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Einleitung

Von Christian Clement

SKA 8.2 (2019), VII-CXVII

Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung. […] Dieses Ur-Bild der Dinge schläft in der Seele als ein verdunkeltes und vergessenes, wenn gleich nicht völlig ausgelöschtes Bild. […] Es ruht in diesem die Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Verhältnisse, ihres Werdens, ihrer Bedeutung.

(F. W. J. Schelling: Einleitung zum Weltalter-Fragment, 1811)

 

Erstmals seit ihrer Entstehung vor nunmehr einem guten Jahrhundert werden in dieser Ausgabe die grundlegenden Schriften Rudolf Steiners zur Welt- und Menschheitsentwicklung in einer textkritischen Edition herausgegeben. Damit steht der wissenschaftlichen Erforschung dieser faszinierenden und einflussreichen Texte zum ersten Mal eine solide textuelle Grundlage zur Verfügung, in der sämtliche von Steiner selbst vorgenommenen Revisionen dokumentiert sind. Neuartig ist auch der im Rahmen dieser Einleitung unternommene Versuch eines kritisch-hermeneutischen Zugangs zu Inhalt, Konzeption und Anspruch dieser Standardwerke anthroposophischer Literatur. Dieser Ansatz zeigt, dass die spirituelle Kosmogonie Steiners bzw. die anthroposophische Esoterik insgesamt nicht, wie in der bisherigen kritischen Rezeption überwiegend angenommen, primär oder gar ausschließlich von der um 1902 einsetzenden Theosophie-Rezeption ihres Verfassers her verstanden werden können, sondern dass sie ganz wesentlich auch von Steiners Verwurzelung in der Philosophie des deutschen Idealismus und der monistischen Naturphilosophie Goethes und Haeckels her zu begreifen sind. Anthroposophie erscheint aus der hier eingenommenen Perspektive nicht länger als Ergebnis einer durch die Begegnung mit den Schriften Helena Petrowna Blavatskys und Annie Besants bedingten »Konversion« Steiners, in der dieser sich von den Grundüberzeugungen seines kritisch-idealistischen und naturphilosophischen Frühwerks verabschiedete und sich weltanschaulich grundlegend neu ausrichtete, sondern vielmehr als organische Weiterbildung dieses Frühwerks – die sich freilich (und insofern war das frühere Deutungsparadigma teilweise berechtigt) im Medium der Rezeption, Deutung und Umformung theosophischer Vorstellungen entfaltete.

Der im Folgenden entwickelte kritisch-hermeneutische Zugang eröffnet zugleich neue Perspektiven für ein Verständnis der allgemeinen Skepsis und Ablehnung, welche die Anthroposophie und die Person Steiners trotz ihres erheblichen Einflusses in vielen Bereichen der Gegenwartskultur (Pädagogik, Kunst, Medizin, Landwirtschaft, Bankenwesen etc.) im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte erfahren haben. In seinem Lichte erscheint die steinersche Esoterik nicht länger als jenes ›Fremde‹ und ›Deviante‹, als das sie innerhalb des modernen Geisteslebens und besonders vom akademischen Wissenschaftsbetrieb ein gutes Jahrhundert lang wahrgenommen und entsprechend marginalisiert bzw. ignoriert worden ist (als ›unwissenschaftlich‹ etwa, als ›nicht-christlich‹ oder als ›Abwehrreaktion gegen die Moderne‹), sondern vielmehr als tief in den geistigen Grundlagen der Moderne und der westlichen Kultur verankert. Dies zeigt sich neben Steiners Affinität zu Gestalten wie Kant, Fichte, Hegel und Schelling auch in seiner Begeisterung für progressive Naturforscher wie Darwin und Haeckel sowie für radikale Individualisten wie Nietzsche und Stirner. Und auch seine Hinwendung zum Christentum und sein Versuch einer rationalen Deutung religiöser Mythen, Dogmen und Praktiken ist, wenngleich von den dominanten Konfessionen verständlicherweise als Devianz wahrgenommen, eine zutiefst westliche und zutiefst moderne Geste. Das ›Gespenst‹ der Anthroposophie, das nunmehr seit gut einem Jahrhundert durch die wissenschaftlich-aufgeklärte Moderne geistert und diese zugleich verschreckt und fasziniert, erweist sich so als zu dieser Modernität wesenhaft dazugehörig, als ihr eigener, sie verfolgender Schatten gewissermaßen. Für sie gilt, was die neuere Esoterikforschung für das Phänomen der sogenannten ›Esoterik‹ insgesamt feststellt, indem sie das Unbehagen, aber auch die Faszination der westlichen Moderne diesen Strömungen gegenüber als komplementäre Reaktionen auf diese Verdrängung des eigenen Schattens versteht. So wird auch verständlicher, warum die Reaktionen vieler Leser auf die hier veröffentlichten Texte noch heute ähnlich ablehnend und ähnlich heftig ausfallen wie jene von Steiners Zeitgenossen, die dieser übrigens selbst bereits im Vorwort zur ersten Auflage seiner Geheimwissenschaft treffend prognostiziert hatte:

»Man ist erstaunt, wie dergleichen Behauptungen in unserer Zeit nur überhaupt möglich sind.« […] »unkritisches, naives, laienhaftes Zeug« […] »unerträglich« […] »Hat der Verfasser die ganze erkenntnistheoretische Arbeit der Gegenwart verschlafen?« […] »Jeder, der auch nur die Anfangsgründe [der Naturwissenschaft] kennt, könnte ihm zeigen, daß, was er da redet, nicht einmal die Bezeichnung Dilettantismus verdient, sondern nur mit dem Ausdruck: absolute Ignoranz belegt werden kann.« […] »Wer ein paar Seiten dieses Buches gelesen hat, wird es, je nach seinem Temperament, lächelnd oder entrüstet weglegen.« […] »Ein weiteres Eingehen darauf wäre Zeitverlust.« (GU, 24 ff.)

Nach dem oben Gesagten ist es also paradoxerweise nicht die oft beschworene Fremdheit und Divergenz der Anthroposophie vom wissenschaftlichen und spirituellen Mainstream, sondern gerade ihre im freudschen Sinne ›unheimliche‹ Familiarität, ihre bisher nicht voll zu Bewusstsein gekommene Herkunft aus der westlichen, nach Aufklärung, Rationalität, Selbstbestimmung und Individualismus strebenden Bewusstseinsgeschichte, die dem gegenwärtigen Leser einen verstehenden Zugang zu ihnen so schwer macht. Wer mit den verschiedenen Spielarten des Idealismus von Platon und Plotin zu Fichte, Schelling und Hegel nicht vertraut ist, wird sich mit einem hermeneutischen Zugang zu den in diesem Band versammelten Texten schwertun. Dazu kommt als weitere Voraussetzung ein Verständnis des morphologisch-monistischen Naturbegriffs, den sich Steiner in intensiver Auseinandersetzung mit den Entwicklungslehren Goethes, Darwins und Haeckels zu eigen gemacht hat. Als dritte Schwierigkeit kommt hinzu, dass Steiner auch von den Traditionen der abendländischen Mystik und Esoterik stark geprägt wurde und seine Vorstellungen ab 1902 insbesondere in die Sprache und die Bilder der anglo-indischen Theosophie kleidete, die um die Jahrhundertwende ein Sammelbecken mystischer, esoterischer und okkultistischer Strömungen war.

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Im Folgenden sei eine erste Annäherung an dieses komplexe und anspruchsvolle Gedankengewebe versucht, indem wir uns zunächst einmal die fundamentale Grundidee in einfachster Form vor Augen zu stellen suchen. Dazu eignen sich die folgenden Aussagen Steiners aus seiner Schrift Das Christentum als mystische Tatsache von 1902. Dort wird u. a. eine bestimmte Methode der allegorischen Bibelauslegung beschrieben, die von spätantiken Neuplatonikern und in besonderer Weise von dem jüdisch-hellenistischen Gelehrten Philo von Alexandrien praktiziert wurde. In diesem Kontext heißt es:

Man kann den Schöpfungsbericht des Moses, nach Philos Überzeugung, dazu verwenden, die Geschichte der Gott suchenden Seele zu schreiben. […] Man vergegenwärtige sich, wozu eine solche Auslegung führen konnte. Man liest den Schöpfungsbericht und findet darin nicht nur eine äußerliche Erzählung, sondern das Vorbild für die Wege, welche die Seele nehmen muß, um zum Göttlichen zu gelangen. Die Seele muß also – darin nur kann ihr mystisches Weisheitsstreben bestehen – in sich die Wege Gottes mikrokosmisch wiederholen. Es muß sich in jeder Seele das Weltendrama abspielen. […] Moses hat nicht nur geschrieben, um geschichtliche Tatsachen zu erzählen;sondern um in Bildern zu veranschaulichen, was die Seele für Wege nehmen muß, wenn sie Gott finden will. […] Das Göttliche erkennen, heißt wie bei Plato, wie in der Mysterienweisheit: den Schöpfungswerdegang als eigenes seelisches Schicksal erleben. Geschichte der Schöpfung und Geschichte der sich vergöttlichenden Seele fließen dadurch in Eins zusammen. (CM, 148 f.)

Charakteristischerweise bedient sich Steiner hier der bildreichen Sprache der Esoterik, die wir daher zunächst einmal auf ihren gedanklichen Kern reduzieren müssen: Steiner nimmt auf der einen Seite das »seelische Schicksal des Menschen, die »Geschichte der sich vergöttlichenden Seele« in den Blick, d. h. den individuellen und kollektiven Entwicklungsprozess des menschlichen Bewusstseins, den traditionellen Gegenstand der Geisteswissenschaften. Diesem stellt er dann den »Schöpfungswerdegang«, das »Weltendrama«, die »Geschichte der Schöpfung« entgegen, d. h. die Entwicklungsgeschichte der äußeren Natur und des Kosmos, das Untersuchungsfeld der Naturwissenschaften. Sodann wird postuliert, dass der ›draußen‹ ablaufende natürlich-materielle Entwicklungsprozess so dargestellt werden könne, dass er zu einem Bild jener Entwicklung wird, die sich geistig-seelisch als Bewusstseinsgeschichte im ›Inneren‹ des Menschen vollzieht. Die Geschichte des natürlichen Kosmos werde so aus Philos Perspektive zu einer Illustration des kollektiv und individuell sich entwickelnden Menschenwesens, und umgekehrt. Als Beispiel einer solchen Darstellung wird die biblische Schöpfungsgeschichte angeführt. Diese sei so verfasst, dass ein Leser, der anhand dieses Textes die »Wege Gottes in der Welt« verfolgt (modern gesprochen: den Evolutionsprozess), sich zugleich das Wesen und die Entwicklungsgeschichte des Menschen, des Bewusstseins und der Kultur vor Augen stellt. So werde das »Weltendrama«, indem die Seele es als Bild ihres eigenen Seins und Werdens erlebt, zum Medium der Selbsterkenntnis des Menschen. – Daran schließt sich der weitere Gedanke, dass in solcher durch Weltbetrachtung verwirklichten Selbsterkenntnis zugleich Erkenntnis des ›Göttlichen‹ sich ereigne, insofern ›Gott‹ nämlich als die innere Einheit dessen verstanden wird, was sich dem Bewusstsein zuvor in die Dualität von ›Seele‹ und Welt‹, von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ auseinandergelegt hatte. Zu diesem initiationsdidaktischen Zweck, so Steiner, seien Texte wie die biblische Genesis in alten Mysterienschulen verfasst und systematisch verwendet worden. Und überhaupt habe in solcher, durch entsprechend konzipierte Texte oder Rituale angeregten Selbsterkenntnis Gottes im und durch den Menschen – in solcher ›Theosophie‹, wie Steiner später sagen wird – zu allen Zeiten die sogenannte ›Einweihung‹ oder ›Initiation‹ bestanden.

Mit diesen 1902 formulierten Aussagen, in denen Steiner seine Auffassung vom philosophisch-spirituellen Hintergrund der philonischen Bibelausdeutung beschrieb, hat er zugleich exakt die konzeptionelle Grundidee und die Wirkabsicht seiner eigenen Schriften zur Kosmogonie umrissen, deren Konzeption und Veröffentlichung etwa zwei Jahre später begann. In diesen wird in der Tat die Geschichte der physischen Welt auf eine Art und Weise geschildert, in der das Geschilderte zugleich als Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins und der Kultur erscheint. Und ihre didaktische Absicht besteht genau darin, dass der Leser, indem er die Entwicklungsgeschichte der Welt und der Menschheit innerlich nach- und mitvollzieht, die dabei gebildeten Vorstellungen zugleich als ein in die Dimensionen von Zeit und Raum ausgebreitetes Bild vom Aufbau und von der Entstehung seines eigenen Wesens als leiblicher, seelischer und geistiger Mensch erlebt. Die Arbeit mit dem Buch soll, so Steiners kühner Anspruch, in demselben Sinne zu einer genuinen ›Initiation‹ des Lesenden führen können, wie im alten Mysterienwesen die rituellen Zeremonien und Einweihungshandlungen. Naturgeschichte soll ihm, ähnlich wie in der Philosophie Hegels die Weltgeschichte, zu einer ›Phänomenologie des Geistes‹ werden, zu einem Instrument des ›Aufwachens‹ gegenüber der transpersonalen und überzeitlichen Natur des eigenen Selbst. Er soll in solcher Arbeit mit dem Text lernen, sich selbst bzw. ›den Menschen‹ als ein »Ur-Bild« aller Dinge anzuschauen, in dem eine »Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Verhältnisse, ihres Werdens, ihrer Bedeutung« verborgen ist.

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Platonisch-mystische Bibeldeutung nach der Art Philos führt Steiner somit in seiner Schrift von 1902 zu Vorstellungen, wie wir sie aus den philosophischen Systemen des deutschen Idealismus und insbesondere von Schelling kennen. Die anthroposophische Kosmogonie, die einerseits das Erbe platonisch-spätantiker Weltentstehungsspekulation antritt, knüpft andererseits in vielen Aspekten an den deutschen Idealismus und ganz besonders an das Unternehmen des schellingschen Weltalter-Projekts an. Wie beim späten Schelling liegt auch in Steiners kosmogonischer Konzeption der Schlüssel zu einem Verständnis der Welt und des Menschen in der Möglichkeit eines Zugangs zur Wirklichkeit, in dem Mythos und Logos, Glaube und Wissen, Bild und Begriff, mystische Erfahrung und kritische Reflexion einander nicht ausschließen, sondern bestrebt sind, sich im Bewusstsein ihres gemeinsamen Ursprungs und ihres Aufeinander-angewiesen-Seins neu zu begegnen und sich wechselseitig zu ergänzen und zu steigern. So konnten wir oben eine Passage aus Schellings Weltaltern zum Motto unserer Einleitung in die Kosmogonie Steiners machen. In der Tat sind die Parallelen zwischen beiden Entwürfen so auffallend, dass man den Eindruck gewinnen kann, Steiner habe seine Geheimwissenschaft von 1910 ganz bewusst als Erfüllung jener Hoffnung verstanden und inszeniert, die ein Jahrhundert zuvor Schelling in die folgenden Worte gefasst hatte:

Was hält sie zurück die geahnte goldene Zeit, wo die Wahrheit wieder zur Fabel, und die Fabel zur Wahrheit wird? […] Kann nie wieder die Erinnerung vom Urbeginn der Dinge so lebendig werden, daß die Wissenschaft, da sie der Sache und der Wortbedeutung nach Historie ist, es auch der äußeren Form nach seyn könnte, und der Philosoph, dem göttlichen Platon gleich, der die ganze Reihe seiner Werke hindurch dialektisch ist, aber im Gipfel und letzten Verklärungspunkt aller historisch wird, zur Einfalt der Geschichte zurückzukehren vermöchte? […] Vielleicht kommt der noch, der das größte Heldengedicht singt, im Geist umfassend, wie von Sehern der Vorzeit gerühmt wird, was war, was ist und was seyn wird.

So Schelling in der Einleitung zu seinen Weltaltern von 1811. – Auf den folgenden Seiten soll der Versuch unternommen werden, für diejenigen Leser, die Steiners anspruchsvolle Texte nicht schon nach wenigen Seiten resigniert oder entrüstet weglegen wollen, einen hermeneutischen, von ihrem Selbstverständnis ausgehenden und zugleich historisch-kritischen Zugang zu dieser anspruchsvollen Materie zu entwickeln. Bisherige kritische Darstellungen haben sich Steiner in der Regel dadurch zu nähern versucht, dass sie verschiedene äußere Maßstäbe an seine Texte anlegten (naturwissenschaftliche, historistische, theologische), um dann zeigen zu können, dass seine anthroposophische ›Geisteswissenschaft‹ diesen Maßstäben nicht gerecht wird. Diese sei, so hieß es da, »naturwissenschaftlich nicht haltbar«, »sträube sich gegen den Historismus« oder »widerspreche dem christlichen Gottesverständnis«. Solche Kritik war freilich ebenso zutreffend wie nichtssagendins Leere laufend, da Steiner seinen Ansatz methodisch und vom Gegenstand her ausdrücklich von Naturwissenschaft, Historiographie oder Theologie unterschieden wissen wollte. Binnenanthroposophische Zugänge hingegen suchten sich in der Regel der Anthroposophie zwar von deren eigenem Selbstverständnis her zu nähern, verfielen dabei aber in den allermeisten Fällen in eine Totalidentifikation mit den Positionen und Voraussetzungen Steiners, entbehrten der nötigen kritischen Distanz und verschlossen sich der Einsicht in die historisch-philologischen Bedingtheiten seines Werkes. Daher mischten sich in die verschiedenen Ansätze zu einer anthroposophischen Hermeneutik stets apologetische, scholastische und hagiographische Tendenzen, die das Verständnis von Steiners Ansatz und den konstruktiven Dialog mit anderen Zugängen eher behinderten als beförderten. Steiners Werk fungierte als Projektionsfläche, in dem seine Kritiker überwiegend das sahen und verurteilten, was ihrem Selbstverständnis nach nicht sein durfte, und in dem seine Anhänger oft vor allem das sahen und verklärten, was ihren geistig-seelischen Bedürfnissen entgegenkam.

Steiners Name ist infolge dieser Rezeptionsgeschichte heute im allgemeinen Bewusstsein einerseits eine bekannte Größe. Man kennt die Erfolgsgeschichten der Waldorfpädagogik, des biologisch-dynamischen Landbaus und der anthroposophischen Medizin und hat von den kontroversen Debatten um rassistische, antisemitische, nationalistische und autoritäre Tendenzen bei Steiner Kenntnis genommen. Aber das hinter alldem stehende Denken ist bis heute wenig verstanden, weil es weitgehend noch gar nicht entdeckt worden ist.

Rudolf Steiners Aussagen nicht nur historisch zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich auch um ein solches Verstehen zu bemühen, indem neben den theosophischen Formen und Inhalten auch die idealistischen und naturphilosophischen Wurzeln und Grundstrukturen seines Denkens näher betrachtet werden, ist das zentrale Anliegen dieser Einleitung und dieser kritischen Ausgabe. Es ist ein bedauerlicher Zustand und ein akademisches Armutszeugnis, dass trotz der unübersehbaren Präsenz anthroposophischer Praxisfelder im gegenwärtigen Kulturleben und trotz einer immer wieder aufflammenden öffentlichen Debatte um einzelne kontroverse Aussagen und Anregungen Steiners, die zentralen philosophischen Begründungsargumente und somit der geistige Kern des steinerschen Kulturbeitrags auch heute noch – kurz vor Steiners einhundertstem Todesjahr, das im Jahr 2025 begangen wird – öffentlich nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn kritisch diskutiert wird. Der Herausgeber gibt sich der Hoffnung hin, dass der nachstehend entwickelte Zugang zu Rudolf Steiners Vorstellungen über Kosmogonie und Anthropogenie neue Diskursmöglichkeiten eröffnet, die zu solcher Kenntnisnahme und zu solcher Diskussion anregen und beitragen.

