 1918 vertreten und ist seither von unzähligen anthroposophischen Autoren wiederholt worden. Wenngleich sich Argumente für diese Hypothese leicht finden lassen, wenn die Fassung der Schrift von 1918 zugrunde gelegt wird, ist dies im Hinblick auf die Erstausgabe ein schwierigeres Unterfangen. Denn in dieser finden sich keine Hinweise auf eine explizite ›Schulungsabsicht‹ oder einen dieser Schrift zugrundeliegenden ›Erkenntnispfad‹, der zu geistiger Erkenntnis führt. Ja, nicht einmal die Vorstellung einer ›geistigen Welt‹, wie Steiner sie später vertrat, findet sich so in der Fassung von 1894; umso weniger eine Methode, die dem Menschen den »Eintritt« (PF, 267) in eine solche verschaffen könnte.

Wohl aber sind die Motive der ›höheren‹ Erkenntnis und der systematischen Ausbildung einer solchen von Anfang an ein dominantes Thema steinerschen Denkens. Schon in den Schriften zur Goethedeutung aus den achtziger Jahren geht es zum großen Teil um die Herausarbeitung der spezifischen ›Denkart‹ Goethes. Goethe habe nicht nur »neue Gedanken«, sondern »eine ganz neue Art des Denkens« entwickelt, schreibt Steiner da, mit dessen Hilfe sich nicht nur die anorganischen Natur, sondern auch lebendige Organismen adäquat wissenschaftlich verstehen ließen. Goethe sei deshalb, so Steiner, als ein »Kopernikus und Kepler der organischen Welt« zu verstehen.

Aus dieser Charakterisierung des goetheschen Denkens hat Steiner sogar eine allgemeine menschliche ›Pflicht‹ bzw. ›Bestimmung‹ zur Erkenntnisschulung abgeleitet. »Unser Geist hat die Aufgabe«, heißt es da etwa, »sich so auszubilden, daß er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art anzuschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint«. Zwar gab Steiner an dieser Stelle noch keine konkreten Übungen oder Anweisungen, wie ein solches ›anschauendes Denken‹ nach Goethes Vorbild zu verwirklichen sei, doch zeigte sich eine Art ›Pfad‹ zu ›höherer Erkenntnis‹ in dem beschriebenen stufenweisen Aufstieg von der Erkenntnis der anorganischen Natur über das Einleben in das Leben der organischen Organismen, bis hin zur adäquaten Erkenntnis des Geistigen, wie dieses sich in der äußeren Geschichte und der Ideenentwicklung der Menschheit offenbart. Zu einem solchen Erkennen, so Steiner, müsse sogar noch über das goethesche Vorbild hinausgegangen werden. Es erfordere nämlich eine liebevolle »Hingabe an das Objekt« der Untersuchung, welche ihre höchste Stufe in der völligen Identifikation mit demselben, in einem Aufgehen des Subjekts im Objekt finde. Und so deutet sich bei Steiner schon in den achtziger Jahren eine ›Schulung‹ zu ›höherer‹ wissenschaftlicher Erkenntnis an, der in folgenden Stufen besteht: (1) Erkenntnis der anorganischen Natur durch sachliche Distanz zum Objekt, (2) Erkenntnis organischen Lebens durch Verlebendigung des Denkens und inneres Nachschaffen des Objekts (anschauendes Denken; später ›Imagination‹) und (3) Einswerdung des Subjekts mit dem Objekt in der liebenden Hingabe an die Erscheinungsformen des in der Geschichte des Menschen sich offenbarenden Geistes (intuitives Erkennen).

Ein ähnliches Bild zeigt sich in Steiners Texten aus den neunziger Jahren, allerdings mit dem Unterschied, dass es ihm jetzt nicht mehr um Stufen des wissenschaftlichen Erkennens geht, sondern um die innere Struktur des Erkenntnisaktes als solchem. In Wahrheit und Wissenschaft wird nur noch dasjenige betrachtet, was zuvor die dritte Stufe des wissenschaftlichen ›Erkenntnispfades‹ ausmachte: die Selbstbetrachtung des Geistes. Bei der Beschreibung und Analyse desselben verliert Goethe seine Relevanz für Steiner und an dessen Stelle rückt die Philosophie Fichtes, besonders dessen Theorie der ›intellektuellen Anschauung‹. An die Stelle des Miterlebens und Nachschaffens der organischen Natur in der Nachfolge Goethes tritt das fichtesche Selbsterleben des ›Ich‹ mittels einer Beobachtung der Denktätigkeit, dessen höchste Stufe die ›intuitive Erkenntnis‹ ist und in welcher der Mensch im erkannten Gegenstand einen Aspekt seines eigenen Wesens erlebt.

Aufbauend auf diese Überlegungen und in Ankn [pfung an ein von Eduard von Hartmann [bernommenes Modell der graduellen Entwicklung des philosophischen Bewusstseins (vgl. Einl. zu SKA 2, LXXXIII f. und C f.) entwickelte Steiner auch in der Philosophie der Freiheit eine Art philosophischen ›Stufenpfad‹, den das philosophische Bewusstsein zu durchlaufen hat, um zu dieser intuitiven Erkenntnis zu kommen. Dieser beginnt auf der Ebene des ›naiven Realismus‹ (die Welt, wie ich sie wahrnehme und erkenne, ist die Wirklichkeit), steigt dann über den ›transzendentalen Idealismus‹ (die Welt ist ›meine Vorstellung‹) und den ›metaphysischen Realismus‹ (meine Vorstellungswelt ist subjektive Repräsentation einer objektiven aber als solche unerkennbaren Wirklichkeit) bis zur höchsten Stufe des ›objektiven Idealismus‹. Dieser besagt ungefähr: Meine Vorstellungswelt ist einerseits subjektive Repräsentation im Sinne des transzendentalen Idealismus, zugleich aber Werdestufe der objektiven Wirklichkeit – und indem das ›Ich‹ seine vorstellungsbildende Tätigkeit als solche anschaut, schaut es zugleich das Wirken der objektiven Wirklichkeit an. Auf diese Weise sind nach Steiner die Aussagen zu den drei unteren Stufen des ›philosophischen Stufenpfades‹ allesamt als Teilwahrheiten in der vierten und höchsten Stufe aufgehoben.

Ein analoger viergliederiger Aufstieg des Bewusstseins vom ›naiven Realismus‹ zur intuitiven Seins-Schau findet sich auch im ethischen Teil der Schrift. Hier beschreibt Steiner die verschiedenen Stufen des moralischen Handelns basierend auf einem Stufenmodell der menschlichen Motive und Triebfedern, an deren Spitze das Handeln auf der Grundlage des ›intuitiven Erkennens‹ steht. Auch dieser moralische Aufstieg des Menschen vom reflexhaften Handeln über das Imitieren von Vorbildern und das Befolgen moralischer Regeln hin zu der aus ›moralischer Intuition‹ erfolgenden freien Tat ist somit eine Art ›Schulungsweg‹ zu ›höherer Erkenntnis‹.

