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Einleitung

Von Christian Clement

SKA 7 (2015), XIX-CXXX

Ungern entdeck' ich höheres Geheimnis.
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.

Faust. Der Tragödie zweiter Teil: 6212-6215

Der Charakter der anthroposophischen Erkenntnisschulung

Im zweiten Teil von Goethes Faust macht sich der Titelheld auf eine geheimnisvolle und vielfach gedeutete Reise in das sogenannte »Reich der Mütter«. Dort offenbaren sich ihm die grundlegenden Schöpfungs- und Formkräfte, die bei der Entstehung der Naturwesen und Kunstwerke, aber auch in den Gestaltungen des menschlichen Bewusstseins ihr Wesen treiben. Es enthüllen sich Faust die Mysterien der Formgestaltung in Natur und Kunst, und auch das Geheimnis vom Ursprung und Wesen der Religion, denn er lernt die Gesetze begreifen, nach denen, durch »magisches Behandeln«, die »Weihrauchsnebel« der menschlichen Imagination sich »in Götter wandeln«. Als derart Eingeweihter wird er in die Lage verstetzt, Helena und Paris, die klassischen Verkörperungen dieser göttlich-formbildenden Kräfte, in sinnlich-anschaulichen Gestalten vor den Augen seines erstaunten Publikums erscheinen zu lassen. Dann aber stürzt er sich und seine Umgebung in heillose Verwirrung, indem er das aus der eigenen Imagination hervorgezauberten Bild Helenas für deren wirkliches Wesen hält und es festzuhalten versucht.

Mephistopheles, der hier als eine Art Hüter der Schwelle zu den »Müttern« fungiert und Faust den Schlüssel zu ihrem Reich aushändigt, charakterisiert die Reise als »Abstieg«, der zugleich ein »Aufstieg« ist. »Versinke denn!«, so seine Weisung. »Ich könnt’ auch sagen: steige! ’sist einerlei.« – Und so taucht Faust ein in eine Welt, die dem gewöhnlichen Bewusstsein ein »Nichts« ist, und in der unser Held doch »das All zu finden« hofft. Es ist eine Welt ohne Raum und Zeit, die für die Sinneswahrnehmung nicht existiert – »nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne, Den Schritt nicht hören, den du tust« –, obgleich man sich »im tiefsten, allertiefsten Grund« der Dinge befindet. Hier macht der Mensch den Schrecken der absoluten Vereinzelung und Einsamkeit durch – »Hast du Begriff von Öd' und Einsamkeit?« – und wird doch gerade dadurch zum Erlebnis seiner Verbundenheit, ja seines Einsseins mit allem Dasein geführt. Im Reich der »Mütter«, so erfahren wir, gibt es keine »Dinge« mehr, sondern nur noch Prozesse, »Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.«

Die einprägsame Szene verbindet, wie das goethesche Faustdrama insgesamt, zwei archetypische Vorstellungen, mit denen die Einbildungskraft seit jeher die menschliche Sehnsucht nach einer über die gewöhnlichen Wirklichkeitsdeutungen hinausgehenden, »höheren« bzw. »tieferen« Erkenntnis zu veranschaulichen gesucht hat: den Aufschwung der Seele zur Himmelsvision und Gottesschau, und den Abstieg in die Tiefen der Unterwelt. Beide Formen der Jenseitsreise finden wir in nahezu allen Mythologien und Literaturen wieder. Der Aufstieg aus den »Niederungen« des Irdischen und Sinnenhaften in die lichtvolle »Höhe« des Geistigen, Göttlichen oder Idealen begegnet uns in unzähligen visionären Bergbesteigungen und Himmelfahrten; im Höhlengleichnis hat Platon sie zur abendländischen Grundmetapher von Erkenntnisschulung und Bewusstseinsentwicklung überhaupt gemacht. In der »Hadesfahrt« hingegen steigen Menschen, Heroen und selbst Götter herab in die Tiefen des Unterirdischen, um dort Auskunft über die tieferen Geheimnisse des Daseins einzuholen oder, modern gesprochen, den unterbewussten Schichten des eigenen Selbsts zu begegnen. So wurde der »Aufstieg« des Menschengeistes zum Urbild menschlicher Welt- und Gotteserkenntnis, die »Hadesfahrt« hingegen zum Archetyp der Reise ins eigene Innere.

Die in diesem Band zum ersten Mal in kritischer Edition vorgelegten erkenntnisschulischen Schriften Rudolf Steiners gehören, ebenso wie seine Theosophie von 1904 und seine Geheimwissenschaft von 1910, in die beschriebene Tradition der mythischen, philosophischen und psychologischen »Jenseitsreisen« der abendländischen Geistesgeschichte von Platon bis Freud und über diesen hinaus. Und wie bei diesen Vorbildern erscheinen auch hier »Aufstieg« und »Abstieg« als zwei Bilder für ein und dasselbe existentielle Erkenntniserlebnis. Steiner reiht sich hier ein in die lange Tradition erkenntnisschulischer Konzeptionen des Abendlandes, an deren Anfang die platonischen Dialoge stehen und die über die verschiedenen spätantiken und mittelalterlichen Spielarten von Neuplatonismus, Gnosis und Mystik zu den neuzeitlichen Konzeptionen von »Erkenntnisschulung« und »Menschheitserziehung« im 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert führt. Jakob Böhme, Lessing, Kant, Schiller, Hegel, Marx, Wagner, Nietzsche, Freud und Heidegger sind nur die prominentesten in einer langen Liste neuzeitlicher Erben Platons, die den Menschen aus der Höhle des gewöhnlichen Bewusstseins auf eine höhere Stufe des Wahrnehmens und Denkens heben wollten, sei es durch Schulung der Ideenschau, der religiösen Inbrunst, der kritischen Rationalität, der Empfindsamkeit, der ästhetischen Erfahrung, des dialektischen Denkens, des Klassenbewusstseins oder der Analyse des Unbewussten.

Rudolf Steiners Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten sucht also einerseits den Anschluss an die mythischen Ursprünge des abendländischen Geistes und zugleich die Anbindung dieses präreflexiven mythischen Bildbewusstseins an jene neuzeitlichen Errungenschaften des Geistes, in denen die Grundlage des modernen Selbstverständnisses des Menschen geschaffen wurden. Anders aber als bei den genannten abendländischen Erkenntnispfaden und anders wie noch in Steiners eigener Philosophie der Freiheit von 1894, steht in der anthroposophischen Erkenntnisschulung keines der oben aufgezählten Schulungsmittel im Zentrum des Transformationsprozesses, sondern die Meditation. Die Übung des Meditierens, welche während des Mittelalters und in der frühen Neuzeit als spezifische Form christlicher Religionspraxis in einer Vielzahl von Formen ausgebildet, praktiziert und auch theoretisch reflektiert wurde, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihren verschiedenen methodischen Ausprägungen dem westlichen Geistesleben im Wesentlichen unbekannt.Erst durch die Ende des 19. Jahrhunderts beginnende und ganz entscheidend von Helena Petrowna Blavatsky und der modernen Theosophie initiierte und vorangetriebene Entdeckung der östlichen Spiritualität lernte das Abendland die Meditation als ein gegenüber philosophischer Reflexion, ästhetischer Erfahrung und religiöser Übung eigenständiges Mittel der Vervollkommnung der Erkenntnis und des Charakters kennen und schätzen. Steiners Schriften zur Erkenntnisschulung, deren Wirkung sich über die Grenzen der theosophischen und anthroposophischen Eliten hinaus ins allgemeine Kulturleben erstreckte, spielten bei dieser Einführung bzw. Wiederentdeckung der Meditation im europäisch-amerikanischen Kulturkreis eine wichtige Rolle.

Die Faszination der modernen abendländischen Kultur an der Meditation kann denjenigen nicht überraschen, der sich bewusst macht, dass die meditative Arbeit als systematische Arbeit des Bewusstseins an sich selbst eine Reihe von Elementen aufweist, die in der westlichen Tradition sehr wohl bekannt waren, sich aber gewissermaßen auf verschiedene Disziplinen und Schulen verteilt hatten. Meditation im modernen Sinne verbindet das in Wissenschaft und Philosophie gepflegte wache Beobachten und rationale Denken mit der in Mystik, Magie und Religion kultivierten Versenkung in Bilder, Gefühle und Stimmungen, in der das diskursive Denken systematisch ausgeschaltet wird; sie arbeitet mit subtilen Methoden der Introspektion und Selbstanalyse, wie wir sie aus den bewusstseinsphilosophischen, phänomenologischen und tiefenpsychologischen Ansätzen der europäischen Neuzeit her kennen, baut aber zugleich, ähnlich wie ästhetische Bildungskonzepte von Schiller bis Beuys, auf das unser Vorstellen, Fühlen und Wollen transformierende Potential der Auseinandersetzung mit denm Produkten der menschlichen Einbildungskraft. Außerdem hatten sich, etwa im Rahmen des seit Ende des 18. Jahrhunderts sich in Europa verbreitenden Mesmerismus, bereits Ansätze zu spezifisch westlichen und nichtreligiösen Meditationsformen entwickelt. Karl Baier, der diese Entwicklung in seiner Studie Meditation und Moderne (2009) nachgezeichnet hat, betont daher, »dass das bisweilen bemühte Schema von Mangel und Erfüllung den interkulturellen und interreligiösen Prozessen, die sich in diesem Bereich abspielen, nicht entspricht.« Baier erläutert:

Es ist ein simplifizierendes Vorurteil, zu glauben, im euro-amerikanischen Westen hätte es einen reinen Mangel gegeben, eine Lücke, die u. a. durch Yoga und buddhistische Meditation gefüllt worden wäre. Stattdessen war eine kontemplative und zugleich leiborientierte Religiosität in der westlichen Moderne bereits im Kommen und begann ihre eigenen Methoden zu entwickeln, als sie ziemlich zeitgleich auf die östlichen Übungsweisen stieß, die auch deshalb gut aufgenommen werden konnten, weil sie ihrerseits meist schon Traditionen repräsentierten, die durch den Einfluss westlicher Moderne in Indien und Japan modifiziert worden waren. (Baier [2009], 28)

Wenngleich also die Technik der anthroposophischen Meditation, wie sie in den Texten dieses Bandes entfaltet wird, äußerlich als eine aus dem fernen Osten importierte Kulturpraxis erscheinen kann, erweist sie sich doch bei näherem Hinsehen als tief verbunden mit religiösen und mystischen, aber auch philosophischen und wissenschaftlichen Kulturtechniken des Abendlandes. Schon biographisch gesehen war Steiner ein Schüler Kants, Fichtes und Goethes, lange bevor er bei H. P. Blavatskys und Annie Besant in die theosophische Schule ging. Ähnlich wie Platoniker zur »Ideenschau« und Mystiker zur »unio mystica«, wie Goethe zum »anschauenden Denken« oder die Philosophen des deutschen Idealismus zur »intellektualen Anschauung« anleiten wollten, so zielt auch das anthroposophische Meditationskonzept nicht primär auf eine gefühlshaft-religiöse Erfahrung, sondern auf die Hervorbringung neuer und verfeinerter Formen des Wahrnehmens und Erlebens, aus denen ebenso eigenständige Wahrnehmungs- und Erlebniswelten hervorgehen, wie die »gewöhnliche« sinnlich-greifbare Welt unserer Alltagserfahrung aus dem »gewöhnlichen« Bewusstsein entspringt. Es sind dies Erlebnisbereiche, die man zunächst als »Innenwelt« ansprechen möchte, weil die ersten Schritte dieses Weges in Selbstbeobachtung und Introspektion bestehen. Doch erweist sich im Verlauf der meditativen Reise, so behaupten jedenfalls die maßgeblichen Lehrer der Meditation in Ost und West im Einklang mit Rudolf Steiner, diese vorgeblich »innere« Welt geheimnisvollerweise als Kern und Wesen dessen, was man zuvor, im Modus des gewöhnlichen Erlebens, als »Außenwelt« zu betrachten gewohnt war. Auf bestimmten Stufen des meditativen Erlebens, so hören wir, höben die das gewöhnliche Bewusstsein bestimmenden Gegensätze von »innen« und »außen«, von »Subjekt« und »Objekt« sich gegenseitig auf, würden »einerlei«, wie Mephistopheles sagt. Sogar der allerletzte und fundamentalste Unterschied, nämlich der zwischen dem Erkenner und dem Erkanntem, dem »Ich« und der »Welt«, löse sich ab einem bestimmten Punkt dieser Erfahrung auf.

Formulierungen wie diese kennen wir aus der abendländischen Geistesgeschichte, denn so redeten schon die christlichen Mystiker von Meister Eckhart bis Angelus Silesius, wenn sie vom »Einswerden der Seele mit Gott« sprachen. Ähnlich lauten aber auch die Beschreibungen der Erfahrung des spekulativen Denkens bei Philosophen wie Fichte, Schelling und Hegel, die den jungen Rudolf Steiner nachhaltig begeisterten. Und auch Tiefenpsychologen wie C. G. Jung bedienen sich des Vokabulars der Mystiker und Alchemisten, wenn sie das menschliche  Erleben jenseits des gewöhnlichen Tagesbewusstseins zu beschreiben suchen. Die Zielsetzung und der eigentliche Charakter der Meditation würde somit missverstanden, wenn man meinte, hier würde die Flucht in eine ideale Parallelwelt oder eine mystische Auslöschung des Individuums im Absoluten angestrebt. Anthroposophische Meditation will den Erkenntnissucher gerade nicht in eine Welt und Individuum auflösende, nirvanisch-unterschiedslose Erkenntnis-Nacht führen in der, wie schon Hegel monierte, »alle Kühe schwarz« sind. Zwar beschreibt auch Steiner die höchste zunächst erreichbare Stufe des meditativen Bewusstseins, die Intuition, als Erfahrung eines Einsseins des Erkennenden mit dem Gegenstand seiner Erkenntnis und letztlich mit dem Weltgrund überhaupt, doch ist für ihn selbst diese höchste Stufe der Bewusstheit nur insofern von Wert, als es gelingt, die in der Meditation ausgebildeten Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten in das konkrete Leben und in die alltäglichsten Handlungen zu integrieren. Die Ausbildung des »imaginativen«, »inspirierten« und schließlich des »intuitiven« Bewusstseins sollen den Menschen nicht, wie viele frühere Schulungsansätze westlicher und östlicher Provenienz, der im gewöhnlichen Bewusstsein erfahrbaren sinnlich-greifbaren Wirklichkeit entfremden, sondern ihn vielmehr vertieft in diese hineinführen, um sie von innen heraus gewissermaßen »aufzuheben« (in dem dreifachen Sinn, den dieser Begriff in der idealistischen Dialektik hat). Der Mensch soll nach Steiner die materielle Welt als Manifestation seines eigenen innersten Wesenskerns erkennen lernen und sich so mit ihr umso wesenhafter verbinden, um sie dann, gewissermaßen die traditionelle Rolle des Schöpfergottes übernehmend und weiterführend, mittels seiner Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen schöpferisch um- und weitergestalten zu können. Wie Faust nicht im Reich der Mütter verbleibt, um dort in beseligender unio mystica mit dem Urgrund des Seins zu verweilen, sondern diesen Urgrund »ins Leben zu ziehen«, in handfeste politische und soziale Projekte umzusetzen versucht, so soll nach Steiner der Mensch die in der meditativen Arbeit erworbene höhere Wachheit und das erarbeitete lebendigere Denken in den Dienst einer vertieften Erkenntnis und einer daraus erwachsenden Verwandlung der konkreten Alltagswirklichkeit stellen. Er soll in die Lage versetzt werden, in seinem Handeln in der Welt, bis hinein in die gewöhnlichsten und alltäglichsten Verrichtungen, in die Vorbereitung einer Unterrichtsstunde oder die Partizipation im politischen Prozess, nicht von Welt als einer gewordenen bestimmt zu werden und somit unfrei zu sein, sondern Welt, sofern diese eine werdende und sich entwickelnde ist, von innen heraus zu ergreifen, ja im eigentlichen Sinne deren Organ und Instrument zu sein und deren Zukunft aus innerer Freiheit heraus zu gestalten. Auch hier also, wenn Steiner die Befreiung des Menschen als letztes Ziel seines Erkenntnisweges beschreibt, ist es nicht eine weltentrückende Freiheit von der Welt, sondern eine im praktischen Leben sich verwirklichende Freiheit in der Welt bzw. eine als Welt sich verwirklichende Freiheit, wie sie spätestens seit Kant im Zentrum der geistigen und politischen Geschichte des Abendlandes steht.

»Modern« und »westlich« ist die erkenntnisschulische Konzeption Steiners nicht nur in dieser Betonung der menschlichen Freiheit, sondern auch darin, dass sie die dem Menschen in der Meditation sich erschließende »höhere« bzw. »tiefere« Wirklichkeit nicht, wie altgriechische oder indische Modelle, als ein statisches Sein beschreibt, als ewig-gleiche Gottheit, wandellose Ideenwelt oder unterschiedsloses Nirvana, in dem sich die wechselhafte Welt und das in ihr lebende Individuum auf der höchsten Stufe der Meditation auflösen. Vielmehr wird dieses Sein, ähnlich wie bei Jakob Böhme oder bei Hegel und Schelling, und ganz im Sinne modernen wissenschaftlichen Denkens, als ein dynamisches, geordnet-chaotisches, nach Evolution drängendes und zugleich für die Verwirklichung dieses inneren Drängens der freien Tat des autonomen Menschen bedürftiges Sein beschrieben. Obwohl Steiner einerseits die in der Neuzeit so problematisch gewordenen ontologischen Dualismen der westlichen Tradition durch eine für die östliche Spiritualität so charakteristische nicht-dualistische Wirklichkeitsauffassung ersetzte (wobei er freilich auch auf westliche Vorbilder wie Bruno, Spinoza, Schelling und Haeckel zurückgegriffen hat), trug er andererseits den für das westlich-moderne Denken und Empfinden so wichtigen Vorstellungen der Evolution des Lebendigen und der Individualität und Freiheit des Menschen voll Rechnung. Anna-Katharina Dehmelt charakterisiert daher das anthroposophische Meditationskonzept als »dynamisch« bzw. »evolutionär«, im Gegensatz zum »statischen« Charakter östlicher und vormoderner westlicher Ansätze:

Mit den meisten anderen Meditationsarten hat die anthroposophische Meditation das Ziel gemeinsam, die Trennung des sich als Subjekt erlebenden Menschen von einer als Objekt erfahrenen Welt zu überwinden. Im Unterschied aber zu den meisten Meditationsarten mit buddhistischem oder hinduistischem Hintergrund ging es Steiner weniger darum, durch Meditation eine Erfahrung des allgemeinen Seinsgrundes, der Mensch und Welt zugrunde liegt, zu vermitteln, sondern diesen Seinsgrund ganz konkret in den Erscheinungen und Qualitäten der Welt aufzusuchen. Ziel dieses Ansatzes ist es, dem Menschen ein spirituelles Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu ermöglichen, das zur Grundlage einer geistgemäßen Lebensgestaltung und Ausgangspunkt einer zukünftigen Evolution auf spiritueller Grundlage wird. Insofern kann man die anthroposophische Meditation – im Unterschied zur östlich orientierten Seins-Meditation – als Werdens-Meditation bezeichnen.

So modern aber das bei Steiner aufscheinende Menschen- und Wirklichkeitsverständnis einerseits erscheinen kann, so problematisch erweist sich in vieler Hinsicht die Form von dessen Darstellung. Anders als in seinen frühen philosophischen Schriften, und auch anders als noch in den bewusstseinsphilosophisch geprägten Texten der Jahre 1901 und 1902, hatte Steiner in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten den argumentativen und analytischen Stil seiner früheren Publikationen ganz aufgegeben. Hier spricht nicht mehr eine Stimme, die ein kritisches Publikum durch Argumentation von der eigenen Position zu überzeugen versucht, sondern eine solche, welche die Autorität eines Wissenden für sich in Anspruch nimmt und als Lehrer zu Schülern spricht, d. h. zu Menschen, die den »Pfad der Erkenntnis« schon beschreiten und insofern bereits für sich eine Vorentscheidung über die Validität des Vorgebrachten getroffen haben. Steiner verfasste die Schrift zeitgleich zu seiner Tätigkeit als Lehrer innerhalb der Esoterischen Schule der Theosophischen Gesellschaft. Und so findet man anstelle von Argumenten und systematischer Theoriebildung vor allem praktische Anweisungen zur Meditation, zur Kontemplation oder zur Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, zur Transformation von Charaktereigenschaften, Gefühlsweisen und Denkgewohnheiten. Dies mag dem bereits überzeugten und praktische Anweisung suchenden Anhänger entgegenkommen, bietet aber einer kritischen theoretischen Auseinandersetzung mit diesen Texten erhebliche Schwierigkeiten.

Schwierig erweist sich etwa die bildhafte Weise der Darstellung. Steiner schildert ausführlich, welche seelischen und geistigen Erlebnisse der Schüler als Ergebnis seiner meditativen Arbeit erwarten kann. Die Schilderungen dieser inneren Erlebnisse erinnern in ihrer Bildlichkeit oft an die Sprache des Mythos, adaptieren teilweise sogar vollständig den mythischen Gestus, etwa wenn die beiden »Hüter der Schwelle« ihren Auftritt haben und ihre Monologe halten (WE, 198 ff. und 217 ff.). Die Darstellung zeichnet sich, vor allen in den früheren Fassungen, weniger durch begriffliche Klarheit und phänomenologische Subtilität als durch bildhafte Konkretheit und Plastizität aus. Von »Auren« lesen wir da und von »Gedankenformen«, von »Chakren« und »Ätherleibern«, deren Farbe und Gestalt so anschaulich geschildert werden, als handle es sich um »Tische und Stühle« (WE, 35) und nicht um in Bilder übersetzte subtile geistig-seelische Erlebnisse. Andere Meditationserlebnisse werden im Bild traditioneller Einweihungsritualistik dargestellt, als ein Bestehen von »Proben«, als Ablegen eines »Eides«, als Einnahme eines »Vergessenheits-« bzw. »Erinnerungstrankes« oder als »Eintritt in den inneren Tempel«, an dessen Schwelle dem Erkenntnissucher zwei »Hüter« entgegentreten, um seine Würdigkeit zu erproben. Diese in traditioneller mystischer und esoterischer Literatur nicht unübliche Veranschaulichung und Verdinglichung innerer Erlebnisse hat unzweifelhaft den Vorteil der Konkretheit und Fasslichkeit und bindet Steiners Text an bestehende Traditionen an, wirft jedoch beim kritischen Leser die Frage auf, ob und inwieweit Steiner hier mit seiner eigenen intellektuellen Vergangenheit und mit allen Gepflogenheiten eines kritisch-philosophischen Diskurses gebrochen hat und in eben jenen »naiven metaphysischen Realismus« verfiel, den er selbst zehn Jahre zuvor in seiner Philosophie der Freiheit so scharfsinnig charakterisiert und leidenschaftlich bekämpft hatte. Muss man nicht, gerade im Sinne seines philosophischen Frühwerks, die von Steiner beschriebenen »Lotusblumen«, »Astralleiber« oder »Schwellenhüter« als Gestalten ansehen, die dieser selbst, wie Faust seine Helena, aus dem »Weihrauchnebel« seiner eigenen Imagination hervorzauberte? Und fällt man nicht, wie der goethesche Geisterseher, in grenzenlose Verwirrung und Träumerei, wenn man diese selbstgeschaffenen Nebelgestalten für »Wirklichkeiten« hält?

Steiner sah diese Aporien sehr wohl und hat sich an bestimmten Stellen seiner Schrift auch durchaus bemüht, seinen Lesern klarzumachen, dass die von ihm geschilderten imaginativen und inspirativen Phänomene, als solche, nichts als »Halluzinationen, Visionen und Illusionen« (SE, 251) sind, und dass das sogenannte »Geistige« in diesen Bildern ebenso wenig steckt wie der Begriff in den gedruckten Buchstaben, durch die er zum Ausdruck kommt. Auch hat er versucht, durch sprachliche Nachbesserungen einer naiv-unkritischen Rezeption seiner Texte entgegenzuwirken, betonte, dass man Auren nicht wirklich »sehen« und Inspirationen nicht wirklich »hören« könne. Doch bleiben solche Bemerkungen stets nur kritische Einschübe in einen Text, der insgesamt den im wissenschaftlichen Diskurs verlangten abstrakt-begrifflichen und kritischen Duktus gegen den bildhaft-anschaulichen aber auch autoritär-dogmatischen Ton des spirituellen Lehrers eintauscht. Damit traf Steiner eine Grundsatzentscheidung, die seinen Aufstieg zur führenden Gestalt der modernen abendländischen Esoterik begründete, sich aber fatal auf die akademische und öffentliche Rezeption seiner Schriften nach 1904 ausgewirkt hat. Dem flüchtigen Leser vermitteln die Texte auch in der revidierten Gestalt den Eindruck, als handle es sich bei dem während der Meditation innerlich Erlebten tatsächlich um reale »Dinge« oder »Wesen« die in einer »jenseits« bzw. »außerhalb« des erlebenden Ich befindlichen Transzendenz existieren. Nur dem ganz genauen Leser verraten sie, dass es hier nicht um Metaphysik im vorkritischen Sinne geht, sondern um eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Fichtes, Schellings und Hegels, d. h. um eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.

Wirklich deutlich werden die philosophischen und psychologischen Grundlagen des anthroposophischen Meditationskonzepts erst dann, wenn Steiners Anweisungen und Schilderungen im Lichte seiner epistemologischen und bewusstseinsphilosophischen Schriften gelesen werden: Wahrheit und Wissenschaft (1892), Die Philosophie der Freiheit (1894), Die Mystik (1901) und Das Christentum (1902). Da Steiner selbst in den Texten dieses Bandes sein erkenntnisschulisches Konzept nicht ausdrücklich in seiner philosophischen Weltanschauung verankert hat, wird eine solche Kontextualisierung zentrale Aufgabe dieser kritischen Ausgabe sein müssen. Dies soll geschehen, indem wir in dieser Einleitung sowie im Stellenkommentar Steiners Meditationskonzept in den Kontext sowohl seines Gesamtwerkes wie auch der abendländischen Geistesentwicklung überhaupt zu stellen versuchen. Damit hoffen wir, zu einem vertieften Verständnis der in diesem Band vereinigten Schriften und der darin entwickelten Konzeption anthroposophischer Meditation beizutragen.

Neben seiner für die Öffentlichkeit bestimmten und auf die Meditation sich konzentrierenden erkenntnisschulischen Arbeiten hat Steiner überdies, im engen Kreis seiner esoterischen Schüler, auch eine vielfältige und hochinteressante erkenntnisschulische und erkenntniskultische Tätigkeit entfaltet. So leitete er eine Reihe von privaten esoterischen Schülern, individuell wie auch als Gruppe, in »esoterischen Stunden« in ihrer inneren Entwicklung an und ging dabei oft über das in den Schriften Veröffentlichte hinaus. Zudem hat er für diese Schüler einen reichen Fundus an Spruch- und Meditationsdichtung produziert, welcher in der Gesamtausgabe mehrere Bände füllt. Außerdem hat er seine Vorstellungen über das in der Meditation zu Erlebende in mehreren Mysteriendramen dramatisch umgesetzt und verschiedene Initiationsrituale zur Aufnahme in die höheren Grade der von ihm geleiteten »Esoterischen Schule« entworfen. Diese Aspekte hier näher zu beleuchten, würde den Rahmen der vorliegenden Ausgabe sprengen, und wir verweisen den Leser auf die entsprechenden Dokumentationsbände innerhalb der Dornacher Gesamtausgabe. Um aber zumindest einen ersten Eindruck von Steiners Tätigkeit als esoterischer Lehrer und als Zeremonienmeister erkenntniskultischer Arbeit zu geben, und weil diese Aktivitäten mit dem Gebiet der rein meditativen Erkenntnisschulung unmittelbar zusammenhängen, finden sich im Anhang eine Reihe von Dokumenten, die Einblick geben in die Art und Weise, wie Steiner, über die in den Texten dieses Bandes dokumentierte öffentliche Wirksamkeit hinaus, mit seinen persönlichen Schülern gearbeitet hat. Durch diese Einbeziehung der erkenntnispraktischen und -kultischen Praxis Steiners wird, so hoffen wir, manches neue Licht auch auf die Texte dieses Bandes fallen.

 

Historische Kontextualisierung

Steiner entwickelte sein erkenntnisschulisches Konzept zu einer Zeit, in der ein tiefgreifendes Unbehagen an der modernen Kultur weite Teile der westlichen Welt erfasst hatte. Tiefgreifende soziale und technologische Veränderungen wurden von Umwälzungen des inneren Lebens begleitet und viele Menschen fühlten, dass Religion und Naturwissenschaft, die traditionellen weltanschaulichen Orientierungsinstanzen, die seelischen und geistigen Bedürfnisse der Zeit nicht mehr befriedigten. Die in weiten Kreisen einsetzende Suche nach neuen Denk- und Lebensweisen führte zur Bildung spiritistischer, okkultistischer und neomystischer Gruppierungen, in denen neue geistige Orientierung gesucht wurde, entweder durch das Studium der esoterischen und spirituellen Traditionen des Westens und Ostens oder unmittelbar durch mesmeristische, magische oder spiritistische Praktiken. Neben den prägenden Mystikern und Okkultisten der abendländischen Tradition wie Meister Eckhart, Paracelsus und Jakob Böhme, deren Schriften um die Jahrhundertwende eine Art Renaissance erlebten, wurden auch die Anschauungen und spirituellen Praktiken des Buddhismus und Hinduismus von vielen im Westen jetzt zum ersten Mal in ihrer Eigenheit und Bedeutung wahrgenommen.