 

Bei der Weltschöpfung »darbey gewesen«:

Grundlagen und ideengeschichtlicher Hintergrund

anthroposophischer Kosmogonie

Anknüpfend an die soeben skizzierte Signatur der steinerschen Esoterik sei im Folgenden der Versuch unternommen, dem Verständnis derselben einen weiteren Schritt näherzukommen, indem wir dem Grund für das in Steiners Werk deutlich sichtbare Interesse an geistes- und ideengeschichtlichen Entwicklungen nachgehen. Steiner ging davon aus, dass wir in der Geschichte der Erzeugnisse des menschlichen Geistes, in den verschiedenen Theorien und Mythen, Kunstwerken, Philosophien und Religionsvorstellungen, einen Schlüssel nicht nur zum Verständnis der menschlichen Bewusstseinsentwicklung vor uns haben, sondern ein Fenster in die Natur jener Prozesse, durch die überhaupt jedwede Wirklichkeit hervorgebracht wird, sei diese physischer oder ideeller Natur. Ähnlich wie in der Dialektik Hegels oder in der schellingschen Potenzenlehre ist auch für Steiner der schöpferische ›Ur-Akt‹, der die Naturerscheinungen hervorbringt und in den historischen Entwicklungen wirkt, derselbe, aus dem auch die ideellen Gestaltungen hervorgehen, die der Mensch sich in seinem Denken und Forschen über diese Natur und diese Geschichte bildet. Daher ist für ihn das Verständnis der Gesetzmäßigkeit, nach der Gedanken hervorgebracht werden, das Verständnis des ›Geistes‹, der Schlüssel zu allem Verstehen. Nicht nur die Geschichts- und Kulturwissenschaften, sondern auch und gerade die Naturwissenschaften bedürfen zu ihrer Grundlegung einer Wissenschaft vom Wesen und von der Entwicklung des Geistes, einer ›Geistes-Wissenschaft‹.

Diesen einerseits auf den deutschen Idealismus verweisenden Grundgedanken hat Steiner zugleich mit der Entwicklungstheorie Ernst Haeckels in Verbindung gebracht. Er war der Überzeugung, dass in ähnlicher Weise wie (gemäß dem ›biogenetischen Grundgesetz‹ Haeckels) die individuelle Embryonalentwicklung eines jeden Lebewesens eine geraffte Wiederholung der Stammesgeschichte seiner Art darstellt, sich auch in jeder Manifestation der produktiven Tätigkeit des menschlichen Geistes, in jeder Weltanschauung und jedem Glaubenssystem – aber auch in jedem individuellen Erkenntnisakt – im Prinzip der gleiche Vorgang abspielt, aus dem auch ganze Kulturen, Zeitepochen und Bewusstseinszeitalter hervorgehen. In jedem Akt des Geistes, so könnte man diesen Gedanken auch paraphrasieren, ist die gesamte ›Wesenheit‹, d. h. die vergangene, gegenwärtige und künftige Geschichte desselben gewissermaßen eingefaltet, ähnlich wie nach Haeckel in jedem individuellen biologischen Organismus die gesamte Entwicklungsgeschichte seiner Gattung.

An anderer Stelle hat Steiner diesen zentralen Gedanken durch den Hinweis auf die goethesche Morphologie verdeutlicht. Ähnlich wie Goethe in seinen botanischen Schriften davon ausgegangen war, dass der Mensch in der Lage ist, durch die Betrachtung einer sachgemäß angeordneten Reihe von organischen Bildungen zu einer inneren Anschauung der dem Pflanzlichen zugrundeliegenden Bildungsgesetze zu kommen – zu der sogenannten ›Urpflanze‹ –, so meinte Steiner, dass auch im Geistigen die Betrachtung einer Reihe von auseinander hervorgegangenen geistigen Akten dazu führen kann, ein mentales ›Organ‹ für den diesen Einzelakten zugrundeliegenden Ur-Akt der Wirklichkeitshervorbringung, also eine Art ›geistiger Anschauung‹ der aller Schöpfung innewohnenden Grundgesetzlichkeit auszubilden. Schriften wie Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens, Das Christentum als mystische Tatsache, Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert (später erweitert zu Die Rätsel der Philosophie) oder Vom Menschenrätsel sind konzeptionell auf dieser Prämisse aufgebaut. Sie wollen dazu anregen, dass der Leser im inneren Mitvollzug nicht nur die verschiedenen Einzelgedanken auffasst, die darin geschildert werden, sondern im inneren Mitvollzug ihrer Genese eine Erfahrung der Natur des Geistes selbst macht, wie dieser sich in jedem seiner Akte in ein ihm Äußeres projiziert und in der Rückspiegelung dieser Selbstveräußerung sukzessive zu einem umfassenderen Bewusstsein seiner selbst kommt. Steiner verstand seine Schriften ausdrücklich als methodische Anleitung bzw. Schulung zur Bewusstwerdung dieses universellen Uraktes, und den Weg dazu beschrieb er als ein mentales Nach- und Miterleben der objektiven Entwicklungsgeschichte des Geistes durch den individuellen Menschengeist: sei es durch das ideengeschichtliche Studium der Entwicklung menschlicher Vorstellungen (so in Steiners Schriften bis 1902) oder, wie in den Texten dieses Bandes, durch den gedanklichen Nach- und Mitvollzug der Entwicklung von Natur und Kosmos.

In den Einleitungen zu früheren Bänden dieser Edition wurde, anknüpfend an Steiners Bezugnahme auf Haeckel, dieses grundlegende Legitimationstheorem seiner Esoterik als ›ideogenetisches Grundgesetz‹ charakterisiert. Dies reichte hin, solange wir nur Steiners Betrachtungen zur Geistesgeschichte ins Auge fassten. Im vorliegenden Band aber, in dem es um Steiners Schriften zur Welt- und Menschheitsentwicklung geht, muss dieses ›Grundgesetz‹ in einem noch weitergehenden Sinne verstanden werden. Denn in ähnlicher Weise wie in den oben genannten Texten die Geistesgeschichte, schaut Steiner in seinen kosmogonischen Schriften auch die Naturgeschichte an. Auch in der Natur ist es seiner Auffassung nach immer ein und derselbe Ur-Vorgang, der sich vollzieht, ob in der Bildung eines einzelnen Organs, der Hervorbringung eines Planeten oder im gewaltigen Gesamtprozess der kosmischen Evolution insgesamt. Auch hier ist ihm jeder Einzelvorgang ›im Kleinen‹ Bild und Ausdruck all dessen, was ›im Großen‹ und ›als das Ganze‹ vor sich geht. Man könnte daher auch von einem ›kosmogenetischen Grundgesetz‹ in Steiners Naturauffassung sprechen, welches dem ideogenetischen Prinzip in seiner Betrachtung der Geistesgeschichte entspricht. Dieses würde zugespitzt formuliert etwa besagen: In jedem Einzelvorgang und jeder Formbildung innerhalb der Naturgeschichte spielt sich im Prinzip das Urgeschehen aller natürlichen Bildung ab. Jeder Naturvorgang und jede natürlich gebildete Form ist somit Bild und potentielle Offenbarung der Grundgesetzlichkeit von Weltschöpfung insgesamt, und umgekehrt.

Nun lässt Steiner die natürlich-kosmische Geschichte der Welt nicht als gesonderte neben der geistig-kulturellen Entwicklung der Menschheit verlaufen, sondern auch diese beiden Grundströme aller Entwicklung, ›Naturgeschichte‹ und ›Geistesgeschichte‹, werden wieder als Ausdruck und Entsprechung des jeweils anderen aufgefasst. Wie auf der einen Seite in allen geistigen Vorgängen letztlich immer nur der eine geistige Grundprozess vor sich geht, und wie andererseits in allen Naturprozessen sich immer nur Variationen des einen Naturprozesses ereignen, so sieht Steiner drittens auch den Natur- und den Geistprozess insgesamt als zwei verschiedene Modalitäten oder Metamorphosen ein und desselben Wirklichkeitsprozesses an. Die Geschichte des Geistes ist ihm gewissermaßen nur ein besonderer Aspekt der Naturgeschichte, d. h. Ideen und Weltanschauungen versteht er genauso als ›Naturprodukte‹ wie Blumen und Planeten. Und umgekehrt ist ihm die Naturgeschichte eine von innen angeschaute Geschichte des Geistes; jedes natürliche Wesen und die Natur sind ihm insgesamt genauso Erzeugnisse des Geistprozesses wie ein Gedicht oder ein philosophisches System. Ideogenese und Kosmogenese sind also aus dieser Doppelperspektive ein und derselbe Prozess, nur in je verschiedener Weise aufgefasst. Oder, in der Sprache der abendländischen Hermetik: ›Makrokosmos‹ und ›Mikrokosmos‹ entsprechen einander in vielfachen wechselseitigen Spiegelungen, ja sind beide vollgültiger Ausdruck des je andern.

In solcher Betrachtung von Ideogenese und Kosmogenese als subjektiv verschiedene, objektiv aber identische Erscheinungsweisen ein und desselben Wirklichkeitsprozesses kann deutlicher werden, was Rudolf Steiner in seinen Texten zur Welt- und Menschheitsentstehung eigentlich zu verwirklichen bestrebt war. Es wird zum einen die Geschichte des Kosmos im Bild der Entwicklung des Menschen erzählt und verstanden: Der Mensch ist von Anfang an im Werdeprozess der Welt anwesend, und die verschiedenen, sich sukzessiv entwickelnden Welten und Naturreiche leiten sich allesamt aus seiner ›Wesenheit‹ ab. Zugleich wird umgekehrt die Evolutionsgeschichte des Menschen und der Kultur als Ausdruck der inneren Struktur des Kosmos aufgefasst. Denn der Mensch, der seinem Wesen nach am Anfang der Naturentwicklung steht, taucht andererseits, nämlich so, wie er in der historischen und naturwissenschaftlichen Betrachtung erscheint, erst am Ende dieses Prozesses auf, als dessen gleichsam jüngstes, vollkommenstes und zugleich fragilstes Produkt. Ähnlich wie die biblische Genesis erzählt also auch Anthroposophie eigentlich zwei Schöpfungsgeschichten: eine, die mit dem Menschen beginnt und eine, die mit ihm endet. Steiner begreift diese beiden sich scheinbar entgegenstehenden Erzählungen als verschiedene Aspekte bzw. Darstellungsweisen einer einheitlichen Ur-Prozessualität, in der und durch die es allein eine ›Welt‹ und eine ›Menschheit‹ als solche geben kann. Alle geistigen und alle natürlichen Prozesse sind für Steiner Variationen des einen urschöpferischen Aktes der Hervorbringung von Wirklichkeit. Weltentstehung und Geistesentwicklung, Kosmogonie und Anthropogenesis sind daher die beiden grundverschiedenen und doch untrennbar zusammenhängenden Perspektiven, aus denen heraus er in den Texten dieses Bandes seine Geisteswissenschaft zu entwickeln versucht.

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Schon diese wenigen Hinweise zeigen, dass die in früheren Bänden dieser Edition bereits mehrfach angesprochene Verwurzelung Steiners im Denken Fichtes, Schellings und Hegels für die in diesem Band vorgelegten Schriften über Welt- und Menschheitsentstehung nicht weniger bedeutsam ist als für seine frühen Schriften über Goethe oder seine philosophischen Texte der 1890er Jahre. Indem dieser Umstand in der bisherigen Forschung zumeist nicht hinreichend gesehen wurde, bildete sich eine einseitige Wahrnehmung der internen Legitimationsstruktur des steinerschen Unternehmens. Die außeranthroposophische Steinerforschung hat vor allem die äußere Form dieser Esoterik ins Auge gefasst und kam aufgrund dieser verengten Perspektive zu dem Schluss, anthroposophische Esoterik sei dadurch hinreichend zu erklären, dass man verfolgt, wie Steiner ab 1902 intensiv in die Ideenwelt der Theosophie eintauchte und sich diese aneignete. Anthroposophische AutorInnen hingegen bestanden zumeist darauf, dass Steiners Aussagen als unmittelbarer Ausdruck seiner hellsichtigen Fähigkeiten zu verstehen seien und kümmerten sich in der Regel weder um seine philosophischen noch um seine theosophischen Inspiratoren. So übersahen beide Richtungen, dass die Fundamente seines Denkens weiterhin diejenigen seines philosophischen Frühwerks waren, und dass Steiner auch als Theosoph in vieler Hinsicht Goethe, Fichte und Schelling gedanklich weiterhin näherstand als theosophischen Autoren wie Sinnett oder Blavatsky. Das theosophische Welt- und Menschenbild trat nicht an die Stelle der philosophischen Überzeugungen seiner Frühzeit, wie akademischerseits oft vermutet worden ist, aber es war aber auch nicht bedeutungslos oder bloße ›Einkleidung‹, wie Anthroposophen oft argumentiert haben; vielmehr bot es ihm ein Material, in das er mit seinem objektiven Idealismus eintauchte, um es von innen her umzugestalten und systematisch zu begründen. Anthroposophie lässt sich nur als Ergebnis dieses Verwandlungsprozesses verstehen.

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Naturgemäß standen die für Steiner so zentralen deutschen Idealisten mit ihren Vorstellungen über das Verhältnis von Welt und Mensch auch ihrerseits in der Tradition anderer, älterer Strömungen des Nachdenkens über den Ursprung. Die Verwandtschaft des hermetischen Entsprechungsdenkens mit der Seinsdialektik der Idealisten haben wir bereits angesprochen. Weitere Denktraditionen wären hier zu nennen, darunter besonders die Theosophie des Görlitzer Schusters Jakob Böhme. Bekannt ist Hegels Ausspruch, dass er Böhme als den ersten »ächt deutsch[en]« Philosophen ansah, und zwar weil dieser als erster Denker den systematischen Versuch unternommen habe, »die Intellektual-Welt in das eigene Gemüth hereinzulegen, und in seinem Selbstbewußtsein Alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war.« Noch direkter als Hegel stellte Schelling sich in seinem Spätwerk in die Nachfolge der böhmeschen Theosophie. Man vergleiche nur sein oben angeführtes Zitat über die ›Mitwissenschaft der menschlichen Seele an der Schöpfung‹ mit der bekannten Selbstlegitimation Jakob Böhmes, an die wir im Rahmen dieser Edition schon mehrfach erinnert haben:

Darum ob wir gleich reden von der Schöpfung der Welt, als wären wir darbey gewesen und hätten solches gesehen, des darf sich kein Mensch wundern, und für unmöglich halten: denn der Geist, so in uns ist, […] der hat es alles gesehen, und siehet es alles im Lichte GOttes, und ist gar nichts fernes, oder unerforschliches: denn die ewige Geburt, so im menschlichen Centro verborgen stehet, thut nichts Neues, sie erkennet, wircket und thut eben das, was sie von Ewigkeit gethan hat […]. (De Tribus Principiis 7:6)

Indem also Steiners Esoterik einerseits nachhaltig im deutschen Idealismus wurzelt, steht sie zugleich in der Tradition jener Strömungen abendländischer Mystik und Esoterik, die im siebzehnten Jahrhundert im Denken Böhmes zusammengeflossen waren. Wie für Böhme und Schelling ist der Mensch auch für Steiner nur in einer Hinsicht ein Spät- oder gar Endprodukt der Schöpfung. In einer anderen Hinsicht ist er deren ›Erstling‹ und von Anfang an ›darbey gewesen‹. Oder, genauer: Da die Vorgänge der Weltschöpfung für Steiner im Grunde jenseits dessen liegen, was wir gewöhnlich als ›Zeit‹ ansehen (vgl. GU, 134), darf in seinem Sinne wohl auch gesagt werden: Der Mensch ist bei der Weltschöpfung, insofern diese sich in einem überzeitlichen Bereich vollzieht, jederzeit ›darbey‹, zwar nicht mit seinem gewöhnlichen raum-zeitlichen Erleben, wohl aber in gewissen ihm gewöhnlich nicht voll bewussten Tiefenschichten seiner Seele. Daher kann er sich, so Steiners Fazit, der begründeten Hoffnung hingeben, wie schon Fichte in seiner Wissenschaftslehre, Hegel in der Phänomenologie des Geistes und Schelling in den Weltaltern, durch Erkenntnis seiner eigenen Wesenheit zu einem Verständnis jener Vorgänge zu kommen, welche den raum-zeitlichen Kosmos um ihn herum konstituieren.

Indem wir so die grundlegende ontologische und epistemologische Legitimationsstruktur der Kosmogonie Rudolf Steiners skizziert und diese zunächst zurück zu Schelling und dann zu Böhme zurückverfolgt haben, müssen wir nun noch einen Schritt weitergehen. Denn das gemeinsame historische Vorbild, auf das sowohl Steiner als auch Schelling und Böhme sich bezogen, indem sie die kühne Behauptung aufstellten, der Mensch sei bei der Weltschöpfung ›darbey gewesen‹ und müsse sich daher prinzipiell auch wieder daran ›erinnern‹ können, liegt in der Philosophie Platons. Platon war zum einen der philosophische Begründer jener Wiedererinnerungs- und Partizipationslehre, der wir später im Magnum Mysterium, in den Weltaltern und in der Geheimwissenschaft wiederbegegnen. Dieses platonische Erbe spricht deutlich aus dem oben zitierten Ausspruch Jakob Böhmes über das ›Darbeygewesensein‹ bei der Weltschöpfung. Es klingt auch in den Überlegungen Schellings über die ›Mitwissenschaft‹ des Menschen an der Schöpfung wieder an. Und noch Rudolf Steiner bezieht sich ausdrücklich auf die Anamnesis-Lehre, wenn er einem Aufsatz aus dem Jahre 1924 den Titel gibt: »Das Geistige ist dem gewöhnlichen Bewusstsein ›entfallen‹ und kann wieder erinnert werden«. (GA 36, 367)

Daneben hatte Platon mit seinem Dialog Timaios die erste philosophisch begründete Weltentstehungslehre in der abendländischen Geschichte geschaffen. In diesem Text wurde zum ersten Mal der Versuch unternommen, in systematischer Weise ein gedankliches Bild von der Entstehung der Welt und des Menschen nicht in mythischer Erzählung, sondern im Medium philosophischer Reflexion und Spekulation zu entwickeln. Der Timaios steht somit ideengeschichtlich am Anfang jener oben skizzierten Tradition idealistischer Weltentstehungsspekulation, als deren Nachfolger die Weltentstehungslehren Böhmes und Schellings und als deren jüngste Ausprägung die theosophischen und anthroposophischen Kosmogonien Sinnetts, Blavatskys und Steiners verstanden werden können.

Mit diesen Hinweisen meinen wir, in der hier gebotenen Kürze, hinreichend auf die Grundgedanken der steinerschen Kosmogonie und deren allgemeinen geistes- wie werkgeschichtlichen Kontext hingegedeutet zu haben. In den folgenden Abschnitten soll dieser Blick vertieft werden, indem wir auf die speziellen zeitgenössischen Kontexte, in denen Steiners Werk entstand, näher eingehen, insbesondere auf Steiners Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen (Goethe und Haeckel), mit der idealistischen Philosophie (Kant, Fichte, Schelling) und mit der anglo-indischen Theosophie (Sinnett, Blavatsky und Scott-Elliott). Anschließend an diese ideengeschichtliche Kontextualisierung richten wir dann den Blick noch kurz auf die werkinterne Entwicklung einiger Vorstellungen, die für die Kosmogonie von besonderem Interesse sind, d. h. auf Begriffe wie ›Zeit‹, ›Raum‹ und ›Schöpfung‹. Dabei werden uns besonders auch Steiners Vorstellungen über den sogenannten ›Doppelstrom der Zeit‹ interessieren.