Die beiden Stufenmodelle der Philosophie der Freiheit stehen in gewisser Hinsicht in der Mitte zwischen dem ›wissenschaftlichen‹ Schulungsweg der frühen Goethe-Schriften und dem später entwickelten Konzept theosophischer bzw. anthroposophischer Erkenntnisschulung. In ihrer Beschreibung verschiedener Stufen der Höherentwicklung des Menschen sind sie deutlich spezifischer als ersterer, enthalten aber noch nicht, wie die letzteren, konkret-normative Übungs- und Meditationsanweisungen, sondern beschränken sich auf die deskriptive Schilderung verschiedener Entwicklungsstufen des menschlichen Erkennens und Handelns. Aus anderer Perspektive könnte auch gesagt werden: Der ›goethesche‹ Schulungsweg der achtziger Jahre war auf den Naturwissenschaftler zugeschnitten, während der ›fichtesche‹ der neunziger Jahre (wie auch der ›schellingsche‹ der Christentums-Schrift) ein eminent philosophisch-abstrakter war. Der theosophische, auf schlichten Visualisierungs- und Konzentrationsübungen beruhende ›Erkenntnispfad‹ hingegen sollte im Prinzip jedem Menschen offenstehen, der sich darauf einlassen will. Wenn somit der Theosoph Steiner ab 1902 die theosophische Schulungsidee aufnahm und nach seinen Vorstellungen umgestaltete, knüpfte er an eine von Anfang an in seinem Denken nachzuweisende Inklination für erkenntnisschulische Modelle an.

 

Von der Theosophie zur Anthroposophie

Der Begriff ›Anthroposophie‹, mit dem Steiners Werk und Wirken heute im Allgemeinen assoziiert wird, wurde erst mit der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft zur Jahreswende 1912/13 zur offiziellen Bezeichnung der von Steiner initiierten und geführten Bewegung. Diese war bis dahin unter dem Dach der Theosophical Society organisiert gewesen und die Sprachregelung für Steiners Arbeit, sowohl intern wie auch nach außen, war bis 1913 die, dass dasjenige, was Steiner in seinen Schriften und Vorträgen vertrat, als ›Theosophie‹ bezeichnet und verstanden wurde.

Das in diesem Band mit der Theosophie abgedruckte Fragment Anthroposophie aus dem Jahr 1910 zeigt jedoch, dass Steiner seinen theoretischen Ansatz schon deutlich früher mit diesem Begriff bezeichnete und ihn methodisch und inhaltlich vom Theosophiebegriff abzugrenzen suchte. Nach eigener Aussage hatte er das Wort bereits 1903 als Titel eines programatischen Vortrags verwendet. Der Text dieses Vortrags ist jedoch nicht erhalten. Auch sind sämtliche Vorkommnisse des Wortes ›Anthroposophie‹ in Steiners Texten und Vorträgen zwischen 1903 und 1913, wie sie derzeit in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe erscheinen, später von Redaktoren auf Steiners Anweisung hin für das Wort ›Theosophie‹ eingesetzt worden. Somit ist derzeit nicht eindeutig nachzuweisen, ob und wo Steiner das Wort vor 1909 bereits verwendet hat.

Gesichert ist, dass Steiner seinen Zuhörern um 1909 zum ersten Mal elaborierte Vorstellungen darüber vorstellte, wie eine ›Anthroposophie‹ im Gegensatz zu einer Theosophie auszusehen habe, denn in diesem Jahr hielt er einen programmatischen Vortragszyklus mit eben diesem Titel (heute abgedruckt in GA 115). Den in diesem Zyklus formulierten neuen Ansatz in befriedigender Weise auch schriftlich in einem gleichnamigen Buch zum Ausdruck zu bringen, wollte ihm jedoch 1910 nicht gelingen. Als Gründe für die Nichtvollendung der Schrift gab Steiner an, dass es ihm damals nicht möglich gewesen sei, »die Wahrheiten, die spirituell vor mir stehen, den Weg durch die Feder aufs Papier nehmen zu lassen.« Walter Johannes Stein berichtet, Steiner habe ihm das Manuskript vorgelegt und gesagt:

›Sehen Sie, da habe ich ein Buch geschrieben, das ist jetzt bis zu Seite 64 gedruckt, ich kann es aber nicht fertig schreiben.‹ Auf mein sprachloses Staunen sagte Dr. Steiner: ›Ja, ich kann es wirklich nicht, es gelingt mir nicht, die Sache so zu fassen, daß es jemand verstehen könnte. Das Buch wird Fragment bleiben.‹ (GA 219a, 136)

Zu den Schwierigkeiten der Darstellung fügte Steiner rückblickend in einem Vortrag des Jahres 1920 noch einen weiteren Grund für die Nichtvollendung des Textes hinzu: Seine immense Vortragstätigkeit habe ihm einfach nicht die Zeit gelassen, die Schrift in Ruhe auszuarbeiten. Dabei klingen manche seiner Formulierungen – »bis jetzt« [...] »noch nicht« – so, als habe er selbst damals, also zehn Jahre nach Abbruch des Fragments, immer noch mit dem Gedanken einer Fertigstellung gespielt:

Ich habe vor vielen Jahren auf einem gewissen Gebiete ver­sucht, in Worte zu kleiden dasjenige, was man nennen kann menschliche Sinnenlehre. Es ist mir in einer Weise gelungen, das in Worte zu kleiden, was solche menschliche Sinneslehre, die Leh­re von den zwölf Sinnen, ist, im mündlichen Vortrage, weil man da noch eher die Möglichkeit hat, die Sprache so zu drehen und zu wenden und durch Wiederholungen zu sorgen für das Verständnis, daß man die Mängel unserer Sprache, die solch über­sinnlichem Wesen noch nicht gewachsen ist, nicht so stark fühlt. Aber als ich dann – es war, wie gesagt, vor vielen Jahren – auf­schreiben wollte, um es zu einem Buche zu formen, dasjenige, was ich als eigentliche Anthroposophie gegeben habe in Vorträ­gen, da stellte sich das Merkwürdige heraus, daß das äußerlich Erlebte bei seinem Hineintragen in das Innere etwas so Sensitives wurde, daß die Sprache nicht die Worte hergab. Und ich glaube, fünf bis sechs Jahre lag der Anfang des Gedruckten, mehrere Bo­gen, in der Druckerei. Ich konnte, weil ich das Ganze in dem Stil fortschreiben wollte, wie es angefangen war, einfach weil die Sprache zunächst das nicht hergab für meine damalige Entwickelungsstufe, was ich erreichen wollte, nicht weiterschreiben. Nach­her ist eine Überlastung mit Arbeiten gekommen, und ich konnte bis jetzt dieses Buch noch nicht fertigmachen. (GA 322, 105)