Weniger rückte während dieser allgemeinen Begeisterung für das Esoterische und Mystische ins Bewusstsein, dass man für viele der hier in Frage stehenden Vorstellungen und Praktiken nicht in fernöstliche Weltteile oder in weit zurückliegende Zeitepochen blicken musste, sondern diese auch im europäischen Geistesleben des 18. und 19. Jahrhunderts hätte finden können, insbesondere bei den Vertretern des deutschen Idealismus. Steiner selbst hat aus dieser Quelle so reichlich geschöpft, dass weder seine Philosophie noch auch sein theosophisches und anthroposophisches Werk ohne Berücksichtigung dieser Einflüsse angemessen verstanden werden können. Eine allgemeine Renaissance der Schriften Fichtes, Schellings und Hegels, die von der Sache her eigentlich auf der Tagesordnung gestanden hätte, blieb jedoch aus.

Die Tatsache, dass der beschriebene geistige Aufbruch weniger die intellektuellen Impulse des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im deutschen und europäischen Denken aufgriff und sich mehr für vormoderne Mystik, Mesmerismus und Magie sowie für fernöstliche Traditionen interessierte, gab der sich nunmehr entwickelnden westlichen Esoterik ihre besondere Prägung. Im Vergleich von Blavatskys Erstlingswerk Isis Unveiled (1877) mit der ein Jahrzehnt später erschienenen Secret Doctrine (1888) zeigt sich in charakteristischer Weise die Orientalisierung dieser Esoterik, die nun das intellektuelle und kulturelle Leben der westlichen Moderne mit östlich-asiatischen Impulsen zu beleben suchte, bisweilen eher versteckt und unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens, bisweilen aber auch, wie in der New-Age-Bewegung unserer Tage, ganz offen und vor aller Augen. Mit früheren geistigen Erweckungsbewegungen, etwa den mystischen und spiritualistischen Strömungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, dem Pietismus oder der Romantik, teilte diese Neomystik eine starke Betonung des inneren Lebens und der Kontemplation, eine mystisch geprägte Wirklichkeitsdeutung und eine damit zusammenhängende generelle Skepsis gegenüber Wissenschaft und Logik. Relativ neu hingegen war das Streben nach systematischer Integration östlich-asiatischer Vorstellungen und Praktiken (z. B. Karma und Reinkarnation, Meditation oder Yoga) und eine vergleichsweise starke Wirkung auf das allgemeine kulturelle Leben, weit über die Bereiche von Religion und Kunst hinaus. Den Pionieren dieser Kulturbewegung, Blavatsky, Besant, Steiner und anderen, ist es zu verdanken, dass der Gang zum Yoga-Studio, zum Meditationskurs oder zur Akupunktur heute so selbstverständlich zur säkularen Alltagkultur des Abendländers gehört wie der Weihnachtsmarkt oder der geschäftsfreie Sonntag.

Zeitgleich mit diesem Aufblühen der modernen Esoterik vollzog sich, gewissermaßen als alternativer Reflex auf die oben skizzierte geistige Krise der Jahrhundertwende, die Geburt der modernen Tiefenpsychologie. Wie ihre neomystischen Zeitgenossen diagnostizierten auch Sigmund Freud und C. G. Jung das allgemeine Unbehagen der modernen Kultur an sich selbst und begegneten dieser nicht mit sozialen und politischen Reformideen, sondern durch das Beschreiten des Pfades nach Innen. Ganz neu war freilich auch diese Geste nicht; schon der Mesmerismus des 18. und 19. Jahrhunderts war ja durch diese Verbindung von mystischer Erfahrungssuche und therapeutischer Ausrichtung geprägt. Allerdings suchte die neue Seelenwissenschaft in den Tiefen der Seele nicht nach religiöser Erfahrung oder mystischem Einheitserleben, sondern nach systematischer Erkenntnis des unbewussten Seelenlebens. Und auch darin unterschied sich die neue Tiefenpsychologie von vielen der neomystischen Strömungen, dass sie die Methoden der empirischen Wissenschaften nicht für ungeeignet zur Erforschung des Seelischen hielten. Im Gegenteil, strenge wissenschaftliche Empirie sollte der Weg sein, nicht nur den handgreiflichen Phänomenen der materiellen Natur, sondern auch den schwankenden Gestalten der menschlichen Psyche auf den Grund zu gehen.

Zwischen neomystischer Esoterik und wissenschaftlich betriebener Tiefenpsychologie als charakteristischen Erscheinungen des europäischen fin de siècle nehmen die Schriften Rudolf Steiners zur Erkenntnisschulung eine eigentümliche Mittelstellung ein. Auf der einen Seite scheint es sich bei ihnen um eine weitere Variante der Neomystik, einen Versuch der Wiederbelebung prämoderner unkritischer Metaphysik zu handeln, besonders wenn Steiner von »höheren Welten« spricht und sich zur Darstellung derselben des aus Religion, Mystik und Okkultismus bekannten Arsenals höherer Wesen und Phänomene bedient – von »Auren«, »Astralleibern« und »Chakren« hin zu »Engeln«,  »Meistern« und »Schwellenhütern«. Auf der anderen Seite finden sich in diesen Texten bemerkenswert moderne bewusstseinsphilosophische, psychologische und psychotherapeutische Aspekte. Ähnlich wie die Psychoanalyse Freuds und die Analytische Psychologie Jungs suchte Steiner die Antworten auf seine Fragen nicht in einem außerhalb der menschlichen Erfahrung hypostasierten Jenseits, sondern in den halb- und unbewussten Schichten des menschlichen Bewusstseins. Seinen einerseits so mystisch-esoterisch erscheinenden Weg zur Einsicht in »höhere Welten« beschrieb er, wie Freud, als systematisch betriebene Heraufhebung der Traum- und Schlaferlebnisse des Menschen in den Bereich der bewussten Wahrnehmung. Wie Freud bestritt Steiner die damals allgemein anerkannte »Identität von Bewusstsein und Seelischem« und trat für die freudsche Zentralthese ein, »dass es unbewusstes Denken und ungewusstes Wollen gibt«. Und wie Freud verortete er die Ursachen psychologischer und sogar physiologischer Krankheitsbilder in unbewussten seelischen Ursachen und verstand seine Methode der Erkenntnisschulung als individual- und gesellschaftstherapeutischen Ansatz.

Auch zur Analytischen Psychologie Jungs gibt es auffällige Parallelen. Steiner beschrieb beispielsweise nicht nur ein individuelles Unbewusstes nach freudschem Muster, sondern auch (in den sogenannten »Gruppenseelen«) eine Art kollektives Unbewusstes, welches in mancher Hinsicht an Vorstellungen C. G. Jungs gemahnt. Ebenfalls an Jung erinnert die Einbeziehung von in aktiver Imaginationsarbeit hervorgebrachten archetypischen Vorstellungen in die meditative Arbeit bzw. in die Therapie. Selbst sozialpsychologische Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Unbewussten bzw. »Gesellschaftscharakter«, wie sie Erich Fromm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbildete, lassen sich in den anthroposophischen Texten keimhaft nachweisen, etwa wenn diese von »Volksseelen« und »Familienseelen« sprechen. Gewisse moderne Therapieformen wie die Gestalttherapie, die systemische Therapie oder die Technik des Familienstellens weisen auffällige Affinitäten zu Steiners Vorstellung einer »Gruppenseelenhaftigkeit« auf und nicht wenige Therapeuten, die mit diesen Theorieansätzen arbeiten, benennen die Anthroposophie ausdrücklich als einen zentralen theoretischen Bezugspunkt ihrer Arbeit.

Trotz dieser strukturellen und methodischen Ähnlichkeiten zwischen der Anthroposophie und den charakteristischen Ausprägungen der modernen Tiefenpsychologie standen sich die Begründer dieser beiden Richtungen ausgesprochen distanziert gegenüber. Äußerungen Freuds über Steiner gibt es unseres Wissens nach nicht, aber man kann sich leicht ausmalen, wie seine Bewertung der Anthroposophie und ihrer Anhänger ausgefallen wäre. Und auch C. G. Jung, immerhin neben Steiner der zweite deutsche Esoteriker des 20. Jahrhunderts mit Weltgeltung, hat sich zu Steiner öffentlich kaum je geäußert, obwohl er die anthroposophischen Bestrebungen offenbar mit Interesse aus der Distanz verfolgte. Umgekehrt hat Steiner die Bedeutung Freuds und Jungs als Pioniere im Bereich der Erforschung des Unbewussten zwar wahrgenommen und kommentiert, doch in einer Weise, die nicht anders als oberflächlich genannt werden kann. Ohne tiefer auf die Substanz derselben oder die unbestreitbaren Gemeinsamkeiten mit der anthroposophischen Weltanschauung einzugehen, monierte Steiner, dass die freudsche Tiefenpsychologie mit »unzureichenden Erkenntnismitteln« arbeite und daher das wirkliche Verständnis des Unbewussten eher behindere als befördere. Die innere Verwandtschaft beider Kulturimpulse hat erst in letzter Zeit begonnen ins allgemeine Bewusstsein vorzudringen und ein ernsthafter Dialog zwischen Anthroposophie und moderner Psychotherapie steht bis heute aus.

Mit diesen Hinweisen auf die inneren Beziehungen und Gemeinsamkeiten zwischen der Anthroposophie einerseits und der Psychoanalyse und der Analytischen Psychologie andererseits soll natürlich keine ideengeschichtliche Abhängigkeit konstruiert werden. Im Gegenteil ist es im Grunde erstaunlich, wie wenig diese teilweise zeitgleich sich entwickelnden Strömungen einander wahrgenommen und verstanden haben. Die Erkundung der unmittelbaren ideengeschichtlichen Quellen und Einflüsse des anthroposophischen Erkenntniswegs muss sich daher ganz anderen Bereichen zuwenden.

Zunächst wären, als konkret-praktische und unmittelbare Vorbilder der steinerschen Meditationspraxis, der an westlich-mesmeristischen und östlich-yogischen Traditionen orientierte »praktische Okkultismus« H. P. Blavatskys sowie der von Annie Besant maßgeblich formulierte theosophische Erkenntnispfad (path of discipleship) zu nennen. An diese Vorbilder knüpfte Steiner in Theorie und Praxis zunächst an, nachdem er 1902 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft geworden war und schon bald darauf zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und zum Leiter einer eigenen Sektion der esoterischen Schule aufstieg, innerhalb der er auch persönliche Schüler zu betreuen und zu unterrichen hatte. Vor allem Besants Buch The Path of Discipleship, das ebenso aus Vorträgen hervorgegangen war wie das steinersche aus Aufsätzen, muss inhaltlich und formal als direktes Vorbild und Quelle für WE angesehen werden. Hier fand Steiner das Modell eines dreiteiligen Erkenntnispfades vor, das in den Stufen der »Reinigung« (purification), der »Vorbereitung« (path of probation) und der eigentlichen »Einweihung« (path of discipleship, path proper, initiation) bestand. Diesem Vorbild entspricht sein eigenes späteres Modell von »Vorbereitung«, »Erleuchtung« und »Einweihung« in vielen Aspekten. Die »vier Seelengewohnheiten« (WE, 144 f.) und die »sechs Eigenschaften« (WE, 125 f. und SE, 235 f.) sind hier ebenso vorgebildet wie Darlegungen zu den »Chakren«, zur »Kundalinī-Kraft« und zu den »Meistern«. Bestimmte Metaphern für konkrete Stufen der inneren Entwicklung, etwa die Begriffe des »Wanderers« oder des »Hüttebauens«, hat Steiner offenbar dieser Schrift entnommen, und wie in WE bestand auch bei Besant die Einweihung selbst wieder aus verschiedenen Stufen, allerdings nicht aus Steiners Trias von Feuer-, Wasser- und Luftprobe (diese hatte Leadbeater dem besantschen Model hinzugefügt), sondern aus vier Einweihungsstufen, deren Charakteristik orientalischen Mustern folgt. Für die Schilderungen der Inhalte des seelischen und geistigen Wahrnehmens hingegen war, wie schon bei der Abfassung der Theosophie (vgl. SKA 6), Charles Leadbeater ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Steiners, vor allem dessen Schriften Clairvoyance, The Astral Plane, The Devachanic Plane, Man Visible and Invisible und Thought Forms. Darüber hinaus stellten, was konkrete Übungsanweisungen und Meditationsinhalte angeht, Blavatskys Voice of the Silence und Mabel Collins Light on the Path wichtige Quellen dar. Aus erhaltenen Briefen und Übungsanweisungen für Schüler lässt sich entnehmen, dass Steiner die in diesen Schriften zu findenden Texte und Übungen zunächst übernahm und dann nach und nach durch eigene ersetzte, wobei jedoch grundsätzliche Motive und Strukturen erhalten blieben.

Die anglo-indische Theosophie ihrerseits speiste sich, neben der Rezeption von Vorstellungen und Praktiken aus der östlich-indischen Mystik, aus zwei weiteren Quellen, nämlich dem in Nordamerika entstandenen modernen Spiritismus und den europäischen Traditionen des Mesmerismus und der zeremoniellen Magie, die ihrerseits an die Okkultisten der frühen europäischen Neuzeit wie Agrippa von Nettesheim und Paracelsus anknüpften (vgl. Baier [2009] I,. 253 ff.). Besonders der ›praktische Okkultismus‹ Blavatskys und die später innerhalb der Esoterischen Schule geübten Techniken führten in vielen Aspekten die Praktiken dieser beiden Strömungen weiter. Konkret gesprochen, wurden aus dem Spiritismus die Praxis der Séancen und das Kommunizieren mit bzw. das Materialisieren der Astralleiber von Verstorbenen sowie das Erzeugen von Trance-Zuständen übernommen; aus Mesmerismus und Magie hingegen kamen das »Magnetisieren«, die Hypnose, die Manipulation des magnetischen Fluidums und der Körperenergie (von den Theosophen zunächst als astral body, später als etheric double bezeichnet), die körperbezogene Konzentration auf bestimmte Energiezentren im feinstofflichen Körper (theosophisch: chakras) sowie die Praxis der »Astralprojektion«. – Von den meisten dieser Techniken, insbesondere von denen, welche eine Steuerung und Kontrolle durch eine außenstehende Person voraussetzten, hat Steiner sich in Theorie und Praxis distanziert bzw. diese sogar heftig bekämpft. Einiges hielt jedoch Einzug in die anthroposophische Meditationspraxis, z. B. die Bündelung und Manipulation der energetischen Strömungen im menschlichen Leib (Steiner spricht von »Strömungen des Ätherleibes«) sowie die meditative Konzentration auf bestimmte Zentren des seelischen Organismus (den »Lotuosblumen« oder »Chakren«) und die Leitung der ätherischen Strömungen durch dieselben (vgl. dazu in WE das Kapitel »Über einige Wirkungen der Einweihung«).

Neben dem unmittelbaren Einfluss der theosophischen Meditationspraxis und ihrer Vorläufer wären weitere ideengeschichtliche Kontexte zu nennen, die weniger für die meditative Praxis, dafür aber umso mehr zum konzeptionellen Verständnis und zum anthropologischen Hintergrund der erkenntnisschulischen Texte Steiners unerlässlich sind. Da wären denn zunächst die Impulse der Weimarer Klassik und des deutschen Idealismus. Ausgehend von Kants transzendentaler Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens hatten Fichte, Schelling und Hegel verschiedene Konzepte einer »intellektuellen Anschauung« entwickelt, durch welche der Mensch in der Lage sein sollte, nicht nur die Produkte seiner denkenden Tätigkeit – die Begriffe und Ideen – wahrzunehmen, sondern diese Tätigkeit als solche und dadurch letztlich das in der Denktätigkeit tätige Absolute selbst. Steiner rezipierte intensiv die Texte dieser Denker in seinen philosophischen Schriften und mancher Aspekt seines Konzepts einer »übersinnlichen Erkenntnis« »höherer Welten« findet sich bis in die Terminologie hinein bei den Denkern des deutschen Idealismus vorgebildet. Besonders Fichte hatte einen tiefgreifenden Einfluss nicht nur auf Steiners philosophisches Frühwerk (vgl. SKA 2), sondern auch auf seine esoterischen Vorstellungen und sein Konzept der Erkenntnisschulung.  Immer wieder berief sich Steiner auf die fichtesche Formulierung, dass der Mensch durch die Fähigkeit, sich selbst im Prozess der denkenden Selbsthervorbringung zu beobachten, sich »ein ganz neues inneres Sinnenwerkzeug« aneigne, durch welches »eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist«. Aber auch Schelling prägte Steiner in nachhaltiger Weise, und zwar nicht nur im Hinblick auf die bewusstseinsphilosophische Grundlegung seiner Esoterik in den Schriften von 1901 und 1902 (vgl. Einl. zu SKA 5), sondern auch durch seine Vorstellung von der philosophischen Spekulation als einer ideellen Nachschöpfung des Welt- und Naturgeschehens, durch die nicht nur der Mensch zum Bewusstsein des Absoluten, sondern zugleich das Absolute zum Bewusstsein seiner selbst gelange. Somit ist nicht nur Steiners Konzeption einer systematischen Erkenntnisschulung im Allgemeinen, sondern auch seine Vorstellung von der Initiation als »individualisierter Kosmogonie« (vgl. Anm. zu WE, 141: »in Harmonie […] mit den Gesetzen […] der Welt«) ganz konkret in eben jenen Werken des deutschen Idealismus vorgebildet, in denen er während seiner vortheosophischen Phase lebte.  

Neben den Philosophen der Goethezeit waren auch Goethe selbst sowie Schiller zwei zentrale Bezugspunkte für Steiners Konzeption von Erkenntnisschulung, wenngleich ihre Namen in unseren Texten nirgends genannt werden. So hatten Goethes morphologische Studien und die daraus hervorgehenden Anschauungen über eine mögliche Steigerung der menschlichen Imaginationskraft zu einem »anschauenden Denken« unmittelbaren Einfluss auf Steiners Konzeption der »Imagination« als erster der drei übersinnlichen Erkenntnisstufen. Die intensive Beschäftigung mit Goethes Märchen war geradezu ein Urerlebnis für die Ausbildung von Steiners esoterischem Menschenbild. Und auch Schiller mit seinem Konzept ästhetischer Erziehung prägte die Ausbildung von Steiners Schulungsweg in kaum zu überschätzender Weise. Wenn dieser etwa zur Ausbildung eines bestimmten Astralorgans die Entwicklung einer »freien Seele, die im Gleichgewichte zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit steht«, fordert (WE, 134) oder wenn es heißt »jeder Mensch trägt neben seinem […] Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen höheren Menschen« (WE, 19), so lassen sich diese Äußerungen bis in die Formulierung hinein in Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zurück verfolgen. Während aber die Rezeption des deutschen Idealismus und Ästhetizismus in den philosophischen Schriften Steiners mittlerweile recht gut dokumentiert ist, ist ihr hier angedeuteter Einfluss auf die Ausbildung des anthroposophischen Schulungsweges bisher kaum wahrgenommen, geschweige denn analysiert worden. Dies überrascht umso mehr, als diese Bezüge zum Teil offenkundig auf der Hand liegen, etwa wenn man Fichtes Darstellung der Wissenschaftslehre von 1812 heranzieht, die Steiner oft und an prominenter Stelle in seinen anthroposophischen Texten zitiert hat. Auch im Hinblick auf Schiller und Goethe hat man deren Bedeutung für Steiners Erkenntnisschulung kaum je thematisiert, obwohl auch hier der Einfluss unübersehbar ist. Die Anthroposophieforschung der Zukunft wird sich der Frage intensiver zuzuwenden haben, in welchem Maße Steiners Vorstellungen über »höhere Erkenntnis«, ihre Stufen und ihre systematische Ausbildung als ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte des Idealismus und Ästhetizismus der Goethe-Zeit aufzufassen sind.

Ein weiterer philosophischer und anthropologischer Kontext, in welchem unsere Texte gesehen werden müssen, ist das Paradigma der aristotelischen Psychologie, vor allem in denjenigen Formen, welche die Seelenkonzeption des Stagiriten im späten Mittelalter (etwa bei Thomas von Aquin) und im 19. Jahrhundert (bei Franz Brentano) angenommen hatte. Zentrale Aspekte des steinerschen Denkens stehen in der ideengeschichtlichen Tradition des Aristotelismus, etwa sein trichotomisches Menschenbild, in dem das Geistige im Menschen nicht als bloße Funktion des Seelischen aufgefasst wird, sondern als eigenständiger Seinsmodus, dessen Äußerungen von den rein seelischen ebenso zu unterscheiden sind, wie diese von den physischen Lebensprozessen. Die anthroposophischen Vorstellungen von einem »Ätherleib« und einem »Astralleib« im Menschen weisen eindeutige Verwandtschaften mit der aristotelischen Auffassung eines Seelischen im Tier (anima sensitiva) und in der Pflanze (anima vegetativa) auf. Ebenso trägt das Element der Ausbildung des Charakters durch Habitualisierung bestimmter Handlungen und Gesinnungen in den sogenannten »Nebenübungen« deutlich die Handschrift der asistotelischen Ethik. Weitere Parallelen könnten genannt werden und sind an anderer Stelle dargestellt worden. Zwar hat Steiner sich mit Aristoteles, Thomas und Brentano erst Jahre nach der Abfassung der ersten Fassung seiner Theosophie intensiver befasst, doch war er schon um die Jahrhundertwende durchaus mit Vorstellungen vertraut, welche ihm aristotelische Gedankenformen vermittelten, so etwa die paracelsische »Wesensgliederlehre«, mit der er sich in seiner Mystik-Schrift von 1902 beschäftigt hatte. Von vielleicht noch größerer Bedeutung war die aristotelische Naturphilosophie und Metaphysik, in welcher sich der Welt- und Naturprozess als spannungsvolles und dennoch teleologisch gerichtetes Wechselspiel zwischen möglichem und verwirklichtem Sein darstellt und die, vermittelt über die schellingsche Spätphilosophie, die anthroposophischen Kosmogonie stark geprägt hat. Wenngleich Steiner sich philologisch gesehen um 1904 immer noch primär an platonische Denkformen anschloss und sich erst später zu Aristoteles als einem philosophischen Ahnen seiner Seelen- und Geistkonzeption vorarbeitete und bekannte, können diese vom inhaltlichen Standpunkt aus durchaus in vieler Hinsicht als aristotelisch bzw. neoaristotelisch bezeichnet werden.

Neben dem Aristotelismus stellen die verschiedenen platonischen, neoplatonischen und christlichen Mystiktraditionen des Abendlandes, mit denen sich Steiner in den Schriften der Jahre 1901 und 1902 auseinandergesetzt hatte, ein weiteres wichtiges Bezugsfeld dar. Steiner hatte hier das antike Mysterienwesen und die Mystik Platons, der Neoplatoniker (Plotin, Philo, Aeropagita) und des christlichen Mittelalters (Eckhart, Seuse, Tauler), ferner den naturmagischen Okkultismus der frühen Neuzeit (Aggrippa, Paracelsus) und die Theosophie Jakob Böhmes intensiv rezipiert und als geistige Verwandte und Vorfahren seiner eigenen Konzeption von »höherer Erkenntnis« benannt. Diese Bezüge sind in Band 5 dieser Reihe ausführlich dargestellt worden.

Schon dieser kurze Überblick zeigt, wie komplex das historische und ideengeschichtliche Bezugsfeld ist, in dem Theorie und Praxis der anthroposophischen Erkenntnisschulung sich bewegen, und es steht zu hoffen, dass die künftige Forschung dieses Netz von Beziehungen einmal gründlich aufarbeiten wird. Es gilt zu untersuchen, wo und in welchem Maße Steiner Ideen und Praktiken aus den oben genannten Bereichen aufgenommen und dann für seine spezifischen Zwecke gedeutet und verwandelt hat. Ferner wäre zu untersuchen, inwieweit die Gestalt, die Steiner all diesen Vorstellungen in seinen erkenntnisschulischen Schriften gegeben hat, ihrerseits wiederum Einfluss auf die zeitgenössischen Repräsentanten von Esoterik, Kunst, Psychologie und Philosophie gehabt haben. Eine Geschichte der Rezeption des anthroposophischen Schulungswegs innerhalb und außerhalb des esoterischen Milieus fehlt bisher ebenso wie eine genauere Untersuchung zu seinen Quellen und Vorbildern.

 

Zur Genese des Schulungswegs

Unsere bisherigen Darlegungen haben den anthroposophischen Schulungsweg überwiegend so behandelt, als läge er nur in derjenigen Form vor, die sich in den Texten dieses Bandes findet. Obwohl die Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse […] in vieler Hinsicht als die zentrale Darstellung anthroposophischer Meditationsweise gelten kann, lassen sich dessen grundlegende Motive bereits in den philosophischen Frühschriften nachweisen und haben in späteren Veröffentlichungen weitere Umgestaltungen und Schwerpunktverschiebungen erfahren, bis in die letzten Lebensjahre Steiners. Dies gilt schon dann, wenn man nur die veröffentlichten Schriften und Aufsätze berücksichtigt; noch reicher wird das Bild, wenn man das schier unübersehbare Vortragswerk sowie Steiners Tätigkeit als esoterischen Lehrer und Leiter der erkenntniskultischen Abteilung der anthroposophischen Gesellschaft mit berücksichtigt. Zu einer Entwicklungsgeschichte der verschiedenen erkenntnisschulischen und erkenntniskultischen Aktivitäten und Äußerungen Steiners würde der Umfang dieses Buches nicht hinreichen. Die folgende Darstellung kann diese Entwicklung daher nur ganz skizzenhaft andeuten, und dies auch nur unter Beschränkung auf die wichtigsten veröffentlichten Texte.

Der Gedanke, dass der Mensch zu einem wirklichkeitsgemäßen Erkennen nicht dadurch kommt, dass er bestimmte »richtige« Gedanken bildet, sondern dass er dazu vielmehr sein gewöhnliches Erkenntnisvermögen umzubilden hat, tritt uns bereits in den allerersten Veröffentlichungen Steiners entgegen. Sowohl bei Goethe wie bei Fichte, den beiden zentralen philosophischen Vaterfiguren der steinerschen Frühschriften, steht dieser Gedanke im Zentrum ihres Denkens, wenn sie von der Ausbildung eines »anschauenden Denkens« und einer »exakten sinnlichen Phantasie« (Goethe) oder der Fähigkeit der »intellektuellen Anschauung« (Fichte) sprechen. So überrascht es nicht, dass wir diesen Grundgedanken schon in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften finden: »Unser Geist hat die Aufgabe«, heißt es da etwa, »sich so auszubilden, daß er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art anzuschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint« (EG, 125). In Steiners philosophischem Hauptwerk, der Philosophie der Freiheit, nimmt dieser Gedanke eine zentrale Stellung ein, obwohl diese Schrift sich formal als eine erkenntnistheoretisch und ethisch ausgerichtete gibt. Inhaltlich geht es jedoch in der Schrift weniger um eine Analyse des menschlichen Erkennens, sondern um die Idee einer höheren Stufe des Bewusstseins durch »Beobachtung des Denkens«. Durch diese Fähigkeit habe der Mensch es in der Hand, sein Denken von innen her umzubilden, »wie im Pflanzenkeim die Möglichkeit liegt, zur ganzen Pflanze zu werden. Die Pflanze wird sich umbilden wegen der objektiven, in ihr liegenden Gesetzmäßigkeit; der Mensch bleibt in seinem unvollendeten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift, und sich durch eigene Kraft umbildet« (PF, 175). Damit ist die Grundkonzeption anthroposophischer Meditation, die Idee einer methodisch herbeigeführten Metamorphose der gewöhnlichen Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit des Menschen bereits klar ausgesprochen.

In den Jahren von 1900 bis 1902 finden die ersten Kontakte Steiners zur von Besant geleiteten Theosophischen Gesellschaft statt. Kontakte zu und Statements über andere Personen aus dem theosophischen Millieu hatte es schon früher gegeben, doch waren diese vereinzelt und teilweise sehr kritisch gewesen. Nun aber hielt er Vorträge in der Bibliothek der Theosophischen Gesellschaft in Berlin und der Schwerpunkt seiner folgenden Veröffentlichungen verlagerte sich (nach einer anarchistisch und antiidealistisch, von manchen auch als atheistisch gedeuteten Übergangsphase) von Goethe und vom deutschen Idealismus hin zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystik und zum Mysterienwesen des Altertums. Trotz dieser thematischen Neuorientierung blieb er jedoch den zentralen Fragen und Themen seines Frühwerks treu, denn auch an der europäischen Mystik und am Christentum interessiert ihn weiterhin vor allem der Gedanke einer Verwandlung des gewöhnlichen Bewusstseins durch innere geistig-seelische Arbeit. Das Instrumentarium dieser Verwandlung wird nun deutlich erweitert, denn zur bloßen philosophischen Denkarbeit treten jetzt die klassischen transformativen Methoden der Mystik hinzu: die gezielte Ausbildung und Verstärkung bestimmter Gefühle, die Kultivierung bestimmter Charaktereigenschaften oder Tugenden und die meditative Versenkung in bildhafte Vorstellungen, in denen geistig-seelische Gesetzmäßigkeiten veranschaulicht und dramatisiert sind. Vor allem die Kosmogonien, Theogonien und Mythen des Altertums interessieren Steiner nun als bildliche Darstellungen dessen, was innerlich im Menschen während der Transformation des gewöhnlichen Bewusstseins (die nunmehr als »Einweihung« oder »Initiation« bezeichnet wird) geschieht. Neu an den Schriften von 1901 und 1902 ist auch, dass hier zum ersten Mal das Motiv eines Initiators oder »Meisters« auftaucht, welcher diese innere Metamorphose von außen her unterstützt oder gar kontrolliert.

Eine dritte Entwicklungsstufe und einen ersten Kulminationspunkt auf dem Weg der Ausbildung des anthroposophischen Erkenntniswegs stellt das abschließende Kapitel der Theosophie von 1904 dar. Steiner war mittlerweile Mitglied der Theosophischen Gesellschaft geworden und vertrat nun deren deutsche Sektion als Generalsekretär. Zugleich war er als Lehrer innerhalb der Esoterischen Schule der Theosophischen Gesellschaft tätig und hatte als solcher selbstverständlich an die Lehrformen und -inhalte anzuknüpfen, die innerhalb dieser Schule galten. Das Erkenntnis-Kapitel in der Theosophie spiegelt denn auch diese enge Anknüpfung an die theosophische Tradition wieder; es besteht im Wesentlichen aus einer Darlegung der sogenannten sechs »Eigenschaften« oder »Vollkommenheiten« (six mental attributes; shatsampatti), wie sie in Annie Besants Schriften zu finden waren und wie sie auch in WE so wieder auftauchen (vgl. WE, 127 ff.). Im Vergleich zu späteren Darstellungen erscheint jedoch dieses Kapitel ausgesprochen rudimentär.