Naturwissenschaftliche Kontexte:

Goethe und Haeckel

Obwohl Kant und Fichte die ersten Denker waren, welche den jungen Steiner nachhaltig prägten, stand im Zentrum seiner ersten selbständigen Publikationen die Auseinandersetzung mit der morphologischen Naturbetrachtung Goethes. Dabei ging es dem jungen Goethe-Forscher vor allem um die besondere Methode, mit der Goethe das Wesen und die Entwicklung der pflanzlichen und tierischen Gestaltungen in der Natur zu erforschen gesucht hatte. Goethe hatte bekanntlich in seinen botanischen Studien den Versuch unternommen, die Vielfalt der verschiedenen Pflanzenbildungen auf eine ideelle Grundgestalt zurückzuführen, die sogenannte ›Urpflanze‹. Analog dazu hatte er innerhalb der Zoologie eine vergleichbare Ableitung der Tiergestalten aus einer gemeinsamen Urgestalt angestrebt. Ersteres war ihm in relativ weitgehender Weise gelungen und er hat die Ergebnisse seiner Arbeit in der vielbeachteten Schrift Über die Metamorphose der Pflanzen veröffentlicht. In Bezug auf die Tierbildung hingegen gelangen Goethe nur einzelne Teilerfolge, z. B. die Deutung der Schädelform als Metamorphose des Wirbelknochens oder die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen. Das im Verein mit und im Anschluss an Herder verfolgte Vorhaben einer allgemeinen morphologischen Ableitung aller tierischen Formen aus einem Grundprinzip hingegen scheiterte.

So jedenfalls sah es Steiner, der in seiner Funktion als Herausgeber dieser Texte als leidenschaftlicher Apologet der spezifisch goetheschen Herangehensweise an die Naturwissenschaft auftrat. Er war der Ansicht, dass die moderne Naturwissenschaft zwar das Reich der anorganischen Natur mehr oder weniger angemessen zu verstehen in der Lage sei, dass aber eine wissenschaftliche Erkenntnis des organischen Lebens einer völlig anderen Methode bedürfe – und dass Goethe entscheidende Schritte in Richtung einer solchen ›Wissenschaft des Lebendigen‹ getan hatte. Sein Bild von Goethe war das eines »Galilei« und eines »Kopernikus und Kepler der organischen Welt«.

Das Grundprinzip der goetheschen Organik sah Steiner darin, die verschiedenen in der Natur vorkommenden pflanzlichen und tierischen Formen nicht nur zu beschreiben und zu ordnen, sondern sie als Metamorphosen einer bestimmten Grundform zu verstehen, des sogenannten ›Typus‹. Darunter verstand er weder ein tatsächliches, in materieller Form auftretendes Lebewesen (wie beispielsweise die von Haeckel postulierten Urformen der Evolution des Lebendigen) noch eine rein ideelle Gestalt wie einen Begriff oder eine platonische Idee. Nach seiner Interpretation war der goethesche ›Typus‹ etwas, das zugleich ideell und sinnlich ist; ein von der Einbildungskraft, der ›exakten sinnlichen Phantasie‹ hervorgebrachtes, deshalb aber keineswegs willkürliches und subjektives, sondern einer inneren Gesetzmäßigkeit folgendes Gedankenbild, das zugleich gedacht und vom ›geistigen Auge‹, von der ›anschauenden Urteilskraft‹ innerlich wahrgenommen werden kann.

Inwiefern das in der Auseinandersetzung mit Goethes ›anschauender Urteilskraft‹ entwickelte Prinzip der ›imaginativen‹ Erkenntnis in der steinerschen Kosmogonie eine zentrale Rolle spielt, werden wir später genauer betrachten. An dieser Stelle soll darüber gesprochen werden, wie Steiner darin den Versuch unternommen hat, die idealistisch-morphologische Naturbetrachtung Goethes, wie er sie verstand, zu einer methodischen Grundlage seines Versuches einer philosophisch-wissenschaftlichen Durchdringung und Fundierung anglo-indischer Theosophie zu machen. So wird etwa in der Geheimwissenschaft jede auf der Erde zu findende Naturgestaltung, von den Mineralien über die Pflanzen und die Tiere hin zum Menschen, als ›Metamorphose‹ verstanden, als Umbildung und Vervollkommnung einer zuvor weniger vollkommenen Gestalt, die als solche wiederum als Umbildung morphologischer Vorfahren gesehen wird – bis die Betrachtung zu einer Urform kommt, dem sogenannten »Saturn-Menschen«, der am Anfang der Schöpfung steht und als dessen Abkömmlinge und Umformungen alle Lebewesen verstanden werden. Und auch mit diesem ›alten Saturn‹ kommt die morphologische Betrachtung nicht an ein Ende, denn auch der ›Saturn‹ steht als Gestalt wiederum am Ende einer Reihe von Metamorphosen. Sogar Steiners Konzept der kosmischen Zukunft ist eine solche Metamorphose, indem dieses davon ausgeht, dass der kommende äußere Kosmos nichts anderes sein wird als das nach außen gestülpte Innenleben des jetzigen Menschen.

Ein weiteres kosmogonisches Prinzip, das Steiner bei Goethe kennengelernt hatte, ist das Gesetz der Entwicklung durch ›Polarität und Steigerung‹. Es ist etwa in seinem allgemeinen Schema der Planetenentwicklung zu erkennen, nach dem ein zunächst einheitlicher Weltenkörper sich in polar entgegengesetzte Planetenkonstellationen aufteilt, die sich aber dann später wieder vereinigen. So tritt in der Erdentwicklung zunächst die Sonne aus dem Erdkörper heraus und bildet deren Gegenpol; später bildet die Entgegensetzung von Sonne und Mond eine Polarität in sich. Und auch die anderen Planeten des Sonnensystems werden in dieser Weise als Körper verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Erde austreten, um als Gegenpol von außen auf diese zu wirken, in dieser Polarität sich weiterentwickeln und sich dann wieder mit der Erde vereinigen. Eine andere Anwendung des Prinzips von Polarität und Steigerung ist Steiners Auffassung von der Sexualität. Er sieht die Menschheit als zunächst androgyne, die sich dann in zwei Geschlechter spaltet und in dieser Polarität neue Eigenschaften entwickelt. Der Mensch der Zukunft hingegen wird in dieser Konzeption wiederum die beiden Geschlechter in sich vereinigen. Weitere Beispiele für dieses universelle Ablaufschema in Steiners Texten könnten leicht beigebracht werden. Die konkreten Inhalte stammen dabei, wie noch zu zeigen sein wird, zumeist aus den kosmogonischen Texten Sinnetts und Blavatskys, aber die Form der Darstellung zeigt eindeutig die Signatur goethescher Morphologie.

Diese erste skizzenhafte Darstellung des Inhalts der Geheimwissenschaft kann den Eindruck erwecken, als gehe Steiners vom morphologischen Denken geprägte Weltentstehungslehre im Wesentlichen mit der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre Darwins und Haeckels konform. Dies ist aber insofern nicht der Fall, als für Steiner der Grund und das Prinzip der mannigfachen Umgestaltungen aller Formen der sichtbaren Natur nicht in dieser Natur selbst liegen (also etwa in einem durch Mutation und Selektion verursachten Anpassungs- und Vervollkommnungsprozess), sondern in einer der sinnlichen Wahrnehmung unzugänglichen Wirklichkeitssphäre, von welcher die Naturformen selbst nur der sinnlich-sichtbare Ausdruck sind. Nicht mechanisch und blind wirkende Gesetzmäßigkeiten stehen in der Geheimwissenschaft hinter dem Evolutionsgeschehen, sondern etwas Wesenhaftes, dem Absicht und Bewusstheit zukommt – von dem aber zugleich alles ferngehalten wird, was es wie einen persönlichen Schöpfergott im Sinne anthropomorpher Religionsvorstellungen aussehen lassen könnte.

Dieses Wesenhafte bezeichnet Steiner einerseits, in Anlehnung an idealistische Naturphilosophien, als ›Geist‹. Aber die Abstraktheit und Leerheit dieses Begriffes erscheint ihm für seine Zwecke nicht zureichend. Er will diesem Geist Konkretheit, Differenziertheit und Anschaulichkeit verleihen, ohne ihn als einen persönlichen Schöpfergott oder als abstrakte Schöpfungsidee darzustellen. Die Lösung findet er darin, in seine Kosmogonie ein Element einzuführen, welches in seiner Theosophie von 1910 so noch nicht vorkam, nämlich ein differenziertes System von geistigen Wesenheiten oder ›Hierarchien‹. Damit folgt er dem Vorbild H. P. Blavatskys in der Geheimlehre, bezieht sich allerdings nicht wie die große Theosophin auf fernöstliche Angelologien, sondern lehnt sich an christlich-mittelalterliche Engellehren an, insbesondere an diejenige des Pseudo-Dionysos Aeropagita.

Das Hierarchien-Konzept erlaubte es Steiner, nicht bei der abstrakten Vorstellung eines hinter bzw. in der sinnlich-physischen Welt wirksamen ›Geistes‹ stehenbleiben zu müssen. Nun konnte er den verschiedenen Tätigkeiten und Wirksamkeiten dieses Geistigen im Bilde der verschiedenen Hierarchien-Wesen und ihrer Taten einen konkreten, differenzierten und relativ anschaulichen Ausdruck geben. Ferner muss seine Schilderung der Entwicklung des Kosmos nicht bei jener oben erwähnten mineralischen ›Wärmewelt‹ haltmachen, die in der Geheimwissenschaft als ›alter Saturn‹ bezeichnet wird. Sondern dieser ›Saturn‹, der für die physische Betrachtung den Ursprung der Welt darstellt, wird nun selbst wiederum als Metamorphose aufgefasst, als Umbildung bzw. Ausstülpung des inneren Lebens von Hierarchien-Wesen, die dasjenige, was sich äußerlich als Kosmos darstellt, aus ihrem seelisch-geistigen Wesen emanieren.

So entsteht vor dem inneren Auge des Lesers unserer Texte neben dem natürlichen Kosmos, in dem sich die sinnlich greifbaren vier Naturreiche des menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mineralischen Seins befinden und nach dem Gesetz einer alles Sein umfassenden Metamorphosenreihe entwickeln, ein zweiter Kosmos: eine Welt rein geistig-seelischer Wesen, die nicht, wie die Erscheinungsformen des natürlichen Kosmos, konkret beschreibbare Gestaltungen annehmen, sondern als reine Tätigkeit charakterisiert werden können. Und wie im ›Kosmos der Gestaltungen‹ wird auch in diesem ›Kosmos reiner Tätigkeit‹ jede Wesensstufe als Metamorphose einer je anderen verstanden. Die ›Erzengel‹ etwa, die eine Stufe über den ›Engeln‹ stehen, waren nach Steiners Darstellung auf früheren Stufen der Entwicklung selbst ›Engel‹. Überhaupt muss jedes Wesen in diesem Hierarchien-Kosmos durch alle unter ihm stehenden Stufen selbst hindurchgehen, bevor es auf seiner derzeitigen Entwicklungsstufe ankommen kann. Auch die höchststehenden Wesen wie die ›Throne‹, ›Cherubim‹ und ›Seraphim‹ müssen zunächst die ›Engel‹-Stufe, dann die ›Erzengel‹-Stufe usw. durchmachen. Und selbst die antagonistischen bzw. Widersachermächte dieser Tätigkeitswelt, die ›luziferischen‹ und ›ahrimanischen‹ Wesen, entstehen auf dieselbe Weise, indem nämlich bestimmte Wesen in jeder Kategorie die ihnen natürliche Evolution nicht vollständig mitmachen und so in ihrer Entwicklung gewissermaßen zurückbleiben und dann als retardierende Momente die Entwicklung der übrigen Wesen stören – freilich nur, um durch diese Störung auf lange Sicht wieder deren Fortentwicklung zu befördern.

Diese beiden ›Welten‹, die ›natürliche‹ und die ›geistige‹, und ihre jeweilige Entwicklung erscheinen in der Geheimwissenschaft zunächst als voneinander unabhängige Seinssphären. Dann aber zeigt sich, dass der ›physische‹ Kosmos der sich entwickelnden Naturgestalten und der ›geistige‹ Kosmos der Hierarchien-Wesen ein und derselbe sind, nur einmal in Hinblick auf eine der geistigen Anschauung erscheinende, alles schaffende und allem zugrundeliegende Tätigkeit angeschaut, und einmal aus der Perspektive auf jene Gestaltungen, in denen diese Tätigkeit dem gewöhnlichen Bewusstsein des Menschen als sinnlich-physische ›Welt‹ erscheint. Die im rastlosen Schaffen der geistigen Hierarchien verbildlichte Tätigkeit ›erschafft‹ in der Geheimwissenschaft nicht eigentlich die Welt – etwa wie der biblische Gott der Genesis oder der platonische Demiurg im Timaios –, sondern sie ist vielmehr das Innere und Eigentliche dieser Welt. Der Kosmos der natürlichen Formen und Gestalten, wie er der sinnlichen Erfahrung erscheint, ist nichts anderes als der äußere Ausdruck bzw. die im Betrachter sich ereignende Bewusstwerdung dessen, was sich in der von Steiner postulierten ›geistigen Anschauung‹ als reine Tätigkeit darstellt und in seinen Texten als Werk der Hierarchien-Wesen wird.

Von diesen Bestimmungen aus eröffnet sich eine dritte Perspektive, aus der das Weltgeschehen in Steiners Kosmogonie betrachtet wird: die bewusstseinsgeschichtliche. Denn sowohl den raum-zeitlichen Gestaltungen des natürlichen Kosmos wie auch den Tätigkeits-Wesen der Hierarchien-Welt kommt nach Steiner eine bestimmte charakteristische Form von Bewusstsein zu. Was sich einerseits als Kosmos von Gestaltungen und andererseits als Kosmos von Tätigkeitsformen darstellte, erscheint nun drittens als ein Kosmos von vielfachen, auseinander hervorgehenden Bewusstseinsformen. Und auch in diesem Bewusstseins-Kosmos werden alle Formen und wird alles Werden wiederum nach dem Vorbild goethescher Morphologie und im Sinne eines haeckelschen Entwicklungsmonismus gedacht. Die Bewusstseinszustände der Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen wie auch diejenigen der Hierarchien-Wesen gehen in derselben Weise wieder durch Metamorphose und Evolution auseinander hervor wie ihre Träger und ihre Inhalte. Jede Bewusstseinsform muss zuvor alle unter ihm stehenden Bewussteinsgestaltungen durchlaufen, wie die Wesen und die Naturgestaltungen die Formstufen ihrer jeweiligen Welt.

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Goethe hatte in Steiners Augen mit seiner Morphologie der Naturformen eine angemessene Methode entwickelt, den Kosmos der Naturgestaltungen zu verstehen, hatte aber diese nur in begrenztem Maße für ein umfassendes Verständnis der Natur fruchtbar machen können. Ernst Haeckel auf der anderen Seite hatte in seinen Schriften, ausgehend von den Anschauungen Darwins, etwas zu zeigen versucht, was bei Goethe fehlte: ein umfassendes und lückenloses Bild der Naturentwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart. In diesem haeckelschen Naturbild ging wie bei Goethe jede Naturform aus einer früheren hervor, aber über diesen hinaus schloss sich hier die gesamte Natur zu einem einheitlichen (monistischen) Gebilde zusammen. Die Natürliche Schöpfungsgeschichte Haeckels verwirklichte somit in gewisser Hinsicht, wonach Goethe vergeblich gestrebt hatte, und dies zog Steiner an. Besonders das von Haeckel formulierte ›biogenetische Grundgesetz‹ begeisterte Steiner, d. h. die Vorstellung, dass alle Lebewesen während ihrer individuellen embryonalen Entwicklung die grundlegenden Phasen der stammesgeschichtlichen Evolution ihrer Art wiederholen. Diesen Gedanken bezeichnete er 1906 gegenüber Edouard Schuré als »die bedeutendste Tat des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts«; und zwar nicht nur im Hinblick auf die Naturwissenschaft, sondern auch und gerade im Hinblick auf eine naturwissenschaftliche Begründung von Esoterik. »Die Haeckelschen Forschungsergebnisse bilden sozusagen[endif]-->, so Steiner in einem Vortrag des Jahres 1905, »das erste Kapitel der Theosophie oder Geisteswissenschaft«.

Trotz solcher Bewunderung gegenüber den Leistungen Haeckels, trotz der Übereinstimmung beider Denker in ihrer monistischen Grundhaltung und trotz Steiners Überzeugung von der Eignung des biogenetischen Grundgesetzes als Grundlage einer wissenschaftlich fundierten Esoterik formulierte er auch grundlegende Kritik an der haeckelschen Entwicklungslehre. So monierte er, dass diese nur die äußerlich-sichtbaren materiellen Gestalten der Natur beschreibe. Er vermisste bei Haeckel die ideelle Urgestalt, die Typus-Idee, welche Goethe als das an sich unsichtbare, aber alles Sichtbare gestaltende Prinzip in allem Lebendigen angeschaut hatte. Daher assimilierte Steiner zwar auf der einen Seite die Haeckelsche Weltanschauung und das biogenetische Grundgesetz in sein Denken, gab diesen aber eine neue und deutlich idealistischere Fassung – im Sinne seiner Goethe-Interpretation und ausgeweitet auf Seelisches und Geistiges. So wie Goethe und Haeckel die materiellen Naturformen nur aus einander (und nicht mehr aus einem übernatürlichen Schöpferwillen) hervorgehen ließen, so sollten nach Steiner auch sämtliche seelischen und geistigen Gestaltungen nach dem Gesetz der universalen Metamorphose auseinander hervorgehen – und nicht aus einem übernatürlichen, jenseits des Kosmos waltenden göttlichen Ursprung oder aus einem unerklärlichen Nichts.

In dieser erweiterten und idealisierten Form wird Haeckels biogenetisches Theorem zu einem grundlegenden Prinzip der esoterischen Kosmogonie und Anthropogenie Steiners. So lässt dieser in der Geheimwissenschaft jede neue Stufe der Erdentwicklung damit beginnen, dass die zuvor durchlaufenen Entwicklungsstufen zunächst einmal wiederholt werden, d. h. er postuliert, dass nicht nur die Lebewesen, sondern die Erde insgesamt (die freilich bei Steiner als ein Lebewesen begriffen wird) dasjenige durchläuft, was Haeckel von der Embryonalentwicklung behauptet hatte. Der Gedanke zeigt sich ferner darin, dass bei Steiner sowohl die vier Naturreiche (Mineral, Pflanze, Tier, Mensch) als auch die vier Bewusstseinsstufen (Wach-, Traum-, Schlaf- und Trancebewusstsein) und die vier ›Wesensglieder‹ des Menschen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich) allesamt die vier grundlegenden Stadien der kosmischen Erdentwicklung (›Saturn‹, ›Sonne‹, ›Mond‹ und Erde) widerspiegeln und gewissermaßen replizieren. Und indem der Mensch nach Steiner diese vier Glieder nicht von Anfang an voll ausgebildet besitzt, sondern sie sukzessive im Abstand von Siebenjahresperioden ausbildet, wiederholt auch jeder individuelle Mensch während seiner Entwicklung buchstäblich den gesamten kosmischen Prozess der Erdevolution.