Inhaltlich drehen sich die Darstellungen des Anthroposophie-Fragments zunächst um eine Theorie der Sinne des Menschen, von denen Steiner zunächst zehn benennt (später sollten es zwölf werden). Ausgehend von diesem Punkt versuchte er, diejenigen anthropologischen und ontologischen Bestimmungen, die er in der Theosophie bereits dargelegt hatte, nochmals zu entwickeln, aber jetzt methodisch in ganz anderer Weise. Schon 1904 war es Steiners Bestreben gewesen, die verschiedenen ›Wesensglieder‹ des Menschen sowie die verschiedenen Bereiche der menschlichen Wirklichkeitserfahrung (die ›drei Welten‹, in theosophischer Sprache) nicht einfach nur, wie in der früheren theosophischen Literatur üblich, zu postulieren und dann zu erläutern, sondern sie organisch aus der Idee des trichotomischen Aufbaus des Menschen und des Kosmos abzuleiten. Die grundlegende Trichotomie von Leib, Seele und Geist selbst hingegen, auch wenn sie phänomenologisch schlüssig aufgewiesen wurde, blieb auch in der Theosophie zunächst noch reine Setzung, blieb Postulat der ›höheren Weisheit‹ gewissermaßen, auf die das Buch sich berief.

Im Anthroposophie-Fragment suchte Steiner einen Weg der Darstellung, der nicht mehr von solchen nicht weiter begründeten Setzungen ausgeht, sondern bei der konkreten Evidenz des menschlichen Sinnesorganismus ansetzt. Von diesem ausgehend strebte er danach, seine anthropologischen und ontologischen Bestimmungen systematisch abzuleiten. Dadurch gewann die Darstellung eine Konkretheit, Evidenz und Anbindungsfähigkeit an außertheosophische und naturwissenschaftliche Diskurse, welche seiner immer noch weitgehend der theosophischen Tradition verbundenen Schrift von 1904 fehlte. Deutlich spürbar ist das Bestreben, den konzeptionellen und sprachlichen Rahmen der theosophischen Tradition hinter sich zu lassen und eine eigenständige Art der Darstellung übersinnlicher Erfahrung zu entwickeln, welche auch aus wissenschaftlicher Perspektive nachvollziehbar und akzeptabel ist. Entsprechend fehlen in der Schrift die sonst üblichen Hinweise Steiners, die an den guten Willen und die Unvoreingenommenheit des Lesers appellieren. Die Anthroposophie fordert nicht, wie die Theosophie, zur methodischen Urteilsenthaltung gegenüber den Offenbarungen hellseherischer Schau auf, sondern vertraut deutlich stärker auf die Überzeugungskraft der Argumentation.

Je tiefer Steiner aber in das Innere des so entwickelten Gedankenkosmos eindringt, ab dem VI., spätestens VII. Kapitel, und jede begriffliche Gestalt innerhalb derselben als Umwandlung oder Umstülpung einer anderen erscheint, desto mehr verliert sich die Klarheit und Nachvollziehbarkeit der ersten Kapitel. Dessen ist er sich offenbar selbst bewusst gewesen, etwa als er gegenüber von Stein bemerkte, dass es ihm in dieser Schrift nicht gelungen sei, »die Sache so zu fassen, daß es jemand verstehen könnte«. Manches, was im Vortragszyklus von 1909 noch nachvollziehbar ist, nicht zuletzt auch durch illustrierende Beispiele und Wandtafelzeichnungen, gelangte hier im Medium des reinen Gedankens nicht zu einer vergleichbaren Deutlichkeit und Anschaulichkeit.

 

Der Anthroposophie-Zyklus von 1909

Im ersten Vortrag des Anthroposophie-Zyklus von 1909 (gehalten am 23. Oktober in Berlin) begann Steiner die Darstellung mit einer ersten Charakterisierung anthroposophischer Wirklichkeitsbetrachtung in Abgrenzung von einer naturwissenschaftlichen Perspektive einerseits und einer theosophischen Herangehensweise andererseits. Dabei verwendet er für eine naturwissenschaftliche, auf reiner Sinnesbeobachtung gründende Menschenbetrachtung, den Begriff ›Anthropologie‹. Die Perspektive der ›Theosophie‹ hingegen betrachte alle Dinge aus Sicht jener Modi von Wirklichkeitserfahrung, die auf übersinnlicher Wahrnehmung beruhen. In seinen Stufen der höheren Erkenntnis (1905–1908) hatte er von ›Inspiration‹ und ›Intuition‹ als Formen solch sinnlichkeitsfreien Erkennens gesprochen. Zwischen diese und das ›gewöhnliche‹, sinnengebundene Vorstellen stellte er zudem den gewissermaßen ›halbsinnlichen‹ Erkenntnismodus der ›Imagination‹. Dieser basiere, so Steiner, wie das gewöhnliche Erkennen auf der Wirklichkeitsrepräsentation in Form bildlicher Inhalte, wobei jedoch diese Bilder nicht unmittelbar aus sinnlicher Anschauung gewonnen, sondern von der Vorstellungskraft produktiv hervorgebracht würden. Unter ›Imaginationen‹ verstand Steiner somit zwar frei aber nicht willkürlich erzeugte Produkte der menschlichen Einbildungskraft, ganz im Sinne jener Vorstellungen, die Goethe als Erzeugnisse einer »exakten sinnlichen Phantasie« beschrieben hatte. Die goethesche Konzeption der so genannten ›Urpflanze‹ etwa wäre ein Beispiel für ein solch ›imaginatives‹ Vorstellen im steinerschen Sinne.

›Anthroposophie‹ wird von Steiner definiert als in der Mitte zwischen ›Anthropologie‹ (d. h. auf sinnlich-empirischer Beobachtung beruhender Forschung) und ›Theosophie‹ (d. h. auf ›Inspiration‹ und ›Intuition‹ bzw. auf übersinnlicher Empirie basierender Geisteswissenschaft) stehend. Eine anthroposophische Betrachtung des Menschen gehe, so Steiner, vom menschlichen Sinnesorganismus aus und suchte zu zeigen, inwiefern in solcher Betrachtung die ›physisch-sinnliche‹ Welt, von der die naturwissenschaftliche Betrachtung ausgeht, wie auch die ›seelisch-geistige Welt‹, von der die Theosophie spricht, aus dem Wesen des Menschen selbst bzw. aus dem Sinnes- und Erkenntnisvorgang heraus abzuleiten und zu verstehen sind. Ohne Wahrnehmung durch die Sinne, so Steiners zentrales Argument, gäbe es für den Menschen nirgendwo irgendeine ›Welt‹, weder eine ›sinnliche‹ noch eine ›geistige‹, weder eine ›äußere‹ noch eine ›innere‹. Durch seine wahrnehmende und erkennende Tätigkeit erschaffe der Mensch gewissermaßen erst diejenigen ›Welten‹, von denen in der ›Anthropologie‹ und der ›Theosophie‹ die Rede ist. Daher müsse jedes Weltverständnis wie auch jedes Menschenverständnis mit dem Verständnis der menschlichen Sinne anfangen: »Das ist das erste Kapitel der Anthroposophie; die wirkliche Wesenheit und Natur unserer Sinne« (GA 115, 34). Was die ›physisch-materielle Welt‹, von der die Naturwissenschaft ausgeht, und was die ›seelischen‹ und ›geistigen‹ Welten eigentlich sind, von denen der Theosoph spricht – all das ergebe sich erst aus dem Verständnis des Menschen und aus der Art, wie diese Erlebnisbereiche im und durch den Menschen zusammenhängen. So ist nach Steiner für die anthroposophische Betrachtung der Mensch letztlich die Antwort auf die Frage nach dem Welträtsel. Anthroposophie sei erforderlich, so Steiner sinngemäß, wenn ›Anthropologie‹ und ›Theosophie‹ nicht nur ihren jeweiligen Gegenstand, sondern auch sich selbst und ihre Grenzen recht verstehen wollen.