Kurz nach Erscheinen der Theosophie, im Juni 1904, und parallel zu seiner neuen Tätigkeit als esoterischer Lehrer machte Steiner sich an die Ausarbeitung jener Aufsätze in der Zeitschrift Lucifer-Gnosis, aus denen dann die erste in unserem Band abgedruckte Schrift entstand: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten. Gegenüber der knappen Skizze in der Theosophie stellt dieses Buch eine enorme Ausweitung dar und gilt in vieler Hinsicht heute als die klassische Darstellung des anthroposophischen Schulungsweges, auf die auch Steiner selbst sich immer wieder als Referenz bezogen hat. In vielen Einzelheiten knüpft Steiner hier an den besantschen Schulungsweg an, wandelt aber vieles in eigenwilliger Weise um und bringt auch manches Neue, was sich bei Besant oder anderen theosophischen Autoren so nicht findet. Auch die Struktur der Schulung ist schon hier eine ganz andere als bei Besant.

Unmittelbar nach Abschluss dieser Aufsatzserie entstand in den Jahren 1905 bis 1908 eine zweite, Die Stufen der höheren Erkenntnis, in ebenderselben Zeitschrift. Diese Texte unterscheiden sich formal und stilistisch stark von der Darstellung in WE. Der ganze Duktus ist systematischer und theoretischer, entsprechend dem Anliegen, eine »Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft« (SE, 217) zu geben. Konkrete Übungsanweisungen werden kaum gegeben (nur die »vier Seelengewohnheiten« (WE, 144 f.) und die »sechs Eigenschaften« (WE, 125 f.) werden hier kurz rekapituliert), dafür wird als zentrale Neuerung die wichtige systematische Unterscheidung von »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« getroffen. Diese war in WE zwar implizit in vieler Hinsicht bereits vorweggenommen, aber an keiner Stelle klar auf den Begriff gebracht worden. Neu ist auch die Charakterisierung des Schulungsweges als »rosenkreuzerisch« und die Abgrenzung gegenüber früheren Traditionen der Erkenntnisschulung, etwa der »indisch-yogischen« oder der »christlichen« (SE, 255).

Indem Steiner 1902 in die Theosophische Gesellschaft eintrat und erst Mitglied, dann Lehrer innerhalb von deren Esoterischer Schule wurde, kamen zu den veröffentlichten Texten zur Erkenntnisschulung eine ganze Reihe von Dokumenten hinzu, auf die wir an dieser Stelle nicht näher eingehen können, die aber für eine allseitige Betrachtung des Projekts »Schulungsweg« von zentraler Bedeutung sind. In Briefen, Übungsanweisungen und internen »esoterischen Stunden« für seine Schüler spricht Steiner manches an, was in den öffentlichen Texten ausgespart bleib. Und durch die allmähliche Ausprägung einer systematischen erkenntniskultischen Tätigkeit, für die Steiner ausführliche Rituale und Ritualtexte entwirft, nimmt die anthroposophische Erkenntnisschulung noch einmal eine ganz neue Dimension an (vgl. dazu die Dokumente im Anhang dieses Bandes). Eine umfassende und kritische Darstellung dieses allmählichen Hineinwachsens Steiners in die theosophische Arbeit, in dessen Verlauf er deren Formen und Texte zunächst übernimmt, dann umgestaltet und schließlich ersetzt, gibt es bisher nicht. Man kann sich aber ein Bild anhand der Materialsammlungen machen, die innerhalb der GA vorliegen und zu denen Hella Wiesberger ausführliche Einleitungen und Kontextualisierungen vorgelegt hat. Ferner hat Anna-Katharina Dehmelt einige Vorarbeiten zu einer Genese des Schulungsweges gemacht, die zwar bisher nicht veröffentlicht vorliegen, deren Ergebnis wir hier aber dennoch kurz referieren wollen.

Nach Dehmelt lassen sich innerhalb der Periode zwischen 1904 und 1910, also bis zur Darstellung des Schulungswegs in der Geheimwissenschaft, vier Phasen unterscheiden. Zunächst sei Steiner zwar Mitglied der Esoterischen Schule (ab Oktober 1902), aber noch kein beauftragter Lehrer gewesen. In dieser Zeit habe er, zusammen mit einigen wenigen Mitgliedern, meditative Arbeit gepflegt, ohne jedoch die damals in der Esoterischen Schule üblichen Spruchformeln zu übernehmen. Eine zweite Phase setzte nach Dehmelt ein, als Steiner im Mai 1904 zum Arch Warden der Esoterischen Schule ernannt wurde und die systematische Arbeit mit esoterischen Schülern begann, sowohl im individuellen Verkehr wie auch in Form von »esoterischen Stunden«. Nun habe er sowohl die theosophischen »Regeln« übernommen wie auch die Mantren und Sprüche von Mabel Collins aus Licht auf dem Weg. Einen weiteren Einschnitt sieht Dehmelt Ende 1905, als die erkenntniskultische Abteilung eingerichtet wurde. Steiner habe nun zunehmend begonnen, überlieferte Sprüche durch eigene zu ersetzen, ferner auch verschiedene Atmungs- und Körperübungen einzubeziehen. Außerdem habe er die von Besant beschriebenen »sechs Eigenschaften« zu den sogenannten sechs »Nebenübungen« weiterentwickelt, die heute ein wesentlicher Bestandteil des anthroposophischen Schulungswegs sind. Die vierte Phase beginnt nach Dehmelt mit dem Münchener Kongress 1907, nach dem Rudolf Steiner in der Leitung der Esoterischen Schule nicht mehr Annie Besant untergeordnet war, sondern eine eigene gleichberechtigte Schule führte. In dieser Zeit habe Steiner die Rosenkreuz-Meditation ausgebildet, die im Zentrum der Darstellung des Schulungswegs in der Geheimwissenschaft steht. Auch die Parallelisierung des Meditationskonzepts mit der der »Siebengliedrigkeit« des Menschenwesens und der Weltentwicklung sei in dieser Zeit entstanden und an die Stelle der Bindung an den Lehrer sei zunehmend das Prinzip der Kooperation spirituell arbeitender Menschen getreten.

Unmittelbar nach der Geheimwissenschaft, in den Jahren 1912 und 1913, erschienen zwei weitere Schriften, in denen das Konzept anthroposophischer Meditation weiter entwickelt und theoretisch begründet wird: Ein Weg zur Selbsterkenntnis (1912) und Die Schwelle der geistigen Welt (1913). Ein weiterer zentraler Text erschien 1918 unter dem Titel Von Seelenrätseln, der von besonderer Bedeutung ist, da Steiner hier zum ersten Mal das für die Anthroposophie so zentrale Konzept der Dreigliederung systematisch entwickelt. Kurz vor seinem Tod griff Steiner das Thema noch einmal auf in einer Serie von vier Aufsätzen, die 1924 unter dem Titel Vom Seelenleben in der Zeitschrift ›Das Goetheanum‹ erschienen. Und noch die in den letzten Monaten seines Lebens erscheinende Aufsatzserie der Anthroposophischen Leitsätze trug den Untertitel »Der Erkenntnisweg der Anthroposopie«. Auf diese und andere Weiterentwicklungen oder gar auf die vielen Äußerungen Steiners im Vortragswerk einzugehen, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen.

Ebenfalls zur Geschichte des Schulungsweges gehören der Sache nach die zahlreichen Meditationssprüche und Mantren, die Steiner im Lauf seiner Tätigkeit verfasst hat, sowie die dramatische Darstellung des Einweihungsgeschehens im Rahmen seiner Vier Mysteriendramen (1910–1913), ferner die im internen Schülerkreis abgehaltenen »esoterischen Stunden«, deren spätere Fortführung in Form der sogenannten »Klassenstunden« und die erhaltenen Dokumente zu Steiners erkenntniskultischer Arbeit. All dies kann hier nur angedeutet werden, um deutlich zu machen, dass die in diesem Band vorgestellten Schriften, auch wenn es sich um zentrale Texte handelt, deren Bearbeitungen 20 Jahre von Steiners intellektueller Entwicklung dokumentieren, nur einen Ausschnitt dessen zeigen, was unter den Begriff der anthroposophischen Bewusstseinsschulung fällt. Das Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes versucht einen Einblick in die Fülle von Schriften und Vorträgen zu geben, in denen Steiner sich zu diesem Thema geäußert hat. Künftige Untersuchungen der erkenntnisschulischen Texte werden diesen ganzen Komplex ins Auge zu fassen haben.

 

Zentrale Inhalte

Im Folgenden sollen einige der zentralen methodischen, systematischen und inhaltlichen Aspekte des anthroposophischen Schulungsweges angerissen werden, wie sie sich in den Texten dieses Bandes zeigen. Eine zumindest oberflächliche Vertrautheit mit diesen Inhalten ist Voraussetzung für das Verständnis der später zu besprechenden besonderen Problemfelder dieses Themengebiets.

 

Methodik und allgemeine Charakteristik des Schulungsweges

Der anthroposophische Schulungsweg steht im Spannungsfeld zweier Traditionen geistig-spiritueller Schulung, die innerhalb der neomystischen Szene im wilhelminischen Deutschland um 1900 sowohl miteinander wie auch mit dem Spiritismus, mit den etablierten Kirchen und mit der damals in Blüte stehenden positivistisch-naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Konkurrenz standen. Auf der einen Seite erlebten innerhalb der allgemein nach Sinn und Neubesinnung suchenden Gesellschaft des fin de siècle die mystischen und okkulten Traditionen des christlichen Mittelalters und der frühen Neuzeit eine Renaissance. Man las oder entdeckte überhaupt erst die Schriften Meister Eckharts und Jakob Böhmes, aber auch die magisch-alchemischen Texte eines Paracelsus und Agrippa von Nettesheim sowie die verschiedenen Ausprägungen des Mesmerismus und der zeremoniellen Magie des 19. Jahrhunderts. Dieser Strömung gegenüber standen die damals zum ersten Mal in breitere Gesellschaftsschichten dringenden östlich-asiatischen Lehren und Praktiken, d. h. die meditativen und yogischen Techniken des Hinduismus, Buddhismus und Tantrismus sowie die dahinter stehenden Weltanschauungen. Steiners Ansatz enthält Elemente beider Traditionen, die im Folgenden noch benannt werden, lässt aber zugleich einige essentielle Bestandteile sowohl der abendländischen wie der asiatischen Selbstschulung hinter sich, die seiner Ansicht nach den Lebensverhältnissen und der Bewusstseinskonstitution des modernen Menschen nicht mehr angemessen sind. Dies sind vor allem körperliche Praktiken wie yogische Atemübungen oder Asanas und monastische Askese- und Fastenvorschriften (lediglich das Streben nach gesunder Lebensweise wird gefordert). Auch spricht Steiner kaum und nur andeutungsweise über die angeblichen magischen Fähigkeiten der Fakire und Magier des Ostens, die sogenannten siddhis (Gedankenübertragung, Astralreisen, Materialisierungen, Levitationen usw.), oder über die spiritistischen Praktiken der Geisterbeschwörung, des Mesmerismus, Hypnotismus, Telepathismus, des Mediumnismus und der Psychometrie – all dies wurde in den zeitgleich erscheinenden Schriften spiritistischer und theosophischer Autoren ausführlich und mit großem Interesse diskutiert. Ebenfalls aufgegeben wird, zumindest der Absicht nach, die traditionelle Abhängigkeit des Schülers vom äußeren Einfluss einer spirituellen Autorität, also etwa von dem im Mesmerismus bedeutsamen »Magnetiseur« oder »Hypnotiseur«, vom »Magier« in der rituellen Magie oder von der in der östlichen Mystik zentralen Figur des »Guru«. Auch von Dogmen, Glaubensbekenntnissen und Eiden sowie von der Verpflichtung zu absoluter Geheimhaltung wollte Steiner die esoterische Schuung zumindest weitgehend befreien.

Mit den über die Theosophie vermittelten östlichen Traditionen teilt Steiners Schulungsweg zahlreiche strukturelle und inhaltliche Elemente, welche an den entsprechenden Stellen unseres Stellenkommentars im Einzelnen vermerkt sind. In den frühen Fassungen legt er diese Verbindung noch offen und verweist mehrfach auf die einschlägigen »theosophischen Handbücher«; die revidierten Fassungen hingegen, in denen er sich von diesem Erbe distanzieren möchte, sprechen dunkel von »geisteswissenschaftlichen Schriften« oder »Büchern, die von diesen Dingen handeln«. Trotz dieses verständlichen Versuchs einer Verschleierung seiner ursprünglichen Quellen (hatte sich die Gruppe um Steiner doch mittlerweile institutionell von der Theosophie getrennt), sind für den Kenner der einschlägigen Literatur die theosophischen Vorbilder der steinerschen Konzeption unverkennbar. Sie werden im Stellenkommentar detailliert nachgewiesen und müssen daher hier nicht weiter besprochen werden. – Die Verbindung mit den Praktiken und Übungen der westlich-christlichen Exerzitientradition hingegen sind zunächst weniger offenkundig, denn auf diese geht Steiner kaum je ein und erwähnt nur im Vorübergehen Thomas von Kempen sowie das für viele christliche Mystiker zentrale Johannesevangelium (vgl. hierzu WE, 94). Körperliche Exerzitien wie die für christlich-monastische Gemeinschaften typischen Fasten- und Enthaltsamkeitsvorschriften kommen bei Steiner ebenso wenig vor wie die Forderung nach einer bestimmten Glaubenshaltung. Lediglich das Alkoholverbot und die Empfehlung zum Vegetarismus werden in den Anweisungen für esoterische Schüler ausdrücklich ausgesprochen. Gerhard Wehr geht daher so weit zu formulieren, dass Steiner »keinerlei Anleihen« mache bei den »christlich-mittelalterlichen Meditationspraktiken, wie sie etwa innerhalb von mystischen Strömungen der westlichen und der östlichen Kirchen ausgeübt worden sind oder in Ordenszusammenhängen weiterhin gepflegt werden« (1974, 121). Auch Steiner selbst legt in den Stufen der höheren Erkenntnis Wert darauf, dass der von ihm vertretene und von ihm als »rosenkreuzerisch« bezeichnete Schulungsweg sich fundamental von früheren Methoden der Bewusstseinsschulung unterscheidet, unter denen er auch einen spezifisch »christlichen« Weg ausmacht.

Gegenüber solchen Abgrenzungsversuchen muss freilich in Anschlag gebracht werden, dass Steiners Übungen und Anweisungen durchaus Ähnlichkeiten gegenüber den traditionellen Exerzitien der christlichen Mystiker aufweisen. Die Empfehlung etwa, dass eine demütige und devote Grundstimmung das Fundament seelischer Schulung ist, die Anweisungen zur Ausbildung innerer Ruhe und Gelassenheit, zur methodischen Visualisierung, zur Kontemplation religiöser Schriften und zur bewussten Erzeugung bestimmter intensiver Gefühle sowie der paradoxe Hinweis auf die Bedeutung des Nicht-Wollens bzw. der Gleichgültigkeit gegenüber den Früchten der eigenen Schulung – all diese Forderungen Steiners finden sich auch in den Texten Heinrich Seuses, Mechthild von Magdeburgs, Ignatius von Loyolas oder Jakob Böhmes. Auch die fundamentale christliche Vorstellung des »Umkehrens« bzw. der »Buße«, d. h. die Bereitschaft zu einer radikalen Änderung traditioneller Handlungs-, Gefühls- und Denkgewohnheiten nimmt, zumindest nach dem Urteil Wehrs, in der steinerschen Meditationspraxis eine zentrale Rolle ein. Ferner lassen sich innere Zusammenhänge nachweisen zwischen dem inneren Aufbau einer typischen anthroposophischen Meditation und der Grundstruktur der Messe: Lesung, Opferung, Wandlung, Kommunion. Auch zu den traditionellen vier Stufen der mittelalterlichen Kontemplation – lectio, meditatio, oratio, contemplatio – ließen sich Parallelen aufzeigen.

Obwohl aber der anthroposophische Schulungsweg durchaus Berührungspunkte sowohl mit der christlich-westlichen wie mit der östlich-asiatischen Tradition aufweist, lässt sich in vielen Einzelheiten kaum entscheiden, wo Steiners konkrete Quellen im Einzelfall lagen. So weist etwa die prinzipielle Dreiteilung der Schulung in »Vorbereitung«, »Erleuchtung« und »Einweihung« Ähnlickeiten mit antiken, mit christlich-mittelalterlichen und mit indisch-theosophischen Vorbildern auf. Will man diese generellen Strukturelemente des Schulungsweges skizzenhaft umreißen, so besteht die »Vorbereitung« in den verschiedenen Visualisierungs-, Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen sowie der Arbeit am eigenen Charakter, wie sie in den ersten Kapiteln von WE dargestellt werden. Die »Erleuchtung« hingegen tritt dann ein, wenn sich dasjenige bildhafte Erleben einstellt, welches in SE als das »imaginative Bewusstsein« dargestellt wird. Die eigentliche »Einweihung« hingegen beginnt erst dann, wenn zu diesen Imaginationen auch die sogenannten »Inspirationen« hinzukommen, die mehr laut- oder sprachverwandter Natur sind (ohne dass man sie mit tatsächlichen sprachlichen oder akustischen Phänomenen verwechseln darf). Sie findet ihren vorläufigen Höhepunkt darin, dass der Übende nicht mehr nur imaginative und inspirative Wahrnehmungen von Gegenständen, Vorgängen und Wesen hat, sondern im Erkennen eins mit diesen wird und somit die Trennung zwischen Objekt und Subjekt des Erkennens sowie die Bindung an Raum und Zeit aufgehoben wird. Diese zunächst höchste Stufe, die in vielem der unio mystica in christlicher Mystik, aber auch der Beschreibung von moksha bzw. nirvana in hinduistischen und buddhistischen Texten ähnelt, heißt dann in unseren Texten, wie schon in der Philosophie der Freiheit von 1894, die »intuitive«.

Neben diesen Beziehungen der anthroposophischen Erkenntnisschulung zur christlichen Mystik und zur modernen Theosophie muss auf eine dritte entscheidende Quelle von Steiners Meditationskonzept zumindest andeutungsweise hingewiesen werden, und zwar auf die verschiedenen im Rahmen des deutschen Idealismus entwickelten Modelle philosophischer Denk- und Bewusstseinsschulung. Mit Blick auf Fichte und Schelling wurden diese Zusammenhänge oben bereits kurz angerissen. Ein näheres Eingehen auf die Bedeutung Goethes und Schillers, Fichtes, Schellings und Hegels für die epistemologischen und erkenntnisschulischen Vorstellungen Steiners würde den Rahmen dieses Bandes sprengen, doch sei der Leser auf die Einleitungen und Stellenkommentare der ersten beiden Bände dieser Reihe verwiesen und möge das dort Gesagte zum ideengeschichtlichen Verständnis der hiermit vorgelegten Texte heranziehen.

 

Die Organe der übersinnlichen Erkenntnis

Indem Steiner seine Methode der Erkenntnisschulung auf dem Postulat begründet, dass es zusätzlich zu der gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmung des Menschen (zunächst) drei weitere Formen der Wirklichkeitsauffassung gebe, stellt sich die Frage nach den Organen, durch welche ein solches »übersinnliches«, d. h. nicht auf den Inhalten der sinnlichen Wahrnehmung beruhendes Bewusstsein zustande kommen soll. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass er den Begriff der »Sinne« viel weiter fasst als die moderne Sinnesphysiologie oder auch das allgemeine Alltagsbewusstsein. Schon in seiner exoterischen Sinneslehre unterscheidet Steiner nicht nur die gewöhnlich aufgeführten fünf Sinne des Menschen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten), sondern beschreibt zunächst zehn und schließlich zwölf Sinne des Menschen. Zu dieser Zwölfheit der »gewöhnlichen« Sinne kommen dann in den erkenntnisschulischen Texten noch diejenigen Organe der übersinnlichen Wahrnehmung hinzu, welche nach Steiner für die imaginative und inspirative Wahrnehmung ebenso erforderlich sind, wie das Auge zum Sehen oder, um ein Beispiel aus der anthroposophischen Sinneslehre zu nennen, der »Eigenbewegungssinn« für die Koordination der Körperbewegungen. Während nun diese gewöhnlichen Sinne dem Menschen von der Natur sozusagen ohne eigenes Zutun in voller Funktionsfähigkeit geschenkt bzw. durch die normale Entwicklung des Menschen allmählich ausgebildet werden, bedürfen die in unseren Texten beschriebenen »ätherischen« bzw. »astralen« Sinne der gezielten und systematischen Ausbildung, und eben diesem Zweck dienen die drei Hauptelemente der anthroposophischen Schulung: Meditation und Konzentration, Charakterbildung und »Studium«, d. h. die Versenkung in Darstellungen der seelisch-geistigen Verfasstheit des Menschen oder des Kosmos, wie sie in Steiners anthroposophischen Schriften oder auch in klassischen Texten der religiösen Weltliteratur vorliegen.

Von »höheren Sinnen« und »geistigen Augen« hatte Steiner bereits in seinen philosophischen Frühwerken, in Anknüpfung an Formulierungen Goethes, Fichtes und anderer idealistischer Philosophen oft und gern gesprochen. Die Philosophie der Freiheit von 1894 ist sowohl in ihrem epistemologischen wie in ihrem ethischen Teil fundamental auf der Vorstellung eines solchen höheren Sinnes aufgebaut, der dort als Fähigkeit zur »Intuition« bezeichnet wird. In WE stand Steiner vor der Aufgabe, die im Rahmen seiner idealistisch geprägten Philosophie entwickelte Konzeption der Intuition in das Gedankensystem der esoterischen Menschenkunde einzugliedern, wie er sie 1904 in seiner Theosophie entwickelt hatte und die er nun als Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft vor der Welt öffentlich zu vertreten hatte. Er suchte diese Aufgabe zu lösen, indem er die Fähigkeit der übersinnlichen Wahrnehmung auf bestimmte Bildungen innerhalb dessen zurückführte, was in dieser »Wesensgliederlehre« als der »ätherische« und der »astrale« Organismus des Menschen beschrieben wird. Imaginationen und Inspirationen kommen, so hieß es nun, durch die »ätherischen« und »astralen« Organe im Menschen zustande, welche durch die Übungen des Schulungsweges ausgebildet werden.

Steiners Beschreibungen dieser ätherischen und astralen Organsysteme lehnen sich an drei zentrale Vorstellungskomplexe aus der indisch-tantrischen Esoterik an, die in der theosophischen Literatur der Zeit verhandelt wurden: 1. das System der sogenannten »Chakren« (auch »Räder« oder »Lotusblumen« genannt) innerhalb der astralen Organisation des Menschen, 2. die Konzeption von sogenannten Strömungen oder »nādi« der Lebenskraft im ätherischen Organismus und 3. den Begriff der »Kundalinī-Kraft«, die sich in der Doppelheit von Wärme bzw. Liebe (»Kundalinī-Feuer«) und Erkenntnis (»Kundalinī-Licht«) im Menschen äußere. Darauf, was diese Begriffe in ihrem ursprünglichen Kontext bedeuteten und in welcher Weise sie in den theosophischen Texten rezipiert wurden, kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Nur insoweit sollen sie im Folgenden kurz skizziert werden, als Steiner diese aus der östlichen Mystik stammenden Vorstellungen in seinen erkenntnisschulischen Texten adaptierte und zur Veranschaulichung seiner Konzeption vom »übersinnlichen« Erkennen einsetzte.

Anders als viele Theosophen fasste Steiner die »Chakren« und »nādi« nicht in einem materialistischen Sinne als stoffliche bzw. feinstoffliche Organe auf, sondern als imaginative Illustrationen seelischer und geistiger Prozesse und Phänomene. Die Konzeption und den Begriff der »Chakren« hatten die theosophischen Autoren von Blavatsky bis Leadbeater in der indologischen Literatur ihrer Zeit vorgefunden und sie ihrem theosophischen Ideensystem eingegliedert, ohne freilich der Beschreibung von Struktur und Funktion der Chakren größere Aufmerksamkeit zu schenken. Verglichen mit den ausführlichen Darstellungen der theosophischen Standardthemen – den menschlichen »Wesensgliedern«, der »astralen« und der »devachanischen« Welt, der kosmischen Evolution oder den Gesetzmäßigkeiten von Reinkarnation und Karma –, wurden die Chakren in der Theosophie lange eher stiefmütterlich behandelt. Die klassischen Standardwerke zu diesem Thema von Arthur Avalon und Charles Leadbeater erschienen erst 1919 (The Serpent Power) bzw. 1927 (The Chakras), also lange nach Steiners Darstellung in WE. Blavatsky hatte zwar im Rahmen ihrer esoterischen Schule bestimmte Formen der Chakren-Meditation entwickelt, doch diese waren offenbar nur dem engsten Kreis vorbehalten. Indem Steiner diese Thematik in seinen öffentlichen Schriften breit erörtert, kommt diesen im Hinblick auf die Integration der Chakrentheorie in das westliche Denken eine Pionierrolle zu, welche in der Forschung bisher noch kaum angemessen gewürdigt worden ist.

Die theosophischen Autoren verstanden die Chakren zumeist im Sinne ihres spezifischen Monismus, d. h. als »feinstoffliche« Gebilde aus »astraler« oder »elementarer« Materie. Den »Stoff«, aus dem diese Organe bestehen sollten, charakterisierten sie als von konkreter physischer Materie nur durch seine Feinheit verschieden. Die Chakren waren somit für sie konkret-materielle Gebilde wie Augen oder Nieren, die nur durch die »Feinheit« ihrer Materie der sinnlichen Wahrnehmung entzogen seien. Steiners Darstellung in WE scheint sich zunächst an diese Darstellungsart anzuschließen, indem er die Chakren als »Organe des Astralleibes« beschreibt und sie an bestimmten Stellen des menschlichen Körpers lokalisiert. Aus der Darstellung insgesamt wird jedoch deutlich, und in späteren Revisionen und Hinweisen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seiner Auffassung nach solche Beschreibungen nicht im naiv-buchstäblichen Sinne aufzufassen sind. Nach Steiner darf der »Stoff«, aus dem diese »Lotusblumen« bestehen, nicht als verfeinerte physische Materie verstanden werden; vielmehr seien die in der Meditation erzeugten Gefühle, Bilder und Gedanken selbst der »Stoff«, aus denen diese Sinne gebildet werden. (Zu dem empedokleischen Grundsatz »Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt« hatte Steiner sich bereits in seiner Christentums-Schrift bekannt.) Der sogenannte »Astralleib« und die darin sich bildenden »Chakren«, wie sie in WE geschildert werden, sind für Steiner somit letztlich bloße Visualisierungen bzw. Imaginationen, in denen seelische und geistige (und somit immaterielle) Phänomene in sinnliche Bilder gekleidet und so dem Meditierenden und dem Leser vorstellbar gemacht werden. Was sich in Wirklichkeit durch die Schulung im Menschen ausbildet, sind somit, genau genommen, bestimmte Weisen des Fühlens, Vorstellens und Wollens, die dann ihrerseits als »Organe« höherer bzw. übersinnlicher Wahrnehmung fungieren.

Ähnliches kann auch von der zweiten Gruppe »höherer« Sinne, von den sogenannten »ätherischen Organen« gesagt werden. So wie der »Astralleib« für Steiner letztlich nichts Stoffliches ist (also auch nichts »Feinstoffliches«), sondern lediglich die Gesamtheit der im Menschen wirksamen seelischen Vorgänge und Veranlagungen (also auch seines »Karma«), so fasst er auch die Gesamtheit der im Menschen wirksamen Lebens- und Formkräfte, insofern diese eine organische Einheit bilden, im Bild eines ätherischen »Leibes«. In den theosophischen Texten, die Steiner vorlagen, wurde dieser Lebensleib als linga sharira bezeichnet, der aus der allgemeinen, das Universum erfüllende Lebenskraft (prāna) gebildet sei und der von dieser Lebenskraft in verschiedenen als »nādi« bezeichneten Kanälen durchströmt werde. In diesem Lebens- bzw. Bildekräfteorganismus kann nach Steiner der Übende anhand von Konzentrationsübungen die Kraftströme des Lebens in bestimmter Weise regulieren, so dass sie Kraftzentren oder -mittelpunkte bilden, die dann in ähnlicher Weise als »ätherische Organe« fungieren können wie die aus rein Seelischem gebildeten »astralen Organe«.

Als drittes Element innerhalb dieses Komplexes beschreibt Steiner die sogenannte »geistige Wahrnehmungskraft«, welche durch die in der Meditation erzeugten ätherischen und astralen Organe hindurch fließe, von da aus in die Umgebung ausströme und dem Menschen Geistiges und Seelisches in seiner Umgebung so wahrnehmbar mache, wie das Licht ihn sinnliche Gegenstände sehen lässt. In frühen Fassungen bezeichnet er diese Kraft noch mit dem indisch-theosophischen Begriff als »Kundalinī«, und zwar mit dem Doppelcharakter eines » Kundalinī-Feuers« und eines »Kundalinī-Lichts«. Die indischen Texte beschreiben, in der ihnen eigentümlichen Anschaulichkeit, Kundalinī als eine ›Schlange‹, die zunächst zusammengerollt in der Organisation des Menschen schlummert, sich aber, wenn in der Meditation erweckt, im Menschen aufrichtet, sich durch die verschiedenen Chakren nach oben schlängelt und schließlich, im Kopf angekommen, dort das Licht der übersinnlichen Erkenntnis entzündet. (Ähnliche Vorstellungen sind auch in der abendländischen Kultur verbreitet, man denke nur an die Symbolik der ›Schlange‹ in der biblischen Ikonographie.) Steiner lässt in den späteren Versionen von WE die orientalisierende Terminologie und die damit verbundene Bildlichkeit fallen, hält aber an der Konzeption im Wesentlichen fest. Diese Konzeption ist aber in ihrem Kern nichts anderes als die schon bei Fichte zu findende und auch Steiners Philosophie der Freiheit prägende Dialektik von »Erkenntnis« und »Liebe«. Auch hier erweist sich somit die anthroposophische Esoterik wieder als Verbildlichung philosophischer Konzeptionen.