Weitere Beispiele solcher anthropologischen und kulturgeschichtlichen Adaptionen und Weiterbildungen des biogenetischen Grundgesetzes in der steinerschen Esoterik ließen sich leicht nachweisen. Im Großen gesehen ist dieses Gesetz bei Steiner das grundlegende gedankliche Vehikel, mit dessen Hilfe er das die westliche Esoterik prägende hermetische Prinzip der Seinsanalogie von Mikrokosmos und Makrokosmos, nach dem jedes Einzelwesen als Spiegel und Ausdruck des Ganzen der Welt zu verstehen ist, in eine moderne und wissenschaftskompatible gedankliche Form zu bringen versucht. Und so kann zusammenfassend wohl gesagt werden: Ohne die Adaption von Goethes Morphologie und Haeckels Entwicklungslehre wäre die steinersche Kosmogonie, wie sie in der Geheimwissenschaft konzipiert wird, nicht realisierbar gewesen. Zwar lehnt sie sich auch, wie noch zu zeigen sein wird, in nachhaltiger Weise an die theosophischen Kosmogonien Sinnetts und Blavatskys an, lässt sich aber aus diesen allein, auch wenn dies in der kritischen Steinerforschung immer wieder versucht worden ist, in ihrer spezifischen Gestaltung nicht erklären. Denn ihre Besonderheit liegt gerade in der Art und Weise, wie Steiner diese theosophischen Vorbilder im Sinne seines morphologischen Wirklichkeitsverständnisses und seiner idealistischen Philosophie adaptiert, interpretiert und modifiziert hat.

 

Philosophische Kontexte:

Von Kant zu Schelling

In der Steinerforschung ist immer wieder der Versuch gemacht worden, eine grundlegende Kluft zwischen Steiners Esoterik ab 1902 und seinem philosophischen Frühwerk nachzuweisen und diese mittels einer weltanschaulichen ›Konversion‹ Steiners zu begründen. Dagegen ist in den Einleitungen dieser textkritischen Edition, besonders in den Bänden 5, 6 und 7, der innere Zusammenhalt betont worden, der bei aller thematischen, stilistischen und terminologischen Wandlung im steinerschen Werk besteht und der die verschiedenen Phasen seiner Entwicklung weniger als Anzeichen einer ›Konversion‹ und mehr als Stufen einer kohärenten Entwicklung erscheinen lässt. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man sich der philosophischen Gedankenwelt Steiners näher zuwendet.

Steiners Zugang zur Wirklichkeits- und somit zur Ursprungsfrage, wie dieser sich in seinem philosophischen Frühwerk darstellt, kann cum grano salis als ein transzendentalphilosophischer Zugang in der prinzipiellen Nachfolge aber auch in partieller Abgrenzung von Kant charakterisiert werden. ›Wirklichkeit‹ versteht der frühe Steiner als innere Einheit dessen, was in der menschlichen Erfahrung notwendig in eine innere und eine äußere ›Welt‹, in Subjekt und Objekt, Erkenner und Erkanntes, Ich und Welt zerfällt (vgl. Einleitung zu Band 2). Daher darf sich seiner Ansicht nach, wie schon für die Philosophen des deutschen Idealismus, die Erkenntnis der Wirklichkeit niemals auf eine dieser nur für das erkennende Subjekt bestehenden ›Teilwelten‹ beschränken, sondern hat auf die hinter ihnen stehende und sie tragende und hervorbringende Einheit zu blicken. In der von Steiner ins Auge gefassten ›Geisteswissenschaft‹ geht es darum, nicht nur die Erzeugnisse der produktiven Tätigkeit des Geistes ins Auge zu fassen, mit denen es Religion, Historiographie oder Naturwissenschaft zu tun haben – also etwa Vorstellungen wie ›Gott‹, ›Geschichte‹ oder ›Natur‹ –, sondern wie einst Fichte gefordert hatte, diejenige Tätigkeit, durch welche solche und alle anderen Vorstellungen überhaupt erst hervorgebracht werden. Nur in der Erfahrung des in der gedanklichen Tätigkeit Tätigen kann der Mensch nach Steiner hoffen, jener Einheit, jenem Ursprung erkennend und erlebend nahe zu kommen, von der alle sinnenfälligen und ideellen ›Welten‹ nur Bilder und Spiegel sind.

Innerhalb der Darstellung dieser Konzeption in der Philosophie der Freiheit findet sich eine Passage, die im Kontext der steinerschen Kosmogonie von besonderem Interesse ist. Da schreibt nämlich der vortheosophische Steiner, als hätte er 1894 bereits geahnt, dass er zehn Jahre später einmal eine Kosmogonie schreiben würde, dass die Lösung der Ursprungsfrage, also der Grundfrage der Kosmogonie, auf dem Weg der sinnlichen Beobachtung (und somit mit den Mitteln der Naturwissenschaft) prinzipiell nicht zu finden ist, sondern nur in der ›inneren‹ Erfahrung gefunden werden kann:

Wir können uns nicht mit einem Sprunge an den Anfang der Welt versetzen, um da unsere Betrachtung anzufangen, sondern wir müssen von dem gegenwärtigen Augenblick ausgehen und sehen, ob wir von dem Späteren zu dem Früheren aufsteigen können. So lange die Geologie von erdichteten Revolutionen gesprochen hat, um den gegenwärtigen Zustand der Erde zu erklären, so lange tappte sie in der Finsternis. Erst als sie ihren Anfang damit machte, zu untersuchen, welche Vorgänge gegenwärtig noch auf der Erde sich abspielen und von diesen zurückschloß auf das Vergangene, hatte sie einen sicheren Boden gewonnen. Solange die Philosophie alle möglichen Prinzipien annehmen wird, wie Atom, Bewegung, Materie, Wille, Unbewußtes, wird sie in der Luft schweben. Erst wenn der Philosoph das absolut Letzte als sein Erstes ansehen wird, kann er zum Ziele kommen. Dieses absolut Letzte, zu dem es die Weltentwicklung gebracht hat, ist aber das Denken. (PF, 53)

In gewisser Weise formuliert damit die Philosophie der Freiheit von 1893/94 bereits Methode und Ansatzpunkt der ab 1904 entstehenden esoterischen Kosmogonie Steiners: Denn in dieser wird in der Tat nicht von natürlichen oder historischen Tatsachen ausgegangen, sondern von der ›Tatsache‹ des Denkens, d. h. nicht von der Beobachtung irgendwelcher Erzeugnisse der Erkenntnistätigkeit, sondern von der Beobachtung dieser Tätigkeit selbst. Durch Vertiefung in die im individuellen subjektiven Denken zum Ausdruck kommende, durch ihr eigenes Wesen aber zugleich über das Individuum und die Subjektivität hinausweisende geistig-seelische Aktivität soll der Weg gefunden werden, die individuelle raum-zeitliche Erfahrung zu transzendieren und sich so eben doch buchstäblich »an den Anfang der Welt zu versetzen«, d. h. jene Tätigkeit ins Bewusstsein zu heben, welche Ursprung dieser und aller ›Welten‹ ist und durch die der Mensch, indem er an ihr teilhat, tatsächlich bei der Weltschöpfung jederzeit »darbey« ist. Denn die das individuelle Bewusstsein hervorbringende Tätigkeit, die dem Menschen als ›innere‹ erscheint, und diejenige Tätigkeit, welche die (scheinbar ›draußen‹ liegende) Welt hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt, sind aus der geschilderten Perspektive ein und dieselbe.

Angesichts dieser Zusammenhänge kann von einem tiefen systematischen Zusammenhang der steinerschen Kosmogonie mit seinem philosophischen Frühwerk gesprochen werden. Man könnte sogar sagen, dass letzteres die epistemologische und ontologische Grundlegung der ersteren darstellt. Daher sollen in den folgenden Abschnitten einige zentrale Aspekte der anthroposophischen Weltentstehungslehre etwas näher im Kontext von Steiners vortheosophischem Werk beleuchtet werden.

 

Mit Fichte über Kant hinaus:

die epistemologische Grundlegung der steinerschen Esoterik

Der oben skizzierten Beschäftigung Steiners mit Goethe und Haeckel ging biographisch eine intensive Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes voraus, die sich aber werkbiographisch erst in seiner zweiten schriftstellerischen Phase niederschlug. Deren wichtigste Elemente waren zum einen eine neukantianisch geprägte Erkenntnistheorie und zum andern eine an Fichte und Schelling angelehnte, inhaltlich aber auch dem anarchistischen Individualismus Nietzsches und Stirners verwandte Ethik und Freiheitslehre. Ihre systematische Darstellung fanden sie in Steiners Dissertation von 1891 (ein Jahr später erweitert zu Wahrheit und Wissenschaft) sowie in den beiden grundlegenden Teilen seiner Philosophie der Freiheit.

In diesen Schriften ging Steiner das Erkenntnisproblem in Anlehnung an bestimmte Diskurse an, welche im Umkreis des Neukantianismus gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts geführt worden waren. Den Akt des Erkennens charakterisiert er als ein im Bewusstsein sich vollziehendes Auseinanderfallen der objektiven ›einheitlichen Wirklichkeit‹ in zwei Teile: in die der Wahrnehmung gegebenen ›Erfahrung‹ und in die vom Denken erfassten bzw. hervorgebrachten begrifflichen Zusammenhänge. Diese beiden Wirklichkeitshälften würden dann im Akt der Vorstellungsbildung vom Menschen wieder zu einer Einheit zusammengeschlossen. In dieser Vereinigung von Erfahrung und Begriff, so Steiner, werde dann wieder eine einheitliche und objektive Wirklichkeit erlebt. Der Wirklichkeitscharakter des Erkennens liegt also für Steiner nicht, wohlgemerkt, in den Vorstellungen, die von der subjektiven Verfasstheit und Perspektive des Erkennenden abhängen, sondern in der vorstellungsbildenden Tätigkeit als solcher. »Was im Menschen ist, ist ideeller Schein; was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein«, heißt es 1884 in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung, »das erkennende Ineinanderarbeiten der beiden ist erst Wirklichkeit«.

Daran ist für den gegenwärtigen Zusammenhang bedeutsam, dass nach Steiner die ›Welt der Wahrnehmungen‹ und somit auch die Gesamtheit der menschlichen Vorstellungen subjektiven Charakter haben. Denn diese werden durch die Bedingungen der menschlichen Natur, durch die Beschaffenheit des Erkenntnisvermögens hervorgerufen und existieren daher als solche nur für den so erkennenden Menschen. Sogar die begrifflichen Bestimmungen als solche sind, zwar nicht ihrem Inhalt, wohl aber der Form ihres Erscheinens nach, nach Steiner an die spezifische Natur des menschlichen Erkenntnisprozesses und an die Perspektive, Erfahrung und Konstitution des individuellen Menschen gebunden.

Eine Philosophie, welche den auf der Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens beruhenden Charakter der Wirklichkeitserfahrung kritisch reflektiert und diese Reflexion allen ihren übrigen Betrachtungen zugrunde legt, wird seit Kant als ›Transzendentalphilosophie‹ bezeichnet. Und die Erkenntnis bzw. Wirklichkeitserfahrung selbst, die so beschrieben wird, heißt eine ›transzendentale‹. Insofern die steinersche Philosophie von diesem Paradigma aus ihren Anfang nimmt, kann auch sie – trotz grundlegender Abweichung von Kant und trotz aller Kritik an einzelnen Punkten seiner Philosophie – als eine transzendentalphilosophische Position verstanden werden. Denn auch ihr geht es nicht um das Erkennen einer ›transzendenten‹, jenseits der menschlichen Erfahrung liegenden Wirklichkeit, sondern um die Formen und Bedingungen des Erscheinens von Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein. Auch da, wo Steiner gegen Kant argumentiert (etwa indem er mehrere und sogar rein ›übersinnliche‹ Modi solchen Erscheinens postuliert), geht er grundsätzlich von dem durch dessen Transzendentalphilosophie gesteckten Rahmen aus.

Steiner verstand die kantsche Position als eine solche, die behauptet, der Mensch könne aus der Vorstellungswelt des sinnengebundenen Bewusstseins, die nur durch und für ihn selbst besteht, prinzipiell nicht ausbrechen. Das Erkennen einer nicht in Wahrnehmung und Begriff zerfallenden ›objektiven‹ Wirklichkeit sei somit nach Kant prinzipiell unmöglich. Dagegen postuliert er (Steiner) selbst, dass eine solche Art von Erkennen sehr wohl möglich sei und formuliert die Bedingungen der Möglichkeit desselben in Anlehnung an Theoreme, die er in der Philosophie Fichtes kennengelernt hatte. Was Fichte als ›intellektuelle Anschauung‹ bezeichnet, wird bei Steiner zur ›Beobachtung des Denkens‹. In der Beobachtung der eigenen vorstellungsbildenden Tätigkeit, so die Argumentation in Steiners Frühschriften, erlebe der Mensch nicht nur seine subjektiven Vorstellungen, sondern das Wesen derjenigen Tätigkeit, von der die Vorstellungen nur Produkte sind: des Denkens. Dieses sei aber als solches zugleich subjektiv und objektiv: subjektiv, insofern es auf der Tätigkeit des individuellen vorstellungsbildenden Menschen beruht; objektiv, weil die gesetzlichen Zusammenhänge, welche den Prozess der Vorstellungsbildung leiten, die begrifflichen Verbindungen, die dabei hergestellt werden, ihrem Inhalt nach nicht aus dem Individuum stammen, sondern von diesem gewissermaßen nur aufgefunden bzw. festgestellt werden und daher mit dessen leiblicher und seelischer Verfassung nichts zu tun haben. Im Beobachten der vorstellungsbildenden Tätigkeit, im ›Erleben des Denkens‹ liegt somit für den Philosophen Steiner der Weg zu einer Erfahrung, in welcher Wirklichkeit nicht in die Dichotomie von Gedanke und Wahrnehmung, von Subjekt und Objekt, von ›innen‹ und ›außen‹ zerfällt, sondern in der beide als ein und dasselbe erlebt werden können. Eine solche Erfahrung bezeichnen Steiners Frühschriften als ›intuitive‹ Erkenntnis. Die Fähigkeit des Menschen zum intuitiven Denkerleben verbürgt für ihn sowohl das wirklichkeitsgemäße Erkennen als auch das freie Handeln. All dies haben wir in der Einleitung zu Band 2 ausführlich dargestellt.

Als Steiner um 1902 begann, sich der Theosophie anzunähern, vermisste er in den Schriften Sinnetts, Blavatskys und Besants eine erkenntnistheoretische Grundlage dieser Weltanschauung und machte es sich zur Aufgabe, eine solche nachzuliefern. In gewisser Weise wiederholte sich damit etwas, was er bereits in den achtziger Jahren unternommen hatte, als er in seiner Erstlingsschrift von 1886, den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung, eine von Goethe selbst nicht formulierte erkenntnistheoretische Fundierung goethescher Naturanschauung zu rekonstruieren versuchte. Jetzt aber wollte Steiner eine »Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft« (SE, 217) formulieren, also gewissermaßen die ›Grundlinien einer Erkenntnistheorie der theosophischen Weltanschauung‹. Diese kam in seinen Schriften zur Erkenntnisschulung zur Darstellung, d. h. in den Artikelserien Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/05) und Die Stufen der höheren Erkenntnis (1905–08) (vgl. dazu die Einleitung zu SKA 7).

Diese theosophische Epistemologie setzt methodisch anders an als die frühere philosophische, nämlich mit der zentralen Prämisse, dass es im Menschen vier grundsätzliche Arten der Bewusstheit gebe. Deren unterste ist das auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende wache Gegenstandsbewusstsein, während die drei darüber stehenden Stufen als ›übersinnliche‹ Erkenntnisformen bezeichnet werden: als Imagination, Inspiration und Intuition. Erstere, die Imagination, beschreibt Steiner als ein Erleben in Bildern, die aber als solche nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen, sondern von der Einbildungskraft hervorgebracht werden und somit einer eigenen Gesetzmäßigkeit unterliegen. Die steinersche Imagination gleicht insofern dem Traumerleben, zeichnet sich aber diesem gegenüber dadurch aus, dass das Erleben nicht unklar, chaotisch und außer der Kontrolle des Menschen verlaufe wie das Träumen, sondern vollbewusst und klar wie das begriffliche Denken. Auf der zweiten Stufe, der Inspiration, verschwinden nach Steiner auch noch die Bilder aus dem Bewusstsein. Daher lässt sich das inspirierte Erleben mit einem ›inneren Hören‹ vergleichen. Hier erlebt der Mensch nach Steiner nichts anderes als begriffliche Zusammenhänge, ohne jeden Bezug auf sinnliche Erfahrungsinhalte. Im dritten Zustand schließlich, der Inspiration, verschwänden auch die Begriffe. Im intuitiven Bewusstsein höre jegliche Form der Repräsentation auf und der Erkennende erlebe sich mit dem Erkannten als eins.

So unterschiedlich sich auf den ersten Blick Steiners Theorie von den drei ›höheren‹ bzw. ›übersinnlichen‹ Erkenntnisstufen von seiner philosophischen Epistemologie ausmachen mag, so sind doch zentrale Übereinstimmungen festzustellen. Der gemeinsame Kern wurde oben bereits genannt: Schon der Philosoph Steiner hatte jene Erfahrung, welche im ›Ausnahmezustand‹ der Denkbeobachtung gemacht werden könne, als ›übersinnliche‹ bzw. ›sinnlichkeits-‹ oder ›leibfreie‹ Erkenntnis charakterisiert. Und die höchste Stufe dieses Erlebens hieß auch in den Frühschriften bereits ›Intuition‹. Ferner wird schon in der Philosophie der Freiheit die Fähigkeit der Anwendung solch intuitiven Denkens auf das praktische Leben als ›moralische Phantasie‹ bezeichnet und somit in Verbindung mit der imaginatio, der Einbildungskraft gebracht. Und auch von der ›Inspiration‹ wird, der Sache nach, bereits 1894 geredet, indem Steiner von der Möglichkeit eines rein begrifflichen, sinnlichkeitsfreien Denkens spricht. Die theosophische Erkenntnistheorie Steiners von 1905 greift also die grundlegenden epistemologischen Bestimmungen der Philosophie der Freiheit wieder auf und fügt lediglich zwischen das gewöhnliche Alltagsbewusstsein und die Intuition zwei weitere Stufen des ›übersinnlichen‹ Erlebens hinzu – Imagination und Inspiration –, von denen aber der Sache nach auch schon 1894 die Rede gewesen war.

Da Steiner immer wieder die grundlegende Einheit seines Werkes betonte und sein Frühwerk zeitlebens als philosophische Grundlegung seiner späteren Esoterik betrachtet hat, wird ein hermeneutischer Zugang zumindest den Versuch machen müssen, ob sich dasjenige, was in den Frühschriften über die Natur des Erkennens im Allgemeinen geschrieben worden ist, auch auf seine spätere Theorie der Stufen des übersinnlichen Erkennens anwenden lässt. Demnach wäre zu überprüfen, ob nicht auch die ›imaginative‹ Erkenntnis notwendig als Ergebnis der Vereinigung einer Wahrnehmung mit einem Begriff zu verstehen ist, nur mit dem Unterschied, dass der Wahrnehmungsinhalt jetzt nicht unmittelbar aus der sinnlichen Anschauung kommt, sondern von der Einbildungskraft hervorgebracht wird (wobei einzelne Elemente derselben durchaus aus der sinnlichen Erfahrung stammen könnten). Auch im imaginativen Bewusstsein würde dann nach Steiners Auffassung die angestrebte Wirklichkeitserfahrung nicht in dem von der Einbildungskraft erzeugten imaginativen Bild liegen, noch in dem hinzugefügten Begriff, sondern allein im Erleben der Tätigkeit des »erkennenden Ineinanderarbeitens der beiden«.

In anderen Worten: Die ›Bilder‹ bzw. bildartigen Erlebnisse, welche sich im imaginativen Bewusstsein einstellen, dürfen – wenn denn Steiners Erkenntnistheorie der achtziger und neunziger Jahre in der Tat auch für dessen Aussagen nach 1900 Gültigkeit hat – ebensowenig als ›Wirklichkeit‹ aufgefasst bzw. mit dieser verwechselt werden wie die sinnlichen Eindrücke des gewöhnlichen Bewusstseins. Die Welt der imaginativen Vorstellungen, von denen der Esoteriker Steiner in seinen Texten erzählt, wird man also als eine solche zu verstehen haben, die als solche nur für das und in dem imaginativen Bewusstsein etwas bedeutet, das sie erlebt; so wie die Welt der Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins nur in diesem und für dieses da ist. Der Durchbruch ins Transsubjektive ereignet sich in beiden Fällen erst im Erleben jener geistigen Tätigkeit, deren Erzeugnisse die (sinnlichen oder imaginativen) Vorstellungen sind.