Im zweiten Vortrag geht Steiner dann genauer auf die Sinnesorganisation des Menschen ein und fügt den gewöhnlichen Sinnen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) sechs weitere hinzu, spricht aber andererseits dem traditionellen Tastsinn die Qualität eines eigenen Sinns ab und kommt so zu einer Theorie von zehn menschlichen Sinnen, welche sich in drei Gruppen unterteilen. Die ›niederen‹ Sinne: Lebenssinn, Eigenbewegungssinn, Gleichgewichtssinn; dann die ›mittleren‹ Sinne: Geruchs-, Geschmacks-, Seh-, Wärme- und Hörsinn; und schließlich die ›höheren‹: Lautsinn und Begriffssinn. Allen Sinnen sei gemeinsam – und dies mache ihre eigentliche Sinnesnatur aus –, dass in ihnen der Mensch sein ›astralisches‹ und ›ätherisches‹ Wesen einer ›astralischen‹ und ›ätherischen‹ Umwelt entgegensetzt; und die Sinneserlebnisse seien das Ergebnis dieses dynamischen Kräfteverhältnisses zwischen Innenleben und Außenwelt. Dabei sind die ›höheren‹ Sinne nach Steiner dadurch gekennzeichnet, dass der Einfluss der Außenwelt auf die Innenwelt überwiegt; bei den ›niederen‹ Sinnen hingegen sei dies umgekehrt, und bei den ›mittleren‹ halte sich dieses wechselseitige Kräftespiel in etwa die Waage.

Den Ursprung dieses ›Hinausschiebens‹ der eigenen Astralität in die Umwelt erklärte Steiner 1909 noch mit Hilfe der theosophischen Wesensgliederlehre, wodurch die Darstellung einen gewissen mechanischen Zug annahm: So werde der Lebenssinn dadurch bewirkt, dass das ›atmische‹ Wesensglied den ›Ätherleib‹ zusammenpresse, wodurch dann der ›Astralleib‹ in seine astralische Umwelt gewissermaßen ›ausgepresst‹ würde und so die Wahrnehmungen des Lebenssinnes erzeuge. In gleicher Weise ist in Steiners Modell von 1909 stets der Krafteinfluss verschiedener Wesensglieder die Ursache eines bestimmten Sinnes.

Der dritte Vortrag des Anthroposophie-Zyklus fügt weitere Sinne hinzu, und zwar diejenigen drei Formen der übersinnlichen Erkenntnis, die Steiner kurz zuvor in seiner Schrift Die Stufen der höheren Erkenntnis dargestellt hatte: Imagination, Inspiration und Intuition. – Das bedeutendere Thema dieses Vortrags aber ist die Erklärung der verschiedenen physischen Formen der Sinnesorgane und des menschlichen Leibes überhaupt. Dabei stützt Steiner sich auf ein Kraftströmungs-Modell, welches in der Theosophie und in der esoterischen Ideengeschichte allgemein unseres Wissens nach so kein Vorbild hat. Was in der Theosophie noch vergleichsweise statisch als ›Wesensglieder‹ beschrieben wurde, fasst Steiner jetzt in dem Bild dynamisch ineinanderfließender Kraftströmungen, die in den drei Achsen des dreidimensionalen Raums ineinanderfließen. Je zwei solcher Strömungen fließen in ›links-rechts‹-Richtung ineinander, je zwei in ›vorn-hinten‹-Richtung und je zwei ›von oben nach unten‹ und umgekehrt. An den Stellen, wo diese Strömungen aufeinandertreffen, lässt Steiner ›Stauungen‹ entstehen, je nach den individuellen Kräfteverhältnissen und der gegenseitigen Beeinflussung der beschriebenen sechs ›Ströme‹. Die verschiedenen Arten solcher Stauungen sind dann für Steiner Grundlage der charakteristischen Formen der verschiedenen Sinnesorgane und überhaupt aller Gestaltbildung innerhalb des Menschen.

Dieses Bild der Organentstehung aus dem Spiel ineinanderfließender Kräfteströmungen kann als Versuch Steiners gedeutet werden, den menschlichen Organismus als reine Prozesshaftigkeit darzustellen und so die Statik der theosophischen Hüllenmodelle zu überwinden. In dieser Konzeption gibt es eigentlich keine ›Organe‹ und ›Wesensglieder‹ im Menschen mehr, sondern nur noch gestaltende Kräfte. Das Sprechen von ›Organen‹ und selbst von ›Wesensgliedern‹ ist bestenfalls eine vereinfachte Art und Weise, mittels derer man sich dieses komplexe wechselseitige Kräftespiel vergegenwärtigen kann. Anthroposophisches Denken, wie Steiner es hier exemplarisch vorführt, kennt keine ›Dinge‹ oder ›Objekte‹ mehr, sondern lediglich Kräfte und Prozesse sowie deren vielfache Beziehungen und Metamorphosen.

Auf diesem Gedanken aufbauend, versucht Steiner weiter zu zeigen, dass alle diese menschlichen Organe (bzw. Kraftströmungs-Komplexe) auf ein gemeinsames Urbild zurückzuführen sind. Damit knüpft er wiederum an seine vortheosophischen Studien über die goethesche Morphologie an. Wie Goethe alle Organe des Pflanzenwesens auf eine Urform zurückzuführen suchte, so sucht jetzt Steiner, alle menschlichen Sinnesorgane als Variationen einer Grundform zu verstehen, dessen urbildlichen Ausdruck er in der Form des Gehirns sieht. »Jedes Sinnesorgan«, formuliert Steiner, »ist ein abgeändertes kleines Gehirn, und das Gehirn wieder ein Sinnesorgan auf einer höheren Stufe« (GA 115, 66). Im weiteren Verlauf des Vortrags weitet er dieses Modell sogar auf sämtliche menschliche Organe aus, indem er nicht nur die Sinnesorgane auseinander ableitet, sondern auch andere Organe als Metamorphosen von Sinnesorganen versteht.