Die konkreten Übungsformen

Astrale »Lotusblumen«, ätherische »Kraftmittelpunkte« und die als Erkenntnis und Liebe sich äußernde »Kundalinī-Kraft« – das waren also die drei wesentlichen Elemente der höheren Sinneslehre, welche Steiner der indischen bzw. neotheosophischen Mystik entnahm und zur Verbildlichung seiner eigenen anthropologischen Vorstellungen in seine Texte integrierte. Der Ausbildung dieser Sinne dienen die konkreten Übungsformen, die dem Schüler gegeben werden.

Innerhalb der meditativen Techniken unterscheidet WE zunächst grundsätzlich zwischen »Meditation« und »Konzentration« als grundlegenden Übungsformen. Die meditativen Übungen erweisen sich als Techniken zur systematischen Ausbildung von symbolisch-imaginären Bildern und damit verbundenen intensiv zu erlebenden Gefühlen. Der Übende beginnt mit einer bestimmten bildhaften Vorstellung und versucht, sich diese lebendig vor das innere Auge zu stellen. Dann sind an dieses innere Bild gewisse Gedanken und Gefühle zu knüpfen, so dass Bild, Gedanke und Gefühl sich gegenseitig durchdringen. Auf dem so erzeugten Komplex hat der Schüler dann, unter Ausschaltung aller ablenkenden Seelenregungen, innerlich zu ruhen. Die Vorstellung, von der dabei ausgegangen wird, kann verschiedene Formen annehmen. Manchmal handelt es sich um ein konkret vor dem Meditierenden sich befindendes Objekt (ein Samenkorn oder ein Mineral) oder um eine konkrete sinnliche Wahrnehmung (etwa der Laut eines Objekts oder eines Tiers, eine bestimmte Gefühlsregung in einem anderen Menschen), an anderen Stellen um eine reine Erinnerungsvorstellung. In wieder anderen Fällen sind es allgemeine Lebensvorgänge (etwa die des Werdens und Vergehens in der Natur), zu deren Vergegenwärtigung der Schüler zunächst eine symbolisch-bildhafte Vorstellung vor seinem inneren Auge aufbauen und sich dann in diese vertiefen soll.

Ziel aller dieser Übungen ist zum einen die oben angedeutete Durchdringung des Gedankenlebens mit intensiven Gefühlen und Willensenergie, und zum andern die Schulung der Fähigkeit, sich denkend in Vorstellungen zu bewegen, die nicht unmittelbar aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen. Dieses »sinnlichkeitsfreie« Denken hatte schon in Steiners philosophischen Schriften eine zentrale Rolle gespielt, sollte dort jedoch nicht durch angeleitete Visualisierungstechniken, sondern durch abstraktes philosophisches Denken geschult werden. Aber trotz dieses Unterschieds hat Steiner daran festgehalten, dass der 1894 beschriebene philosophische Weg der Beobachtung des Denkens und der 1904 dargestellte Pfad der Meditation letztlich dasselbe Ziel verfolgen. So schrieb er im Vorwort zur Theosophie von 1904:

Wer noch auf einem anderen Wege die hier dargestellten Wahrheiten suchen will, der findet einen solchen in meiner Philosophie der Freiheit. In verschiedener Art streben diese beiden Bücher nach dem gleichen Ziele. Zum Verständnis des einen ist das andere durchaus nicht notwendig, wenn auch für manchen gewiß förderlich (TH, XIII).

Neben der Meditation wird die »Konzentration« in WE als eigene Kategorie mehrfach erwähnt, ohne freilich von der Meditation begrifflich scharf getrennt zu werden. Konkrete und spezifische Konzentrationsübungen, wie Steiner sie später an anderer Stelle gegeben hat, lassen sich hier kaum ausmachen. Zwar liegt auf der Hand, dass Steiners allgemeine Hinweise auf Übungen der Gedankenkontrolle sowie über das Absuggerieren bestimmter Wahrnehmungen unter diesen Begriff fallen; auch kann davon ausgegangen werden, dass die Konzentration von der Meditation insofern nicht streng getrennt werden kann, als die oben beschriebenen Imaginationsübungen dem Schüler ein gutes Maß an Konzentrations- und Achtsamkeitsfähigkeit abverlangen. Für eine genauere Unterscheidung jedoch müssen weitere Texte hinzugezogen werden. In den Anweisungen für eine esoterische Schulung wird z. B. eine konkrete Konzentrationsübung beschrieben: Der Meditierende hat sich eine konkrete und einfache Vorstellung vorzunehmen und daran bestimmte Gedanken zu knüpfen, die in der Natur der Sache liegen, etwa: woraus besteht der Gegenstand, wie wird er hergestellt, wozu benutzt usw. Ziel der Übung ist, auf diesen bewusst und gezielt hervorgebrachten Gedanken zu verweilen und dem Bewusstsein keinerlei Ablenkung oder Abschweifung zu gestatten. Somit kann die Konzentration als eine Technik der Durchdringung des Denkens mit dem Wollen verstanden werden, wie ja die Meditation sich bereits als eine solche Durchdringung des Denkens mit dem Fühlen dargestellt hat.

Ein weiteres charakteristisches Element des Schulungsweges neben solchen Übungen der Meditation und Konzentration ist die systematische Aneignung bestimmter Charaktereigenschaften und innerer Gewohnheiten. Eine solche Verknüpfung von kognitiver und moralischer Entwicklung findet sich auch in den Darstellungen des theosophischen Pfades, allerdings mit anderen Schwerpunkten. Wenn Blavatsky, Besant oder Leadbeater von der Bedeutung der moralischen Entwicklung sprachen, hatten sie oft die aus Indien stammende Vorstellung der sogenannten »siddhis« im Sinn. Darunter verstanden sie geheime magische Fähigkeiten, welche der Schüler sich durch seine innere Schulung aneignet, etwa die Fähigkeit seinen Körper zu verlassen, durch Wände zu sehen oder materielle Objekte durch Geisteskraft manipulieren zu können. Solche magischen Fähigkeiten spielten in der frühen Geschichte der Theosophischen Gesellschaft eine große Rolle, etwa wenn die Briefe der geheimnisvollen »Meister« an Madame Blavatsky oder A. P. Sinnett sich auf mysteriöse Weise wie aus dem Nichts materialisierten. Eine solche Beherrschung und Manipulation der Naturgesetze, so argumentierten die theosophischen Texte, könne gefahrlos nur von Menschen mit fortgeschrittener ethischer Entwicklung gehandhabt werden. – Für Steiner hingegen hat die Charakterschulung nichts mit solchen magischen Kunststücken zu tun, sondern sie ist direkt und ausschließlich auf die Erkenntnisschulung bezogen. Zum einen werden bestimmte Gruppen von Charaktereigenschaften oder »Tugenden« der Entwicklung ganz bestimmter astraler und ätherischer Organe, ja sogar bestimmter einzelner »Blütenblätter« einer bestimmten »Lotusblume« zugeordnet. Zum andern benennt Steiner gewisse Auswirkungen der meditativen Arbeit, die sich schädlich auf den Menschen auswirken können, wenn nicht die Arbeit am eigenen Charakter ein positives Gegengewicht schaffe. Beispiele solcher »Gefahren« der Schulung sind etwa die Dissoziation der Seelenkräfte des Vorstellens, Fühlens und Wollens (WE, 188 ff.) oder die in SE erwähnten schädlichen Einflüsse aus der elementarischen Welt (SE, 235). Der Hinweis auf einen direkten und unmittelbaren Einfluss der Charakterschulung auf die Entwicklung konkreter höherer Erkenntnisorgane ist eine originale Leistung Steiners; sie war den Theosophen fremd und niemand geringerer als Leadbeater wies Steiners Konzeption öffentlich zurück.

Eine weitere Unterscheidung, die sich in WE und SE so noch nicht findet, dann aber in Steiners Mitteilungen an seine esoterischen Schüler eine große Rolle spielt, ist diejenige in sogenannte »Hauptübungen« und »Nebenübungen« (siehe Anhang). Unter »Hauptübungen« hat Steiner später bestimmte Meditations- und Konzentrationsübungen verstanden, die der Übende zu bestimmten Zeiten des Tages in immer gleicher Form durchzuführen hat. Als »Nebenübungen« hingegen wird die Praxis beschrieben, sich bestimmte Elemente der Charakterschulung vorzunehmen (eine der »sechs Eigenschaften«, der »acht Seelenvorgänge« oder der »Monatstugenden«) und diese dann nicht nur zu meditieren, sondern für einen gewissen Tag der Woche oder einen bestimmten Monat des Jahres konsequent im praktischen Leben umzusetzen. Diese Trennung in Haupt- und Nebenübungen ist inhaltlich in WE vorgebildet, indem dort zwischen Übungen der Meditation und Konzentration einerseits und solchen der Charakterbildung deutlich unterschieden wird.

 

Die Stufen und Inhalte des übersinnlichen Bewusstseins

Vor dem Hintergrund dieser in WE ausgearbeiteten Konzeption des »Schulungsweges« schildert Steiner in SE in systematischer Weise die verschiedenen Formen der durch Meditation erzeugten höheren bzw. übersinnlichen Erkenntnis als Trias von »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition«. Diese kam so dem Begriff nach in den Aufsätzen von 1904/05 noch nicht vor, ist aber der Sache nach dort bereits angelegt.

Die Fähigkeit zur imaginativen Erkenntnis, deren Inhalte als bildhafte, aber nicht unmittelbar auf Eindrücken der sinnlichen Wahrnehmung beruhende und somit gewissermaßen von der Einbildungskraft hervorgebrachte Bewusstseinsinhalte charakterisiert werden, bringt Steiner primär mit der Ausbildung der astralen Sinne (den »Chakren« oder »Lotusblumen«) in Verbindung. Der Charakter des imaginativen Bewusstseins ist nach Steiner der auf der Sinneswahrnehmung beruhenden gewöhnlichen Erkenntnis noch sehr ähnlich, und ein großer Teil der Beschreibungen der Phänomene des imaginativen Bewusstseins in WE besteht in der Beschreibung von Formen und Farben. Die »Gedankenformen« etwa (WE, 112 u. 124), die »Flammenbildungen« (WE, 52 ff.), die »Lotusblumen« (WE, 113 ff.) oder die »Aura« (WE, 10) des Menschen fallen in diese Kategorie. Innerhalb der Farbentsprechungen, mit denen Steiner die Inhalte der imaginativen Erkenntnis charakterisiert, lässt sich eine Systematik erkennen, die im Wesentlichen derjenigen folgt, die von Annie Besant und Charles Leadbeater in den Schriften Thought Forms und Man Visible and Invisible vorgegeben worden war. Diese wiederum entspricht weitgehend den Vorgaben, die H. P. Blavatsky in ihrer Schrift Secret Doctrine formuliert hatte.

Während Steiner in den frühen Fassungen von WE der Praxis Besants und Leadbeaters folgte, die Inhalte des imaginativen Bewusstseins als Form- und Farbwahrnehmungen zu schildern, so als handle es sich um ein tatsächliches »Sehen«, ging er in späteren Ausgaben dazu über, solche Vergleiche als »Illustrationen« zu charakterisieren, die nicht als »Beschreibungen« zu verstehen seien. In der Imagination »sehe« man nicht wirklich Farben oder Formen, betont Steiner ab 1914 immer wieder, auch werde in der Inspiration nicht im buchstäblichen Sinne »gehört«; vielmehr handle es sich um bestimmte geistig-seelische Wahrnehmungen, die jenen subtilen Empfindungen gleichen, welche die visuelle und auditive Wahrnehmung der gewöhnlichen Sinne zu begleiten pflegen. Genau gesprochen seien Imaginationen also nicht dem Sehen vergleichbar, sondern dem, was bei entsprechender Sensibilität während der Sehwahrnehmung seelisch erlebt werden kann. (In SE erweitert Steiner dieses Konzept dahingehend, dass die höheren Wahrnehmungen auch Geschmacks- oder Geruchsähnlichkeit aufweisen können.)

Ähnliches kann auch von den »Inspirationen« gesagt werden, die Steiner im Wesentlichen auf die Sensibilisierung und Ausbildung des ätherischen Organismus im Menschen zurückführt. Sie werden, im Gegensatz zu den bildartigen Inhalten der Imagination, als klangartig bzw. sprachartig und somit mehr in der Zeit verlaufend als sich im subjektiven Raum ausbreitend beschrieben. Steiners Metaphern für die inspirative Wahrnehmung als das »Lesen einer geheimen Schrift« bzw. als Vernehmen der »wahren Namen der Dinge« erinnern zunächst an jene Mystifizierungen, in die H. B. Blavatsky ihre Offenbarungen gern einkleidete, etwa indem sie ihre Schriften als Übersetzungen und Kommentare geheimer Texte ausgab, die ihr von den »Meistern« durch Gedankenübertragung mitgeteilt worden seien oder die sie an verborgenen Orten in Tibet kennen und auswendig gelernt haben wollte. Wer aber den steinerschen Text genau liest, stellt bald fest, dass dessen Formulierungen, bei aller Ähnlichkeit im Wortlaut, in eine völlig andere Richtung gehen. Das Entziffern der »geheimen Schrift« erweist sich bei Steiner als nichts anderes als das »Lesen« innerhalb der Inhalte des imaginativen Bewusstseins, d. h. als das allmähliche Verstehen und Zusammenhang-Stiften innerhalb jener Wahrnehmungen, die in der reinen Imagination so zusammenhanglos dastehen, wie die Buchstaben eines Wortes in einer Sprache, die wir nicht verstehen. Wie also in der imaginativen Erkenntnis nicht wirklich »Farben« gesehen werden, so werden auch in der inspirativen Erkenntnis nicht wirklich »Worte« oder »Namen« gehört; vielmehr handelt es sich um subtile geistige Prozesse, welche innerhalb der Inhalte des imaginativen Bewusstseins so Sinn und Zusammenhang stiften, wie die gewöhnliche Begriffsbildung innerhalb der Welt unserer an sich zusammenhangs- und bedeutungslosen sinnlichen Wahrnehmungen.

Und dann ist da noch die dritte Kategorie der höheren Erlebnisse, die sogenannte »Intuition«. Diese wird von Steiner nun nicht mehr einem bestimmten Organ oder Organsystem zugeordnet; ihr Charakter sei vielmehr mit dem zu vergleichen, was der Volksmund meint, wenn er von einem aufmerksam zuhörenden Menschen sagt, dass er »ganz Ohr« sei. In der Intuition erkenne der Mensch nicht mehr anhand eines bestimmten Organs, sondern werde vielmehr selbst ganz und gar Organ. Als ein solches, ganz Organ gewordenes Wesen, tauche der Mensch in der Intuition in dasjenige ein, was er jeweils gerade erkennt und schaue es somit von innen an bzw. sei dieses Erkannte selbst, ohne freilich seine Eigenständigkeit als Erkenner aufzugeben.

Anders als die Begriffe der Imagination und Inspiration, die in SE zum ersten Mal als termini technici erscheinen, hatte Steiner den Begriff der Intuition bereits in seinen Frühschriften in extensiver Weise verwendet. Sowohl im epistemologischen wie im ethischen Teil der Philosophie der Freiheit wird von »Intuition« gesprochen; zunächst als der allgemeinen Form, in welcher ein begrifflicher Inhalt im Menschen auftrete, dann spezieller als eine besondere Form gedanklicher Wahrnehmung, in der die ansonsten immer getrennt auftretenden Grundfaktoren des Erkennens bzw. Wollens identisch sind, nämlich als »Zusammenfallen von Wahrnehmung und Begriff« in der gedanklichen bzw. als »Identität von Motiv und Triebfeder« in der moralischen Intuition (vgl. Einl. zu SKA 2). In dieser speziellen Form wird der Begriff auch in den erkenntnischulischen Texten verwendet, nämlich als Auflösung des Gegensatzes zwischen Erkennendem und Erkenner bzw. als Identität des Erkenners mit dem Erkannten.

Betrachtet man die Konzeption der drei höheren Erkenntnisstufen aus systematischer Perspektive, so schildert Steiner sie oft (allerdings noch nicht in den Texten dieses Bandes) im Sinne goethesch-morphologischen Denkens, nämlich als drei Steigerungen oder »Metamorphosen« der Grundkräfte des gewöhnlichen Seelenlebens. Die Imagination erweist sich dann als ein verwandeltes bzw. auf eine höhere Stufe gehobenes Vorstellen, die Inspiration als ein gesteigertes Fühlen und die Intuition als Metamorphose des gewöhnlichen Wollens. An anderen Stellen hingegen werden die drei Stufen in Hinblick auf denjenigen Aspekt der Wirklichkeit charakterisiert, über den sie dem Menschen etwas mitteilen. So schreibt Steiner in SE, dass der Mensch durch Imagination die Wirklichkeit als eine Welt von Gegenständen, durch die Inspiration als eine solche von Vorgängen und Prozessen und durch die Intuition als eine von Wesen bevölkerte wahrnehme (SE, 280). Solche Hinweise dürfen freilich nicht so aufgefasst werden, als sollten durch die verschiedenen höheren Bewusstseinsformen verschiedene Seinsarten in ontischem Sinne etabliert werden. Für den Monisten Steiner ist es immer die eine Wirklichkeit, die sich im menschlichen Bewusstsein in die Phänomene des sinnlichen, des imaginativen, des inspirativen und des intuitiven Bewusstseins auseinanderlegt. Auch die verschiedenen drei-, vier-, sieben- oder neungliederigen Modelle menschlicher Wesensglieder oder alles Reden von verschiedenen Welten (der »physischen«, »ätherischen«, »astralen«, »geistigen« usw.) ist bei Steiner immer unter dem Gesichtspunkt jenes strengen Monismus zu fassen, den er in seinen philosophischen Schriften zum Ausdruck gebracht und niemals fallen gelassen hat. Was er 1901 in seiner Mystik-Schrift im Zusammenhang mit der paracelsischen Wesensgliederlehre geschrieben hat, findet auch auf seine eigenen epistemologischen, anthropologischen und ontologischen Stufenmodelle Anwendung:

Nichts anderes will Paracelsus mit diesen sieben Grundteilen der menschlichen Natur zum Ausdruck bringen als Thatsachen des äusseren und inneren Erlebens. Dass in höherer Wirklichkeit eine Einheit ist, was sich für die menschliche Erfahrung als Vielheit von sieben Gliedern auseinanderlegt, das bleibt dadurch unangefochten. Aber gerade dazu ist die höhere Erkenntnis da: die Einheit in allem aufzuzeigen, was dem Menschen wegen seiner körperlichen und geistigen Organisation im unmittelbaren Erleben als Vielheit erscheint. (MA, 90)

 

Konsequenzen der inneren Schulung

Die Schlusskapitel von WE bestehen in der Schilderung verschiedener Auswirkungen der meditativen Schulung, z. B. auf das Traumleben des Schülers oder auf den Zusammenhang der drei seelischen Grundkräfte des Vorstellens, Fühlens und Wollens. Außerdem beschreiben sie die Konfrontation des meditierenden Menschen mit dem eigenen Selbst während der Einweihung, und zwar diesmal in mythisch-dramatischer Form als Begegnung mit den beiden »Hütern der Schwelle«.

Zunächst wird in aller Ausführlichkeit die Veränderung des Traumlebens beschrieben, wobei Steiners Darstellung in vielen Details mit Leadbeaters Schrift On Dreams korrespondiert, freilich ohne dass diese als Quelle benannt wird. Im Verlauf der Schulung, so Steiner, würden die Träume des meditierenden Menschen allmählich immer zusammenhängender und bedeutungsvoller. Die fragmentarischen, symbolisch verschlüsselten Bildern und Episoden des gewöhnlichen Traumlebens, die sich zudem meist auf die körperliche Verfassung bzw. auf Geschehnisse in der unmittelbaren Umgebung des Schlafenden bezögen, würden allmählich zu sinnvoll zusammenhängenden Vorstellungen, mit deren Hilfe man sich innerhalb der Traumwirklichkeit ebenso sicher orientieren könne wie im Wachleben mittels der gewöhnlichen Vorstellungen innerhalb der physisch-sinnlichen Wirklichkeit. Außerdem könne der Übende sich nach und nach immer besser an immer größere Partien seines Traumerlebens erinnern und erwerbe schließlich die Fähigkeit, während des Träumens gewissermaßen wach zu bleiben. So ergebe sich eine Art »Kontinuität des Bewusstseins« und der Übende lerne gewissermaßen in seinen Träumen ebenso zu »lesen« wie durch die Inspiration in den Inhalten des imaginativen Bewusstseins.

Eine zweite gravierende Konsequenz der Schulung besteht in der sogenannten »Spaltung der Persönlichkeit«. Mit diesem Begriff sind freilich keine psychopathologischen Zustände wie Schizophrenie oder dissoziative Persönlichkeitsstörungen gemeint. Steiner selbst verstand unter »Persönlichkeitsspaltung« die Dissoziation der drei das gewöhnliche Bewusstsein (und somit auch die »Persönlichkeit«) konstituierenden Grundkräfte des Vorstellens, Fühlens und Wollens. Die natürlichen, sozial und biologisch bedingten Verbindungen und Interdependenzen, die im gewöhnlichen Seelenleben zwischen diesen Seelenkräften bestehen, lösen sich nach Steiner durch meditative Übungen auf und beschwören so die Gefahr herauf, dass die derart freigelassenen Seelenkräfte den Meditierenden übermannen und ihn der Kontrolle über sich selbst berauben. Je nach persönlicher Veranlagung könne ein solcher Mensch dazu kommen, seine Impulse nicht mehr kontrollieren, seiner Umgebung keine Sympathie mehr entgegenbringen, in völlige seelische Abhängigkeit von anderen geraten oder aus dem Gefängnis seiner eigenen Gedankenwelt nicht mehr herauskommen zu können. In heutiger Sprache könnten wir vielleicht sagen: der Meditierende steht in der Gefahr, psychopathologische Symptome auszubilden. Da sich für diese Darlegungen keine Pendants in der theosophischen Literatur nachweisen lassen, kann man sie als eigenständigen Beitrag Steiners auffassen, die er im Rahmen seiner Deutung des goetheschen Märchens ausgebildet hat (vgl. dazu Steiners Interpretation dieses Textes Goethes Geistesart, besonders des Motivs der »Verwandlung der drei Könige«).

Der inhaltliche und dramatische Höhepunkt von WE erfolgt dann in den letzten beiden Kapiteln, in denen Steiner die in der Meditation angestrebte Konfrontation des Übenden mit dem eigenen Selbst in Form der Begegnung mit den beiden »Hütern der Schwelle« darstellt. In Form des ersten oder »kleinen« Hüters, so Steiner, trete dem Übenden ein Bild seiners eigenen seelisch-charakterlichen Organisation entgegen, d. h. die Gesamtheit seiner psychischen Eigenschaften und Veranlagungen, Triebe, Bedürfnisse, Wünsche, Vorstellungen, seine charakterlichen »Fehler« und »Vorzüge« usw. Theosophisch gesprochen: er »schaut« seinen »Astralleib« in Gestalt einer gewaltigen und furchterregenden Imagination. Und was sich im Anschauen dieses Selbstbildnisses an »Inspirationen« ergeben kann, formuliert Steiner als wortgewaltigen Monolog des Hüters an den Schüler. Und so führe dieser im besten freudschen Sinne »un-heimliche« Doppelgänger dem Menschen in Bild und Wort das ganze Ausmaß seiner eigenen Unvollkommenheit als moralischer Mensch vor das innere Auge und zeige ihm, was alles noch an Charakterschulung (und, nach Steiner, an ausgleichender Karmaarbeit) geleistet werden muss, damit all diese ›Flecken‹ in seinem Charakter verschwinden können.

Während die Begegnung mit dem ersten Hüter in vieler Hinsicht einen unheimlichen und furchterregenden Charakter hat und einer klassischen mythischen »Höllenfahrt« gleichkommt, gestaltet sich die Konfrontation mit dem zweiten oder »großen« Hüter nach dem Muster einer traditionellen Engelsvision oder Gottesschau. Denn wie der erste Hüter ein Bild des zu überwindenden niederen Selbst im Menschen war, so gestaltet sich nun dieser zweite Hüter als Spiegelung des eigenen höheren Selbst (ähnlich der höchsten Stufe der »anima« bzw. des »animus« in der Analytischen Psychologie Jungs). Dieser zweite Spiegel hält dem Übenden vor, zu welcher Vollkommenheit er als Mensch veranlagt ist und zu was für einem Wesen sich zu entwickeln die Aufgabe seines Daseins ist. Der große Hüter führt ihm auch noch einmal das eigentliche Ziel der inneren Entwicklung vor Augen, die ja nach Steiner darin besteht, dass der Mensch sich von allen biologischen und sozialen Determinanten seines Denkens und Handelns emanzipiert und somit den Zustand der inneren Freiheit verwirklicht. Damit wird am Schluss des Buches der innere Zusammenhang des steinerschen Schulungsweges mit der Freiheitsphilosophie der früheren Jahre noch einmal deutlich hervorgehoben.

Das Buch schließt damit, dass der Schüler vor eine existentielle Wahl gestellt wird. Wie ein mythischer »Herkules am Scheideweg« muss er sich entscheiden, ob er lieber die Früchte seiner individuellen Befreiung genießen und sich einer rein geistigen Existenz ohne Zwang zur Wiederverkörperung hingeben will; oder aber ob er, nach dem Vorbild eines buddhistischen »Bodhisattwa«, auf diesen seinen persönlichen »Himmel« verzichten und sich bewusst in weitere irdische Inkarnationen begeben möchte, um an dem Ziel der Befreiung aller Wesen mitzuarbeiten. Letzteres sei das eigentliche Ziel der von den Meistern der sogenannten »weißen Loge« angestrebten Methode der Erkenntnisschulung, dessen zeitgemäße Manifestation der anthroposophische Schulungsweg sei; wer hingegen die persönliche Befreiung der selbstlosen Mitarbeit an der Menschheitsbefreiung vorziehe, verlasse den »weißen« Pfad und begebe sich auf den »schwarzen«, deren Anhänger letztlich aus der allgemeinen Strömung der Menschheitsentwicklung ausgeschieden würden.

Forschungslage und Problemzusammenhänge

Soweit unser kursorischer Überblick über die zentralen Inhalte derjenigen erkenntnisschulischen Texte Steiners, die in diesem Band vorgelegt werden. Im Folgenden seien einige der wichtigsten Problemzusammenhänge benannt, welche sich in der kritischen Literatur ausmachen lassen. Diese Literatur ist, wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet, ausgesprochen spärlich. Von anthroposophischer Seite liegt eine Reihe von Darstellungen vor, die jedoch überwiegend den Charakter von Übersichten und Zusammenfassungen haben und auf die inhaltlichen und formalen Probleme der Texte bzw. deren historischen und ideengeschichtlichen Kontext kaum je eingehen. Bezieht man in der erkenntnischulischen Kontext auch Steiners esoterische Lehrtätigkeit und seine erkenntniskultischen Aktivitäten ein, die wir im Materialanhang zu diesem Band skizzenhaft zu dokumentieren versucht haben, muss besonders auf die Arbeiten Hella Wiesbergers hingewiesen werden. Wiesberger hat diejenigen Bände innerhalb der Dornacher Gesamtausgabe, welche diese Aspekte der anthroposophischen Geschichte dokumentieren, ganz entgegen dem sonstigen Usus der GA mit umfassenden Einleitungen und Kommentaren versehen (1997 erweitert und in Buchform erschienen unter dem Titel Rudolf Steiners esoterische Lehrtätigkeit). Dabei hat sie, obwohl sie im Wesentlichen aus binnenanthroposophischer Perspektive und durchweg apologetisch argumentiert, Pionierarbeit für das Verständnis dieser Aspekte der Anthroposophie geleistet.

Die wenigen Untersuchungen von Kritikern der Anthroposophie hingegen befassen sich mit Einzelaspekten und nehmen den gesamten Komplex der anthroposophischen Erkenntnisschulung samt seiner anthropologischen und erkenntnistheoretischen Fundierung kaum je ins Auge. Die einzige umfassende Darstellung des anthroposophischen Schulungsweges findet sich in den erwähnten Darstellungen Wehrs, der zudem eine bemerkenswerte Biographie zu Steiner verfasst und mit der Studie Rudolf Steiner und C. G. Jung eine Pionierarbeit zum Verhältnis von Anthroposophie und Tiefenpsychologie vorgelegt hat. Allerdings schenkt auch Wehr einer ganzen Reihe von ideengeschichtlichen Kontexten anthroposophischer Erkenntnisschulung (etwa den platonischen und aristotelischen Elementen, dem Einfluss des deutschen Idealismus oder auch der theosophischen Theorie und Praxis) kaum Beachtung.