So gesehen kann die theosophische Erkenntnislehre Steiners also in vergleichbarem Sinne als eine ›transzendentale‹ verstanden werden, wie diejenige des Frühwerkes. Freilich geht sie, im Postulat der Möglichkeit einer übersinnlichen Wirklichkeitserfahrung, mit Fichte über Kant hinaus – und mit der Differenzierung des übersinnlichen Erlebens in die drei Stufen von Imagination, Inspiration und Intuition auch über Fichte. Aber wenn man die von Steiner postulierte Kontinuität seiner theoretischen Entwicklung ernst nimmt, wird man wohl davon ausgehen müssen, dass nach Steiners Auffassung die im Modus des ›imaginativen‹ und des ›inspirierten‹ Erkennens erlebten Welten ebensowenig ohne das sie erlebende Bewusstsein da sind, wie die vom sinnlichen Bewusstsein erlebte.

An diese in früheren Bänden bereits ausführlicher dargestellten Zusammenhänge erinnern wir an dieser Stelle deshalb noch einmal, weil sie von entscheidender Bedeutung für einen sachgemäßen hermeneutischen Zugang zur steinerschen Kosmogonie sind. Viele Deutungen und Bewertungen von Steiners Akasha-Chronik und seiner Geheimwissenschaft zeichnen sich dadurch aus, dass die Interpreten den von Steiner ausdrücklich als auf ›übersinnlicher Erfahrung‹ basierend gekennzeichneten Charakter der Darstellung ignorieren und diese Texte so lesen, als handle es sich um ›realistisch‹ bzw. ›buchstäblich‹ aufzufassende Aussagen. Steiner hingegen weist immer wieder nachdrücklich darauf hin, dass diese Texte als Schilderungen imaginativen, inspirierten und intuitiven Erlebens aufzufassen sind. Genauer gesagt: als sprachliche Umsetzungen solch übersinnlichen Erlebens in Vorstellungen, welche vom gewöhnlichen sinnengestützten Gegenstandsbewusstsein aufgenommen und durchdacht werden können. Im Lichte dieser Äußerungen über die besondere Natur und den besonderen Gegenstand geisteswissenschaftlicher Darstellungen (in dem Sinne, wie Steiner dieses Wort versteht), erscheint die sowohl unter Anthroposophen wie unter unabhängigen Forschern weit verbreitete Auffassung, Steiner habe mit seinen Aussagen in einen direkten Diskurs mit den Natur- und den traditionellen Geisteswissenschaften treten wollen, habe also sozusagen im Diskurs der traditionellen Natur- und Kulturwissenschaften ›mitreden‹ oder gar diese ›korrigieren‹ wollen, äußerst fragwürdig. Jörg Ewertowski etwa schreibt:

Der Ausdruck Geisteswissenschaften bedeutet [bei Dilthey] eine gegenstandsbezogene Abgrenzung von den Naturwissenschaften. In Steiners Grundlegung der Geisteswissenschaft findet sich hingegen keine auf ein besonderes Gegenstandsgebiet ausgerichtete Definition des Geistbegriffs. Die Anthroposophie widmet sich vielmehr gleichermaßen den Gegenständen, die dem akademischen Verständnis zufolge in den Bereich der Naturwissenschaften fallen, wie solchen, die dort in die Geistes- oder Kulturwissenschaften gehören. (Ewertowski [2011], 192 f.)

Richtig daran ist, dass Rudolf Steiner mit seinen Aussagen in der Tat ähnliche Problemgebiete bearbeitete wie die Naturwissenschaften und die traditionellen Geisteswissenschaften. Auch ihm ging es darum, diejenigen Phänomene zu verstehen, die wir gewöhnlich unter den Begriffen ›Natur‹ und ›Kultur‹ subsumieren. Aber sowohl die Methode als auch der Gegenstand seiner Forschung war, wie wir oben deutlich zu machen suchten, letztlich eben doch ein ganz anderer. Die ›Welten‹, die in Steiners Esoterik geschildert werden, samt aller darin enthaltenen Wesen und Entwicklungen (der ›alte Saturn‹, das ›Geisterland‹, die ›lemurische Periode‹ usw.) sind ihrem ontologischen Status nach ganz andere als die, um deren Verständnis sich die Naturwissenschaften und die gewöhnlichen Geisteswissenschaften bemühen. Es sind Welten, die – in den von Steiner häufig zitierten Worten Fichtes – für den gewöhnlichen Betrachter »gar nicht vorhanden« sind. Nicht etwa, weil sie zeitlich so weit zurücklägen, sondern weil sie sich ausschließlich dem ›übersinnlichen‹ Erleben darstellen, das der Mensch zunächst tätig in sich hervorbringen muss (vgl. GU, 123).

In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Steiner in der Einleitung zur Geheimwissenschaft unterstreicht, dass das in diesem Buch Vorgetragene sich als »Gegensatz zur Naturwissenschaft« (und, so wäre hinzuzufügen, als Gegensatz zu den Geisteswissenschaften in gewöhnlichen Sinne dieses Wortes) versteht. Das Werk wie eine naturwissenschaftliche oder geschichtswissenschaftliche Schrift zu lesen und die Validität seiner Aussagen an den Ergebnissen dieser Wissenschaften messen zu wollen, würde Steiners grundlegenden Intentionen fundamental entgegenlaufen. ›Geisteswissenschaftliche‹ Schilderungen im Sinne Steiners begreifen sich explizit nicht als Repräsentation von etwas Vorhandenem (in dem Sinne, wie der Naturforscher davon ausgeht, dass die von ihm erforschte Natur auch ohne ihn vorhanden ist), sondern vielmehr als Andeutung dessen, wie sich Wirklichkeit dem ›übersinnlichen‹ Bewusstsein darstellt – in dem Wissen, dass hier der eigentlich unmögliche Versuch unternommen wird, etwas zu versprachlichen, was sich nicht versprachlichen lässt.

Überhaupt versteht Steiner seine Texte weniger als Quelle der Information und mehr als Medium einer Transformation, d. h. als Katalysator einer Verwandlung des Bewusstseins, als Meditationsstoff für die Einübung in ein imaginatives, sinnlichkeitsfreies Erleben. Denn erst für dieses und in diesem Erleben sind die Welten und Phänomene »vorhanden«, von denen seine Texte sprechen. Diese didaktische Konzeption kleidete Steiner 1917 in folgendes Bild, mit deutlicher Anspielung auf Joh. 12:24:

Durch einen Vergleich möchte ich noch veranschaulichen, wie anders das ganze Verhalten der Seele innerhalb der anthroposophischen Geistes-Erforschung ist […]. Man stelle sich eine Anzahl von Weizenkörnern vor. Man kann diese als Nahrungsmittel verwenden. Man kann sie aber auch in die Erde setzen, so daß sich andere Weizenpflanzen aus ihnen entwickeln.

Man kann Vorstellungen, die man durch die Sinneserlebnisse gewonnen hat, so im Bewußtsein halten, daß man in ihnen das Nachbilden der sinnenfälligen Wirklichkeit erlebt. Und man kann sie auch so erleben, daß man die Kraft in der Seele wirksam sein läßt, die sie in derselben durch dasjenige ausüben, was sie sind, abgesehen davon, daß sie ein Sinnliches abbilden. Die erste Wirkungsweise der Vorstellung in der Seele läßt sich vergleichen mit dem, was durch die Weizenkörner wird, wenn sie als Nahrungsmittel von einem Lebewesen aufgenommen werden. Die zweite mit der Hervorbringung einer neuen Weizenpflanze durch jedes Samenkorn. – Der Vergleich darf allerdings nur so gedacht werden, daß man berücksichtigt: aus dem Samenkorn wird eine der Vorfahren-Pflanze ähnliche; aus der in der Seele wirksamen Vorstellung wird innerhalb der Seele eine der Bildung von Geistorganen dienliche Kraft. (VS, 30 f.)

Steiners Werben für eine seinem geisteswissenschaftlichen Ansatz entsprechende Rezeptionshaltung erinnert in mancher Hinsicht an das verzweifelte Ringen Fichtes mit seinem Lesepublikum um eine Verständigung über die in seinen Texten vorausgesetzte Rezeptionshaltung. Die folgenden Worte aus Fichtes Einleitungen in die Wissenschaftslehre von 1813 hat Steiner nicht nur unzählige Male zitiert, sondern auch an den Anfang seines theosophischen Erstlings, seiner Theosophie von 1904, gestellt:

Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist … Denke man eine Welt von Blindgeborenen, denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese und redet ihnen von Farben und den anderen Verhältnissen, die nur durch das Licht und für das Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von Nichts, und dies ist das Glücklichere, wenn sie es sagen, denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler merken und, falls ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen. (TH, 1 f.)

 

Nochmals Fichte: idealistische Wurzeln der Christologie

und des Schöpfungsverständnisses der Geheimwissenschaft

Fichte war nicht nur als Wissenschaftstheoretiker von Bedeutung für das Denken Rudolf Steiners, sondern auch als Religionsphilosoph. In dieser Hinsicht besteht eine glückliche Ausnahme zu der oben von uns beklagten Abwesenheit gründlicher Untersuchungen über das Verhältnis Steiners zum deutschen Idealismus. Hartmut Traub hat in seiner 2011 erschienenen Studie Philosophie und Anthroposophie (PuA) zu diesem Gegenstand aufschlussreiche Untersuchungen angestellt, und zwar nicht nur im Hinblick auf Johann Gottlieb Fichte, sondern auch auf dessen Sohn Immanuel Hermann. Die Ergebnisse dieser Analyse fasst er selbst in folgender Weise zusammen:

Seine ersten philosophischen Bekanntschaften mit der Wiedergeburts- und Reinkarnationslehre, dem unvergänglichen Wesen des Ich und der Gegenwärtigkeit der übersinnlichen Welt und des ewigen Lebens, sowie den ›geistigen Organen‹, sich diese Welten zu erschließen, dürfte Steiner in Fichtes Einleitungsvorlesungen zur Wissenschaftslehre, der Bestimmung des Menschen sowie der Anweisung zum seligen Leben gemacht haben, in Büchern also, die Steiner lange vor seinem Studium der mystischen, esoterischen und indischen Schriften mit Begeisterung gelesen hat und deren nachhaltiger Eindruck in Steiners Schriften unübersehbar ist. […] Aus diesen Arbeiten haben Steiners Theosophie und Anthroposophie nicht nur ihre grundsätzliche methodische und inhaltliche Geistesrichtung empfangen, sondern auch ihre zentralen, insbesondere religionsphilosophischen Themen aufgesogen. Steiners ›asiatische Phase‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts war demnach nicht der initiale Ausgangspunkt für seine Theosophie und Anthroposophie, sondern lediglich episodisches Zwischenspiel auf dem Weg der Entwicklung einer deutlich euro-, man kann auch sagen, christozentrischen Weltanschauung. Und für diese liegen die elementaren Ursprünge vor allem in der esoterischen Deutung eines dominant johanneisch erschlossenen Christentums, wie es Steiner in Fichtes Anweisung vorgefunden hat. (PuA, 968 f.)

Aus der dichten Analyse Traubs sollen an dieser Stelle zwei Aspekte herausgegriffen werden, welche für die Texte dieses Bandes von besonderer Bedeutung sind: das steinersche Christusverständnis und sein Schöpfungsbegriff.

Bis zur Veröffentlichung von Philosophie und Anthroposophie war es Konsens unter Steinerforschern, davon auszugehen, dass Steiner sich mit Fragen der Christologie und der Schöpfungstheologie erst nach der Jahrhundertwende im Kontext seiner Aneignung theosophischer Schriften beschäftigt habe. Diese Ansicht hatte der Anthroposoph Christoph Lindenberg in seiner vielbeachteten Biographie ebenso vertreten wie der Historiker Helmut Zander. Dagegen plädiert Traub dafür, dass in beiden Hinsichten von einem zentralen Einfluss der religionsphilosophischen Schriften Johann Gottlieb Fichtes auf den vortheosophischen Steiner auszugehen ist und weist dies an Steiners Schrift Das Christentum als mystische Tatsache detailliert nach. Nicht nur die zentrale Bedeutung des Johannesevangeliums und des ›Lazaruswunders‹, sondern auch die Unterscheidung zwischen der historischen Entwicklung und der metaphysischen Bedeutung des Christentums, die Deutung des Lebens Christi als esoterisches Bild der Menschheitsentwicklung und die Vorstellung von einem ›Eintritt in ein höheres Leben‹ durch die Ausbildung eines ›geistigen Auges‹ sowie überhaupt die ganze Ausrichtung der steinerschen Deutung des Christentums in der Schrift von 1902 sieht Traub in Fichtes Schrift vorgebildet – und ansatzweise sogar schon in theosophische Terminologie gekleidet. Traub behauptet nicht, dass Fichte als einzige Quelle der steinerschen Deutung des Christentums und der Gestalt Christi anzusehen wäre und räumt ein, dass andere Einflüsse anzunehmen sind. Hier wäre besonders auf Annie Besants Schrift Das Esoterische Christentum hinzuweisen, zu dem die Christentums-Schrift Steiners in enger Beziehung steht. Er kommt aber doch insgesamt zu dem Schluss, dass der Einfluss Fichtes mindestens so zentral war wie derjenige von Steiners theosophischen Lektüren. Dafür sprechen seiner Ansicht nach nicht nur die vielen Parallelen im Detail, sondern auch der grundlegend philosophisch und wissenschaftlich angelegte Ansatz Fichtes, welcher der besantschen Deutung des Christentums fehlte.

Was so für die steinersche Christologie und seine Deutung des Christentums gelte, meint Traub auch für Steiners Schöpfungsbegriff nachweisen zu können. Helmut Zander hatte in AiD den Standpunkt vertreten, dass Steiners »Gegner in der Kosmologie« zum einen der naturwissenschaftliche Materialismus, daneben aber auch »die christliche Schöpfungslehre der ›creatio ex nihilo‹« gewesen seien. Ein solcher Anti-Kreationismus sei, so Zander, »in monistischen Kreisen um die Jahrhundertwende weit verbreitet« gewesen und Steiner sei ihm wahrscheinlich »bei dem verehrten Haeckel oder in Blavatskys ›Geheimlehre‹« begegnet. Dagegen vertritt Traub die Auffassung, Steiners Position stelle keineswegs einen Anti-Kreationismus dar, schon gar nicht einen radikalen, sondern lehne sich an ein christlich-philosophisches Schöpfungsverständnis an, das ihm bereits von Fichtes Deutung des Johannesevangeliums her bekannt gewesen sei. »Das Prinzip der Schöpfung als geistiger Akt – das heißt als Handlung des (johanneischen) Logos – wird von Steiner ausdrücklich anerkannt und auch in seiner eigenen Philosophie systematisch verwendet«. (PuA, 963)

Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Auffassung, Steiner habe die religionsphilosophischen und initiationsdidaktischen Elemente seiner Esoterik erst während seiner Auseinandersetzung mit der Theosophie entwickelt, im Licht der Untersuchungen Traubs nicht bestehen kann. Auch diese Vorstellungen wurzeln, wie überhaupt fast alle zentralen Themen des steinerschen Denkens, in seiner Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus und lassen sich nur unter Einbeziehung dieses Einflusses verstehen. Der von Zander unternommene Versuch, steinersche Esoterik ausschließlich oder auch nur primär als Resultat seiner Theosophie-Rezeption zu erklären, hält auch hier einer eingehenden Untersuchung der Sachlage nicht stand.

 

Immanuel Hermann Fichte und

die Idee einer ›Anthroposophie‹

Nur kurz sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass die Analysen Traubs über den Einfluss Johann Gottlieb Fichtes auf Steiner hinausgehen und auch dessen Sohn Immanuel Hermann mit einbeziehen. Die These wird vertreten, dass Steiner auch bei letzterem, und zwar inbesonders in dessen Anthropologie von 1856, einigen zentralen Aspekten seiner späteren Esoterik zum ersten Mal begegnet sei. So habe er hier zum ersten Mal einen philosophisch gefassten Theosophiebegriff kennengelernt, welcher das »Erkennen als Selbsterkennen« charakterisierte und so seinem eigenen philosophischen Denken entgegenkam. Ferner sei Steiner hier einer trinitarisch gefassten Anthropologie von Geist, Seele und Körper, einer ausgearbeiteten Theorie des ›höheren Erkennens‹, ja sogar dem Begriff ›Anthroposophie‹ begegnet, den er später für seine eigene Esoterik-Konzeption wählte.

Aufgrund dieser Entdeckungen teilt Traub nicht den allgemein in der Steinerforschung geltenden Standpunkt, dass unter dem Begriff ›Anthroposophie‹ eine ausschließlich von Rudolf Steiner ins Leben gerufene Erkenntnis- und Forschungsmethode zu verstehen sei. ›Anthroposophie‹ ist für Traub vielmehr ein von Steiners Werk unabhängiger philosophischer und wissenschaftstheoretischer Standpunkt, der schon bei Immanuel Hermann Fichte als solcher formuliert worden und hier von Steiner aufgegriffen worden sei. Sogar die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von ›Anthropologie‹, ›Anthroposophie‹ und ›Theosophie‹, die in Steiners esoterischer Phase eine wichtige Rolle spielt, findet Traub beim jüngeren Fichte vorformuliert.

Den Abschluss von Traubs Darstellung bildet ein Blick auf das Verhältnis Steiners zu den zwei Generationen des deutschen Idealismus – wobei die erste Generation den älteren Fichte, Hegel und Schelling umfasst und die zweite vor allem den jüngeren Fichte sowie den Naturphilosophen und Schelling-Schüler Ignaz Paul Vital Troxler. Seine Charakterisierung dieses Verhältnisses bietet einen Rahmen für eine philosophiegeschichtliche Einordnung Steiners in die Geschichte des deutschen Idealismus, aber auch umgekehrt für eine Einordnung des letzteren in eine Geschichte der Anthroposophie:

Steiners kritisches Verhältnis gegenüber der ›Väter- und Söhne-Generation‹ des deutschen Idealismus, durch die er selbst maßgeblich in der Entwicklung der philosophischen Grundlagen seiner eigenen Anthroposophie und Theosophie beeinflusst worden ist, ist ein doppeltes. Den Vätern des Idealismus, Hegel, Schelling und Fichte, hält er vor, dass sie nicht zur Anthroposophie haben kommen können, ›weil sie ihre geistige Spannkraft in ersten Anläufen erschöpfen mußten‹ (GA 20, 58). […] Erst in der Söhne-Generation, beim Schellingschüler Troxler und beim Fichtesohn Immanuel Hermann, werden Theosophie und Anthroposophie explizit thematisch. […] Wovon die Väter nur eine Ahnung hatten, vom anthroposophischen Land, die Söhne haben es betreten und in Ansätzen kartographiert. Das ist beider Generationen bleibendes Verdienst um die Anthroposophie. Was aber auch den anthroposophischen Pionieren Troxler und I. H. Fichte nicht gelungen ist, das ist die wirkliche Erkundung und lebendige Erforschung des entdeckten ›Kontinents des Geistes‹. Steiners originärer Beitrag zur Anthroposophie ist es demnach, das Verfahren, die Methode und das Instrumentarium für eine wissenschaftliche Erschließung der Neuen Welt der Seele und des Geistes entwickelt und bereit gestellt zu haben (PuA, 1015).