Gegen Ende des dritten Vortrags und im vierten Vortrag gibt Steiner dann verschiedene Beispiele, wie dieses Grundmodell einer ›geisteswissenschaftlichen Anthropologie‹ wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden könnte. Zunächst wendet er sein Strömungsmodell an, um die physische Form einiger zentraler Organe wie des Herzens und des Kehlkopfs konkret daraus abzuleiten. Dann erklärt er mit demselben Modell, wie und warum der Mensch auf früheren Stufen seiner Entwicklung eines ›attavistischen Hellsehens‹ fähig gewesen sei, warum das Antlitz des Menschen ein physischer Ausdruck seines Seelischen sei und warum der Mensch zuerst den aufrechten Gang erlernen musste, bevor er des Denkens fähig wurde. Und indem die beschriebenen sechs Kraftströmungen in Steiners Modell nicht nur innerhalb des Menschen wirksam sind, sondern das gesamte Universum durchdringen und konstituieren, wird ein intimer Zusammenhang zwischen der menschlichen Physiologie und der geologischen Konstitution der Erdoberfläche hergestellt: Steiner lässt die (stets von Norden nach Süden sich verengenden) physischen Formen der Kontinente in ähnlicher Weise aus den beschriebenen Strömungen hervorgehen, wie zuvor die Organe des menschlichen Körpers. In einer weiteren kulturgeschichtlichen Anwendung sieht er in seinem Modell eine mögliche Erklärung dafür, warum die Menschheit zunächst von rechts nach links schrieb und dann zur Schreibung von links nach rechts überging.

Diese Beispiele, die vermehrt werden könnten, illustrieren die Grundidee des neuen anthroposophischen Ansatzes, den Steiner ab 1909 entwickelte: Auf der Basis bestimmter anthropologischer Grundbestimmungen, die den theosophischen Anschauungen ähneln, die aber nicht, wie in der Theosophie, als Ergebnisse übersinnlicher Erfahrung einfach vorausgesetzt werden, sondern aus dem Wesen der Sinnesorganisation des Menschen selbst abgeleitet sind, werden Aussagen über Phänomene aus allen möglichen Bereichen des Lebens gemacht, wie sie sich in ihrer Konkretheit und Lebensnähe in der theosophischen Literatur kaum je finden. Anthroposophie, wie Steiner sie hier entwirft, soll sozusagen ›angewandte‹ Theosophie sein und zugleich die Brücke zur Naturwissenschaft schlagen. Sie interessiert sich für ›höhere Welten‹ bzw. den ›Geist‹ nicht als Selbstzweck, sondern insofern, als diese Vorstellungen Modelle eines prozessual orientierten, lebendig-organischen Denkens über die alltäglichen Lebenserscheinungen ermöglichen, denen gegenüber ein objektorientiertes mechanisches Denken, wie es in Steiners Augen die Naturwissenschaften seiner Zeit und zum Teil auch die theosophischen Schriften prägte, irgendwann an seine Grenzen kommt.

Während Steiner auf diese Weise zu skizzieren sucht, wie er sich den Charakter einer Anthroposophie vorstellt, knüpft er zugleich auch wieder an die philosophischen Anschauungen seiner vortheosophischen Zeit an. So dienen die verschiedenen Strömungen des oben geschilderten Modells auch als eine plastische Illustration des erkenntnistheoretischen Grundmodells der Philosophie der Freiheit. Steiner erklärt mit seiner Hilfe unter anderem auch, wie durch Wahrnehmung und Denken die menschlichen Vorstellungen zustandekommen. Der anthroposophische Ansatz, wie er hier skizziert wird, will also einerseits die Theosophie von innen umbilden, auf eine neue Ebene bringen und für die praktische Anwendung im Leben nutzbar machen, soll aber zugleich die philosophischen Schriften Steiners in ihrer Funktion als theoretische Grundlage und methodische Legitimation untermauern. Seine Anthroposophie soll ebenso als Umbildung seiner Theosophie verstanden werden, wie seine Theosophie als Metamorphose seiner Freiheitsphilosophie.

Der anthroposophische Ansatz dient Steiner drittens als Korrektiv zu gängigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen. So erwähnt er das biogenetische Grundgesetz Haeckels und betont einerseits dessen Bedeutsamkeit, kritisiert es aber zugleich als auf falschen Voraussetzungen beruhend und so zu falschen Vorstellungen führend. Diese und andere ›Irrtümer‹ der Wissenschaft sollen nun ebenfalls durch die anthroposophische Sicht der Dinge korrigiert werden. So deutet Steiner den Befund, dass der Mensch während seiner embryonalen Entwicklung Formen zeigt, die denen des Tierreichs ähneln, jetzt ganz anders als Haeckel (und anders auch als er selbst in früheren Schriften). Die Phänomene der Ontogenese zeigen seiner Auffassung nach nämlich nicht, wie von Haeckel postuliert, dass der Mensch auf früheren Stufen seiner Entwicklung verschiedene Tierformen selbst durchlaufen habe und somit phylogenetisch selbst irgendwann einmal Tier gewesen sei. Vielmehr entwickelt Steiner die Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Entwicklungslehre, in welcher zwar einerseits der Mensch vom Tierreich abstammt (nämlich insofern er als physische Gestalt auftritt), in der aber zugleich die vielfachen Tiergestalten als sichtbarer leibgewordener Ausdruck der Entwicklungsformen des geistigen Menschenwesens verstanden werden und nach der die Tiere somit gewissermaßen ebenso vom Menschen abstammen, wie dieser von ihnen.

An den Vortragszyklus ›Anthroposophie‹ schlossen sich in den beiden folgenden Jahren weitere Zyklen an mit den Titeln Psychosophie und Pneumatosophie. In ersterem formulierte Steiner, indem er sich an Vorstellungen Franz Brentanos anlehnte, eine anthroposophische Seelenlehre, deren vielleicht hervorstehenstes Moment darin besteht, dass das Denken bzw. das Urteilen nicht länger als seelische Tätigkeit verstanden wird. So sind nach Steiners ›Psychosophie‹ nicht mehr, wie noch in der Philosophie der Freiheit und der Theosophie, Denken, Fühlen und Wollen die drei zentralen seelischen Tätigkeiten, sondern Empfinden bzw. Vorstellen, Fühlen und Wollen. Denken und Urteilen hingegen werden als geistige Tätigkeit aufgefasst. Im dritten Zyklus von 1911 mit dem Titel ›Pneumatosophie‹ schließlich entwickelte Steiner konkretere Vorstellungen über die Eigenheit des Geistes, indem er sich neben Brentano auch explizit auf die aristotelische Geisttheorie bezog. Außerdem formulierte er hier zum ersten Mal eine Urteilstheorie, die in seinen philosophischen Schriften weitgehend fehlt.