In jüngerer Zeit ist der Schulungsweg im Rahmen der Debatte zwischen Helmut Zander und Lorenzo Ravagli ins Blickfeld des Interesses gerückt worden. Zander geht, sowohl in seiner formalen Analyse wie auch in seiner inhaltlichen Bewertung, ausgesprochen hart mit Steiner ins Gericht. Er sieht in den erkenntnisschulischen Texten eine Sammlung disparater, unorganisierter und unabgeschlossener Theoriefragmente, die Steiner sich im Zuge seiner Rezeption theosophischer Literatur ab 1902 in unsystematischer Weise angeeignet habe und die daher voller innerer Widersprüche und Inkonsequenzen seien. Auch sieht er Steiner nicht als genuinen Mystiker, der aus eigener geistig-seelischer Erfahrung heraus sprach und seine Erlebnisse in die Bilder und Denkformen traditioneller abendländischer und orientalischer Mystik kleidete, sondern als Eklektiker und Plagiator, der seine Texte aus heterogenen Versatzstücken zusammenstückte, um sich als Esoteriker und spiritueller Lehrer mit der Fähigkeit zu eigenständiger »höherer Erkenntnis« zu profilieren. Auf der Basis derart erschlichener Pseudoautorität, so Zander, habe Steiner seine Schüler »psychoinvasiven« Praktiken ausgesetzt, ohne jedoch selbst irgendwelche substantielle Meditationserfahrung zu besitzen oder auch nur das Geringste von Psychologie zu verstehen. – Auf diesen Versuch einer völligen Desavouierung des anthroposophischen Schulungswegs antworteten Lorenzo Ravagli und Karen Swassjan mit scharfen Repliken und warfen Zander ideologische Voreingenommenheit, manipulative Darstellung und methodisch unsauberen Umgang mit Steiners Texten vor. Beide Arbeiten belegen ihre Kritik an Zander mit zahlreichen und teils überzeugenden Beispielen, sind jedoch von heftiger Polemik geprägt und offenbaren auch ihrerseits ideologische Voreingenommenheit, indem sie auf die von Zander zurecht aufgezeigten formalen und inhaltlichen Probleme der steinerschen Texte kaum je eingehen und so in den Verdacht reiner Apologetik kommen. Eine umfassende ausgewogene Untersuchung der inneren Struktur des anthroposophischen Schulungsweg, seiner Kontexte und seiner Probleme, die ebenso kritisch wie sachgemäß wäre, steht weiterhin aus.

 

Autonomie und Autorität:

Von »Lehrern« und »Meistern«

Ein erstes zentrales Problemfeld unserer Texte ist die Frage nach der Notwendigkeit und Bedeutung einer spirituellen Führung des Schülers während der inneren Entwicklung. In allen Einweihungstraditionen des Ostens und Westens stand, soweit wir das überblicken können, die Schulung der Mysten oder Initianten stets unter der sorgfältigen Anleitung eines Mystagogen, Lehrers oder Gurus, dem der Schüler absolutes Vertrauen und Gehorsam entgegenzubringen hatte. Steiner hingegen hatte in seiner Philosophie der Freiheit das Konzept eines freien autonomen Menschen entwickelt, dessen Ziel darin besteht, sich im Denken und Handeln von jeder äußeren Autorität zu befreien und nur der eigenen »moralischen Phantasie« zu folgen. Damit steht die Frage im Raum, ob und wie es im Lichte eines solchen ethischen Individualismus zu rechtfertigen ist, wenn der anthroposophische Schulungsweg dem Lehrer eine zentrale Rolle zuschreibt. Zwar schwächte der Text von WE im Laufe seiner vielen Revisionen die Bedeutung des Lehrers immer stärker ab, setzte das gedruckte Buch an dessen Stelle und betonte die Autonomie und Unabhängigkeit des Schülers, doch wird das autoritäre Gefälle zwischen Schüler und Lehrer nie völlig aufgehoben. Steiner räumte dies auch ein, gab jedoch zu bedenken, dass dieses Autoritätsgefälle sich von dem eines jeglichen, auch ganz unesoterischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses nicht wesentlich unterscheide: Vertrauen in die Kompetenz des Lehrenden sei schließlich Voraussetzung allen fruchtbaren Lernens (vgl. WE, VI). Kritiker hingegen führen an, dass Steiner die Autorität des Lehrers (und damit letztlich die eigene Machtstellung gegenüber seinen Schülern und Anhängern), trotz aller Bekenntnisse zur Autonomie des Menschen im Aallgemeinen und des esoterischen Schülers im Besonderen, faktisch aufrechterhalten habe.

Hinzu kommt, dass Steiners Behandlung der Autoritätsfrage innerhalb und außerhalb institutionalisierter Schulung offenbar eine unterschiedliche war. Während man sagen kann, dass er in WE zumindest bestrebt war, einen individuellen Schulungsweg zu entwickeln, den jeder Mensch, zumindest ein gutes Stück weit, auch ohne Bindung an bestimmte Personen oder Institutionen gehen kann und der von Autoritätsstrukturen und Geheimhaltungsvorschriften weitgehend befreit ist, hat er innerhalb der institutionalisierten Arbeit, d. h. als Leiter der Esoterischen Schule und als Verantwortlicher für die erkenntniskultische Arbeit (zu beiden Bereichen weiter unten mehr) sowohl am Autoritätsprinzip wie am Geheimhaltungsgebot bis zuletzt strikt festgehalten. Noch verwickelter wird die Sache dadurch, dass unter dem spirituellen »Führer« oder »Lehrer«, von dem unsere Texte sprechen, sowohl ein konkreter Meditationslehrer und -begleiter gemeint sein kann (in dem Sinne wie Rudolf Steiner selbst circa 250 Mitglieder seiner Esoterischen Schule persönlich betreute) oder aber einer der sogenannten »großen Eingeweihten der Menschheit« aus dem Jenseits, von denen Edouard Schuré in seinem Buch Les Grands Initiés (1889) gesprochen hatte (z. B. Krishna, Buddha, Hermes, Jesus oder Sokrates); oder auch einer der theosophischen »Mahatmas« oder »Meister«, einem jener geheimnisvollen Inspiratoren also, welche in Geschichte und Lehre der Theosophie eine so prominente Rolle spielten und bei denen oft nicht klar ist, ob es sich um eine leiblich inkarnierte Persönlichkeit oder ein rein geistiges Wesen handelt. In WE wird wenig Konkretes über die Rolle dieser »Eingeweihten« oder »Meister» gesagt, und das wenige ursprünglich Gesagte wurde im Verlauf der Textentwicklung durch Eingriffe in den Text weiter verhüllt oder ganz gestrichen. Zu seinen esoterischen Schülern jedoch hat Steiner viel und ernst über die »Meister« gesprochen, wodurch ihre generelle Relevanz für ihn und für den anthroposophischen Schulungsweg in ein zweideutiges Licht gerückt wird. Für eine sachliche Diskussion um die Bedeutung des »Lehrers« in der Geheimschulung ist die Verbindung mit der Vorstellung von »Eingeweihten« und »Meistern« ein großes Problem.

Zum Verständnis der Meister-Problematik muss man zunächst wissen, dass die führenden Persönlichkeiten der ersten Generation, H. P. Blavatsky und A. P. Sinnett, prinzipiell die von ihnen vertretenen esoterischen Lehren den »Meistern« zuschrieben. Sämtliche theosophischen Hauptschriften wie Isis Unveiled, The Occult World, Esoteric Buddhism, Secret Doctrine, The Voice of Silence und andere wurden, nach dem Zeugnis ihrer Autoren, mehr oder weniger direkt von »Meistern« diktiert, entweder durch Gedankenübertragung, durch geheimnisvoll sich materialisierende Briefe oder mittels anderer Methoden aus dem spiritistischen Arsenal. Auch der theosophische Schulungsweg wurde in den einschlägigen Texten so geschildert, dass seine Funktion vorzüglich darin bestand, den »chelā« für die Begegnung mit dem »Meister« vorzubereiten. So schreibt etwa Anni Besant in The Path of Discipleship:

[…] the Teacher is watching, is waiting, is desiring to find you, desiring to teach you: that you have the power to draw Him to you, that only you can let Him come. He may knock at the door of your heart, but you must cry out the word that bids Him enter; and if you would follow the path I have traced for you this morning, if step by step you would thus learn control of mind, meditation, building of character, there you would have spoken the threefold word which makes it possible for the Teacher to reveal Himself. When that word is breathed out in the silence of the soul then the Master appears before it, and the Feet of the Guru are found. (Besant (1896), 72 f.)

Steiner hatte, nach seinem Beitritt in die Gesellschaft und in seiner Doppelfunktion als Generalsekretär der deutschen Sektion und Leiter der ihm unterstellten Abteilung der Esoterischen Schule, mit dem theosophischen Lehrgebäude auch diese Meister-Lehre vor den Mitgliedern und vor der Welt zu vertreten. Dies war einerseits eine Hypothek, denn an den »Meistern« oder »Mahatmas« hing sich in der öffentlichen Diskussion viel Kritik (und viel Spott) gegenüber der Theosophie auf. Entsprechend war Steiner in seinen veröffentlichten Schriften, wenn er sich zu diesem Thema äußerte, deutlich zurückhaltender als theosophische Autoren sonst. Andererseits lag die Mahatma-Vorstellung ganz auf der Linie seiner eigenen Äußerungen über spirituelle Führer und »Meister«, von denen er schon vor seinem Beitritt zur Theosophie gesprochen hatte, etwa in seinem Mystik-Buch von 1901 (SKA 5). Außerdem war ihm, nach eigener Aussage, bereits vor 1880 sein eigener persönlicher »Meister« begegnet, also zwei Jahrzehnte bevor er innerhalb der theosophischen Bewegung tätig wurde. Dieser sein »Meister« sei es auch gewesen, so Steiner, der ihn davon überzeugt habe, innerhalb der Theosophischen Gesellschaft zu wirken. »Ich kann dir nur sagen«, schrieb er am 9. Januar 1905 an seine spätere Frau Marie von Sievers, »wenn der Meister mich nicht zu überzeugen gewußt hätte, daß trotz alledem die Theosophie in unserem Zeitalter notwendig ist, ich hätte auch nach 1901 nur philosophische Bücher geschrieben und literarisch und philosophisch gesprochen« (GA 262, 86). (Weitere Details zu Inhalt und Entwicklung der Meister-Vorstellung bei Steiner entnehme man dem Stellenkommentar sowie dem reichhaltigen Material in GA 264.)

Was nun den Text von WE angeht, so tauchen die »Meister« gleich im ersten Aufsatz an prominenter Stelle auf:

Viele glauben, man müsse die Meister des höheren Wissens da und dort aufsuchen, um von ihnen Aufschlüsse zu erhalten. Aber zweierlei ist richtig. Erstens wird derjenige, der ernstlich nach höherem Wissen trachtet, keine Mühe, kein Hindernis scheuen, um einen Eingeweihten aufzusuchen, der ihn in die höheren Geheimnisse der Welt einführen kann. Aber andererseits kann auch jeder sich klar darüber sein, daß ihn der Eingeweihte (1918: die Einweihung) unter allen Umständen finden wird, wenn ernstes und würdiges Streben nach Erkenntnis vorliegt. (WE, 3)

Schon diese kleine Änderung – dass es »die Einweihung« ist, welche den Schüler findet, nicht »der Eingeweihte« – zeigt die grundsätzlich ambivalente Haltung der Schrift gegenüber den theosophischen »Meistern«. Einerseits werden sie eindeutig benannt und ein theosophischer Leser der Texte konnte in allem, was Steiner über die »Eingeweihten« und »geistigen Lehrer« verlauten ließ, durchaus die von Blavatsky und Sinnett beschriebenen Mahatmas wiedererkennen. Auf der anderen Seite wird die Bedeutung dieser »Eingeweihten« im Verlauf der Textentwicklung deutlich zurückgenommen, während die »Einweihung« selbst, d. h. das innere Erleben und die Transformation des Meditierenden, ins Zentrum der Darstellung rückt. Nach der oben zitierten Stelle werden die »Meister« nur noch zwei Mal in WE genannt, und selbst an diesen raren Stellen hat Steiner 1914 den problematischen Titel später entweder gestrichen (WE, 158) oder zu »höheren Wesenheiten« und »Wesenheiten der Geisteswelt« verändert.

Der so revidierte Text wirft eine Reihe von Fragen auf. Zum einen ist nicht mehr ganz klar, ob hier überhaupt noch von »Meistern« in Sinne theosophischer Vorstellungen gesprochen wird oder nicht vielmehr von geistigen Wesenheiten im Allgemeinen (z. B. Engeln und höheren Hierarchien) oder auch von den Seelen verstorbener Menschen. (Steiner hatte mittlerweile, in Anlehnung an theosophische und christlich-mittelalterliche Vorstellungen, eine elaborierte Theorie geistiger Hierarchien entwickelt und sich ausführlich über die Möglichkeit der Kommunikation mit Verstorbenen ausgelassen.) Der bisweilen verwendete Terminus »Eingeweihte« lässt ferner den Schluss zu, dass Steiner hier vielleicht auch die großen Religionsstifter im Auge hatte, die Edouard Schuré in seinem Buch Les Grands Initiés als geistige Führer der Menschheit beschrieben hatte (vgl. etwa die Formulierungen in WE, 148: »Die großen Religionsstifter« usw.).

Zum andern muss der Leser der erkenntnisschulischen Texte sich fragen, wer denn da eigentlich zum Menschen spricht, wenn dieser durch die meditative Schulung die Fähigkeit zur inspirierten Wahrnehmung erlangt. Der Text fährt nämlich folgendermaßen fort:

Alle höheren Wahrheiten werden durch solches »inneres Einsprechen« erreicht. Und was man aus dem Munde eines wahren Geheimforschers hören kann, das hat er durch diese Art in Erfahrung gebracht. (ebd.)

Die Passage wirft tiefgreifende Fragen zur Natur der Inspiration (so wird Steiner später das durch meditative Übung erlangte »innere Einsprechen« nennen) und zur gesamten Konzeption höherer Erkenntnis bei Steiner auf. Sprechen in der Inspiration »die Dinge« selbst zu uns, spricht die »übersinnliche Wirklichkeit«, wie es noch kurz zuvor im Text hieß und wie auch sonst an vielen Stellen in WE und SE zu lesen ist? Oder sind es vielmehr die »Meister« bzw. »Eingeweihten«, die durch das »innere Einsprechen« mit dem Menschen kommunizieren und von denen daher alle »höheren Wahrheiten« herkommen? Bringt die Meditation den Menschen in direkten Kontakt mit der »geistigen Welt« und macht ihn so zum autonomen Erkenner, wie Steiner immer wieder betont; oder macht sie ihn, wie in der theosophischen Schulungskonzeption, nur zu einem geeigneten Instrument, um die »Stimme der Meister« zu vernehmen? Angesichts des Gesamtduktus der Schrift und der Tatsache, dass Steiner die Meister-Vorstellung in WE deutlich zurückgedrängt hat, möchte man annehmen, dass er ersteres im Sinn hatte, dass er also die Meister-Idee als eine Art theosophischer »Altlast« übernahm und dann nach und nach zurückdrängte, indem er nicht länger die persönliche Begegnung mit den Meistern als das Ziel des Schulungsweges darstellte (vgl. das obige Zitat Besants), sondern die Einsicht in deren Existenz als eines seiner Ergebnisse unter anderen darstellte. Andererseits hat Steiner im engen Kreis seiner esoterischen Schüler niemals aufgehört, von den »Meistern« und ihrer Bedeutung zu reden, auch wenn er ab 1913 die östlichen Mahatmas immer seltener erwähnte und in der Regel nur noch von den westlichen Meistern »Meister Jesus« und »Meister Christian Rosenkreuz« sprach. In diesem internen Kreis sprach er weiterhin davon, dass die theosophische und die anthroposophische Bewegung von »Meistern« inspiriert worden seien (GA 264, 354), ja, dass »alles wirklich Große, was geschehen ist bis zur Französischen Revolution« (ebd., 423) von ihnen ausgegangen sei. Und auch von seiner eigenen Tätigkeit als Lehrer sagte er einmal: »Ich kann und darf nur so weit führen, als der erhabene Meister, der mich selber führt, mir die Anleitung gibt.«

Ist somit für Steiner die Tätigkeit der »Meister« darauf beschränkt, als Impulsatoren historischer Ereignisse und spiritueller Bewegungen zu wirken, oder sind sie auch die Quelle jener individuellen Inspiration, zu denen der Mensch durch den Schulungsweg vordringen soll? Befreit der anthroposophische Erkenntnisweg tatsächlich den Menschen von jeglicher Abhängigkeit gegenüber einem Guru und macht ihn zu einem autonomen Erkenner übersinnlicher Wirklichkeit, als welcher er dann, unter anderem, auch Einsicht in das Dasein »hoher Eingeweihter« erhält; oder besteht seine Funktion darin, wie der theosophische »Vorbereitungspfad«, den Menschen für die Begegnung mit dem »Meister« bereit zu machen, dessen Führung er sich dann ohne »ja und aber«, ohne »Pochen auf das eigene Urteil« unterstellt? Der Text von WE lässt beide Lesarten zu, und die Frage wird sich, wenn überhaupt, wohl nur im Kontext einer sorgfältigen Betrachtung von Steiners Gesamtwerk beantworten lassen.

 

Esoterik und Öffentlichkeit

Als weiteres Problemfeld innerhalb der erkenntnisschulischen Texte wäre die deutliche Spannung zu nennen, die besteht zwischen Steiners Anspruch auf Allgemeinheit und Öffentlichkeit des anthroposophischen Schulungswegs einerseits und dem arkanen und in gewissem Sinne auf Elitebildung abzielenden Charakter seiner eigenen esoterischen Arbeit andererseits besteht. Auf der einen Seite zeichnen sich die anthroposophischen Meditationspraktiken gegenüber traditionellen Formen der Initiation dadurch aus, dass sie prinzipiell jedem offenstehen sollen. Selbst vehemente Kritiker wie Zander erkennen an, dass Steiner sich zumindest bemüht habe, die innere Schulung von den »elitären Konstitutionsbedingungen« zu befreien, von der sie traditionell immer geprägt war. Nicht nur in Propheten, Sehern und Visionären, sondern »in jedem Menschen«, insistiert Steiner, schlummere das Potential zur Ausbildung der höherer Erkenntniskräfte; ja, die Entwicklung dieser Kräfte liege in der natürlichen Entwicklung der Menschen und werde früher oder später im Verlauf der menschlichen Evolution zwangsläufig auftreten. Der Schulungsweg ist somit für ihn, wie schon für H. P. Blavatsky, letztlich nichts anderes als eine konsequente Anwendung der biologischen Einsichten Darwins auf die geistige Entwicklung des Menschen, und die meditativen Übungen verstehen sich als eine Hilfestellung zur beschleunigten individuellen Ausbildung von Fähigkeiten, die im Laufe der Zeit auch ohne Schulung in Zuge der menschlichen Evolution notwendig auftreten.

Neben der Forderung Steiners nach allgemeiner Zugänglichkeit zur esoterischen Schulung in der Gegenwart steht eine andere: dass es nämlich an der Zeit sei, jenes esoterisches Wissen, das über Jahrhunderte in den Mysterienschulen und Geheimgesellschaften der Menschheit geheim gehalten worden sei, nunmehr, wenn nicht restlos, so doch weitgehend durch Veröffentlichung allen Menschen zugänglich zu machen. So lesen wir in dem Aufsatz Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse:

Durch die gegenwärtige Art des sich immer mehr ausbreitenden Naturwissens müsste die Menschheit in eine von zwei Verirrungen geworfen werden, wenn nicht eine Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse eintreten würde. Entweder man würde die Möglichkeit einer übersinnlichen Weltanschauung in immer stärkerer Art ableugnen […] Oder die übersinnlichen Fähigkeiten, unbeherrscht durch besonnenes übersinnliches Wissen, müssten als unbewusste, unorientierte, stumpfe Erkenntniskräfte wild wuchern […] Beiden Verirrungen ist nur abzuhelfen durch eine richtige Veröffentlichung des übersinnlichen Wissens. (GA 35, 391-408)

Diesem doppelten Anspruch auf allgemeine Zugänglichkeit und Öffentlichkeit steht entgegen, dass Steiners Ausarbeitung des Erkenntnispfades zeitgleich mit seiner Tätigkeit als Lehrer der Esoterischen Schule stattfand, in der er für die individuelle Betreuung einiger weniger persönlicher esoterischer Schüler verantwortlich war. Hier aber fand ganz gezielte Elitenbildung statt, die Steiner auch nicht verhehlte. Immer wieder sprach er von dem »kleinen Häuflein«, welches durch die theosophische bzw. anthroposophische Bewegung »herangebildet« werden solle, um durch den anstehenden spirituellen Niedergang der Menschheit hindurch das Licht der Erkenntnis in die Zukunft »herüberzuretten« und so zur Keimzelle einer künftigen, höher entwickelten Kulturepoche zu werden. Zudem entwickelte und praktizierte er, im arkanen Raum der Esoterischen Schule, freimaurerisch inspirierte Initiationsrituale und arbeitete auch auf diese Art faktisch an der Formierung einer esoterischen Elite innerhalb der Theosophie und später der Anthroposophie. Und selbst die der Öffentlichkeit zugänglichen Schriften halten, trotz vieler Revisionen des Geheimhaltungsgebots im Einzelnen, grundsätzlich daran fest, dass bestimmte Dinge in der Öffentlichkeit zu sagen dem Esoteriker nicht möglich bzw. erlaubt ist. Über bestimmte Dinge »darf« (ab 1914: »kann«) auch hier nicht gesprochen werden. Die Spannungen zwischen angestrebter Transparenz und faktischer Arkanität, zwischen Öffnungsbestrebung und Elitenbildung werden somit weder in Steiners Praxis noch in seinen Texten vollständig aufgelöst und wird Thema der Auseinandersetzung mit diesen bleiben.

 

Originalität und Homogenität

Ein drittes Grundproblem in den erkenntnisschulischen Texten ist die Frage danach, wie groß Steiners eigene originäre Leistung ist und in welchem Maße er vorhandene Praktiken und Theoreme nur übernahm bzw. modifizierte. Die Kritik hat immer wieder unterstellt, dass die wesentlichen Ideen und Praktiken des anthroposophischen Schulungsweges der zeitgenössischen theosophischen Literatur (Blavatsky, Collins, Besant, Leadbeater) entnommen seien. Auch wurde versucht, die Wurzeln von Steiners Meditationspraxis direkt im Buddhismus und Hinduismus und nicht nur in deren westlichen Adaptionen zu verorten. Das Spektrum der Deutungen geht hier vom Zugeständnis einer produktiven Aneignung bis hin zu Zanders These vom bewusst begangenen und später verschleiert Plagiat.

Tatsache ist, dass Steiner zu Beginn seiner Tätigkeit als esoterischer Lehrer nachweislich auf diejenigen Texte und Praktiken zurückgriff, die in der Theosophischen Gesellschaft in Gebrauch waren und diese erst nach und nach durch eigene Formulierungen und Meditationsformen ersetzte. Dies kann letztlich nicht wirklich überraschen, hatte er doch als führender Vertreter der Theosophie in Deutschland deren Lehre und Praxis gemäß der vorhandenen mündlichen und schriftlichen Tradition zu vertreten. Hilfreich wäre, wenn Schrifttum und Praxis der verschiedenen Esoterischen Schulen sowie die Frage, welche theosophischen Texte Steiner denn nun tatsächlich kannte oder nicht, besser untersucht wären, aber beide Bereiche sind derzeit noch weitgehend unerforscht und Steiners Anspruch auf Eigenerfahrung hängt somit weitgehend an der Glaubwürdigkeit, die man ihm insgesamt als Autor zumisst.

Im Zusammenhang mit Vorwürfen des Plagiarismus und der Eklektizität wird auch immer wieder die Frage nach der Homogenität der erkenntnisschulischen Texte aufgeworfen, und zwar sowohl innerhalb der einzelnen Schriften wie auch zwischen den verschiedenen Darstellungen des anthroposophischen Erkenntniswegs. Im Rahmen seiner Analyse von WE spricht Zander von einer »eklektischen Sammlung von Inhalten ohne klare Konzeption« (607), dem ein »Konglomerat von Intentionen« zugrunde liege und die »working by doing zusammengestückt« (Zander [2007], 581) worden sei. Er sieht die einzelnen Abschnitte als »fast beliebig additierbare Teile« (582) und meint, die Revision von 1914 habe »die disparaten Züge des Buches noch verstärkt« (583). Die spätere Schrift hingegen, Die Stufen der höheren Erkenntnis, sieht Zander nicht als Fortsetzung und Erweiterung, sondern als »erneuten Versuch« und »Neuansatz« (592), in dem sich eine »partielle Ablösung von früheren […] Auffassungen« (593) nachweisen lasse. – Die Analysen Ravaglis und Swassjans hingegen haben sich bemüht zu zeigen, dass der Vorwurf der mangelnden Homogenität, zumindest in der von Zander formulierten vernichtenden Form, den Texten nicht gerecht wird. Ihre teilweise durchaus überzeugende Darstellung des inneren Zusammenhangs scheinbar disparater Passagen wird jedoch dadurch geschmälert, dass sie an kaum einer Stelle bereit sind, tatsächlich bestehende Diskrepanzen, Redundanzen oder Widersprüche im steinerschen Text anzuerkennen. Vielmehr herrscht die überhaupt innerhalb anthroposophischer Literatur zu findende Tendenz, das Buch als Werk aus einem Guss zu sehen und selbst offensichtliche, aus der sukzessiven Entstehungsgeschichte und der späteren Entwicklung des Textes sich ergebende disparate Elemente zu ignorieren.

 

Meditation und Suggestion

Ein letztes allgemeines Problemfeld, das an dieser Stelle noch genannt werden soll, ist die Frage nach den Gefahren der Suggestion und Autosuggestion, die im Zusammenhang mit meditativer Praxis zwangsläufig auftreten. Auf der einen Seite hat Steiner diese Probleme durchaus gesehen und in seinen Texten mehrfach angesprochen. Man kann sogar sagen, dass das Problem der Suggestivität der durch angeleitete Meditation erzeugten Erfahrungen sowie das Thema der sogenannten »Gefahren der Einweihung« Leitmotive sind, die in den erkenntnistheoretischen Texten immer wieder auftauchen. Zander gesteht Steiner zu, dass er das hier vorliegende Problem gesehen habe, meldet jedoch Zweifel an, ob es auch in befriedigender Weise gelöst worden sei (2007 I, 613). Auch Wehr sieht hier Bedarf für kritische Nachfragen. In der Tat ist das Problem für den anthroposophischen Erkenntnisweg in besonderer Weise relevant. Zwar ist in der anthroposophischen Meditation die Gefahr der unmittelbaren Suggestion durch eine anleitende Person nicht so virulent, wie etwa bei mesmeristischen oder magischen Techniken oder wie auch im »praktischen Okkultismus« der ersten Theosophengeneration (vgl. den Abschnitt »Autonomie und Autorität« oben); wohl aber besteht sie durch den konkret-anschaulichen Charakter von Steiners Schilderungen der übersinnlichen Erfahrung sowie in dem Gewicht, das er dem Studium religiöser und mystischer Literatur, insbesondere auch der eigenen anthroposophischen Texte, als Katalysator geistig-seelischer Entwicklung zugewiesen hat. Indem Steiner den meditativen Umgang mit ganz bestimmten imaginativen Vorstellungen zur Bedingung einer erfolgreichen inneren Entwicklung machte, stellt das Problem der Unterscheidung solcher durch Lektüre erworbenen Bilder von selbständig entwickelten imaginativen Vorstellungen eine zentrale Problematik des Schulungsweges dar.

Ausblick

Steiners Entwurf eines anthroposophischen Erkenntnispfades, so hat sich gezeigt, wirft eine Reihe von Problemen und Aporien auf. Diese sind in der bestehenden Literatur meist entweder ignoriert oder für die Demontage von Werk und Person Steiners instrumentalisiert worden. Von den Apologeten der Anthroposophie werden diese Schwierigkeiten meist übergangen oder weggeredet, während Steiners Kritiker sie häufig als Waffen einsetzen, um die für sie im vornherein feststehende Unserioösität des steinerschen Erkenntnisweges und seines Schöpfers aufzuweisen. Eine sachliche Analyse und Würdigung dessen, was in diesen Texten tatsächlich für eine fruchtbare Vermittlung mystisch-meditativer Vorstellungen und Praktiken, sowohl der östlich-asiatischen Kultur wie auch des europäischen Mysterienwesens und der christlichen Mystik, an das moderne Bewusstsein geleistet wurde – und natürlich auch dessen, was misslang, unterblieb oder problematisch ist –, bleibt somit Aufgabe einer künftigen Anthroposophieforschung.

Besonders wichtig in diesem Zusammenhang wäre, und dieser Aspekt fehlt in der bisherigen Forschung fast völlig, Steiners Konzept der Erkenntnisschulung nicht nur im Kontext seiner theosophischen Vorbilder und Quellen zu lesen, sondern auch jene Anregungen mit einzubeziehen, die Steiner in den Schriften der Philosophen des deutschen Idealismus hatte. Auch für Fichte, Hegel und Schelling war die Philosophie nicht bloss eine Wissenschaft, sondern ein systematischer Pfad zur Verwirklichung menschlicher Freiheit durch Schulung und Höherentwicklung des menschlichen Bewusstseins, und der junge Steiner hatte in deren Konzeptionen jahrelang intensiv gelebt und diese tief in sich aufgesogen. Als er dann in die Theosophische Gesellschaft eintrat und die Schriften Blavatskys, Besants und Leadbeaters rezipierte, wird sich seine Interpretation dieser Texte ganz wesentlich an jenen Vorstellungen orientiert haben, die er in seiner Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie ausgebildet hatte. Die Entwicklung des anthroposophischen Schulungsweg dürfte somit, trotz seiner Entstehung im Umfeld der Theosophie, unabhängig von Steiners Idelismus-Rezeption nicht zu verstehen sein.

 

Schulungsweg und Psychotherapie:

Grundzüge einer anthroposophisch orientierten Psychologie

In den obigen Hinweisen auf das Problem der Suggestibilität, in Steiners Deutung des Traumlebens oder der Beschreibung der »Spaltung der Persönlichkeit« ist bereits deutlich geworden, dass die erkenntnisschulischen Schriften Rudolf Steiners auch in psychologischer und psychotherapeutischer Hinsicht hochinteressante Texte darstellen. Steiner selbst ging davon aus, dass sein Schulungsweg dem Menschen dazu verhelfen kann, auch ganz unabhängig von spirituellen oder esoterischen Gesichtspunkten, die Schwierigkeiten und Krisen des Lebens zu meistern und ihm ein Instrument der Selbstverwirklichung an die Hand zu geben. Auch hat er sowohl die freudsche Psychoanalyse wie auch die Analytische Psychologie C. G. Jungs als bedeutende kulturelle Leistungen anerkannt und ihnen in wesentlichen Punkten zugestimmt; und da, wo er Kritik an Freud und Jung übte, stellte er die Anthroposophie als die notwendige Ergänzung bzw. Alternative zu deren Ansätzen dar.