 

Hegel und Schelling:

idealistische Philosophie der Identität, der Natur

und des Bewusstseins als Grundlage steinerscher Kosmogonie

Neben der Auseinandersetzung mit Goethe und Haeckel sowie mit Kant und Fichte haben wir oben, als ein drittes Paradigma im vortheosophischen Denken Steiners, eine intensive Beschäftigung mit den identitäts- und bewusstseinsphilosophischen Systemen Hegels und Schellings identifiziert. Diese sei im Folgenden kurz beleuchtet, und zwar wiederum ausschließlich insofern, als sie für die kosmogonischen Texte dieses Bandes in Betracht kommt.

Das Denken Hegels hat Rudolf Steiner in allen Phasen seiner Entwicklung überwiegend positiv rezipiert, bis dahin, dass er in einem Brief an Eduard von Hartmann äußerte (am 1. November 1894): »Ich glaube mich von Hegel in gar nichts zu unterscheiden, sondern nur einige Konsequenzen aus seiner Lehre zu ziehen«. Gegenüber Schelling hingegen überwiegen bis zur Jahrhundertwende kritische Töne. Zwar wird der junge Schelling in dieser Phase als ein den fichteschen Ansatz fortführender kongenialer Transzendentalphilosoph und Freiheitsverfechter anerkannt, aber das schellingsche Spätwerk wird als reaktionär und zum Metaphysischen neigend abgewertet. Diese Haltung änderte sich jedoch nachhaltig in Steiners Veröffentlichungen nach der Jahrhundertwende. Schon in den Welt- und Lebensanschauungen von 1900/1901 fand er auch für die schellingsche Spätphilosophie tief anerkennende Worte, besonders auch für die Naturphilosophie Schellings, die Steiner in die Nähe der goetheschen Naturanschauung rückt. Und in den Schriften Die Mystik (1901) und Das Christentum als mystische Tatsache (1902) zeigt sich, wie in Band 5 dieser Edition dargetan, eine weitgehende Anlehnung Steiners an die Spätphilosophie Schellings, insbesondere an dessen Deutung der religions- und bewusstseinsgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit, wie diese in dessen Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung zum Ausdruck gekommen war.

Im Folgenden soll die Beziehung der steinerschen Kosmogonie zu den identitätsphilosophischen, naturphilosophischen und bewusstseinsphilosophischen Vorstellungen Hegels und Schellings kurz angedeutet werden. Die steinersche Kosmogonie orientiert sich zum einen unverkennbar an der hegelschen Philosophie des Geistes, in welcher sich der ›Geist‹ zunächst zur physischen Natur veräußerlicht und in dieser Veräußerlichung zu einem Bewusstsein seiner selbst kommt um am Ende, verwandelt und bereichert durch diese Erfahrung, wieder in sich selbst zurückzukehren. Sie visiert aber zweitens auch eine Philosophie der Natur an, welche die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Natur in ähnlicher Weise wie Schelling zu beantworten sucht. Und drittens zeigt sich, dass Steiner in seiner Esoterik zentrale Aspekte der schellingschen Spätphilosophie aufgegriffen hat, insbesondere Schellings Deutung der Bewusstseinsgeschichte des Menschen als Spiegel der Entwicklung des absoluten Geistes und seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer Selbsttranszendierung der Philosophie.

Ein zentraler Aspekt in Steiners philosophischem Denken war, dass er – wie vor ihm Kant, Fichte, Schelling und Hegel – die Erfahrung von ›Wirklichkeit‹ als etwas betrachtete, das notwendig immer geprägt ist von der Form desjenigen Bewusstseins, in welchem sie erlebt wird, und dass Wirklichkeit insofern in gewisser Weise im Erkennen des Menschen überhaupt erst geschaffen wird. Schon in Steiners Erstlingsschrift von 1886 lesen wir:

Im Erkennen schafft der Mensch nicht für sich allein etwas, sondern er schafft mit der Welt zusammen an der Offenbarung des wirklichen Seins. Was im Menschen ist, ist ideeller Schein; was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein; das erkennende Ineinanderarbeiten der beiden ist erst Wirklichkeit. […] [Man] setzt voraus, daß die Wirklichkeit irgendwo außer dem Erkennen vorhanden sei, und in dem Erkennen eine menschliche, abbildliche Darstellung dieser Wirklichkeit sich ergeben soll, oder auch, sich nicht ergeben kann. Daß diese Wirklichkeit durch das Erkennen nicht gefunden werden kann, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird, das wird kaum irgendwo empfunden. (GE, 108)

Mit solchen Äußerungen setzte sich die steinersche Epistemologie, sowohl in ihrer philosophischen wie in ihrer theosophischen Fassung, der Frage aus, ob nach ihrem Verständnis der Mensch im Erkennen überhaupt etwas erlebt, was mehr ist als nur eine Modifikation seines notwendigerweise immer individuellen und subjektiven Bewusstseins. Führt eine Erkenntnistheorie, welche Wirklichkeit als Hervorbringung des erkennenden Menschen beschreibt, nicht notwendig in einen absoluten Phänomenalismus, einen Illusionismus oder gar einen Solipsismus? – Schon Eduard von Hartmann, einer der ersten Leser der Philosophie der Freiheit, hatte solche Bedenken gegenüber der steinerschen Konzeption eingewendet. Seine Randbemerkungen zu dieser Schrift kulminieren in der Aussage:

In diesem Buche ist weder Humes in sich absoluter Phänomenalismus mit dem auf Gott gestützten Phänomenalismus Berkeleys versöhnt, noch überhaupt dieser immanente oder subjektive Phänomenalismus mit dem transcendenten Panlogismus Hegels, noch auch der Hegelsche Panlogismus mit dem Goetheschen Individualismus. Zwischen je zweien dieser Bestandtheile gähnt eine unüberbrückte Kluft. Vor allem aber ist übersehen, daß der Phänomenalismus mit unausweichlicher Konsequenz zum Solipsismus, absoluten Illusionismus und Agnosticismus führt, und nichts gethan, um diesem Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie vorzubeugen, weil die Gefahr gar nicht erkannt ist. (DPF, 420)

Steiners Antwort auf diese Kritik lautet, wie oben bereits angedeutet, folgendermaßen: Diejenige Welt, in welcher der Mensch mittels seines vorstellungsgebundenen Bewusstseins lebt, ist in der Tat seine Schöpfung und besteht nur durch und für ihn. Aber der Akt der Vorstellungsbildung selbst setzt die Tätigkeit des Denkens voraus, und das Wesen dieses Denkens erweist sich, wenn es recht erfasst wird, als dem Erkennen vorausgehend, weil dieses überhaupt erst ermöglichend, und somit als Ausdruck objektiver Wirklichkeit. Indem der Mensch also dieses Denken selbst bewusst zu erleben fähig ist – und nicht nur die von diesem hervorgebrachten Vorstellungen –, überwindet er in diesem Akt die für alles übrige Erkennen geltende Subjektivität.

Diese Verteidigung Steiners gegen den Solipsismus-Vorwurf erinnert in vieler Hinsicht an die Strategie, mit der Schelling 1797 in seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur seine Konzeption einer Identitätsphilosophie begründet hatte. Aus der transzendentalphilosophischen Perspektive betrachtet, welche den Prozess des Erscheinens von Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein untersucht, ist nach Schelling tatsächlich jede Welt, die der Mensch bewusst zu erleben fähig ist, Ergebnis und Hervorbringung seiner eigenen geistigen bzw. erkennenden Tätigkeit. Denn diese Philosophie löse, da sie vom erkennenden Subjekt ausgeht, alles in Geist auf und kenne nur eine ›ideelle Welt‹, welche als solche notwendigerweise Produkt des individuellen Geistes ist. Hier stehen zu bleiben, würde also tatsächlich in den Solipsismus führen. – Nun muss aber nach Schelling der Transzendentalphilosoph anerkennen, dass derselbe Geist, der in ihm sämtliche erlebbaren Welten hervorbringt, zugleich auch seinerseits aus einer Wirklichkeit hervorgehen muss, die nicht sein Produkt sein kann. Der welterzeugende Geist des Menschen ist notwendig zugleich Produkt einer ›Natur‹, die somit unabhängig von ihm bestehen muss. Daher müssen, so die Pointe der Schrift, beide Paradigmen – ›die Welt ist Produkt der Tätigkeit des Geistes‹ und ›der Geist ist Produkt der Naturtätigkeit‹ – anerkannt und als die zwei Seiten einer einzigen Wahrheit, einer einzigen Wirklichkeit, des ›Absoluten‹ verstanden werden.

Im Absoluten ist [die Natur] mit der entgegengesetzten Einheit, welche die der ideellen Welt ist, als Eine Einheit, aber eben deswegen ist in jenem weder die Natur als Natur, noch die ideelle Welt als ideelle Welt, sondern beide sind eine Welt. […] Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen. (Schelling [1797], LXIV)

Eine mit der schellingschen vergleichbare Konzeption kam zum Ausdruck in der Philosophie Hegels, in der allerdings weniger die Erkenntnis des ›Geistes in der Natur‹ als vielmehr diejenige des ›Geistes in der Geschichte‹ im Mittelpunkt des Interesses steht. Hegel schildert den Entwicklungsprozess des Geistes nicht als Naturgeschichte, sondern als Kulturgeschichte. Der Geist ergießt sich vor seinem Blick nicht primär in die leblose Natur, um diese zu beleben, sondern in die Gestalten und Ereignisse der Historie. Innerhalb dieser bringt er die sozialen und kulturellen Verhältnisse, die Völker und ihre Konflikte, aber auch die mannigfachen künstlerischen, religiösen und wissenschaftlichen Vorstellungen der Menschheit hervor, in stets sich steigernder Bewusstheit, bis er schließlich – im Akt der Selbsterkenntnis des Menschen – zum Bewusstsein seiner selbst gelangt und dadurch seine Spaltung in einen ›subjektiven Geist‹ (Bewusstsein) und einen ›objektiven Geist‹ (Geschichte) wieder überwindet.

Der Begriff des ›Denkens‹ übernimmt also, wie aus Obigem deutlich wird, in Steiners Philosopie der Freiheit eine ähnliche Rolle wie der Begriff der ›absoluten Identität‹ in Schellings Naturphilosophie und wie der ›Geist‹ in Hegels System. So wird deutlich, dass Steiners esoterische Weltsicht und auch seine Kosmogonie auf denselben theoretischen Grundvoraussetzungen beruht wie seine Philosophie. Was er in der Philosophie der Freiheit noch als ›Denken‹ bezeichnete, den objektiven Grund aller Wirklichkeit, wird in der Geheimwissenschaft zum ›Geist‹. Wie Hegel schildert auch Steiner jetzt die Weltentwicklung als Selbstentäußerung des Geistes, als dessen ›Fall in die Materialität‹, aus der er sich im Verlauf der Evolution wieder zur immateriellen Geistigkeit erhebt. Zugleich wird das Buch bestimmt durch eine doppelte, zugleich geist- und naturphilosophische Perspektive nach Schellings Vorbild; eine Betrachtung, welche den ›Fall des Geistes in die Materie‹ und die ›Steigerung der Materie zum Geist‹ nicht als sukzessiv ablaufende Prozesse versteht, sondern als eine simultan ablaufende Doppelmanifestation der einheitlichen Wirklichkeit.

Neben dem identitätsphilosophischen Zug der Geheimwissenschaft ist es vor allem ihr Interesse an einer Theorie der Evolution des Bewusstseins, welche sie mit dem schellingschen Philosophieren verbindet. Der späte Schelling interessierte sich, im Rahmen seiner Philosophie der Identität von Geist und Natur, in besonderer Weise für die historische Entwicklung der religiösen Vorstellungen. In seinen Vorlesungen über Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung deutete er die Evolution des religiösen Bewusstseins von primitiven Vorstellungen hin zum Henotheismus und Polytheismus der antiken Kulturen zur schließlichen Ausbildung des Monotheismus und des Christentums als Ausdruck einer gesetzmäßig und in Stufen sich vollziehenden Selbstentäußerung des Geistes (bzw., wie der späte Schelling formuliert, ›Gottes‹) in der Natur. Dabei war das wichtigste Instrument seiner Deutung eine trinitarische Potenzenlehre, in welcher alle natürliche und mentale Entwicklung als Entfaltung dreier grundsätzlicher Potenzen oder Aspekte des göttlichen Wesens verstanden wurden.

Diese Vorstellungen des späten Schelling haben, wie an anderer Stelle dargestellt worden ist, auf die ideogenetische Perspektive der steinerschen Schriften von 1901 und 1902 einen maßgeblichen Einfluss gehabt. Zwar hat Steiner dieselbe nie in Form einer systematischen Theorie ausdrücklich dargelegt. Auch hat er selbst, wie hier nochmals betont werden soll, den Begriff ›ideogenetisch‹ selbst nie verwendet. Wohl aber hat sich der damit bezeichnete Ansatz in verschiedenen Aufsätzen und Vorträgen, die Steiner während der Arbeit an seiner Theosophie verfasste, deutlich niedergeschlagen. Ihr vielleicht offensichtlichster Ausdruck neben der Christentums-Schrift ist ein Vortrag vom 2. November 1903 zum Thema Frühere Gottesvorstellungen, den Steiner in Berlin vor einem theosophischen Publikum gehalten hat. Dieser Vortrag kann verstanden werden als Art ideogenetische Fallstudie, in welcher Steiner versucht, die Entwicklung des religiösen Bewusstseins der Menschheit durch die verschiedenen Stufen vom Henotheismus über die Ahnen- und Heldenverehrung zum Polytheismus und schließlich zum Monotheismus und darüber hinaus als Ergebnis ideogenetischer Selbstprojektion des absoluten Geistes im menschlichen Bewusstsein zu erklären. Der Gedankengang dieses Vortrags sei im Folgenden kurz rekonstruiert, weil es dadurch möglich wird, Rudolf Steiner in seiner Gedanken-Werkstatt, in der er die anglo-indische Theosophie in ein philosophisch fundiertes System umzuschmieden versuchte, über die Schulter zu schauen. Auch wenn wir uns dabei nur auf eine Nachschrift stützen können, die daher nicht den genauen Wortlaut Steiners wiedergibt, macht dieses Dokument doch in besonderer Weise anschaulich, wie Rudolf Steiner die theosophischen Inhalte, die er ab 1902 in sein Denken aufnahm, mittels seiner in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus gewonnenen philosophischen Vorstellungen adaptierte und integrierte und so die Grundlagen seiner Esoterik legte.

 

»Frühere Gottesvorstellungen«:

eine Studie zu Steiners idealistisch geprägter Theosophierezeption

Am 2. November 1903 sprach Rudolf Steiner in Berlin vor Mitgliedern der theosophischen Gesellschaft über die Entwicklung der Gottesvorstellungen und deutete diese als Ausdruck der allgemeinen Bewusstseinsentwicklung der Menschheit. Innerhalb dieser an theosophische Vorstellungen anknüpfenden und zugleich unverkennbar im Geiste Schellings gehaltenen Deutung werden zunächst eine Entwicklungsstufe des Menschen vor Ausbildung des Gedächtnisses, dann eine zweite Phase der Entwicklung dieses Gedächtnisses und schließlich eine dritte Phase der Ausbildung des abstrakten Denkens unterschieden. Dabei werden die besagten Stufen der Bewusstseinsentwicklung mit Begriffen aus der theosophischen Entwicklungslehre in Verbindung gebracht, nämlich mit der ›lemurischen‹, ›atlantischen‹ und ›nachatlantischen‹ Entwicklungsstufe der Menschheit.

Vor dem Hintergrund dieser Grundannahme zeigt Steiner dann, wie sich der ideogenetische Gedanke für eine Deutung der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins fruchtbar machen lässt. Die religionsgeschichtlichen Entwicklungsstufen des Henotheismus, Polytheismus und Monotheismus werden als sukzessive Manifestationen einer sich in verschiedene Gottesvorstellungen projizierenden Selbstwahrnehmung des Geistes im sich entwickelnden menschlichen Bewusstsein gedeutet. Den Henotheismus etwa versteht Steiner in diesem Vortrag als veräußerlichte Selbstprojektion einer Menschheit, die noch keine wirkliche Gedächtnisfähigkeit entwickelt hat. Ein der Erinnerung noch nicht fähiger Mensch (im theosophischen Jargon: ein ›Lemurier‹) habe natürlich die spätere Vorstellung einer Götter- oder Ahnendynastie noch nicht hervorbringen können. Stattdessen habe er, gemäß seinem damaligen Bewusstseinszustand, die Idee einer diffusen, omnipräsenten Göttlichkeit als höchsten Begriff für die Wirklichkeit entwickelt. Erst ein zur Erinnerung fähiger Mensch, der also ein Bewusstsein für Sukzessivität hat (theosophisch: ein ›Atlantier‹), habe sich diese Göttlichkeit in Zeit und Raum vervielfältigt denken und so die Vorstellung einer Ahnen- oder Götterreihe bilden können. Der Polytheismus ist also der adäquate Spiegel des ›atlantischen‹ Bewusstseins, wie der Henotheismus das natürliche Bild des ›lemurischen‹ war.

Indem aber nun dieser ›Atlantier‹ zunehmend zum Gedächtnis irgendwann auch die Fähigkeit des abstrakten Denkens entwickelt habe, so Steiner weiter, habe er aus der Vielheit der Götter gedanklich die Idee des ›einen und einzigen Gottes‹ abstrahieren und vorstellen können. Die Idee des Monotheismus, als Selbstprojektion des mit der Fähigkeit zu begrifflicher Synthese begabten ›nachatlantischen‹ Menschen in eine entsprechende Gottesvorstellung, sei so geboren worden.

Neben dieser retrospektiven Betrachtung richtet Steiner in seinem Vortrag den Blick auch auf Gegenwart und Zukunft der Menschheitsentwicklung. Das Bewusstsein des Menschen der Gegenwart (theosophisch: der ›nachatlantischen‹ Entwicklungsstufe) zeichnet sich nach theosophischer Vorstellung durch die Entwicklung des abstrakten Denkens und des daraus resultierenden Selbstbewusstseins aus. Mit Hilfe desselben kommt der Mensch, so Steiners Argument, nach und nach dazu, die ideogenetische Konstitution seines eigenen Bewusstseins zu durchschauen, mittels derer er auf den früheren Kulturstufen, ihm unbewusst, die verschiedenen mythischen und religiösen Systeme hervorgebracht hat. Und so entwickelte er langsam aber sicher (und hier zeigt sich wieder sprachlich und inhaltlich der Einfluss von Schellings Philosophie der Mythologie) ein Bewusstsein seiner eigenen ›götterbildenden‹ (in Schellings Sprache: ›theogonischen‹) Tätigkeit.

Nun fragt Steiner, was denn die adäquate Religionsform einer solchen zum Bewusstsein ihrer ideogenetischen Verfasstheit gekommenen Menschheit sein müsste und kommt zu dem Schluss: eine solche sei die theosophische ›Meister‹-Vorstellung, d. h. die Repräsentation des Göttlichen in Form eines zu höherer Erkenntnis gelangten Menschen. Ein solches ›Gottesbild‹ sieht Steiner schon im Monotheismus sich langsam vorbereiten, indem darin neben dem ›einen Gott‹ zunehmend auch auf die großen Religionsgründer, »Laotse, Konfuzius, Buddha, Moses, Zarathustra«, von Bedeutung waren. Und so habe sich schrittweise das religiöse Bewusstsein der Zukunft vorbereitet, welches in der Einsicht in den menschlichen Ursprung aller Gottesvorstellungen gipfelt und somit das Göttliche in einer dieser Einsicht entsprechenden Form vorstellt:

Die Verehrung des Alten [d. h. der ›Götter‹ bzw. des ›Gottes‹, C.C.] verschwindet, und nur das, was tief innerlich in der Seele als Manas lebt und als Manas sich ankündigt, wird dasjenige, an das die Verehrung sich haftet. Daher kommt die fünfte Menschenrasse dazu, das Manas als das Göttliche zu erkennen. […] Daher kommt er auch zur Anerkennung des Mahatmatums [d. h. der Meisterverehrung]. (GA 88, 204 ff.)