All diesen Entwicklungen kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden; stattdessen soll nun die Anthroposophie-Schrift von 1910 näher betrachtet werden, die aus den Vorträgen des vorhergehenden Jahres hervorging und in vieler Hinsicht an diese anknüpfte.

 

Die Anthroposophie-Schrift von 1910

Im Anthroposophie-Fragment von 1910 tauchen alle wesentlichen Inhalte der oben skizzierten Vorträge wieder auf. Auch die Entwicklung des Stoffes ist ähnlich: Steiner beginnt in Kapitel I mit derselben grundsätzlichen Charakterisierung der ›Anthroposophie‹ in ihrer Abgrenzung von ›Anthropologie‹ und ›Theosophie‹, während Kapitel II eine Charakterisierung der steinerschen Sinneslehre als dem natürlichen Anfangspunkt anthroposophischer Untersuchungen gibt. In Kapitel III bis VI werden die verschiedenen ontologischen und anthropologischen Seins- bzw. Erfahrungsbereiche abgeleitet, denen wir schon in der Theosophie begegnet waren, d. h. den Erlebnissphären des ›Physischen‹, ›Ätherischen‹, ›Astralen‹ und des ›Ich‹. Und in den letzten Kapiteln schreitet Steiner zur Entwicklung des erwähnten Strömungsmodells sowie zu einer Theorie der Organentstehung aus einer wechselseitigen Metamorphose bzw. Umstülpung der verschiedenen Sinneskräfte. Inmitten dieser hochkomplexen Darstellung bricht das Fragment unvermittelt ab.

Die Ableitung und Darstellung dieser Inhalte freilich ist in der schriftlichen Form eine ganz andere. Viel stärker als im mündlichen Vortrag geht Steiner an die Inhalte jetzt in einer methodischen Weise heran, die in mancher Hinsicht an den identitätsphilosophischen Charakter seiner Frühschriften erinnert. So bewegt sich der Text einerseits auf einer transzendentalphilosophischen Ebene, indem Steiner gleich zu Beginn klarstellt, dass die physisch-sinnliche Welt, wie der Mensch sie erlebt, nicht in einem einseitig-realistischen Sinne gedacht werden dürfe, sondern in ihrer Konstitution als eine Hervorbringung der erkennenden Tätigkeit zu begreifen sei. Gleichzeitig aber wird darauf verwiesen – und damit geht Steiners Argumentation über diejenige in der Philosophie der Freiheit hinaus –, dass diese geistige Schöpfung des Menschen nur aufgrund seiner Sinnestätigkeit zustande kommt, und dass diese Sinne selbst natürlich nicht auf ihre im Physisch-Sinnlichen erscheinende Form reduziert werden könnten – denn in diesem Fall wären sie ja nur wieder Teil jener ›Welt‹, die durch sie überhaupt erst zustandekommt. Die Sinne als solche müssen somit, so das neue Argument, jenseits dessen Realität haben, was der Mensch als die ›physisch-sinnliche Welt‹ kennt, und sie verweisen somit kraft ihres Wesens auf eine Welt jenseits derjenigen, die durch sie zustande kommt, d. h. auf eine ›übersinnliche‹ oder ›geistige‹ Welt.

An dieser Argumentation wird exemplarisch der ganz neue Stil der Schrift deutlich. Die Realität einer übersinnlichen Wirklichkeit jenseits der sinnlich wahrnehmbaren ist kein bloßes Postulat des Hellsehers mehr, welches der Leser zunächst auf guten Glauben hinzunehmen hat, sondern wird argumentativ abgeleitet aus der Funktion, welche den Sinnen notwendigerweise zugeschrieben werden muss: Erst im weiteren Verlauf der Schilderung ergibt sich, dass dies derjenige Erfahrungsbereich ist, der in theosophischer Literatur die ›höhere Geistwelt‹ heißt.

Ebenso wie die ›geistige Welt‹ werden auch die übrigen theosophischen Seinssphären, die zuvor einfach gesetzt worden waren, aus der Natur der menschlichen Wirklichkeitserfahrung abgeleitet: Was in der Theosophie noch ›physisch-sinnliche Welt‹ hieß, firmiert nun unter der Bezeichnung ›Welt, die sich im Ich-Menschen offenbart‹. Die theosophische Äther- bzw. Elementarwelt heißt jetzt ›Welt, die den Lebensprozessen zugrunde liegt‹. Die Astralwelt hingegen ist nunmehr die ›Welt, die den Gefühlserlebnissen zugrunde liegt‹ usw. So kommt Steiner nach und nach zu vergleichbaren anthropologischen und ontologischen Seins- bzw. Erlebnisstufen wie in der Theosophie: Der Mensch ist auch hier wieder ›physischer Mensch‹, ›ätherischer Mensch‹, ›astralischer Mensch‹ und ›Ich-Mensch‹ und das Universum differenziert sich in vier entsprechende Seinsschichten; aber all diese Bestimmungen erscheinen jetzt als mit Notwendigkeit aus dem Wesen der menschlichen Wirklichkeitserfahrung abgeleitet und basieren nicht länger ausschließlich auf der Autorität der ›übersinnlichen Erkenntnis‹ bzw. der ›Meister‹. Auch das hermetische Prinzip der Entsprechung zwischen dem Wesen des Menschen und dem Wesen der ihn umgebenden Wirklichkeit erscheint jetzt weniger als leitende Voraussetzung der esoterischen Betrachtung, sondern als organisch sich ergebende Folgerung aus Steiners Ableitungen.

Stilistisch auffällig an der Anthroposophie-Schrift ist auch der durchgängige Gebrauch von Anführungszeichen zur Kennzeichnung von uneigentlicher Rede. So wird schon optisch klar markiert, dass der Leser, immer wenn von ›astralischen‹ oder ›ätherischen‹ Leibern oder von dieser oder jener ›Welt‹ die Rede ist, sich vor einer naiv-realistischen wie auch vor einer metaphysischen Auffassung dieser Ausdrücke hüten muss. Unter ›Wesensgliedern‹ wie auch unter ›Welten‹ hat man sich immer, im Sinne des identitätsphilosophischen Ansatzes der Schrift, einen Modus des Seins und zugleich einen Modus menschlicher Erkenntnistätigkeit vorzustellen.