Nichtsdestoweniger ist in der Literatur zum anthroposophischen Schulungsweg deren psychologisch und psychotherapeutisch relevante Dimension bisher weitgehend ausgeblendet worden. Und das nicht ohne Grund, denn trotz der angedeuteten Parallelen zwischen anthroposophischer und tiefenpsychologischer Seelenlehre gingen die Wege Steiners und diejenigen Freuds und Jungs an mehreren Stellen weit auseinander. Zum einen kritisierte der Denker aus Kraljevec die freudsche Fixierung auf die Sphäre der Sexualität als universellem Erklärungsgrund der menschlichen Psychopathologie. Die geistig-kulturelle Tätigkeit des Menschen verstand er nicht als sublimierte Sexualität, sondern begriff vielmehr umgekehrt das Sexuelle als ein verwandeltes Geistiges. Zum zweiten postuliert Steiner, dass das Seelenleben nur unter Berücksichtigung karmischer Zusammenhänge sachgemäß verstanden werden kann. Denn dieses Seelenleben sei nicht nur durch vorgeburtliche und frühkindliche Erfahrungen geprägt, sondern trage zudem in jedem Augenblick auch die karmischem Ergebnisse früherer Inkarnationen und in gewisser Hinsicht sogar die Keime künftiger Lebensstufen in sich. Für Steiner ragen diese vorgeburtlichen und nachtodlichen Faktoren ebenso in das unbewusste Seelenleben des Menschen hinein, wie für Freud das »Über-Ich« und das »Es«. Der dritte und methodisch signifikanteste Kritikpunkt an der Psychoanalyse jedoch ist, dass diese trotz eines prinzipiell richtigen Ansatzes mit »unzureichenden« Erkenntnismitteln« arbeite, indem sie glaube, mit Hilfe des analytischen Verstandes das Seelische in den Blick nehmen zu können. Nach Steiner ist jedoch diejenige Sphäre, in der das eigentliche Seelenleben sich auslebt, dem abstrakten begrifflichen Bewusstsein und somit den analytischen Methoden der traditionellen Psychotherapie prinzipiell nicht zugänglich. Die bloße Analyse des Seelenlebens bzw. der Träume nach freudschem Muster ergreife daher das Seelische als solches überhaupt nicht, sondern nur dessen Spiegelungen im reflexiv-gegenständlichen Bewusstsein. Um aber seelische und geistige Phänomene in ihrer ureigenen Gestalt und somit auch die eigentlichen Ursachen psychischen Leidens in den Blick zu nehmen, bedarf es nach Steiner einer Steigerung und Verwandlung des gewöhnlichen Vorstellens, Fühlens und Wollens durch meditative Arbeit zur Imagination, Inspiration und Intuition.

Ein weiterer Unterschied zwischen Freud und Steiner liegt darin, dass die anthroposophische Seelenkonzeption dem auch der Psychoanalyse zugrundeliegenden dynamischen Verständnis des menschlichen Seelenlebens eine geistige Dimension hinzufügt. Freud hatte tief in die Dynamik der menschlichen Seelenkräfte und -triebe hineingeblickt, wie sie sich gegenseitig verdrängen, maskieren oder substituieren können, war aber dabei grundsätzlich innerhalb der Erlebnissphäre des Seelischen verblieben. Für ihn verwandelt Seelisches sich immer nur in anderes Seelisches oder schlägt in physische Symptome um. Steiners trichotomisches Menschenbild hingegen geht davon aus, dass es ein solches »Umschlagen« auch von geistigen Kräften in seelische gibt und umgekehrt. Aus anthroposophischer Sicht kann somit das eigentlich Seelische ohne ein Verständnis des Geistigen ebenso wenig begriffen werden, wie, nach Freud, die körperliche Symptomatik ohne die seelischen Ursachen. Für dieses »Geistige« aber, für seine ontische Eigenart und seine Verschiedenheit vom bloß Seelischen habe die Psychoanalyse und überhaupt das moderne wissenschaftliche Denken keinen Begriff und kein Organ. Der zentrale Beitrag anthroposophischer Theorie zur modernen Psychologie und Psychotherapie würde somit darin bestehen, ein Bewusstsein für das »Geistige« als übersehener bzw. vergessener Dimension des menschlichen Innenlebens und dessen Verhältnis zum Seelischen und Physischen zu entwickeln. Diese bisher wenig beachtete Dimension des Schulungsweges als Ausgangspunkte einer »spirituellen Psychologie« ist in den letzten Jahren zunehmend in den Horizont des Interesses gerückt, etwa in den Arbeiten von Rudy Vandercruysse und Wolf-Ulrich Klünker. Besonders auf Letzteren beziehen sich die folgenden Darlegungen, welche einige der psychologischen und psychotherapeutischen Implikationen von Steiners erkenntnisschulischen Schriften skizzenhaft umreißen wollen.

Die Eigenart einer auf anthroposophischen Prinzipien beruhenden Psychologie lässt sich exemplarisch am Beispiel der Depression darstellen. Nach Steiners Auffassung kann die Depression als ein Abgeschnittensein des Denkens vom Seelischen verstanden werden, d. h. als Erlebnis der Ohnmacht des »Ich«, die Wirklichkeit des eigenen Vorstellens, Fühlens und Wollens erkennend zu verstehen: »Gefühle, die von Vorstellungen nicht erfaßt werden, sind depressiv«, lesen wir in GA 317, 67, »nur die Gefühle sind nicht depressive Gefühle, die sogleich vom Vorstellungsleben erfaßt werden, wenn sie entstehen«. Nun stellt sich aber die denkende Durchdringung des unbewussten Seelenlebens bei Steiner als eine dem Menschen von seiner Entwicklung her gestellte Aufgabe dar. Wenn diese in der natürlichen Entwicklung liegende Selbsterkenntnis nicht vollzogen wird, dann stellt sich als Resultat das Ohnmachtsgefühl der Depression ein, gewissermaßen als Wahrnehmung der Unfähigkeit, mit Bewusstsein die Wirklichkeit des eigenen Seelischen zu erfassen. Aus Sicht einer anthroposophisch orientierten Psychotherapie wäre also die Depression nicht ausschließlich als unwillkommene Störung zu sehen, die durch Therapie möglichst zu beseitigen ist, sondern zugleich immer auch als ein möglicher Katalysator von Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung, den es zu nutzen gilt. Denn gerade im Erkennen und Aushalten der beschriebenen Erkenntnis-Ohnmacht, so argumentiert Steiner, entwickele die Seele jene Bewusstseinskräfte, die sie über die Ohnmacht letztlich hinausführen. Das individuelle und kollektive Auftreten der Depression kann somit als Symptom eines ganz naturgemäß erfolgenden Weckrufs an den Menschen aufgefasst werden, die im eigenen Wesen liegenden geistig-seelischen Entwicklungsmöglichkeiten zu ergreifen und zu verwirklichen. Ein einseitiges medikamentöses »Wegkurieren« von Symptomen der Depression hingegen könnte den Menschen in bestimmten Fällen der Gelegenheit berauben, sich dieser in seinem eigenen Wesen angelegten Entwicklungsaufgabe zu stellen.

Nun kann das individuelle Erleben der Depression nach Steiner in gewisser Weise mit demjenigen verglichen werden, was die westliche Kulturmenschheit kollektiv seit Ende des 19. Jahrhunderts als allgemeine Erkenntnis- und Kulturkrise der Moderne durchgemacht hat und noch durchmacht. Das individuelle Erleben des depressiven Patienten und die kollektive Erfahrung der Entfremdung des Menschen in der Moderne sind für ihn gleichermaßen Symptome für die Wirklichkeit und Notwendigkeit jenes seelisch-geistigen Entwicklungsschrittes, der im Wesen der menschlichen Natur angelegt ist und dessen bewusste Ergreifung und Beschleunigung im anthroposophischen Schulungsweg angestrebt wird. Dadurch wird dieser zu etwas, das für jeden Menschen Relevanz hat, da sich jeder, bewusst oder unbewusst, willentlich oder unfreiwillig, qua seines Menschseins bereits auf diesem Weg befindet. Was das Individuum als »Depression«, was die Menschheit als »Krise der Moderne« erlebt, ist nach Steiner Ausdruck jener inneren Entwicklungskräfte, die den Menschen aus den Tiefen seines Wesens heraus von seinen früheren instinkthaften Bindungen an Natur und Gesellschaft emanzipieren und ihn gewaltsam zum Erlebnis seiner inneren Freiheit drängen. In dem für die europäische Moderne seit der Aufklärung so charakteristischen inneren Freiheits-Erlebnis, das jedoch mit der schmerzvollen Erfahrung der Entfremdung einhergeht, erlebt somit nach Steiner die Menschheit in der Moderne kollektiv und weitgehend unbewusst dasjenige, was in früheren Zeitepochen während der »Einweihung« künstlich induziert wurde und was heute der Übende auf dem anthroposophischen Schulungsweg selbst durch Meditation bewusst in sich erzeugen soll. Mit Blick auf jenes individualpsychologische Erlebnis, welches in WE im Bild der Begegnung mit dem »Hüter der Schwelle« (WE, 197 ff. sowie 209 ff.) beschrieben wird, spricht Steiner von einem kollektiven und unbewussten »Überschreiten der Schwelle« durch die Menschheit in der Gegenwart (vgl. GA 192, 61 ff.). Die Herausforderung der anthroposophischen Erkenntnisschulung an den Menschen der Gegenwart ist somit im Grunde nicht die: Ob der Einzelne die beschriebene innere Entwicklung will oder nicht; sondern vielmehr die: Ob er diese faktisch sich bereits vollziehende Entwicklung bewusst in die eigene Hand nehmen will oder es dem allgemeinen Evolutionsgeschehen, der »Natur« oder der »Gesellschaft« überlässt, diese Wandlung an ihm zu vollziehen.

Im Lichte solcher Erwägungen wird verständlich, dass in den erkenntnisschulischen Schriften Steiners, wie auch in seiner erkenntniskultischen Praxis, die methodische Heranführung des Menschen an die Grenzen des Erkennens, die bewusste Erzeugung einer künstlichen »Erkenntnis-Ohnmacht«, seinen festen Ort hat. Wenn etwa in WE die innere Haltung der Urteilsenthaltung und die Hervorbringung eines völlig »leeren« Bewusstseins systematisch eingeübt wird oder wenn dem Kandidaten im erkenntniskultischen Ritual die Augen verbunden werden und er blind herumgeführt wird, so kann dies nach Klünker als Herbeiführung einer »künstlichen Depression«, einer bewusst herbeigeführten Impotenz des »Ich« verstanden werden, weil nur und gerade im Erleben dieser Impotenz jene seelischen Kräfte zur Ausbildung angeregt werden, aus denen dem »Ich« die Fähigkeit zur Überwindung seiner Erkenntnis-Ohnmacht erwächst, jene Kräfte also, welche zum imaginativen, inspirierten und intuitiven Erleben führen.

Steiners Korrespondenz mit seinen persönlichen Schülern bestätigt diese Auffassung von der Depression als natürlicher Begleiterscheinung geistig-seelischer Entwicklung. An Mathilde Scholl etwa schrieb er das Folgende, als diese ihm mitgeteilt hatte, dass sie im Verlauf ihrer Meditationspraxis depressive Zustände durchgemacht habe:

Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Solche Erlebnisse sind notwendige Begleiterscheinungen einer wirksamen esoterischen Arbeit […] Es sind unter den deutschen Mitgliedern der theosophischen Gesellschaft nicht viele, die den gleichen Weg gehen, bzw. gehen können; aber alle, die es tun, haben dieselben Erlebnisse wie Sie. Und ich muß diese Erlebnisse als Signum des wirklichen Fortschrittes betrachten. (GA 264, 96)

Als letztes Beispiel der Eigenart einer anthroposophisch orientierten Psychologie und Psychotherapie sei hier noch einmal auf die bereits angesprochenen Gedanken Steiners über die Verwandlung des Traumlebens eingegangen. Wieder zeigt sich zunächst eine große Nähe Steiners zum traditionellen psychotherapeutischen Ansatz und zu Freud, denn beide sehen in der Bewusstmachung des im manifesten Trauminhalt Gegebenen den Königsweg zum Verständnis des Unbewussten. Dann aber tritt das charakteristische anthroposophische Prinzip deutlich hervor, eben nicht das gewöhnliche analytische Denken für ein Verständnis des Bild- und Gefühlshaften einspannen zu wollen, sondern umgekehrt (darin der Methode C. G. Jungs verwandt) die im Gefühl und im Traumbild waltenden Energien als verwandelndes Element in das Denken einzuführen, um dieses von der bloßen Reflexion zum verlebendigten Denken, zur Imagination zu führen. Statt analytisch die verschiedenen Inhalte eines Traumes zu deuten, schlägt Steiner vor, sich auf den Verlauf, auf die »innere Dramatik« des Traumes zu konzentrieren, sich in diesen innerlich so einzuleben, dass diejenige geistige oder seelische Wirklichkeit, die sich da, dem reflexiven Verständnis unzugänglich, im Traum auslebt, ins Bewusstsein des Beobachters treten kann. (Solches Einleben in die Traumdramatik vergleicht Steiner übrigens mit der Übung der Konzentration bzw. Kontemplation, die in der anthroposophischen Meditationspraxis eine prominente Rolle spielt).

Diese skizzenartigen Hinweise zeichnen notwendigerweise in groben Strichen und werden sowohl der Anthroposophie wie den vielfachen Theorien und Methoden moderner Psychotherapie in ihrer Komplexität in keiner Weise gerecht. Sie wollen auch nicht bestimmte psychopathologische Phänomene wie die Depression simplifizieren oder verharmlosen oder gar behaupten, dass traditionelle Methoden der Psychotherapie durch Meditation ersetzt werden könnte. Es sollte lediglich angedeutet werden, in welchem Sinne Steiners Denken beachtenswerte Ansätze zu einem anthroposophischen Seelenverständnisses impliziert und welche grundsätzlichen Impulse aus Sicht eines solchen Seelenverständnisses in den psychologischen und therapeutischen Diskurs der Gegenwart einzubringen wären. Grundansatz der hier angedachten »spirituellen Psychologie« wäre, psychisches Leiden niemals nur als Problem, sondern immer auch als Chance aufzufassen und darauf hinzuweisen, dass die angemessene Reaktion auf solches Leiden nicht in einem bloßen Wegkurieren der Symptome bestehen kann, sondern dass (neben einer eventuell erforderlichen medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung) in bestimmten Fällen auch und gerade die meditative Arbeit mit den Grundkräften des seelischen Lebens gefordert sein könnte, da diese allein die inneren Voraussetzungen für ein wirklichkeitsgemäßes Erkennen derjenigen seelischen und geistigen Wirklichkeiten schafft, in denen alles menschliche Erleben und Leiden letztlich wurzelt.

Die Inszenierung der Einweihung:

Erkenntniskult und Mysteriendrama

Schon die vorstehenden Bemerkungen zeigen, dass das volle Spektrum der anthroposophischen Erkenntnisschulung nicht ins Auge gefasst würde, wenn man nur die in diesem Band abgedruckten Schriften Steiners berücksichtigte und nicht dessen Gesamtwerk. Dies gilt in noch größerem Maße von Steiners Tätigkeit als esoterischer Lehrer. Neben den veröffentlichten Texten hat das anthroposophische Schulungsprojekt weitere, der Öffentlichkeit lange nicht zugänglich gemachte und daher bis heute weitgehend unbekannte Komponenten. Zum einen gab Steiner seinen esoterischen Schülern mündlich und in Briefen persönliche Meditationsanweisungen und Erläuterungen, die zum Teil über das in den veröffentlichten Texten Gesagte hinausgingen. Die Empfänger wurden zudem zu strenger Geheimhaltung des Mitgeteilten verpflichtet und hatten beim Austritt aus der Schule sämtliche Unterlagen und Dokumente zurückzugeben. Außerdem durchlief man für die Aufnahme in die zweite und dritte Abteilung der sogenannten »Esoterischen Schule« ein streng geregeltes Initiationsritual, das sich in Anlage und Inhalten so eng an maurerische Initiationszeremonien anlehnt (und für dessen Nutzung Steiner sich bei dem Freimaurer Theodor Reuß das im Anhang abgedruckte offizielle Diplom einholte), dass wiederholt die Frage aufgeworfen wurde, ob und inwiefern Steiner selbst Freimaurer war.

Indem Steiner diese Elemente in seine esoterische Arbeit aufnahm, folgte er dem Vorbild anderer führender Gestalten der modernen Theosophie. Schon Helena Petrowna Blavatsky und Annie Besant hatten sich der Freimaurerei zugewendet und standen esoterischen Schulen vor, in denen mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf maurerische Rituale zurückgegriffen wurde. Steiner praktizierte die von ihm gestalteten Einweihungsriten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, d. h. ihre Entwicklung und Anwendung fand parallel zur Entstehung der Texte dieses Bandes statt. Danach, im aufgeheizten Klima der Kriegszeit, wurde eine esoterische Arbeit unmöglich und trotz eines wiederholt zum Ausdruck gebrachten Willens zur Wiederaufnahme kultisch-initiatorischer Arbeit nach dem Krieg ist es offenbar nicht dazu gekommen. So blieb die Praxis des Erkenntniskultes ein Intermezzo in der Geschichte der Anthroposophie. Die esoterische Schule hingegen lebte in gewisser Hinsicht gegen Ende von Steiners Leben wieder auf, indem er ab 1920 wieder esoterische Stunden abhielt und im Rahmen der sogenannten Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine Esoterische Klasse einrichtete.

Im Rahmen des vorliegenden Bandes kann auf Steiners Tätigkeit als esoterischem Lehrer sowie auf die beschriebenen Initiationsriten nicht in der wünschenswerten Ausführlichkeit eingegangen werden. Der interessierte Leser mag dazu die Bände 264 und 265 sowie 266–268 der Dornacher Gesamtausgabe konsultieren sowie die Darstellungen bei Wiesberger und Zander und die entsprechenden Hinweise im Stellenkommentar dieses Bandes. Eine allgemeine Kenntnis dieser beiden Tätigkeitsfelder ist jedoch für das Verständnis des Schulungsweges insofern von Bedeutung, als sie den historischen Hintergrund abgeben, vor dem Steiners immer wieder und durch die verschiedenen Fassungen seines Textes verstärkt gemachte Versicherungen über die allgemeine Zugänglichkeit esoterischer Schulung, die rückhaltlose Veröffentlichung esoterischer Inhalte und der Aufhebung des Schweigegebots zu lesen sind. Während die in den erkenntnisschulischen Texten beschriebenen Übungen und Darstellungen in der Tat öffentlich und jedermann über das Medium des Buches zugänglich waren, blieb die esoterische Arbeit mit den persönlichen Schülern sowie die erkenntniskultische Praxis auf einen kleinen internen Kreis beschränkt, wurde von Steiner als einziger Autorität in esoterischen Dingen geleitet und organisiert und öffentlich nicht besprochen. Um aber dem Leser der erkenntnisschulischen Schriften wenigstens eine allgemeine Vorstellung von Steiners Tätigkeit als esoterischem Lehrer und Zeremonienmeister zu geben, sind diesem Band im Anhang eine Reihe von Texten und Dokumenten beigegeben, welche etwas Licht in diesen wenig bekannten Bereich anthroposophischer Wirksamkeit bringen.

Unsere oben gemachte Aussage, dass der anthroposophische Erkenntniskult 1914 faktisch zum Erliegen kam und somit Episode in der Geschichte der anthroposophischen Bewegung blieb, muss freilich in einer Hinsicht eingeschränkt werden. Steiner konzipierte und realisierte zwischen 1910 und 1913 eine Reihe von vier Mysteriendramen, die bis heute regelmäßig im anthroposophischen Milieu aufgeführt werden und die in gewisser Hinsicht als eine Art öffentliche bzw. halböffentliche Fortführung des anthroposophischen Initiationskultus angesehen werden können. In diesen Stücken werden nämlich die inneren geistig-seelischen Vorgänge der Einweihung bzw. die inneren Zustände während der Meditation in ähnlicher Weise in dramatische Handlung umgesetzt wie in den von Steiner praktizierten Initiationsriten. In einigen Fällen entspricht sogar die Gestaltung des Bühnenbildes bis in die Farben der Zimmer und die Position des Mobiliars exakt derjenigen Sakralarchitektur, welche im anthroposophischen Erkenntniskult Verwendung fand. Natürlich ist der fundamentale Unterschied nicht zu übersehen, dass in diesen Dramen die tatsächliche initiatorische Performanz von Schauspielern ausgeführt wird und somit die sinnliche Erfahrung der aktiven körperlichen Involvierung, die in gewisser Hinsicht die besondere ästhetische Qualität des Initiationsritus ausmacht, für den bloßen Zuschauer verloren geht. Die Figuren auf der Bühne werden gewissermaßen stellvertretend für den Zuschauer eingeweiht, wie wir dies auch aus anderen Beispielen europäischen Mysterientheaters kennen, etwa der Zauberflöte, dem Parsifal oder Goethes Faust. Insofern aber die Einweihung wie Steiner sie versteht kein physischer, sondern ein seelisch-geistiger Vorgang ist, kann man davon ausgehen, dass die Vermittlung der eigentlichen Initiations-Erfahrung letztlich nicht an unmittelbare physische Partizipation gebunden ist, sondern auch durch innere Teilnahme an einer theatralischen Repräsentation zumindest graduell realisiert werden kann. Immerhin hat Steiner in seinem Schulungsweg schon dem bloß lesenden Nachvollzug solcher Repräsentationen eine intitiatorische Wirkung zugeschrieben (vgl. Anm. zu WE, 26 »mit den hohen Gedanken«). Und so erscheinen auch die Mysteriendramen Steiners als genuine Form von Erkenntnisschulung und als Ausdruck seines grundlegenden Anliegens, das sich schon in den Schriften von 1901 und 1902 und dann in den Texten dieses Bandes zeigte: nämlich dasjenige, was er für den eigentlichen Gehalt und die wahre Bedeutung der Initiation hielt, jene mystische Erfahrung des »Ich« als innersten Kern der Wirklichkeit, die von früheren Mysterientraditionen ausschließlich an wenige Auserwählte vermittelt wurde, so weit wie möglich einem breiten und öffentlichen Publikum zugänglich oder zumindest verständlich zu machen.

 

Zur sprachlichen Form der erkenntnisschulischen Texte

Ein weiterer Aspekt der erkenntnisschulischen Schriften, der freilich für Steiners Texte insgesamt von Bedeutung ist, betrifft deren sprachliche Form. Die Zeit, in welche Steiner seine ersten Publikationen hineinstellte, war geprägt von einer weitreichenden Skepsis gegenüber der Sprache innerhalb führender Vertreter des geistigen Lebens. In Zuspitzung der seit der Antike formulierten philosophischen Skepsis gegenüber dem menschlichen Denken und Erkennen formulierte sich ein grundsätzlicher Zweifel an der Möglichkeit, durch Sprache innere und äußere Wirklichkeit adäquat wiederzugeben. Symptomatisch für diese Entwicklung schrieb Hugo von Hofmannsthal in seinem programmatischen Chandos-Brief:

Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.

Was so Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als »Sprachkrise« oder »Sprachskepsis« bei Literaten wie Stephan George, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal literartischen Ausdruck fand, wurde von Theoretikern wie Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein sprachtheoretisch und philosophisch reflektiert und führte in der neueren Philosophie und Linguistik zu einem Paradigmenwechsel, der »sprachanalytischen Wende « (linguistic turn), in welcher der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen bzw. Akte eine bis dahin nicht gekannte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Diese »sprachphilosophische Wende« des 20. Jahrhunderts war in ihrem Einfluss auf das neuere Geistesleben vergleichbar der im 18. Jahrhundert durch Kant angestoßenen »kopernikanischen Wende« zur Bewusstseinsphilosophie.

Auch das Werk Rudolf Steiners reflektiert diese um die Jahrhundertwende erwachende vertiefte Sensibilität für die Problematik und die Bedeutung der Sprache als Medium der Wirklichkeitsvermittlung. Schon seine allerersten Veröffentlichungen kreisen oft um das Thema des rechten sprachlichen Ausdrucks für Zusammenhänge, die sich der Sprache im Grunde entziehen, zunächst vor allem im Rahmen ästhetischer Erwägungen. In einem Vortrag des Jahres 1921 formulierte er rückblickend: »Wie man über die Künste reden soll, mit dieser Frage, ich darf es wohl sagen, ringe ich eigentlich mein ganzes Leben hindurch«. In seinen Bemühungen um den rechten sprachlichen Ausdruück für die ästhetische Erfahrung sei er sich vorgekommen wie jemand, »der reden wollte, aber eigentlich stumm ist und durch Gebärden ausdrücken muß, worauf er eigentlich hinzudeuten hat«.

In der Metapher der »Gebärde« wird zugleich angedeutet, wie Steiner sich den Weg zur Überwindung der Sprachkrise vorstellte: Dder sprachliche Akt sollte vom bloßen abstrakten Vermittler eines gedanklichen Inhalts zur künstlerischen Gebärde erhoben werden, d. h. zum sinnlichen Ausdruck eines übersinnlichen Gehalts, der durch die sinnlich-ästhetische Konstitution des gesprochenen Worts selbst zum Ausdruck kommt. Steiner stellt somit die von Ferdinand de Saussure (1857–1913) eingeführte Anschauung von der Bedeutungslosigkeit des sprachlichen Aktes als solchem, welcher die moderne Linguistik und Semiotik entscheidendt geprägt hat, grundsätzlich in Frage. Saussure hatte behauptet, dass die sinnlichen Ausdrucksformen der Sprache (die Signifikanten) als solche nicht Träger irgendeiner Bedeutung seien oder sein könnten, sondern dass sie Bedeutung erst dadurch bekämen, dass sSie als Repräsentanten eines Signifikats, d. h. eines begrifflichen Inhalts fungieren. Steiner hingegen war überzeugt davon, dass die Sprachelemente über diese Verweis- bzw. Repräsentationsfunktion hinaus in ihrer sinnlich-ästhetischen Konstitution auch als solche etwas bedeuten, und dass dasjenige, worauf da durch einen bestimmten Laut oder eine Lautkombination gedeutet sei, nicht »begrifflicher« sondern »geistiger« Natur sei. Ein Einleben in das innere Wesen sprachlicher Akte ist somit für Steiner ein Weg zum Erleben des Geistigen und das Nachdenken über Wesen und Funktion der Sprache gehört demnach wesenhaft zum Themenkreis der anthroposophischen Erkenntnisschulung, auch wenn dieser Aspekt in den Texten dieses Bandes kaum je explizit angesprochen wird.

In dem Aufsatz Sprache und Sprachgeist aus dem Jahr 1922 setzt Steiner den Gedanken der über die Repräsentationsfunktion hinausgehenden Eigenbedeutung des Sprachlichen denn auch deutlich in Beziehung zu erkenntnisschulischen Fragen. Das im »wesenhaften Schauen« Erlebte, so lesen wir hier, entziehe sich zunächst der Versprachlichung. Etwas, das objektiv in der Sprache als solcher lebe und durch sie zum Ausdruck komme, widersetze sich dem, was an innerem subjektivem Erleben durch sie zum Ausdruck gebracht werden soll. Diesen Versuch, das Eigenwesentliche der Sprache zum Mittel des Ausdrucks für etwas der Sprache Fremdes zu machen, beschreibt Steiner als »Kampf mit der Sprache«, der jedoch, im glücklichen Fall, zu einem »lebendigen Verkehr« führe, durch den die Sprache selbst etwas von dem innerlich Erlebten des Sprechers aufnehme und so zu dessen Vermittlungsmedium werden könne.

Man spricht vom Sprachgeiste. Man kann aber nicht sagen, dass viele Menschen heute mit diesem Worte einen anschaubaren Begriff zum Ausdrucke bringen. Es werden allgemeine charakteristische Eigentümlichkeiten in Laut- und Wortbildung, in Satzbau und  Bildergebrauch gemeint, wenn man sich dieses Wortes bedient. Das »Geistige«, das man dabei im Sinne hat, bleibt im Abstrakten stecken.  An etwas, was verdiente, »Geist« genannt zu werden, kommt man doch nicht heran.

Zwei Wege aber kann es geben, um heute den »Sprachgeist« in seiner lebendigen Kraft zu entdecken. Der erste zeigt sich derjenigen Seele, die aus dem bloß begrifflichen Denken zum wesenoffenbarenden Schauen vordringt. Von diesem ist in diesen Aufsätzen oft gesprochen worden. Es ist ein innerliches Erleben einer geistigen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit sollte nicht verwechselt werden mit dem mystisch-unbestimmten Erfühlen eines allgemeinen »Etwas«. Sie enthält nichts Sinnlich-Wahrnehmbares, ist aber doch so inhaltvoll wie dieses.

Wer in dieser Art schaut, der entfernt sich in seinem Schauen von dem, was durch die Sprache ausdrückbar ist. Sein Schauen findet zunächst nicht den Weg zu den Lippen. Greift er zu Worten, so hat er sogleich die Empfindung, dass der Inhalt seiner Schauung etwas anderes wird. Will er nun doch von seinen Schauungen Mitteilung machen, so beginnt sein Kampf mit der Sprache. Er sucht alles mög­liche innerhalb des Sprachlichen zu verwenden, um ein Bild dessen zu gestalten, was er schaut. Von Lautanklängen zu Satzwendungen sucht er überall im Bereich des Sprachlichen. Er kämpft einen harten inneren Kampf. Er muss sich sagen: die Sprache hat etwas Eigen­williges. Sie drückt schon für sich alles mögliche aus; auch du musst erst dich an ihren Eigenwillen hingeben, damit sie aufnehme, was du schaust. Will man das geistig Erschaute in die Sprache giessen, so stößt man eben nicht auf ein unbestimmtes wachsartiges Element, das man beliebig formen kann, sondern man stößt auf einen »lebendigen Geist«, auf den »Geist der Sprache«.