Steiner interpretierte ›Manas‹ als theosophischen Ausdruck für das Selbstbewusstsein und die ›Bewusstseinsseele‹ bzw., als ›höheres Manas‹, für das Wesensglied des ›Geistselbst‹, durch welches allein der Mensch zu der beschriebenen Selbsterkenntnis gelangen kann. In anderen Worten: Die unter Theosophen gepflegte Verehrung von ›Meistern‹ und ›großen Eingeweihten‹ sah Steiner also 1903 als adäquate Form eines fortgeschrittenen Bewusstseins, welches sich über seine eigene ideogenetische Natur aufgeklärt hat und somit begreift, dass es in den verschiedenen historisch aufgetretenen Götterbildern – und natürlich ebenso in seinen verschiedenen ›Natur‹-, ›Welt‹- oder ›Jenseits‹-Bildern – immer nur Projektionen der Entwicklung seines eigenen transpersonalen Wesenskerns und nicht Repräsentationen einer transzendenten Wirklichkeit geschaffen und verehrt hat.

Der Vortrag geht dann noch einen Schritt weiter und sieht in den verschiedenen Mythologien nicht nur Bilder für die verschiedenen Stufen des menschlichen Bewusstseins, sondern zugleich den Schlüssel zum Verständnis des zugrundeliegenden Entwicklungsgesetzes. Denn auch die beschriebene Stufenfolge selbst (Henotheismus, Polytheismus, Monotheismus, Meisterverehrung) komme in den verschiedenen Mythologien verschlüsselt zum Ausdruck: beispielsweise in der Generationenfolge der griechischen Götter von Uranos (lemurische Urgöttlichkeit), Kronos (der atlantische, mittels seines Gedächtnisses in die Zeit eintretende Gott, der seine Kinder verschlingt), Zeus (der die Ahnen-Göttlichkeit ablösende, in vielfacher Menschengestalt auftretende Gott) und Dionysos (der sich als Schöpfer und Quelle der Göttervielfalt erkennende Mensch):

Dionysos ist der Strebende, Leidende, Empfindende, der denkende Mensch selbst. Er ist so dargestellt, dass er ursprünglich getötet, zerstückelt wird, dann wieder auferstanden ist und nun wieder in der Welt emporstrebt. Er ist der Repräsentant der Meisterschaft, der Mahatmaschaft, der Repräsentant der Gottesvorstellung der fünften Rasse. (GA 88, 205)

Wir haben, wie gesagt, dieses Beispiel einer klassischen ›ideogenetischen‹ Studie im Sinne von Steiners bewusstseinsphilosophischen Anschauungen um die Jahrhundertwende hier ausführlicher dargestellt, weil sich an ihm ersehen lässt, wie Steiner zu dieser Zeit die theosophischen Schriften gelesen, verstanden und im Sinne seiner philosophischen Anschauungen umgedeutet hat. Dies scheint uns für das Verständnis seiner zu dieser Zeit beginnenden Adaption der Theosophie, die letztlich zur Ausbildung seiner Kosmogonie führte, unerlässlich zu sein. Wer begreift, wie Steiner in den Jahren 1902 und 1903 über den Ursprung und das Wesen der mythischen und religiösen Vorstellungen dachte, der wird sich schwerlich von der in der kritischen Steinerforschung immer wieder formulierten (oder implizierten) These überzeugen lassen, Steiner habe in der Begegnung mit der Theosophie sein hochreflektiertes, kritisch-philosophisches Verständnis vom Ursprung und der Natur religiöser Weltanschauungen plötzlich aufgegeben und sei aus unerklärlichen Gründen zu einem buchstäblichen ›Glauben‹ an die theosophische Weltanschauung oder an das Christentum konvertiert. Steiners Bereitschaft, das philosophische und wissenschaftliche Metier hinter sich zu lassen und nunmehr im Rahmen der Theosophie zu arbeiten wie auch seine Entscheidung, diese mit besonderem Schwerpunkt auf christliche Vorstellungen auszugestalten, lassen sich unserer Auffassung nach nur aus der Absicht heraus sinnvoll verstehen, diese Theosophie und dieses Christentum in ideogenetischer Weise aufzufassen und sie, ausgehend von diesem Verständnis, in einer solchen Weise frei zu gestalten und weiterzubilden, dass sie ein Beispiel sein konnte von seiner Vorstellung einer modernen und zukunftsfähigen Esoterik, in welcher künstlerisch-schöpferische Phantasie, mystisches (oder, wenn man so will, spirituelles) Erleben und kritisch-wissenschaftliches Denken nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern sich gegenseitig potenzieren. Es kann unserer Auffassung nach nicht plausibel gemacht werden, wie ein Denker, der im November 1903 die oben skizzierten Gedankengänge – vor einem überwiegend theosophischen Publikum – öffentlich vorbrachte, unmittelbar danach beim Verfassen seiner esoterischen Schriften (und im Hinblick auf die Theosophie sogar gleichzeitig) die Lehrinhalte und Jenseitsvorstellungen der Theosophen anders aufgefasst haben sollte als im Sinne ideogenetischer Religionsphilosophie nach dem Vorbild Schellings.

 

Der innere Zusammenhang von

Ursprungswissenschaft und Freiheitswissenschaft

Die Verwurzelung der steinerschen Esoterik in seiner Rezeption des deutschen Idealismus zeigt sich auch daran, dass in der Theosophie, der Akasha-Chronik und der Geheimwissenschaft, in denen es doch primär um Wesen, Ursprung und die Entwicklung der Welt und des Menschen geht, immer wieder Exkurse und Reflexionen über den Freiheitsbegriff zu finden sind. Diesem Befund entspricht die Tatsache, dass Steiner selbst zeit seines Lebens seine Philosophie der Freiheit als die für seine Weltanschauung grundlegende Schrift betrachtete. Es gibt sogar aus zweiter Hand überlieferte Äußerungen, nach denen er meinte, dieses Buch werde als einziger Teil seines Werkes auf lange Sicht Bestand haben.

Diese Aussagen werden verständlicher, wenn man sie im Kontext von Steiners Idealismus-Rezeption betrachtet. Bei Fichte, Hegel und Schelling war die Ursprungsfrage ebenso zentral und ebenso unauflöslich mit der Freiheitsfrage verbunden, wie dies zuvor bei Jakob Böhme der Fall gewesen war (und sich später bei Martin Heidegger äußerte). In gewisser Weise kann der hier in Frage stehende Freiheitsdiskurs, ähnlich wie der oben skizzierte philosophische Weltentstehungsdiskurs, sogar bis zu Platon zurückgeführt werden. Denn zwar hat Platon selbst in seinem Timaios nicht ausdrücklich über den Freiheitsbegriff philosophiert, wohl aber hat Schelling im Rahmen seiner eigenen Freiheitskonzeption ausdrücklich auf Platon und in besonderer Weise auf den Timaios Bezug genommen. Mehrfach hat er den in diesem Dialog entwickelten platonischen Materie-Begriff als philosophischen Ursprungsort seiner eigenen Vorstellung vom irrationalen Grund des Seienden markiert.

Schelling entwickelte seinen Freiheitsbegriff bekanntlich in seinen 1809 erschienenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der Freiheit. Doch hat die jüngere Forschung plausibel gemacht (vgl. etwa Friedrich, 2009), dass zentrale Konzeptionen dieser Schrift als Frucht der Auseinandersetzung des jungen Schelling mit dem platonischen Timaios verstanden werden können, etwa in seinem Timaios-Kommentar von 1794. Was Schelling an diesem Text faszinierte, war die Idee einer Weltschöpfung, an deren Anfang nicht ein allmächtiger und allwissender Gott stand, dessen Wesen reine Intelligenz und Vernunft war, sondern ein Gott, der noch keineswegs wusste, wie die von ihm initiierte Schöpfung aussehen würde; ein unfertiger, chaotischer Gott gewissermaßen, der nicht von einer Schöpfungsidee getrieben wurde, sondern von der Abwesenheit einer solchen, von einer völlig leeren, irrationalen Sehnsucht. In anderen Worten: nicht von einem Sein, sondern vom ›Willen‹ nach dem Sein und von der ›Liebe‹ zur Schöpfung. Bei Platon fand Schelling

die reinste, herrlichste Idee von Gottes Absicht bei der Weltschöpfung. – Die präexistierende Urmaterie der Welt wird hier vorausgesetzt. Sie wird als etwas unruhiges, ohne Ordnung und Regelmäßigkeit bewegtes dargestellt, weil sie damals noch nicht der Form des Verstandes teilhaftig geworden war. (Schelling [2016], 27)

In der Freiheitsschrift von 1809 griff Schelling diese Überlegungen wieder auf, um zu zeigen, dass der Grund des Seienden eben nicht der ›allwissende Gott‹ der traditionellen Theologie bzw. der vernünftige ›Weltgeist‹ Hegels sein konnte, sondern als ein vor aller Vernunft liegendes, irrationales Prinzip zu verstehen sei, welches er mit den Begriffen ›Wille‹, ›Liebe‹ und ›Freyheit‹ zu fassen suchte.

Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. (Schelling [1809], 359 f.)

Schelling begründet also im Anschluss an Platon die Freiheit des Menschen damit, dass das Wesen des Seinsgrundes selbst – noch bevor irgendein ›Gott‹ oder ein ›Mensch‹ da ist – in eben dieser Offenheit für das Sein besteht. Daher ist bei ihm die Freiheitslehre untrennbar mit Seins- und Ursprungslehre verbunden. Der Mensch, so Schelling, findet die Freiheit nirgendwo anders als auf dem Grund seines Wesens, in dem er zugleich den Grund alles Seins entdeckt. Denn dessen Wesen besteht nicht wiederum in einem Sein, sondern in der bloßen Möglichkeit zum Sein, im Aufgeschlossensein für dasselbe: in der ›Freiheit‹ bzw. der ›Liebe‹, welche das Sein-Könnende in das Seiende überführt.

Wie sich dieser Freiheitsbegriff Schellings zu demjenigen Steiners verhält, kann hier nicht im Detail untersucht werden. Eine solche Analyse würde aber zeigen, dass bei beiden Denkern das Wesen der menschlichen Freiheit in ihrer Theorie der Struktur des Wirklichen selbst verankert ist; und dass bei beiden die Verwirklichung dieser Freiheit in dem Begriff der ›Liebe‹ gefasst wird. So begründet sich die Tatsache, dass Steiner seinen Freiheitsbegriff wie Schelling als zentral und unabdingbar nicht nur für sein philosophisches Frühwerk, sondern für sein Denken insgesamt verstand, auch während seiner theosophischen und anthroposophischen Phase. Und so wird auch verständlich, weshalb er seine Philosophie der Freiheit als Grundlagenwerk nicht nur seiner Philosophie, sondern auch seiner Esoterik ansah; nämlich aus denselben Gründen, aus denen die schellingsche Freiheitsschrift als philosophische Grundlegung von dessen theosophisch geprägter Spätphilosophie verstanden werden kann.

Einen ähnlich systematischen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Freiheit und der Konzeption des Seins bzw. des Seinsgrundes sowie eine Bestimmung der Liebe als inneres Wesen solcher Freiheit ließe sich auch für die Theosophie Jakob Böhmes und für die Philosophie Fichtes aufzeigen. Diese Aufgabe kann freilich an dieser Stelle nicht angegangen werden und sei hiermit an die zukünftige Forschung weitergegeben. Aber schon die groben, von uns gezeichneten Striche mögen dem Leser eine Verständnishilfe dafür geben, weshalb auch in den Texten dieses Bandes, in denen es nicht eigentlich um Philosophie oder Ethik geht, die Freiheitsfrage immer wieder aufscheint. Wer im Sinne Böhmes, Fichtes, Schellings und Steiners über Wesen und Ursprung der Dinge nachdenkt, philosophiert notwendig immer zugleich schon über die Begriffe von Freiheit und Liebe.

 

Theosophische Kontexte:

Sinnett, Blavatsky, Scott-Elliot

In unseren bisherigen Bemerkungen haben wir gezeigt, dass und inwiefern die konzeptionellen Grundlagen der steinerschen Esoterik in den naturphilosophischen und epistemologischen Gedankengängen seiner vortheosophischen Phase zu finden sind, d. h. in der Auseinandersetzung mit den Naturanschauungen Goethes und Haeckels und den idealistischen Systementwürfen Kants, Fichtes, Hegels und Schellings. So tiefgehend aber diese Verwurzelung Steiners im deutschen Idealismus und im naturwissenschaftlichen Entwicklungsdenken auch sein mag; die äußere Form seiner Esoterik, wie sie in den Schriften ab 1904 hervortritt, ist weitgehend durch die Vorstellungs- und Bilderwelt der anglo-indischen Theosophie bestimmt. Mit dieser war Steiner schon in den achtziger Jahren bekannt geworden, hatte jedoch ihr gegenüber für fast zwei Jahrzehnte eine überwiegend kritische und distanzierte Haltung eingenommen. Die Verlautbarungen der Theosophen empfand er in den achtziger und neunziger Jahren als Ausdruck einer fehlgeleiteten Suche entwurzelter Abendländer nach einer verlorenen Spiritualität. Theosophen suchten seiner Meinung nach ihr Heil in der Adaption altertümlicher und außereuropäischer Vorstellungen und Praktiken, verstanden diese aber nur unzureichend und zwängten dann diese halbverstandenen kulturellen Importe in ein von westlicher Wissenschaftskultur geprägtes Interpretationskorsett. Die Theosophen übersahen nach Steiner, dass das von ihnen ersehnte ›geistgemäße‹ Welt- und Lebensverständnis, welches sie in fernöstlichen Weisheitstraditionen suchten, viel einfacher und organischer in der eigenen Kultur gefunden werden konnte, nämlich in eben jenen Traditionen, mit denen Steiner sich beschäftigte, d. h. bei Schiller und Goethe, bei Fichte, Schelling und Hegel. Später erweiterte Steiner diese Liste, ging weiter zurück in die Vergangenheit und reihte auch Angelus Silesius und Jakob Böhme, Paracelsus und Weigel, Giordano Bruno, Nikolaus von Cues, Meister Eckhart, Tauler und die Neuplatoniker Plotin und Philo in die Reihe derer ein, deren Denken und Schaffen er als westlichen Ausdruck jener spirituellen Welt- und Lebensanschauung ansah, die von den Theosophen im fernen Osten gesucht wurde.

Trotz seiner anfänglichen Vorbehalte entschied Steiner sich um die Jahrhundertwende dazu, der theosophischen Bewegung nicht nur beizutreten, sondern sich als deren führende Gestalt im deutschsprachigen Kulturraum zur Verfügung zu stellen. 1902 wurde er zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft ernannt und führte diese bis zum Jahreswechsel 1912/13, als er die Gesellschaft wieder verließ und, mit der überwiegenden Anzahl der deutschen Theosophen im Gefolge, die Anthroposophische Gesellschaft gründete.

Die Einzelheiten dieser Entwicklung sind in der Einleitung zu Band 6 dieser Edition ausführlich geschildert worden. Auch Steiners Adaption und Umformung wesentlicher ontologischer und anthropologischer Vorstellungen aus der theosophischen Literatur – etwa das Modell der ›Wesensglieder‹, die Vorstellungen über das nachtodliche Erleben, der Theoriekomplex von Reinkarnation und Karma oder die Idee einer systematischen Schulung des Bewusstsein für übersinnliches Erkennen – ist dort dokumentiert worden. An dieser Stelle soll auf Steiners Verhältnis zur Theosophie nur insofern noch einmal eingegangen werden, als er in dieser Begegnung auch diejenigen Bilder und Theoriekonstrukte vorfand, auf deren Grundlage er ab 1903 seine eigene Kosmogonie und seine Vorstellungen über die Entwicklung der Menschheit ausbildete. Dies waren vor allem vier Vorstellungskomplexe:

I. Sämtliche Evolutionsprozesse verlaufen in der theosophischen Imagination in siebenstufigen Reihen. Die Entwicklung der Erde, des Sonnensystems und des Kosmos insgesamt, aber auch die Entstehung der verschiedenen Naturreiche und die Evolution der Menschheit – sie alle bilden Zyklen von je sieben sukzessiven Entwicklungsphasen. Diese stellen sich kosmologisch als fortschreitende Materialisierung eines geistigen Anfangszustands und einer anschließenden Wieder-Vergeistigung dar; kulturgeschichtlich hingegen erscheinen sie zugleich als eine Kurve des Aufstiegs der Menschheit zu bestimmten Fähigkeiten und Charakteristiken, einer Blüte dieser Eigenschaften in den mittleren Epochen und dem schließlichen Verfall, wobei die in der Blütezeit erworbenen Charakteristiken stets Grundlage eines erneuten Aufstiegs im jeweils folgenden Kulturzyklus werden.

II. Diese Entwicklungstheorie korrespondiert mit einer monistischen Ontologie, nach welcher das einheitliche und an sich unteilbare Sein sich auf sieben Seinssebenen manifestiert. Die siebenfachen Reihen von Weltzuständen, Naturreichen und Menschheitsstufen, aber auch die sieben Wesensglieder des Menschen und überhaupt sämtliche Siebenheiten im Kosmos sind Ausdruck dieser ontologischen Grundstruktur.

III. In den so geordneten Kosmos greifen verschiedene Klassen rein geistiger Wesen oder ›Hierarchien‹ ein, indem sie Entwicklungsprozesse initiieren und steuern, bisweilen aber auch stören. Auch die Ordnung und Charakteristik dieser Wesensklassen ist, insofern sie in die Zeit eingreifen, prinzipiell der Siebenzahl unterworfen (obwohl es als solche eigentlich zwölf solcher Wesensklassen gibt).

IV. Den sieben Weltzuständen, Menschheitsstufen, Hierarchienklassen und Naturreichen entsprechen sieben grundlegende Formen von Bewusstheit, angefangen von einem dumpfen ›Tiefschlafbewusstsein‹ bis zu einem göttlichen ›Allbewusstsein‹. Diese Bewusstseinsstufen müssen von den Naturreichen, der Menschheit und den geistigen Wesen allesamt sukzessiv durchlaufen werden.

Diese Vorstellungen griff Steiner ab 1903 auf und adaptierte, interpretierte und modifizierte sie gemäß jener idealistischen und naturphilosophischen Vorstellungen, die er in den achtziger und neunziger Jahren entwickelt hatte. Dabei nehmen sich die frühesten Texte (eine Reihe von Vorträgen aus den Jahren 1903 und 1904) als weitgehende Adaptionen aus, in denen Steiner konzeptionell und terminologisch seinen theosophischen Vorbildern weitgehend folgte. Doch findet sich auch in diesen allerersten Ansätzen Steiners schon eigenes Gedankengut. Nach und nach werden dann Begrifflichkeiten geändert bzw. eingedeutscht, konzeptionelle Änderungen vorgenommen und inhaltliche Erweiterungen gemacht. Schon in den Aufsätzen über die Akasha-Chronik (1904–1908) nimmt die steinersche Kosmogonie eine erkennbar eigene Form an, und die Konzeption der Geheimwissenschaft ist eine gegenüber den Vorbildern bei Sinnett und Blavatsky noch eigenständigere. So ersetzte er das auf indische Vorstellungen gegründete Hierarchiensystem der Geheimlehre durch ein mittelalterlich-christliches. Ferner verwandelte er die Theorie der solaren und lunaren Pitris zu der anthroposophischen Konzeption von ›luziferischen‹ und ›ahrimanischen‹ Wesenheiten. Außerdem integrierte er in die Gesamtkonzeption eine elaborierte Christologie, in welcher der Eintritt des Christus in die Erdentwicklung zum Mittel- und Wendepunkt des gesamtkosmischen Prozesses wird. Auch das theosophische Schulungskonzept stellt Steiner später in das Licht seiner Christologie, indem die Verwandlung des menschlichen Bewusstseins durch meditative Schulung als eine Art mystischer ›Geburt Christi im Menschen‹ verstanden und der sogenannte ›Hüter der Schwelle‹ selbst mit dem ›Christuswesen‹ identifiziert wird. Dies waren gegenüber der Geheimlehre und der theosophischen Tradition bedeutsame Erweiterungen bzw. Innovationen, welche für die steinersche Anthroposophie charakteristisch sind. Dieser Prozess der Emanzipation von der Theosophie setzt sich in der anthroposophischen Phase Steiners weiter fort, etwa in dem Vortragszyklus Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte von 1910.