Neu gegenüber der Theosophie, und auch gegenüber dem Vortragszyklus von 1909 ist die ausdrückliche Bestimmung aller Sinnestätigkeit als Ich-Tätigkeit. Hatte Steiner zuvor die Sinnesaktivität noch in komplizierter Weise mittels der Interaktion zwischen Wesensgliedern erklärt, so wird jetzt deutlich: Was zuvor im Bild des ›Hinausschiebens astraler Substanz in die Außenwelt‹ beschrieben worden war, soll nun als die Tätigkeit eines ›Ich‹ aufgefasst werden, welches in ein dynamisches Verhältnis zu den verschiedenen Kraftäußerungen eines ›Nicht-Ich‹ tritt. Alle Sinnestätigkeit, so betont Steiner jetzt, ist nur auf verschiedene Weise sich äußernde Interaktion des ›Ich‹ mit seiner Umwelt. Dabei sei freilich das ›Ich‹ nicht im Leib vorzustellen, von wo aus es mit einer außerhalb des Leibes liegenden Außenwelt interagieren würde; vielmehr liegt das ›Ich‹ für Steiner jetzt außerhalb des Leibes, und die Sinnesorganisation und die Sinneserlebnisse sind gewissermaßen die ›Außenwelt‹, das ›Nicht-Ich‹, auf welche die Tätigkeit des ›Ich‹ sich richtet, an der sie in sich selbst zurückgeworfen wird und dadurch zum Bewusstsein ihrer selbst kommt (AN, 59).

Stärker noch als im Vortragszyklus von 1909 wird in der schriftlichen Fassung von 1910 das Prinzip der Metamorphose bzw. Umstülpung herausgehoben. Dieses beinhaltet jetzt nicht mehr nur das Hervorgehen der Formen aller Sinnesorgane aus einer urbildlichen Grundform, sondern zudem das Phänomen, dass jeder der zehn von Steiner beschriebenen Sinne als Umkehrung des Sinneserlebnisses eines ihm entsprechenden Komplementärsinnes beschrieben werden kann. So gilt ihm der Begriffssinn als eine Umstülpung des Bewegungserlebnisses, der Wärmesinn als Umstülpung des Geruchserlebnisses, der Gesichtssinn als umgekehrtes Geschmacks-, und der Gehörsinn als umgekehrtes Gleichgewichtserlebnis. Und auch die Verhältnisse zwischen den Sinnesorganen und anderen Lebensorganen wie Herz und Lunge werden als solche Umstülpungs- und Metamorphosenbeziehungen beschrieben.

Schon diese wenigen Andeutungen machen deutlich, warum es dem Leser der Anthroposophie in den letzten Kapiteln des Fragments ähnlich ergehen kann, wie Mephistopheles in der ›klassischen Walpurgisnacht‹: Er weiß vor lauter Metamorphosen irgendwann nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Das Denken in Metamorphosen, mit dem Steiner beim Studium der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes bekannt geworden ist, wird so weit über den ursprünglichen Rahmen goethescher Morphologie hinaus getrieben, dass das begriffliche Denken irgendwann nur noch schwer mitkommt. Steiner wendet das Metamorphosenprinzip nicht nur, wie Goethe selbst, auf physisch-sinnliche Formen an, sondern auch auf ätherische, astrale und geistige. Alles erscheint so mit allem verwandt, alles aus allem ableitbar durch ein universelles Gesetz allseitigen Hervorgehens auseinander; nicht nur physische oder seelische Gestalten auseinander, sondern auch Physisches aus Seelischem oder Geistigem. Ein atemberaubendes ›Abenteuer des Geistes‹ deutet sich an, ein intellektueller ›Gang zu den Müttern‹, wenn man so will, an dessen sprachlicher Umsetzung Steiner aber letztlich ebenso scheiterte wie Faust an seinem Versuch, Helena ›ins Leben zu ziehen‹, und wie Mephistopheles an seinem Versuch, der Lamien habhaft zu werden.

Dennoch hat Steiner mit der Ausformulierung des Textes mehreres erreicht. Auch wenn die Darstellung irgendwann nur noch schwer nachzuvollziehen ist, so wird doch die generelle Idee dessen, was Steiner als Anthroposophie an die Seite von ›Anthropologie‹ in seinem Sinne (d. h. an die Seite naturwissenschaftlich begründeter Menschenkunde) und Theosophie stellen möchte, noch im Scheitern deutlich. Selbst in der extremen Ökonomie und der sachlich-begrifflichen Zurückhaltung, welche er sich in dem Fragment auferlegt, gelingt es ihm in bestimmten Passagen, die imaginative und prozesshafte Natur des anthroposophischen Denkens deutlich werden zu lassen. Ferner gelingt es ihm bisweilen, die menschenkundliche Betrachtung derart an kosmologische Vorstellungen anzuschließen, dass die Idee einer Seinsanalogie, die in der Theosophie noch recht allgemein und abstrakt ausgestaltet war, in poetischen Bildern von bemerkenswerter Einprägsamkeit zum Ausdruck kommt. So erscheint der ›Kosmos‹ des menschlichen Sinnesorganismus als mikrokosmisches Gegenbild der Sternenwelt, wenn Steiner beschreibt, wie die zentrale Ich-Tätigkeit gewissermaßen ihre Bahn durch die verschiedenen Sinnesbereiche zieht, ähnlich wie die Sonne durch die zwölf Bereiche des Zodiak. Der ätherische Organismus hingegen mit seinen sieben zentralen Lebenstätigkeiten wird zum Gegenbild der sieben Planeten, die um die Erde kreisen. Und die drei Grundelemente des astralen Organismus erscheinen wie eine mikrokosmische Entsprechung des Verhältnisses von Sonne, Mond und Erde. Die traditionelle hermetische Vorstellung von der Analogie des kosmischen und des menschlichen Lebens, die Betrachtung des Menschen als mikrokosmisches Bild des Universums, gewinnt in Steiners Texten eine Konkretion und Modernität – und, so wird man vielleicht sagen dürfen, eine poetisch-ästhetische Qualität –, welche dieselben zu bemerkenswerten Beispielen europäischer esoterischer Literatur machen.

Als Mittel der Darstellung einer so verstandenen anthroposophischen Wirklichkeitsbetrachtung erscheint das von Steiner als ›imaginativ‹ bezeichnete Bewusstsein als das geeignetste, denn dieses steht ebenso in der Mitte zwischen ›sinnlicher‹ und ›übersinnlicher‹ Erkenntnis, wie die Anthroposophie die Mitte sucht zwischen ›Anthropologie‹ und ›Theosophie‹. Imaginatives Denken im Sinne Steiners wäre ein solches, das im Sinne Goethes ›Begriff und Anschauung‹ zugleich ist und somit dem ästhetisch-künstlerischen Bewusstsein am nächsten steht; ein Denken, das danach strebt, immer im Bildlichen und Uneigentlichen zu verbleiben, ohne dadurch ins Willkürliche, rein Subjektive zu geraten. Ein Denken aber auch, dass immer in der Mitte zu schweben versucht zwischen den Einseitigkeiten des Realismus und Idealismus, also zwischen der Deutung der Phänomene entweder als ›Dinge innerhalb einer Außenwelt‹ oder als ›Inhalte eines Bewusstseins‹.