Wenn man auf diese Art redlich kämpft, so kann der Kampf den besten, den schönsten Ausgang nehmen. Es kommt ein Augenblick, wo man fühlt: der Sprachgeist nimmt das Geschaute auf. Die Worte und Wendungen, auf die man kommt, nehmen selbst etwas Geistiges an; sie hören auf, zu bedeuten«», was sie gewöhnlich bedeuten und schlüpfen  in das Geschaute hinein. –- Da tritt etwas ein wie ein lebendiger Verkehr mit dem Sprachgeiste. Es nimmt die Sprache einen persönlichen Charakter an; man setzt sich mit ihr auseinander wie mit einem andern Menschen. (GA 280, 134 ff.)

Neben dieser Befruchtung und Bereicherung des »Sprachgeistes« durch das vom Subjekt innerlich Erlebte beschreibt der Aufsatz noch einen zweiten Weg der Verbindung des Menschen mit der Eigenwesentlicheit der Sprache, und zwar das Phänomen eines Eintauchens des Subjekts in eben diese Eigenwesentlichkeit. So komme man von einem bloß funktionalen Umgang mit Sprache zu einem »Erleben« derselben:

Man ist auf diesem [zweiten] Wege, wenn man Worten oder Satzwendungen gegenüber, die in der Gegenwart schon einen abstrakten Charakter angenommen haben, die ursprüngliche konkrete, frische, anschauliche Bedeutung erlebt […] Man betrachte so Worte wie: gefällig! Welcher Reichtum von inneren Erlebnissen tut sich auf. Wer zum »Fallen« geneigt ist, verliert sein Gleichgewicht; er schaltet sein Bewusstsein aus. Wer einem anderen »gefällig« ist, der gibt sich für einen Augenblick selbst auf; er tritt in das Bewusstsein des andern ein; er hat ein Erlebnis, das der leise Anklang des­jenigen ist, was das »Hinfallen« in Ohnmacht bedeutet.

Wer solche Dinge nicht spintisierend, nicht um geistreiche Bemerkungen für fragwürdige Theorien zu machen, sondern mit gesundem, wirklichkeitsgemässem Sinn erlebt, der muss sich zuletzt das Geständnis machen, dass im Bilden der Sprache Verstand, Ver­nunft, Geist liegt. Ein Geist, den das Bewusstsein der Menschen nicht erst hineinlegt, sondern der im Unterbewusstsein wirksam ist und den der Mensch in der Sprache vorfindet, die er erlernt. Der Mensch kann so dazu kommen, recht zu verstehen, wie sein Geist ein Geschöpf des »Sprachgeistes« ist.

Es kann auf diese Vorstellungen Steiners über das Wesen der Sprache an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden; es war jedoch notwendig, diese Anschauungen hier wenigstens skizzenhaft anzusprechen. Zum einen besteht, wie die oben zitierten Passagen deutlich machen, ein tiefer innerer Zusammenhang zwischen Steiners Sprachverständnis und seinen Vorstellungen über Erkenntnisschulung. Zum anderen eröffnen diese Anschauungen eine ganz neue Dimension für die Deutung bestimmter Formulierungen und, was für die vorliegende kritische Ausgabe seiner Texte von zentraler Bedeutung ist, für die Interpretation von Textrevisionen. Nicht nur auf jene häufig zu findenden Veränderungen in den steinerschen Texten, bei denen der begriffliche Inhalt des Gesagten von der Revision mehr oder weniger unberührt bleibt und denen gegenüber traditionelle, rein auf den begrifflichen Inhalt konzentrierte Interpretationsmethoden somit nicht greifen, fällt hier ein neues Licht. Innerhalb der anthroposophischen Literatur haben sich bereits verschiedene Ansätze herausgebildet, die steinersche Sprache insgesamt unter dem Gesichtspunkt der Hypothese des beschriebenen »Kampfes« mit dem Eigenwesen der Sprache zu untersuchen und somit in den Kontext der erkenntnisschulischen Schriften zu stellen (vgl. dazu Zimmermann [1995] und Sam [2003]). Aus dieser Perspektive lässt sich nicht nur Sprache insgesamt als zentraler Aspekt und als Medium der Erkenntnisschulung auffassen, es wird auch die viel weitergehende Möglichkeit einer anthroposophischen Hermeneutik des Spreachaktes eröffnet, von der aus sich interessante Verbindungslinien zur Linguistik und zur Literaturwissenschaft schlagen ließen. Die Idee einer anthroposopisch orientierten Sprach- und Literaturkritik scheint auf, die jedoch hier nur angedeutet sein kann und an anderer Stelle konkret vefolgt werden soll.

 

Wirkung und Relevanz

Wie steht es nun um die Wirkung von Steiners Experiment einer Deutung, Modernisierung und Veröffentlichung dessen, was er als den Kern des Initiationsmysteriums verstand? Wie reagierte man auf den »Verrat« jenes Geheimnisses, das seiner Auffassung nach über Jahrtausende geheim gehalten und nur in ausgewählten Eliten weitergegeben worden war, und das nun in jedem Buchladen für geringes Geld zu haben sein sollte? Hatte doch Steiner selbst das Vorhaben »Geistesschüler auf den Weg der Entwicklung zu bringen« als zentralen Aspekt seines Lebenswerkes, als seine »Inaugurationstat« bezeichnet. In einem Gespräch, dass Alexander Strakosch mitgeteilt hat, soll er das folgende, eher resignierte Resümee gezogen haben:

Wissen Sie, woher die Schwierigkeiten in der [Anthroposophischen] Gesellschaft kommen? […] Sie kommen daher, daß nicht eine genügend große Zahl von Menschen die Stufen der höheren Erkenntnis erreicht hat, die in dem Buche »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« beschrieben sind. Als die geistige Welt mir den Auftrag erteilt hatte, dieses Werk zu schreiben, da hatte sie erwartet, daß viele Menschen so weit voranschreiten würden. […] Es ist das Erwartete nicht eingetreten. Die geistige Welt wirft von Zeit zu Zeit die Angel aus. Es ist diesmal nichts daran hängengeblieben.

War und ist solche Skepsis angebracht? Die Tatsache, dass heute Ausstellungen wie »Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart« und »Die Alchimie des Alltags« eine zahlreiche nicht-anthroposophische Besucherschaft anziehen, und dass heute eine Ausgabe wie die vorliegende in einem wissenschaftlich-philosophischen Fachverlag erscheinen kann, zeigt, dass Steiners Resignation vielleicht weniger begründet war, als er selber glaubte. Schon zu seinen Lebzeiten finden sich deutliche Spuren einer Auseinandersetzung mit WE bei führenden Vertretern der künstlerischen Avantgarde, etwa bei Franz Kafka oder Wassily Kandinsky. In der Nachkriegszeit wurde Joseph Beuys einer der führenden deutschen Künstler, die offen über ihre tiefgehende Beziehung zur Anthroposophie sprachen. Und in den 80er und 90er Jahren waren es vor allem die Bücher Michael Endes, einem der meistverkauftesten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, in denen sich zahlreiche Einflüsse anthroposophischen Denkens nachweisen lassen, besonders auch Vorstellungen aus den Texten dieses Bandes. (Außerhalb der deutschen Literatur wären an dieser Stelle auch Owen Barfield, Andrej Belyi, Saul Bellows und andere zu nennen.) Die künftige Forschung wird zweifellos weitere Beispiele dafür erbringen, dass an der von Steiner ausgeworfenen »Angel« durchaus einige Geister »hängenblieben«, und darunter nicht wenige Vertreter von Kunst und Literatur.

Auf der anderen Seite waren, wie wir oben bereits anzudeuten suchten, die Gewässer, in denen Steiner da angelte, denjenigen so unähnlich nicht, in welchen die Pioniere der modernen Psychotherapie fischten. Neben der pädagogischen und der künstlerischen wird daher aus gutem Grund heute auch die »psychotherapeutische Dimension der Anthroposophie« (Klünker 2003) zunehmend in den Blick genommen. Die Affinität der anthroposophischen Erkenntnisschulung zu ausgerechnet diesen beiden Strömungen – zur modernen Kunst und zur Psychotherapie – ist sicher kein Zufall. Waren doch alle drei Richtungen Kinder des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und stellten allesamt den Versuch einer Antwort auf jene geistige und kulturelle Krisenzeit dar, welche wir als die Geburt der Moderne bezeichnen. Wenn wir daher heute nach der Relevanz der anthroposophischen Erkenntnisschulung für die Gegenwart fragen, dann sind nicht nur die Historiker, Philologen und Theologen, sondern auch und vielleicht mehr noch die Künstler, Psychologen, Therapeuten und Meditationspraktiker dazu aufgerufen, den von Steiner vor knapp einem Jahrhundert ausgeworfenen Köder aufzugreifen und die Probe aufs Exempel zu machen: ob und in welcher Weise jene Anschauungen und Praktiken, die Steiner zunächst von den Theosophen übernahm und dann allmählich durch Anknüpfung an westlich-neuzeitliche Vorstellungen in den anthroposophischen Erkenntnisweg verwandelte, auch heute noch Relevanz für die Kultur und das Leben haben. All diesen theoretischen und praktischen Ansätzen will die vorliegende textkritische Edition der erkenntnisschulischen Schriften Steiners einen bisher schmerzlich vermissten philologischen Schlüssel an die Hand geben.

 

Zur Textentwicklung

 

Zur Textentwicklung von Wie erlangt man Erkenntnisse

Zur Entwicklung der in diesem Band veröffentlichen Texte lagen bisher zwei Untersuchungen vor. Martina Maria Sam veröffentlichte 1996 in den Beiträgen zur GA (Nr. 116) einen kurzen Artikel mit dem Titel Zur Editionsgeschichte von »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«. Darin geht sie auf einige wenige Änderungen in den Auflagen von 1914 und 1918 ein und beschreibt diese im Wesentlichen als Klarstellungen und Verdeutlichungen des in früheren Ausgaben bereits Gesagten. Insgesamt gelte: »Weniges nur wurde gestrichen, einiges erweitert« (64). Die Neuauflage von 1918 hingegen enthalte »wenige Änderungen«. Über die Auflagen von 1907, 1909 und 1910 schreibt Sam, dass sich »rein textlich gesehen« gegenüber der Erstausgabe von 1904/05 nichts ändere, und auch die Auflagen von 1919, 1920 und 1922 werden gegenüber derjenigen von 1918 von Sam als »unveränderte Neuauflagen« (65) bezeichnet.

Die zweite Darstellung ist diejenige Helmut Zanders in seinem Buch Anthroposophie in Deutschland. Zanders Analysen sind wesentlich umfangreicher und kritischer als die kurzen Hinweise Sams. Auch widerspricht er ihrer Auffassung, dass die Änderungen von 1914 nur als Verdeutlichungen und Klarstellungen aufzufassen seien; vielmehr liege hier eine »fundamentale Revision« früherer Positionen (596 ff.) vor. Darüber hinaus werden Beispiele angeführt, die zeigen, dass auch die von Sam als »unverändert« bezeichneten Auflagen durchaus inhaltliche Änderungen aufweisen. Die wichtigen Änderungen von 1918 allerdings blendet Zander aus, obwohl Sam auf diese hingewiesen hat. Überhaupt hat Zander, wie er selbst einräumt, eine detaillierte Durchsicht aller vorhandenen Auflagen nicht vorgenommen und sich auf die von ihm als »antitheosophisch« charakterisierte Überarbeitung von 1914 konzentriert.

Die folgende skizzenhafte Darstellung der Textentwicklung aller neun Auflagen zeigt, dass Sam zurecht auf die Auflagen von 1914 und 1918 als diejenigen verwiesen hat, in denen umfassende Umarbeitungen vorgenommen wurden, dass aber auch die von ihr als »unverändert« bezeichneten Auflagen durchweg inhaltliche Veränderungen aufweisen, wenn auch meist geringfügiger Art. Ferner zeigt sich, dass sowohl die Charakterisierung der vorgenommenen Eingriffe als bloße »Klarstellung« (Sam) wie auch Zanders Rede von einer »fundamentalen Revision« (Zander) gleichermaßen die Eigenart der hier vorliegenden Änderungen unzureichend beschreiben. Steiner nimmt in der Tat tiefgreifende Änderungen vor, in denen er versucht, das traditionelle Konzept der auf Autorität, Ritual und Gemeinschaft beruhenden »Einweihung« in dasjenige eines den Bedingungen der Moderne entsprechenden individuellen »Schulungsweges« zu verwandeln. Dabei verliert sich nach und nach die ursprünglich theosophische Prägung der Bilder und Begriffe und das spezifisch anthroposophische Konzept von Meditation wird allmählich herausgebildet. Die grundlegende Idee einer Verwandlung des Bewusstseins durch systematische Übung des Denkens, Fühlens und Wollens bleibt jedoch in allen Auflagen die gleiche. Wie schon in der Philosophie der Freiheit von 1894 ist auch in den verschiedenen Auflagen von WE die Beobachtung der eigenen seelisch-geistigen Tätigkeit die »allerwichtigste« Erfahrung, die der Mensch machen kann, denn nur in der Anschauung dieser Tätigkeit ist nach Steiner »ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann.« Und wie schon in den philosophischen Frühschriften besteht in allen Darstellungen der Erkenntnisschulung deren letztliches Ziel im praktischen Zweck der Verwirklichung individueller Freiheit. In der »Luftprobe« etwa (WE, 79) beweist der Übende jene Fähigkeit, die in der Philosophie der Freiheit als »moralische Phantasie« bezeichnet wurde, nämlich »die dem Handeln zugrunde liegenden Vorstellungen (Beweggründe) […] von sich aus bestimmen zu können« (PF, 208); und der »Hüter der Schwelle« kündigt ihm am Ende der Schrift an, dass er sich nunmehr aus aller durch biologische, psychologische und soziale Determinanten bedingten Unfreiheit herausgearbeitet hat: »[…] nun kannst du als ein Befreiter alle deine Genossen in der Sinnenwelt mitbefreien« (WE, 217). Wie für den Philosophen Steiner bleiben auch für den Theosophen und den Anthroposophen die Erkenntnisfrage und die Freiheitsfrage die beiden »Wurzelfragen des menschlichen Seelenlebens«, welche insofern untrennbar zusammengehören, als die Freiheit dem Menschen nicht ohne weiteres einfach gegeben ist, sondern von der Hervorbringung eines besonderen gesteigerten Bewusstseinszustandes abhängig gemacht wird. Der Weg zu dieser Freiheit ist freilich in den Jahren 1904/05 ein anderer als der philosophische von 1894; hier wird das Denken nicht nur beobachtet, sondern, zusammen mit dem Fühlen und dem Wollen, durch meditative Übung verstärkt und transformiert. Und wie der »philosophische Pfad« selbst, der sich in den drei Auflagen von 1894, 1918 und 1921 in vielfacher Hinsicht verändert hat, durchläuft auch die Darstellung des »meditativen« Weges, wie im Folgenden deutlich werden soll, einige deutlich identifizierbare Metamorphosen.

 

Die 1. Auflage (Aufsatzfolge in »Lucifer Gnosis«) von 1904/05

Der Text von WE erschien ursprünglich als Serie von 16 Aufsätzen in der von Steiner herausgegebenen Zeitschrift Lucifer-Gnosis (erstes Heft, No. 8: Lucifer mit der Gnosis). Die Aufsätze erschienen sukzessiv in den Ausgaben von No. 13 (Juni 1905) bis No. 28 (September 1905), obwohl mit der Wendung »Schluß folgt« das Ende der Serie schon am Ende des 4. Aufsatzes (und dann nochmals am Ende des 5. und 6.) angekündigt worden war. Inhaltlich knüpften die Aufsätze an das letzte Kapitel der Theosophie von 1904 an, wo Steiner den »Pfad der Erkenntnis« bereits geschildert hatte. Diese erste Fassung des Schulungsweges beinhaltete aber im Wesentlichen nichts anderes als diejenigen Charakterübungen, welche schon Annie Besant als die sogenannten »sechs Eigenschaften« geschildert hatte und die sich auch in den Texten dieses Bandes wiederfinden (vgl. WE, 125 f. sowie SE, 235 f.).

Steiners Aufsätze greifen den knappen Übungskatalog der Theosophie auf und erweitern ihn zunächst durch eine Reihe von allgemeinen »Bedingungen« zur Geheimschulung sowie durch konkrete Meditations- und Konzentrationsübungen. Außerdem werden mit den Begriffen »Vorbereitung«, »Erleuchtung« und »Einweihung« drei konkrete Stufen des Schulungsweges unterschieden und beschrieben. Damit scheint das Projekt zunächst abgeschlossen und Steiner kündigt Ende des vierten Aufsatzes denn auch den Abschluss der Reihe an. Doch dann geht er weiter und beschreibt in weiteren Aufsätzen ausführlich den inneren Aufbau der höheren Wesensglieder des Menschen (Astralleib und Ätherleib). Außerdem zeigt er, wie sich diese unter dem Einfluss der meditativen Arbeit und der Charakterschulung verändern. Davon war in der Theosophie, in der Steiner seine Fassung der theosophischen Wesensgliederlehre zum ersten Mal systematisch dargestellt hatte, noch nichts zu lesen gewesen. Die abschließenden Aufsätze konstituieren dann einen dritten Teil; dieser behandelt die Veränderungen, welche durch die Meditations-, Konzentrations- und Charakterübungen im Wachbewusstsein und im Traumleben des Menschen vor sich gehen und kulminieren in der Beschreibung der Begegnung mit der wahren Natur des eigenen Selbst, ein Ereignis, das bildlich als Begegnung mit den zwei sogenannten »Hütern der Schwelle« geschildert wird. Im letzten Aufsatz wird dann eine Fortsetzung der Artikelserie angekündigt, die Steiner jedoch so nie geliefert hat, wenngleich SE in gewisser Hinsicht als Ersatz für die angekündigte Fortsetzung gelten kann.

 

Die 2. Auflage (Sonderdruck-Sammelheft) von 1907/08

In den Jahren 1907 und 1908 wurden die von Steiner verfassten Texte der Lucifer-Gnosis als Sonderdruck-Sammelhefte der Zeitschrift noch einmal herausgegeben. Farbe und Größe der Hefte sowie das doppelspaltige Format wurden beibehalten. Änderungen betreffen vor allem die Orthographie: Neben zahlreichen Wechseln in der Groß- und Kleinschreibung und der Verwendung von Umlauten findet man andere Trennungen bzw. Zusammenschreibungen von Worten und bisweilen veränderte Schreibweisen, z. B. »Devahan« statt »Devachan« (WE, 171). Auch in der Interpunktion finden sich zahlreiche Eingriffe. Das Layout wurde überwiegend beibehalten, doch wurden einige ursprünglich getrennte Aufsätze zusammengefasst und an zwei Stellen wurden Absätze aufgehoben. Verschiedene Druckfehler der ersten Ausgabe wurden korrigiert, während einige neue sich eingeschlichen haben.

Inhaltlich finden sich wenig Änderungen, und diese reflektieren vor allem den neuen Charakter des Textes als nunmehr vollständige Schrift. Interne Verweise auf Steiners Theosophie sind aktualisiert und nennen Verleger und Nummer der neuen Auflage von 1908. Andere Eingriffe sind vor allem stilistischer Natur, so etwa die Aufhebung des Sperrdrucks an einigen Stellen. Substantielle Änderungen des 1904/05 Gesagten gibt es nicht, doch sind einige der Eingriffe gravierend genug um davon auszugehen, dass es sich um Korrekturen Steiners handelt und nicht um Versehen oder eigenmächtige Eingriffe eines Setzers.

 

Die 3. Auflage (erste Buchauflage) von 1909

1909 erschien mit der 3. Auflage die erste Buchausgabe des Textes. Trotz des neuen Mediums wurde der Spaltensatz von 1907 übernommen, wodurch sich das kleine Format des Bändchens erklärt: Die ursprünglichen Halbspalten der Zeitschrift füllen jetzt jeweils eine ganze Seite. Der Zeilenumbruch ist weitgehend identisch mit derjenigen der 1. und 2. Auflage und es finden sich nur wenige orthographische Abweichungen zur Auflage von 1907. Die meisten dieser Änderungen reflektieren den Wechsel von der Artikelserie zum Buchmedium: Interne Hinweise wie »in dieser Zeitschrift«, »im nächsten Hefte« sind gestrichen bzw. verweisen jetzt auf frühere oder spätere »Kapitel« statt auf »Aufsätze«. Ebenso ändert sich die Selbstcharakterisierung als »öffentliche Zeitschrift« zu der als »öffentliche Schrift« (WE, 66). Ebenfalls hinzu kommt eine stärkere Gliederung des Textes durch zusätzliche Kapitelüberschriften. Inhaltliche Änderungen betreffen die Streichung einer kurzen Passage und einer editorischen Fußnote; ferner ist an einigen Stellen der ursprüngliche Sperrdruck aufgehoben worden. Als einziger bedeutsamer Zusatz wäre die Hinzufügung der Vorrede zu nennen, in der sich zum ersten Mal eine zusammenfassende Rechtfertigung der Schrift findet.

 

Die 4. Auflage von 1910

Die 4. Auflage, die ein Jahr später erschien, folgt in Satz und Layout ihrer Vorgängerin, so dass auch in diesem Bändchen immer noch der ursprüngliche Halbspaltensatz aus Lucifer-Gnosis zu erkennen ist. Druckvorlage war aber offensichtlich nicht die 3., sondern die 2. Auflage, denn der Druck weist eine Reihe von auffallenden Fehlern und Streichungen auf, die er mit der 2., nicht aber mit der 3. Auflage gemeinsam hat. Erwartungsgemäß finden sich auch in diesem Druck zahlreiche Änderungen der Groß- und Kleinschreibung, anders gesetzte Bindestriche und Abkürzungen, abweichende Schreibweisen und einige unabsichtliche Worttrennungen. Zudem sind einige Auszeichnungen gestrichen bzw. verändert und die bis dahin uneinheitliche Auszeichnung von Fußnoten durch Nummern und Asterixe wurde vereinheitlicht.

Inhaltlich besteht die bedeutendste Neuerung der neuen Ausgabe in einer ganzen Reihe von neuen bzw. geänderten Kapitelüberschriften. Obwohl diese neuen Überschriften den Text sinnvoller gliedern und erläutern, wurden sie weder in die 5. Auflage noch in irgendeinen Folgedruck übernommen und fehlen bis heute in den Ausgaben der Dornacher Gesamtausgabe. Nur in eine Sonderausgabe von 1995, die von Martina Maria Sam herausgegeben wurde, sind sie aufgenommen worden. Im Übrigen wurde, wie in allen Auflagen, die Auflagennummer der im Text erwähnten Theosophie aktualisiert, außerdem wurde in verschiedenen internen Verweisen der Begriff »Teil« durch »Kapitel« ersetzt.

 

Die 5. (5.-7.) Auflage von 1914

Bei der folgenden 5. Auflage von 1914 kann zu ersten Mal von einer wirklichen Umarbeitung des Textes gesprochen werden, sowohl inhaltlich wie im Hinblick auf Satz und Layout. Der charakteristische Halbspaltensatz der Erstausgabe wird aufgegeben und der Satz füllt nun die Seiten des Bandes ganz aus. Druckvorlage dieser Edition war offenbar die 3. Auflage von 1909; dies zeigt sich an einer Reihe von Übereinstimmungen und auch an der Tatsache, dass die neuen Kapitelüberschriften der 4. Auflage nicht übernommen wurden. Warum Steiner selbst die Überschriften von 1910 wieder aufgegeben hat, ist nicht klar; Sam vermutet, dass vielleicht kein Exemplar der 4. Auflage zur Hand war und lehnt die anscheinend von manchen Interpreten vertretete These zurück, dass Steiner vielleicht bewusst kein Inhaltsverzeichnis mehr wollte, um nicht durch zu starke Strukturierung des Inhalts einer rein analytischen Rezeption Vorschub zu leisten.

Den Veränderungen im Äußerlichen entsprechen vielfache und tiefgreifende Eingriffe in den Inhalt des Textes. Die 5. Auflage reflektiert die fundamental neue Situation, in der sich Steiner und die von ihm geführte, gerade erst aus der Taufe gehobene Anthroposophische Gesellschaft sich im Jahre 1914 befanden. Zum Jahreswechsel 1912/13 hatte sich die von Steiner geführte deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft von ihrer Muttergesellschaft losgesagt und die Anthroposophische Gesellschaft war gegründet worden. Während Steiner in den bisherigen Auflagen bemüht gewesen war, die eigene Theoriebildung und Terminologie an die Vorstellungen und Redeweisen der vorhandenen theosophischen Literatur anzupassen, sah er sich nunmehr genötigt, zum Behufe der Profilierung der Anthroposophie Unterschiede zwischen seinen eigenen Positionen und denen führender theosophischer Autoritäten in Sachen Schulungsweg (Blavatsky, Besant, Leadbeater, Collins) hervorzuheben. Selbst da, wo er von theosophischen Positionen sachlich nicht abwich, suchte er die an indischen Vorbildern orientierte Terminologie der theosophischen Standardtexte durch europäische Äquivalente oder begriffliche Neuschöpfungen zu ersetzen.

Die institutionelle und theoretische Abgrenzung von der Theosophie war jedoch nur die eine Front, an der Steiner bei der Umarbeitung seines Textes kämpfte; die Texte legen die Vermutung nahe, dass er sich auch gegen Kritik zu wehren hatte. Wie diese Kritik im Einzelnen lautete und woher sie kam, sei es von Seiten der beiden Großkirchen, der kritischen Öffentlichkeit oder aus dem Lager der Anhänger und Schüler Steiners, kann derzeit aufgrund fehlender Quellenarbeit nicht genau bestimmt werden. Steiners Verteidigung jedoch legt nahe, dass die Kritik derjenigen ähnlich war, welche noch heute die Verlautbarungen kirchlicher und staatlicher Stellen gegenüber esoterischen und sektenartigen Gruppierungen prägt. Man stieß sich offenbar daran, dass die Schulung sich im Geheimen abspielte und somit nicht transparent war; ferner unterstellte man anscheinend, dass sich die esoterischen Schüler gegenüber dem in seiner Autorität unanfechtbaren spirituellen Lehrer, d. h. gegenüber Rudolf Steiner, in ein Verhältnis der Abhängigkeit begaben, in welchem zwischen Bewusstseinsschulung und Manipulation nur schwer zu unterscheiden ist. Manche Formulierungen legen nahe, dass auch von innen, d. h. von Seiten seiner eigenen Schüler, manche Kritik an Steiners Autorität und seiner Lehrpraxis gekommen war.

Die Textentwicklung der 5. Auflage ist von diesem Kampf an mehreren Fronten gekennzeichnet. Trotz der steinerschen Versicherung in der neuen Vorrede, »alle wesentlichen Glieder« und »Haupttatsachen« der Darstellung seien »so geblieben, wie sie waren«, finden sich massive und umfangreiche Eingriffe in den Text. Während Zander vor allem Abgrenzungsversuche von der Theosophie konstatiert (er nennt diese Auflage auch die »antitheosophische«), konzentrieren sich die Änderungen auf mindestens drei weitere Kernbereiche: 1. die Abkehr von der (vor allem in den ersten Aufsätzen noch durchscheinenden) Vorstellung von der Einweihung als fest bestimmtem, auf Gemeinschaft, Geheimhaltung und Lehrerautorität getragenem Ritual hin zur Idee eines flexiblen, frei zugänglichen, von Autorität unabhängigen und die Individualität und Autonomie des Schülers wahrenden modernen Schulungsweges, 2. das Ringen um eine adäquate Form für die sprachliche Vermittlung seelischer und geistiger Phänomene und 3. die Präzisierung der spezifisch anthroposophischen Meditationspraktiken. Im Folgenden sollen die in diesen vier Bereichen vorgenommenen Änderungen kurz skizziert werden.

 

1. Vom Einweihungsritus zum individuellen Schulungsweg

In den früheren Ausgaben der Aufsatzreihe, besonders in den allerersten Aufsätzen des Jahres 1904, beschrieb Steiner die Einweihung noch als einen an bestimmte Personen, Orte und Riten gebundenen und genau festgelegten Vorgang. Dabei orientierte er sich offenbar an traditionellen Vorstellungen über das antike Mysterienwesen, von dem er ja selbst in seiner Schrift Das Christentum als mystische Tatsache ein konkretes historisches Bild zu rekonstruieren versucht hatte. Die Einweihung sieht hier dem Ablauf des antiken Mysterienkults (bzw. der steinerschen Rekonstruktion desselben) noch sehr ähnlich. Der Schüler, so lesen wir hier, habe sich in eine »Geheimschule« zu begeben, in welcher, wenn er denn »der Einweihung gewürdigt« (WE, 62) werde, bestimmte »Geheimlehrer« »Forderungen« an ihn stellten und in denen er dann dieses oder jenes »zu vollziehen« habe. Die Einweihung stamme, so heißt es dort weiter, aus einer mysteriösen »Geheimüberlieferung« (WE, 30), finde in bestimmten, vor der Welt verborgenen »Tempeln« statt und sei von einer geheimen Gemeinschaft von Eingeweihten getragen, die als »Orden« gekennzeichnet wird und die durch einen »Wall« streng von der Welt getrennt sei (WE, 4; 16).

Von diesen Vorstellungen rückt der Text nach und nach ab, nicht erst in späteren Auflagen, sondern schon in der ersten Fassung von 1904/05, je weiter die Aufsatzserie voranschritt. An ihre Stelle trat zunehmend die Konzeption eines modernen Schulungswegs, der von jedem individuell und überall praktiziert werden kann. In der 5. Auflage wird dann die Sprache auch der ersten Aufsätze durchgehend dem neuen Konzept angepasst. Statt von »Geheimschulen« spricht Steiner jetzt von »Geheimschulung«. Der Schüler »begibt« sich nicht mehr in eine »Geheimschule«, sondern »lässt sich ein« auf die Schulung (WE, 107). Aus der »Aufnahme« in eine Schule wird der »Antritt« der Schulung (WE, 96) und die »Geheimlehrer« heißen nun »Berater«, »Lehrer des geistigen Lebens«, »Kenner der Geheimwissenschaft« oder »geistig Geschulte«, die statt strenger »Forderungen« und »Anweisungen« jetzt »Ratschläge« und »Empfehlungen« geben. Nicht mehr die Lehrer selbst sind jetzt die »Stütze«, auf die der Schüler sich verlassen soll, sondern was diese sagen, »kann eine Stütze sein« (WE, 48). Und aus dem geheimnisvollen »Orden«, der diese Lehrer verbindet, ist ein »geistiges Band« geworden (WE, 4).

Der reduzierten Rolle des Lehrers in der geistigen Schulung entspricht eine zunehmende Betonung der Autonomie des Schülers. Für bestimmte Stufen der Einweihung müsse dieser nicht länger eine »Zulassung erlangen«, sondern erreiche diese Stufe durch sein »Verständnis« des in Frage kommenden Sachverhalts (WE, 17). Er wird nicht länger vom Lehrer zu bestimmten Dingen »verpflichtet«, sondern fühlt sich von sich aus verpflichtet dazu (WE, 39). Er muss sich nicht länger »an einen Geheimlehrer wenden«, sondern sich lediglich »zur Geheimschulung entschließen« (WE, 30) und die Verpflichtung auf die Grundstimmung der Devotion, welche in der Erstauflage am Beispiel der Verehrung eines Menschen illustriert worden war, wird nun ausdrücklich zur Devotion »gegenüber Wahrheit und Erkenntnis« (WE, 5 f.; 8). Die Anweisungen zur Meditation müssen jetzt nicht mehr von einem persönlichen Lehrer kommen, sondern können auch aus einem geisteswissenschaftlichen Buch stammen (WE, 30) bzw. ergeben sich von selbst im Verlauf des Übens. Und die Quelle dieser Lehren ist nicht länger eine mysteriöse geheime Überlieferung, sondern die »Schule des geistigen Lebens«, über die »jeder sich klar wird, der sie richtig anwendet« (ebd.).

Auch das Konzept der Geheimhaltung erfährt eine Veränderung. Hatte Steiner zuvor stets betont, dass bestimmte esoterische Vorstellungen geheim gehalten werden müssten, so verschiebt sich das traditionelle Schweigegebot der alten Mysterien immer mehr in Richtung des Gedankens, dass das Esoterische sich selbst vor unberufenen Augen und Ohren schützt. Das zeigt sich etwa, wenn bestimmte über das im Buch Gesagte hinausgehende Inhalte, deren Mitteilung 1904 noch als »unmöglich« charakterisiert wurde, sich nunmehr bloß als »schwer verständlich« (WE, 66) darstellen. Und wo zuvor betont wurde, dass bestimmte Anweisungen nur durch persönliche mündliche Mitteilung vermittelt werden könnten, wird nunmehr versichert, das im Buch Gesagte führe »durchaus in die wirkliche Geheimschulung« ein (WE, 128). Zudem wird der exzeptionelle und elitäre Charakter der Einweihung entschärft, indem das frühere Ziel des Eingeweihten, zu einem »Führer des Menschengeschlechts« zu werden, soweit herabgestuft wird, dass er nunmehr zur Befreiung der Menschheit nur noch »beizutragen« habe (WE, 219).

Die Deinstitutionalisierung der »Einweihung« zum »Schulungsweg« und ihre Entkopplung von Lehrer, Institution und Ritus zeigt sich auch an anderen Aspekten der Schrift. So heißt es etwa im Zusammenhang mit dem Erlernen der sogenannten »geheimen Schrift« zunächst, dass der Schüler sich einem »Unterricht« in ebenjener Schrift »unterwerfen« müsse. Später hingegen heißt es schlicht, dass diese Schrift sich dem Kandidaten auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung wie von selbst »enthüllt« (WE, 69) bzw. »sich wie selbstverständlich ergibt« (WE, 175). Vom » Kundalinī-Feuer« wurde zunächst behauptet, es bilde einen »Gegenstand der Geheimschulung«, die nur mündlich weitergegeben werden könne; aber 1914 lesen wir, diese geistige Wahrnehmungskraft könne vom Übenden im Verlauf der Schulung »allmählich verstanden« werden (WE, 166). Die berühmten Proben während der Einweihung werden in der Erstauflage dem Schüler noch »vorgeführt«, während sie sich ihm nunmehr schlicht »ergeben« bzw. er sie »erkennen lernt« (WE, 67). Und statt dass ein Eingeweihter ihm bestimmte Aufgaben »stellt« oder »gibt«, fühlt er sich nunmehr von innen heraus »vor eine bestimmte Aufgabe gestellt« (WE, 73). Er wird auch nicht mehr für »geeignet befunden«, sondern ist schlicht »reif geworden« (WE, 80). Aus der alten Idee einer Initiation unter Anleitung eines spirituellen Führers wird so nach und nach ein Weg der Selbsteinweihung des gut informierten und daher weitgehend autonomen Schülers.

 

2. Vom »Hellsehen« zur

Phänomenologie des übersinnlichen Bewusstseins

Ein zweiter großer Bereich der Änderungen, die Steiner 1914 vorgenommen hat, ist die Suche nach dem passenden sprachlichen Ausdruck für diejenigen Erlebnisse, die während bzw. als Ergebnis der meditativen Übungen gemacht werden können. Wo es zunächst in undifferenzierter Weise hieß, bestimmte Farben oder Formen würden »wahrgenommen« oder »gesehen«, differenziert Steiner jetzt dahingehend, dass er von subtilen Empfindungen spreche, welche denjenigen gleichen, die der Mensch bei der sinnlichen Wahrnehmung habe – die aber eben nicht mit dieser gleichzusetzen seien. Wenn etwa von einer bestimmten Wahrnehmung früher gesagt wurde, sie werde zu einer Art Flamme, so heißt es nun, sie werde »als eine Art Flamme empfunden« (WE, 52). Von einer anderen Wahrnehmung hieß es zuvor, dass sie »glimme«; nun lesen wir, sie werde »als glimmend empfunden« (WE, 83). An zwei Stellen schiebt Steiner zudem ausführliche Paragraphen ein, welche die früheren Formulierungen als uneigentliche Rede einstufen und den Unterschied zwischen äußerer und innerer bzw. »sinnlicher« und »übersinnlicher« Wahrnehmung zu verdeutlichen suchen.

In ähnlicher Weise ändert Steiner auch die Art, wie er die Organe des astralen und ätherischen Lebens beschreibt. Wo es früher hieß, die Lotusblumen »befänden sich« in dieser oder jener Körpergegend, lesen wir nun, sie würden da oder dort »geistig wahrgenommen« (WE, 113). Ein weiterer erläuternder Texteinschub erklärt, auch das »Drehen« der Lotusblumen sei als bildhafte Ausdrucksweise zu verstehen und nicht wörtlich zu nehmen. Bestimmte astrale Wahrnehmungen, die zuvor als »tierische bzw. menschliche Gestalten« beschrieben worden waren, sind nun solche, die der Schüler »als tierische bzw. menschliche empfindet« (WE, 152). Insgesamt herrscht die Tendenz, sämtliche Beschreibungen übersinnlicher Phänomene als uneigentlich und bildhaft auszuweisen und stets davor zu warnen, sich von der Konkretheit und Bildlichkeit nicht dazu verführen zu lassen, die beschriebenen seelisch-geistigen Erlebnisse im naiven Sinne als Objekte oder Dinge misszuverstehen.

Neben dieser allgemeinen Neubestimmung der Natur der »höheren« Wahrnehmung werden auch im Einzelnen einige Korrekturen vorgenommen. So korrigiert bzw. konkretisiert Steiner einige seiner Farbangaben, die er in früheren Ausgaben gemacht hatte. So wird etwa die Wahrnehmung jenes inneren Bildes, das während der Pflanzenmediation (WE, 55) erarbeitet werden soll, nicht mehr als »grünlich« und »gelblich«, sondern als »grünlichblau« und »gelblichrot« beschrieben.

 

3. Von der Theosophie zur Anthroposophie

Ein dritter Bereich von Änderungen in der Auflage von 1914 betrifft die Abgrenzung von bestimmten Inhalten und Sprachformen der Theosophie. Statt von »okkulten«, »höheren« und »göttlichen« spricht Steiner jetzt zunehmend von »geistigen« Tatsachen, Welten oder Wirkungen. Theosophische Termini wie »Astralkörper«, »Ätherkörper« und »Mentalkörper« werden jetzt systematisch durch »Astralleib« und »Ätherleib« oder durch Begriffsschöpfungen wie »Seelenleib« und »Gedankenleib« ersetzt (WE, 111 ff.). Die »theosophischen« Schriften heißen jetzt »geisteswissenschaftliche« und die Inhalte der »theosophischen Handbücher« werden nun schlicht zur »Geisteswissenschaft« (WE, 127; 144). Der verfängliche, weil in der zeitgenössischen Literatur oft mit sexualmagischen Praktiken assoziierte Begriff des »Kundalinī-Feuers« mutiert zum »geistigen Wahrnehmungsorgan« bzw. zur »geistigen Wahrnehmungskraft« (WE, 165 f.) und während der Begriff »theosophisch« systematisch getilgt wird, taucht das Wort »Anthroposophie« zum ersten Mal auf (WE, 29).

Parallel zu dieser terminologischen Revision erscheinen auch bestimmte Inhalte der Theosophie in der Auflage von 1914 in einem anderen Licht. So sprachen frühere Drucke noch offen von jenen mysteriösen Wesenheiten, die »im Okkultismus als Meister bezeichnet« werden; jetzt distanziert sich Steiner sprachlich von der theosophischen Meister-Tradition, obwohl er in der Sache an ihr festhält, und bezeichnet jene Inspiratoren neutral als »Wesenheiten der Geisteswelt« (WE, 41). Ein anderes Beispiel ist die aus dem Buddhismus stammende theosophische Lehre von der »Illusion des persönlichen Selbst«, welche jetzt, wohl mit Rücksicht auf die zentrale Bedeutung des »Ich« im anthroposophischen Denken, abgeschwächt wird zur »Illusion, welche aus der persönlichen Begrenztheit stammt« (WE, 151).

 

4. Rekalibrierung der anthroposophischen Meditationspraxis

Der vierte große Bereich inhaltlicher Umarbeitung des Textes in der Auflage von 1914 betrifft Steiners Bemühen, das Wesen der anthroposophischen Meditation klarer zu fassen und von anderen Traditionen meditativer Praxis abzugrenzen. Dabei zeigt sich zum einen die Tendenz, Übungsbeschreibungen, die zuvor in relativ normativer Weise dargestellt worden waren, nunmehr als bloße Beispiele zu verstehen. Wo Steiner zuvor von »ganz bestimmten« Übungen gesprochen hatte, verändert er nun den Text zu »erwähnten und ähnlichen« Übungen (WE, 141); wo vorher »eine weitere Übung« (die aber dem Schüler nur mündlich verraten werden darf) bestimmten Fortschritt in der geistigen Entwicklung versprach, ist nun die Rede von »einem weiteren Üben« (WE, 142). Bestimmte Meditationsanweisungen wie die Kristallübung werden nun als bloße »Beispiele« charakterisiert, deren Ergebnisse prinzipiell auch durch andere Übungen erreicht werden könnten (WE, 42). Offensichtlich will Steiner den eigenen Meditationsanweisungen den autoritativen Charakter nehmen und den generellen Charakter bestimmter Techniken betonen, die dann der Übende gemäß seiner persönlichen Präferenzen individuell gestalten kann.

Daneben offenbaren die Eingriffe Steiners eine Tendenz, bestimmte meditative Übungen weniger im repressiven Sinne als Verdrängung oder Unterdrückung bestimmter Gefühle und Gedanken zu verstehen, sondern mehr positiv als Achtsamkeitsübungen zu definieren. Auf Gedanken der Unehrerbietung etwa, die der Schüler zuvor strikt aus seinem Bewusstsein zu »verbannen« hatte, soll er nunmehr schlicht »achten« (WE, 9). Außerdem habe die Beobachtung des eigenen Seelenlebens nicht mehr, wie in früheren Ausgaben, unmittelbar zu geschehen, sondern vorzugsweise im distanzierten Rückblick, in der Erinnerung an früheres Erleben. Ferner geht Steiner, vielleicht auf Kritik reagierend, auf die Vorstellung ein, der Meditierende greife in die Persönlichkeitssphäre anderer Menschen ein, wenn er deren Seelisches zum Objekt seiner Meditation macht. Nicht »Menschen« würden in der Meditation beobachtet, betont Steiner jetzt, sondern »Seelen«; und nicht die »Gedanken« eines Menschen würden in seiner Aura dem Hellseher sichtbar, wie Steiner zuvor versichert hatte, sondern lediglich dessen »Gedankenart« (WE, 114, 131 u. 133). Außerdem betont er nun an der Meditation weniger das intellektuelle und mehr das voluntative Element. So wird etwa die Aussage, der Schüler müsse seine Aufmerksamkeit »in die Hand« bekommen dahingehend modifiziert, dass er dieselbe »in den Willen« bekommen müsse (WE, 131).

Neben den genannten vier Hauptbereichen sind weitere Aspekte der Schrift von der Neubearbeitung der 5. Auflage betroffen. So betont Steiner hier stärker als zuvor den unpolitischen Charakter seiner Weltanschauung (WE, 102) und fügt der Schrift christliche Aspekte hinzu (WE, 144). Er nimmt auch bestimmte Aussagen zurück, etwa dass der eingeweihte Mensch seine physische Leiblichkeit nicht mehr nötig habe oder dass der sogenannte »Hüter der Schwelle« ein Geschöpf des Menschen sei (WE, 197). Auf diese und andere Details, die im Stellenkommentar im Einzelnen dokumentiert sind, kann in dieser Einleitung nicht weiter eingegangen werden.

Die Ausgabe von 1914 enthält zudem noch eine neue Vorrede, in der Steiner einige derjenigen Bereiche anspricht, in denen Revisionen vollzogen worden sind, also etwa die Begründung der Veröffentlichung esoterischen Wissens und die Rolle des Lehrers in der esoterischen Schulung. Besonders interessant ist die Behauptung, dass die Schrift inhaltlich keine wesentlichen Neuerungen enthalte. Zwar gebe es »wichtige Änderungen«, doch diese dienten im Wesentlichen einer »genaueren Charakterisierung« (WE, IV) des früher Gesagten. Diese Aussagen können im Einzelnen gegenüber den tatsächlich vorgenommenen Änderungen als Untertreibung erscheinen, erweisen sich jedoch in der Gesamtschau als durchaus gerechtfertigt. Trotz vieler Umformulierungen im Detail, trotz einer erst allmählich sich formierenden Konzeption vom modernen Schulungsweg und trotz einer deutlichen Tendenz zur Abgrenzung gegenüber seiner theosophischen Vergangenheit hat Steiner an der grundlegenden Konzeption seiner Aufsatzserie von 1904/05 in der Tat durch alle Neuauflagen festgehalten.

 

Die 8. Auflage (1918)

Im Jahre 1918 gab Steiner eine ganze Reihe seiner Schriften in Neuauflage heraus. Die vier Kriegsjahre hatten große Vortragsreisen und andere Tätigkeiten verhindert und Steiner somit Zeit gegeben, seine zentralen Texte einer Überarbeitung zu unterziehen. Für WE war dies die 6. Auflage und, nach 1914, die zweite größere inhaltliche Umarbeitung dieses Textes. Der Ausgabe wird wiederum eine neue Vorrede vorgeschaltet, die aber inhaltlich kaum relevant ist und nur betont, dass gegenüber früheren Ausgaben »nur geringe Änderungen notwendig« (WE, III) gewesen seien.

Die Textentwicklung des Druckes zeigt jedoch, dass Steiner weiterhin an den zentralen Problemfeldern arbeitete, die schon in der 5. Auflage sichtbar geworden waren. Begriffe, die einen Institutionscharakter der Einweihung implizieren und die 1914 stehen geblieben waren, werden jetzt durch solche ersetzt, die den Prozesscharakter sowie die Flexibilität und Freiheit in der individuellen Verwirklichung des Schulungsweges betonen. Auch der Aspekt der Geheimhaltung esoterischen Wissens bleibt weiterhin eine Frage und was zuvor von einer strengen Schweigepflicht geschützt wurde, schützt sich jetzt durch seinen esoterischen Charakter selbst. Die Bedeutung der Lehrer bzw. Eingeweihten wird weiter herabgesetzt und dem Schüler wird geraten, sich den Rat solcher Wissenden »anzusehen«, wo ihm zuvor ans Herz gelegt worden war, den »Rat eines Führers zu suchen« (WE, 28). Zentral ist nicht mehr, dass er von einem autorisierten Lehrer unterwiesen wird, sondern dass er in der rechten Weise bestrebt ist (WE, 121).

Auch was die Suche nach der treffenden sprachlichen Charakterisierung des meditativ Erlebten angeht, führt die 8. Auflage die Tendenzen der Bearbeitung von 1914 fort. Wo etwa noch etwas davon stand, dass man im imaginativen Bewusstsein Farben wahrnehme, spricht Steiner jetzt von »etwas wie Farben« (WE, 44), die nicht einfach nur gesehen, sondern »geistig gesehen« (WE, 55) würden. Auren und Gedankenformen »sind« nicht länger gelb, blau oder rot, sondern werden wie solche Farben »empfunden« bzw. »fühlen sich« wie solche an (WE, 59 f.). Ebenso wird weiterhin alles ausgemerzt, was wie ein Überbleibsel theosophischer Nomenklatur aussieht.

Besondere Aufmerksamkeit legt die 6. Auflage auf das Thema der »Gefahren« der Einweihung. Bestimmte gefährliche Praktiken, von denen es zuvor hieß, sie dürften »nicht öffentlich besprochen werden«, werden jetzt näher charakterisiert mit dem Hinweis, anthroposophische Meditation habe mit solchen Praktiken »nichts zu tun« (WE, 93). Besonders sprechend ist die ersatzlose Streichung einer Passage, in welcher Steiner zuvor eingeräumt hatte, dass auch die anthroposophische Schulungsmethode gewisse »Gefahren« beinhaltet; dort wurde davon gesprochen, dass bei bestimmten Übungen die »fortwährende Aufsicht« durch den Lehrer oder sogar dessen »sofortiges Eingreifen« (WE, 93) notwendig werden könne. Solche Formulierungen aus der Praxis des esoterischen Lehrers passten nicht mehr in das mittlerweile herausgebildete Konzept eines allgemeinen, sicheren und von Lehrerautorität unabhängigen Schulungsweges.

Auch an der genauen Charakterisierung des meditativen Prozesses wird weiterhin gefeilt. Noch deutlicher als 1914 wird etwa für die Beobachtung seelischer Zustande bei anderen Menschen statt der direkten Beobachtung die Erinnerung favorisiert. Statt die inneren Zustände eines Menschen direkt zu »beobachten«, schreibt Steiner nun, solle man sich diese »vergegenwärtigen« (WE, 58). Die Unantastbarkeit des Innenlebens anderer Personen wird besonders betont und Steiner mahnt zur heiligen Scheu vor diesem Allerheiligsten, selbst wenn man es sich »nur als Erinnerung« vergegenwärtige (WE, 61).

Während aber für das Studium bestimmter Seelenzustände jetzt die Erinnerung gegenüber der direkten Beobachtung favorisiert wird, findet in den Kapiteln über das Traumleben genau das Umgekehrte statt. In den früheren Ausgaben hieß es nämlich, der Königsweg zum Traumleben bestehe in der nachträglichen Erinnerung des Geträumten; jetzt wird hingegen betont, dass es nicht um »Erinnerung«, sondern um »Gewahrwerden« der Inhalte des Traumbewusstseins gehe (WE, 176). Indem der Begriff der »Erinnerungsfähigkeit« gegenüber dem Traumerleben durch den der »Wahrnehmungsfähigkeit« ersetzt wird (WE, 177), konkretisiert und verstärkt Steiner die Vorstellung einer Kontinuität des Bewusstseins auch während des Schlafes. Ebenfalls neu ist der Hinweis, dass die Bewusstmachung des Traumbewusstseins nur ein allererster Anfang sei, bei dem der Schüler »nicht stehen bleiben« dürfe (WE, 173) – vielleicht eine versteckte Kritik am psychoanalytischen Umgang mit dem Traumleben. Auffällig am Traumkapitel ist ferner, dass Steiner in der 6. Auflage eine umfangreiche Passage streicht, in welcher er detailliert auf Traumerfahrungen eingegangen war (WE, 184) und von denen man vermuten kann, dass sie vielleicht biographischer Natur waren.

Das der Auflage hinzugefügte Nachwort betont noch einmal einige der Punkte, die oben bereits beschrieben wurden, etwa Steiners Rechtfertigung für die bildhafte Natur seiner Darstellung und die Beteuerung, dass der Lehrer für die Schulung so wichtig gar nicht sei und wohl auch durch das Buch ersetzt werden könne. Aber auch inhaltlich neue Aspekte tauchen auf, etwa wenn Steiner betont, dass das Ziel der Schulung nicht darin bestehe, den Menschen völlig umzuwandeln, sondern dass es in den Übungen vielmehr darum gehe, sich für die Zeit der Meditation in einen völlig anderen Zustand zu versetzen, während man im Alltagsleben durchaus derselbe Mensch bleibe. Daneben finden sich breite Ausführungen über den Unterschied des in der Meditation angestrebten übersinnlichen Erlebens von denjenigen seelisch-geistigen Zuständen, die dem Mediumismus und Spiritualismus zugrunde liegen. Mit diesen Bemerkungen rückt Steiner den Erkenntnispfad bewusst in den Horizont seiner Philosophie der Freiheit, in welcher nicht meditative Versenkung in vorgegebene Bilder oder willensstärkende Kontrolle von Gedanken und Gefühlen, sondern die Ausbildung eines reinen sinnlichkeitsfreien Denkens den Menschen zum Freiheitserlebnis führen soll.

 

Die 9. Auflage von 1919

Die Auflage von 1919 erscheint zunächst als identischer Nachdruck der vorhergehenden, denn ein flüchtiger Blick zeigt, dass sie über weite Strecken seitenidentisch sind und denselben Zeilenumbruch aufweisen. Erst bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Text in der Tat zumindest teilweise neu gesetzt worden ist. Außerdem wird erkennbar, dass das Buch nicht nur im Hinblick auf das billige Kriegspapier schlechte Qualität aufweist, sondern auch deutlich mehr Druck- und Schreibfehler als andere Ausgaben. Vor allem die Interpunktion ist an vielen Stellen verändert worden, wobei teilweise syntaktische Fehler erzeugt worden sind. Auch das Druckbild ist nachlässig gestaltet; es finden sich inkorrekte Worttrennungen, irrtümlich tiefgestellte oder abgerückte Buchstaben. Zwar wurden einige Fehler der vorhergehenden Ausgabe erkannt und verbessert, aber eine ganze Reihe von Falschschreibungen kam neu hinzu. Auch inhaltliche Änderungen und Streichungen finden sich, teilweise von sinnentstellender Natur. Obwohl sich einige dieser Änderungen in spätere Auflagen fortgepflanzt haben, liegt insgesamt der Schluss nahe, dass es sich zumeist um Nachlässigkeiten bzw. Freiheiten eines Setzers handelt und nicht um Eingriffe Steiners. Einige inhaltliche Änderungen könnten auch bewusst von Steiner veranlasst worden sein, doch sind diese marginal und verändern in keiner Weise die gedankliche oder argumentative Struktur des Textes. Von einer Umarbeitung wie 1914 und 1918 kann daher für diese Ausgabe nicht gesprochen werden.

 

Die 10. Auflage von 1920

Ähnliches gilt für die 10. Auflage von 1920. Auch diese ist im Seitenumbruch und über weite Strecken auch im Zeilenumbruch nahezu identisch mit derjenien von 1918. Verglichen mit ihrer Vorgängerin finden sich in dieser Ausgabe jedoch relativ wenige Druckfehler, von denen zudem eine Reihe versehentlich aus der vorhergehenden Auflage übernommen wurden. Daneben wurde in einigen Fällen behutsam in die Orthographie und Interpunktion eingegriffen. Die wenigen inhaltlichen Änderungen betreffen die in jeder Neuauflage besorgte Aktualisierung der Auflagennummer der Theosophie sowie einige marginale Eingriffe, bei denen jedoch unklar ist, ob sie von Steiner intendiert oder schlichtweg Versehen eines Setzers sind. Die einzige Änderung, die mit großer Sicherheit gewollt war, ist die Ersetzung des Ausdrucks »der Mensch« durch das Personalpronomen »er« (WE, 221).

 

Die 11. Auflage (Ausgabe letzter Hand) von 1922

Auch in der Ausgabe letzter Hand von 1922 sind die Änderungen marginal, doch weist sie gegenüber dem sehr einheitlich gestalteten Aussehen ihrer drei Vorgängerinnen ein völlig neues Druckbild und einen anderen Schriftsatz auf. Das auch für andere Ausgaben letzter Hand bei Steiner typische jugendstilhafte Schriftbild ist zwar ästhetisch ansprechender, weist jedoch gegenüber früheren Ausgaben wieder eine relativ große Anzahl von Druckfehlern auf. Auch der Eingriff in die Orthographie und Interpunktion ist massiver als in vielen früheren Ausgaben.

Inhaltlich finden sich ebenfalls eine ganz Reihe von kleineren Änderungen, die jedoch fast durchweg vom Setzer verursacht sein könnten und nicht notwendigerweise von Steiner intendiert sind. Auch 1922 liegt somit keine wirkliche inhaltliche Bearbeitung des Textes vor und die beiden Ausgaben von 1914 und 1918 bleiben, trotz einer insgesamt recht reichen Text- und Layout-Entwicklung die beiden einzigen, welche den Titel einer Umarbeitung verdienen. Auf sie wird sich daher eine textgenetisch orientierte Betrachtung zu konzentrieren haben.

 

Zur Textentwicklung von

»Die Stufen der höheren Erkenntnis« (SE)

Die Textentwicklung der SE steht mit derjenigen von WE qualitativ und quantitativ in keinem Verhältnis. Nachdem der Text als Serie von fünf Aufsätzen in der Zeitschrift Lucifer-Gnosis erschienen war, ist sie zu Steiners Lebzeiten zweimal neu gedruckt worden, allerdings nur (wie die 2. Auflage von WE) in Form von Sonderdruck-Sammelheften der besagten Zeitschrift. Inhaltliche Eingriffe in den Text finden sich hier so gut wie keine, so dass von einer Textentwicklung im eigentlichen Sinne gar nicht gesprochen werden kann. Die wenigen orthographischen Änderungen sind von ähnlicher Natur wie diejenigen in der zweiten Auflage von WE.

Im Jahre 1910 ging Steiner daran, eine Buchausgabe für SE vorzubereiten, was jedoch nicht zur Ausführung kam. 1914 wurde ein zweiter Versuch gestartet, und diesmal wurde eine gemeinsame Herausgabe mit dem Text von WE geplant. Diese Ausgaben sind sogar komplett gesetzt worden, erschienen jedoch aus ungeklärten Gründen nie im Druck. Die erste Buchausgabe des Textes wurde nach Steiners Tod von seiner Frau Marie Steiner besorgt und ist 1931 im Philosophisch-anthroposophischen Verlag in Dornach herausgekommen. Auf dieser Auflage beruhen bis heute die Ausgaben von SE im Rahmen der Gesamtausgabe. Wir haben daher die von Marie Steiner vorgenommenen Eingriffe in den originalen Text (wie auch Änderungen Steiners in den beiden oben erwähnten Druckvorlagen von 1910 und 1914, soweit diese in der GA dokumentiert sind) im Stellenapparat dieser Edition aufgeführt, haben jedoch unserer kritischen Edition den Sammelheft-Sonderdruck von 1908 als Textvorlage zugrunde gelegt.

Neben der Frage nach der Entwicklung der verschiedenen Fassungen von SE steht die andere, ob Steiners erkenntnisschulischer Ansatz in diesem Text derselbe ist wie in WE oder ob hier ein ganz neuer Ansatz vorliegt. Die letztere Auffassung ist, wie oben bereits angedeutet, von Helmut Zander vertreten worden. Auf der anderen Seite lassen sich gute Gründe dafür anführen, dass es sich bei SE keineswegs um einen Neuansatz oder eine Revision des 1904/06 Gesagten handle, sondern um eine konsequente Weiterführung desselben. So liegt die für SE zentrale Unterscheidung von drei grundlegenden Stufen der höheren Erkenntnis – Imagination, Inspiration und Intuition – implizit schon der Darstellung von WE zugrunde. Auch finden sich zahlreiche Parallelen zwischen dem, was in den Stufen »Imagination« heißt und demjenigen bildhaften Erleben, welches in WE als Ergebnis der Entwicklung der Astralorgane bzw. als »Erleuchtung« beschrieben wird. Ferner sind Ähnlichkeiten zwischen der »Inspiration« in SE und dem Erleben des »inneren Wortes«, welches in WE als Ergebnis der Entwicklung des Ätherleibes bzw. der »Einweihung« charakterisiert wird, nicht zu übersehen. Und ein Gleiches gilt auch für die dritte und höchste Stufe der »Intuition«, die in beiden Schriften als ein Verschmelzen des Ich mit dem Wesen des zu Erkennenden dargestellt wird. Statt also bei SE von einem Neuansatz zu sprechen, der sich nur durch ein prinzipielles Scheitern des in WE Versuchten erklären ließe, wird man der Eigenart dieser Schrift wohl besser gerecht werden, wenn man sich zur Aufgabe macht, zu untersuchen, wie und warum Steiner trotz tiefgehender inhaltlicher Übereinstimmungen in SE einen stilistisch, begrifflich und methodisch durchaus anderen Weg gewählt hat als in WE.

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML Version weggelassen.]

 

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