Eine eingehende Darstellung der für das anthroposophische Denken so charakteristischen ›imaginativen‹ Darstellungsweise von Inhalten sowie deren historische Kontextualisierung kann an dieser Stelle nicht gegeben werden, aber schon die wenigen Beispiele aus der Anthroposophie-Schrift von 1910 illustrieren den hermetisch-ganzheitlichen Charakter imaginativen Denkens in hinreichender Weise. Die Struktur des Universums ist im imaginativen Denken, wie Steiner es versteht, ebenso Ausdruck und Illustration des menschlichen Wesens, wie umgekehrt der Mensch ein Bild des Kosmos ist. ›Kosmos‹ und ›Mensch‹, ›Außenwelt‹ und ›Innenwelt‹ sind für Steiner im wörtlichen Sinne ein und dasselbe, aus zwei Blickwinkeln betrachtet. In einem derart verstandenen imaginativen Denken wäre somit der Unterschied zwischen Anthropologie und Kosmologie ein lediglich perspektivischer (vgl. dazu auch die Einleitung zu SKA 8), denn sowohl der Erforscher der Natur als auch der Erforscher des Menschen blicken nach Steiner auf zwei als solche nur für und durch den Menschen verschiedene Bewusstseinsgestalten, in denen ein und dieselbe Wirklichkeit bzw. Gesetzmäßigkeit auf je unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt. Diese in vieler Hinsicht an die schellingsche Identitätsphilosophie gemahnende Konzeption bildet in Steiners anthropologischen Schriften allerdings nur den allenfalls angedeuteten ideellen Hintergrund der Darstellung. Zu ihrer vollen Konkretisierung kommt sie erst in seinem esoterischen Hauptwerk, der Geheimwissenschaft im Umriss von 1910. Hier entsteht, durch Ausfaltung des zuvor entwickelten Wesensbegriffs in die Dimension der Zeit und in das Paradigma einer spirituellen Evolutionstheorie, das gewaltige Gedankenbild der steinerschen Kosmogonie. Die Einleitung zu diesem Werk in Band 8 dieser Edition bildet somit die Weiterführung und Ergänzung des hiermit Angedeuteten.

 

Spätere Erweiterungen der Sinneslehre

Steiner hat das Konzept der ›Sinneslehre‹ in seinen Vorträgen nach 1910 immer wieder sporadisch angesprochen, dem Thema aber für längere Zeit keine ausführliche Darstellung gewidmet. Erst um das Jahr 1916 finden sich mehrere Vorträge, die sich zentral um das Thema der Sinne drehen. In diesen Mitschriften ist die Zahl der Sinne jetzt definitiv auf zwölf angestiegen; Tastsinn und Ich-Sinn, die Steiner 1910 zwar thematisiert, ihnen aber nicht den Status eigener Sinne zugebilligt hatte, sind nun in den Kanon der Sinne aufgenommen, deren Zwölfzahl jetzt perfekt der Zwölfzahl der Tierkreiszeichen im Zodiak entspricht. In diesen Vorträgen baut Steiner die schon 1910 formulierte Analogie zwischen der Natur des Menschen und der Struktur des Kosmos weiter aus, stellt aber die Sinneslehre nun zugleich in den Kontext der kosmogonischen Vorstellungen aus seiner Geheimwissenschaft (vgl. SKA 8): Sowohl die vier Aspekte des Menschenwesens aus der Anthroposophie als auch die Seinsbereiche bzw. ›Welten‹ aus der Theosophie entsprechen den vier Entwicklungsstufen des Kosmos in Steiners Kosmogonie: Der Sinnesorganismus wird der ›physischen Welt‹ und der Epoche des ›alten Saturn‹ zugeordnet und Ausdruck von deren Gesetzmäßigkeit, die Lebensorgane entsprechen der ›ätherischen Welt‹ und der Zeit der ›alten Sonne‹, die Seelenkräfte der ›astralen Welt‹ und dem ›alten Mond‹ und die im Ich aufleuchtende physisch-sinnliche Welt dem ›Ich‹ und der ›Erde‹. So schließt sich beim reifen Steiner zusammen, was 1910 noch in Form zweier verschiedener Schriften –  Anthroposophie und Geheimwissenschaft – und zweier systematischer Ansätze nebeneinander stand.

1917 erschien Steiners Buch Von Seelenrätseln, in dem er zum ersten Mal in einer tatsächlich veröffentlichten Schrift die Grundlagen seiner Sinneslehre kurz skizzierte. In demselben Buch sprach er auch zum ersten Mal über seine Vorstellungen über die ›Dreigliederung des menschlichen Organismus‹, eine ganzheitliche Theorie des menschlichen Wesens, die weit über die in der Theosophie formulierte Trichotomie von Leib, Seele und Geist hinausgeht. Steiner identifizierte jetzt im Menschen drei grundsätzliche Organisationen oder Systeme, die sich sowohl in seiner leiblichen wie in seiner seelischen und geistigen Konstitution zeigen sollen. Vom physischen Standpunkt etwa unterscheidet er im Menschen das in Kopf und Sinnesorganisation zentrierte Nerven-Sinnessystem, das in der Körpermitte lokalisierte rhythmische System und das in Unterleib und Gliedmaßen verortete Stoffwechsel-Gliedmaßen-System. Auf Details dieser Konzeption, eine der zentralsten und originellsten im Denken des späten Steiner, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; nur darauf sei verwiesen, dass sie in enger Weise mit Steiners Sinneslehre zusammenhängt und mit ihr zusammen zum gedanklichen Kernbestand der Anthroposophie gehört.

Zwei Jahre später hielt Steiner für die Lehrer der soeben gegründeten ersten Waldorfschule in Stuttgart einen Vortragszyklus über Allgemeine Menschenkunde, in dem er Sinneslehre und die Dreigliederungsidee zum ersten Mal integrierte und aufeinander bezogen darstellte. In dieser Form wurde dann die Sinneslehre zu einer essentiellen Komponente der Waldorfpädagogik. In den letzten Jahren seines Lebens hat Steiner dann in seinen Vorträgen die Sinneslehre nach verschiedenen Richtungen hin erweitert.

Der gedankliche Kernbestand der ›eigentlichen Anthroposophie‹ war somit präsent in Steiners Vorträgen, im Leben der Gesellschaft und in den verschiedenen künstlerischen und gesellschaftspraktischen Anwendungen anthroposophischen Denkens – aber in die Form eines definitiven Buches, einer klar umrissenen Theorie, ist sie nie gebracht worden. Das Fragment von 1910 ist und bleibt somit die einzige systematische und zusammenhängende Darstellung der steinerschen Konzeption anthroposophischer Geisteswissenschaft aus seiner eigenen Hand in Buchform. Es steht zu hoffen, dass die vorliegende Edition zu einer weiteren Verbreitung und einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesem fundamentalen und hoch originellen, in der bisherigen Steinerforschung allerdings weitgehend vernachlässigten bzw. verkannten Text beitragen möge.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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