*

Zum Abschluss dieser allgemeinen Einleitung sollen noch einige weitere biographische bzw. werkimmanente Aspekte betrachtet werden, die für einen hermeneutischen Zugang zur steinerschen Kosmogonie von Bedeutung sind. Dies sind vor allem seine vortheosophischen Vorstellungen über Begriffe wie ›Raum‹ und ›Zeit‹, ›Evolution‹ und ›Involution‹, seine ambivalente Kritik des teleologischen Denkens sowie seine Ideen über das initiationsdidaktische Potential kosmogonischer Darstellungen.

Zum Raum wird hier die Zeit«:

Die Entwicklung der steinerschen Schöpfungsvorstellung bis 1902

Rudolf Steiners Nachdenken über den Ursprung der Welt und der Menschheit setzte nicht erst mit seiner Adaption der theosophischen Kosmogonie ab 1902 ein; vielmehr hatte er zu dieser Zeit bereits ausgereifte Vorstellungen über die Natur von Raum und Zeit und über den Entwicklungs- und Schöpfungsbegriff ausgebildet. Schon im allerersten von ihm erhaltenen Text philosophiert der Achtzehnjährige über eine »Reform« der naturwissenschaftlichen Vorstellungen von Raum und Zeit. Und als Zwanzigjähriger entwickelt er in der Auseinandersetzung mit Goethe erste Ansätze zu einem eigenständigen Schöpfungsbegriff. In dieser Zeit begegnet er nach eigenem Zeugnis auch jener geheimnisvollen ›Meister‹-Persönlichkeit, die sein esoterisches Denken über diese Themen offenbar maßgeblich prägte, und konzipiert die für seine Kosmogonie zentrale Vorstellung vom ›Doppelstrom der Zeit‹. Auf den folgenden Seiten soll die esoterische Kosmogonie Steiners in den Rahmen dieser vortheosophischen Überlegungen über Zeit und Raum, über Erkenntnis, Entwicklung und Initiation gestellt werden.

Da Helmut Zander der steinerschen Kosmogonie jüngst eine ausführliche fast fünfzigseitige Studie gewidmet hat (AiD, 615–674), verlangt eine erneute detaillierte Darstellung dieses Themas an dieser Stelle eine besondere Rechtfertigung. Zanders Analyse ist in der Tat ausführlich und detailreich, vor allem was die historische Einbettung von Steiners Aussagen in den allgemeinen Kontext der theosophischen Bewegung angeht. Sie weist aber auch eine Reihe von inhaltlichen und methodischen Schwächen auf. Zum einen beruft sich Zander in seiner Darstellung der Kosmogonie und Anthropogenie Steiners ausschließlich auf die Geheimwissenschaft im Umriss und blendet damit wichtige Textquellen aus: etwa die steinerschen Vorträge über theosophische Kosmogonie aus den Jahren 1903 und 1904 sowie das kosmogonische Fragment aus derselben Zeit, aber auch – was deutlich schwerer wiegt – die steinersche Darstellung der Weltentwicklung in der Chronik. Zudem beschränkt sich seine Analyse ausschließlich auf die Endfassung der Geheimwissenschaft von 1924 und schenkt somit der Textentwicklung dieser Schrift durch ihre verschiedenen Auflagen kaum Beachtung. Auch die Entwicklung des steinerschen Schöpfungsbegriffs in dessen vortheosophischen Schriften wird nur sporadisch und, wie Hartmut Traub gezeigt hat, in sachlich fragwürdiger Weise herangezogen. Auf diese Weise reduziert Zander einen komplexen und wechselreichen Entwicklungsprozess im Denken Steiners auf dessen Darstellung von 1925. Zuletzt kommt noch in Betracht, dass Helmut Zander den inneren Zusammenhang zwischen der Esoterik Steiners und seiner vortheosophischen Philosophie systematisch ignoriert. Er lehnt einen solchen Zusammenhang geradezu ab und pocht darauf, dass Steiners Hinwendung zur Theosophie als eine persönliche ›Konversion‹ und eine Abkehr vom Idealismus seiner vortheosophischen Phase zu verstehen sei. Die steinersche Kosmogonie sucht er daher ausschließlich als Ergebnis der Rezeption theosophischer Vorstellungen zu begreifen. Eine solche Position ist jedoch von der Sachlage her nicht zu rechtfertigen und muss als höchst fragwürdige Voraussetzung der zanderschen Steinerdeutung gelten. Die folgende Annäherung an die steinersche Kosmogonie geht daher andere Wege und muss dementsprechend etwas weiter ausgreifen.

 

Raum und Zeit als Ausgangspunkte steinerschen Denkens (1882)

Einer der ersten erhaltenen Texte aus der Feder Rudolf Steiners ist ein kurzer Aufsatz des damals einundzwanzigjährigen Studenten aus dem Jahre 1882 mit dem Titel Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe. Er enthält eine grundsätzliche Kritik des naturwissenschaftlichen Atombegriffs und diskutiert in diesem Rahmen besonders auch die Begriffe von Raum und Zeit. Dabei entwickelt Steiner die gedanklichen Grundlagen bestimmter Vorstellungen, die für seine später formulierte Kosmogonie von weitreichender Bedeutung sind.

Über seine frühe Auseinandersetzung mit den Problemen von Raum und Zeit als einem Ausgangspunkt philosophischer und esoterischer Gedankenentwicklung schrieb der späte Steiner rückblickend in seiner Autobiographie Mein Lebensgang:

Ein ausschlaggebendes Erlebnis kam mir damals ge­radezu von der mathematischen Seite. Die Vorstellung des Raumes bot mir die größten inneren Schwierig­keiten. Er ließ sich als das allseitig ins Unendliche lau­fende Leere, als das er den damals herrschenden naturwissenschaftlichen Theorien zugrunde lag, nicht in überschaubarer Art denken. Durch die neuere (synthetische) Geometrie, die ich durch Vorlesungen und im Privatstudium kennen lernte, trat vor meine Seele die Anschau­ung, daß eine Linie, die nach rechts in das Unendliche verlängert wird, von links wieder zu ihrem Ausgangs­punkt zurückkommt. Der nach rechts liegende unend­lich ferne Punkt ist derselbe wie der nach links liegende unendlich ferne.

Mir kam vor, daß man mit solchen Vorstellungen der neueren Geometrie den sonst in Leere starrenden Raum begrifflich erfassen könne. Die wie eine Kreislinie in sich selbst zurückkehrende gerade Linie empfand ich wie eine Offenbarung. Ich ging aus der Vorlesung, in der mir das zuerst vor die Seele getreten ist, hinweg, wie wenn eine Zentnerlast von mir gefallen wäre. (ML, 40 f.)

Nach dieser Darstellung war es also die durch die synthetische Geometrie vermittelte Möglichkeit einer Überwindung der dreidimensionalen Raumvorstellung, die Steiner einen besonderen Anstoß für die Entwicklung seiner weiteren Gedankenentwicklung gab. Allerdings sah er sich, wie er weiter berichtet, durch diese Einsichten zugleich vor eine neue Frage gestellt, nämlich die nach dem Wesen der Zeit:

Sollte auch da [im Hinblick auf die Zeit] eine Vorstellung möglich sein, die durch ein Fortschrei­ten in die ›unendlich ferne‹ Zukunft ein Zurückkom­men aus der Vergangenheit ideell in sich enthält? Das Glück über die Raumvorstellung brachte etwas tief Be­unruhigendes über diejenige von der Zeit. Aber da war zunächst kein Ausweg sichtbar. Alle Denkversuche führ­ten dazu, zu erkennen, daß ich mich insbesondere hüten müsse, die anschaulichen Raumbegriffe in die Auffas­sung der Zeit hineinzubringen. (ebd.)

Steiner hatte um 1882 also noch keine ihn befriedigende Zeitvorstellung entwickelt, war aber immerhin zu der Überzeugung gelangt, dass »das neuere naturwissenschaftliche Denken eine Reform des Zeitbegriffes nötig macht«. Auch sah er in dem Ästhetiker Friedrich Theodor Fischer einen möglichen Gesprächspartner für sein »Streben nach einem befriedigenden Zeitbegriffe« und schickte ihm daher seinen Atomistik-Aufsatz zur Begutachtung. In dem Text heißt es u. a.:

Der Raum, abgesehen von den Dingen der Sinnenwelt, ist ein Unding. Wie der Raum nur etwas an den Gegenständen, so ist auch die Zeit nur an und mit den Prozessen der Sinnenwelt gegeben. Sie ist denselben immanent. An sich sind beide bloße Abstraktionen. (BRSG 63 [78], 10)

Indem der junge Steiner Raum und Zeit als etwas »an den Gegenständen«, etwas »mit den Prozessen der Sinnenwelt« Gegebenes versteht, positioniert er sich in Opposition zur naturwissenschaftlich-naturalistischen Vorstellung von Raum und Zeit als von den Dingen unabhängig existierenden Wirklichkeitsfaktoren. Er wendet sich aber zugleich auch gegen das kantsche Verständnis von Raum und Zeit als apriorische Formen der menschlichen Anschauung. Deutlicher als im Aufsatz von 1882 wird dies etwas später in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die Steiner ab 1884 herausgibt. Darin heißt es etwa von der Zeit, sie sei

nicht ein Gefäss, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und ausserhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Thatsachen ihrem Inhalte nach voneinander in einer Folge abhängig sind. […] Hier sehen wir, dass die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt an. Sie hat mit dem Wesen selbst noch nichts zu thun. Dieses Wesen ist nur ideell zu erfassen. Nur wer diesen Rückgang von der Erscheinung zum Wesen in seinen Gedankengängen nicht vollziehen kann, der hypostasiert die Zeit als ein den Thatsachen Vorhergehendes. (EG, 209 f.)

Und in ähnlicher Weise heißt es da vom Raum:

Der Raum ist also die Ansicht von Dingen, eine Art, wie unser Geist sie in eine Einheit zusammenfasst […], eine in den Dingen liegende Notwendigkeit, ihre Besonderheit in ganz äusserlicher Weise, ohne auf ihre Wesenheit einzugehen, zu überwinden und sie in eine Einheit, schon als solche äusserliche, zu vereinigen. Der Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen. Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine Anschauung. (EG, 226)

Nach Ansicht des jungen Steiner sind Raum und Zeit also weder objektive Wirklichkeitsfaktoren (wie für die Naturwissenschaft), noch sind sie (wie für Kant) apriorische Anschauungsformen, welche menschliche Erfahrung überhaupt erst ermöglichen und somit vor aller Erfahrung liegen. Vielmehr begreift er sie als Erkenntnisformen, die im Akt der Erkenntnis durch Denktätigkeit erst hervorgebracht werden (und daher nicht apriorisch sind). Abgesehen von diesem Unterschied stimmt Steiner jedoch mit Kant darin überein, dass Raum und Zeit die grundlegenden Formen des Erscheinens der Welt im (gewöhnlichen) menschlichen Bewusstsein sind. Die raum-zeitliche Welt erscheint auch nach Steiner nirgendwo anders als im gegenständlichen menschlichen Bewusstsein.

Dieser Erscheinungscharakter der raum-zeitlichen Dingwelt soll aber nun nicht so verstanden werden, als sei er etwas rein Subjektives und ein Erkennen der die Erscheinung konstituierenden Wirklichkeit somit prinzipiell unmöglich. In dieser Hinsicht positioniert Steiner sich wieder dezidiert gegen Kant und betont (etwa in seiner Dissertation von 1892):

daß ja auch die Spaltung des Ich und der Außenwelt nur innerhalb des Gegebenen Bestand hat, daß also jenes ›für das Ich‹ der denkenden Betrachtung gegenüber, die alle Gegensätze vereinigt, keine Bedeutung hat. Das Ich als ein von der Außenwelt Abgetrenntes geht in der denkenden Weltbetrachtung völlig unter; es hat also gar keinen Sinn mehr, von Bestimmungen bloß für das Ich zu sprechen. (WW, 68)

Die Tatsache, dass die Welt Erscheinung ist, heißt also für den jungen Steiner nicht, dass sie deshalb als subjektiv oder illusionär zu gelten hat. Vielmehr gehe es darum, zu erkennen, dass dieses ›Erscheinen als raum-zeitliches Ding‹ bzw. als raum-zeitlicher Vorgang selbst zum Wesen dessen gehört, was da erscheint – auch wenn es nicht anders als nur durch die Erkenntnistätigkeit des Menschen zur Erscheinung kommt. Das ›Erscheinen‹ ist also nach Steiner nicht bloß mentale Repräsentation des ›Erscheinenden‹, sondern gehört zu diesem wie die Blüte zur Pflanze.

Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums. (WW, X)

Diese Vorstellungen des frühen Steiner – die sich in vieler Hinsicht mit der etwa ein Jahrzehnt später von Edmund Husserl entwickelten Phänomenologie berühren – beinhalten Wesentliches für das Verständnis seiner später konzipierten esoterischen Kosmogonie. Sie machen deutlich, dass alles, was wir im Fragment von 1903/04, in der Akasha-Chronik und in der Geheimwissenschaft lesen, nicht so aufzufassen ist, als handle es sich um Vorgänge, die in der Zeit und im Raum verlaufen. Mit solchen Vorgängen haben es nach Steiners Verständnis die Naturwissenschaft und die Geschichtswissenschaft zu tun. Denn diese betrachten die raum-zeitliche Erscheinung so, als sei diese das Erscheinende selbst. Geisteswissenschaft hingegen, wie Steiner sie verstanden wissen wollte, spricht dezidiert nicht von den in der raum-zeitlichen Erfahrung erscheinenden Dingen und Vorgängen, sondern von demjenigen, was diesen zugrundeliegt. Sie spricht vom Erscheinenden bzw. vom Vorgang des Erscheinens; vom ›Erkennen‹, vom ›Denken‹, vom ›Geist‹. Daher versteht sich auch die steinersche Kosmogonie nicht als Wissenschaft von der raum-zeitlichen Welt, sondern als Wissenschaft von dem, was als raum-zeitliche Welt erscheint. Dies darf über der Tatsache, dass sich Steiner zur Schilderung derselben raum-zeitlicher Vorstellungen bedient, nicht vergessen werden. Wer »die Bilder für die Sache nimmt«, so Steiner 1892, missversteht grundlegend den Charakter esoterischer bzw. geisteswissenschaftlicher Darstellungen.

Mit diesen Überlegungen sind wir freilich über den Rahmen des Atomismus-Aufsatzes von 1882 bereits hinausgegangen. Kehren wir daher noch einmal zum Aufsatz selbst zurück und betrachten einen anderen Punkt desselben, an dem Steiner wiederum an Kant anknüpft und zugleich über Kant hinauszugehen versucht. Es ist dies das bekannte kantsche Bild vom Handschuhpaar, mit welchem dieser versucht hatte, die Apriorität des Raumes plausibel zu machen. An der Stelle, wo Steiner die Idee der Apriorität bzw. der Absolutheit des Raumes bestreitet, heißt es:

Man wird hier etwa zum Beweise der Absolutheit des Raumes den Kantischen Einfall von den beiden Handschuhen der linken und rechten Hand einwenden können. Man sagt, die Teile derselben haben doch dasselbe Verhältnis zueinander, und doch kann man beide nicht zur Deckung bringen. Daraus schließt Kant, daß das Verhältnis zum absoluten Raum [bei beiden Handschuhen je] ein anderes ist, dieser mithin [unabhängig von ihnen] bestehe. Viel näher liegt es aber doch anzunehmen, das Verhältnis der beiden Handschuhe zueinander sei eben derart, daß sie nicht zur Deckung gebracht werden können. Wie sollte auch ein Verhältnis [eines konkreten Handschuhs] zum absoluten Raume gedacht werden? Und selbst angenommen, es wäre möglich, so begründeten doch die Verhältnisse der beiden Handschuhe zum absoluten Raume erst wieder ein solches derselben zueinander. Warum sollte dies nicht ebensogut ein ursprüngliches sein können? (BRSG 63 [78], 9)

Wovon ist hier die Rede? Steiner bezieht sich auf die von Kant zur Begründung der Idee eines apriorischen (d. h. vor aller Erfahrung bestehenden) Raumes vorgebrachte Tatsache, dass bei einem linken und einem rechten Handschuh »die Teile derselben dasselbe Verhältnis zueinander haben« und dennoch nicht räumlich »zur Deckung gebracht werden können«. Daraus folgte für Kant, dass der Raum etwas vor der Erfahrung der Handschuhe Liegendes, eine ›apriorische‹ Form des Anschauens sei, welche die Erfahrung von etwas ›im Raum‹ überhaupt erst möglich macht. Nur so kann Kant sich erklären, weshalb die beiden Handschuhe, die sich in ihren Verhältnissen doch in nichts unterscheiden, in demjenigen Raum, in dem sie erscheinen, nicht zur Deckung gebracht werden können. Es muss also einen anderen als den (in den Handschuhen) erscheinenden Raum geben. – Steiner hingegen meint, dieses Beispiel könne auch gegen Kant und für die eigene Position verwendet werden. Wie genau sein Argument hier aussieht, wird aufgrund der Knappheit der Darstellung nicht ganz klar. Es scheint aber dieses zu sein: Der Raum, den der rechte Handschuh einnimmt, ist von diesem durchaus nicht zu trennen, da er eine vom Denken hervorgebrachte Form ist, in welchem der (rechte) Handschuh erscheint. Der Raum hingegen, in welchem der linke Handschuh erscheint, ist für Steiner ein durchaus anderer, nämlich der im Rahmen der Erscheinung des linken hervorgebrachte. Denn es gibt für ihn keinen Raum, außer den im Erkennen hervorgebrachten, in dem die Dinge erscheinen. Das Verhältnis eines jeden Handschuhs zu dem Raum, in dem er erscheint, kann also auch als ein (durch das Denken hergestelltes) »ursprüngliches« gedacht werden, und nicht nur wie bei Kant als ein (vom apriorischen oder absoluten Raum) abgeleitetes.

Ob Steiners Deutung des Handschuh-Beispiels die kantsche Argumentation korrekt wiedergibt, oder ob er hier nicht vielmehr im Sinne Kants gegen eine Missdeutung des kantschen Erfahrungsbegriffes anschreibt, sei dahingestellt. Das Beispiel macht aber zweierlei deutlich: Zum einen zeigt es, wie Steiner schon 1882 sowohl gegen ein naturalistisches als auch gegen ein apriorisches Verständnis von Raum und Zeit argumentiert und somit bereits zu einer identitätsphilosophischen Position neigt. Zum andern wird deutlich, dass ihm offensichtlich die gedanklichen Mittel damals noch nicht zur Verfügung standen, über die Kritik des naturwissenschaftlichen und des kantischen Raumbegriffs hinaus zu einer positiven Formulierung seiner eigenen Vorstellung zu kommen. Die Frage, wie ein rechter Handschuh in einen linken Handschuh überführt werden kann, obwohl doch eine solche Überführung gedanklich im dreidimensionalen Raum unmöglich ist, wird 1882 nicht beantwortet.

Allerdings deutet das Bild vom Handschuh faktisch bereits in die Richtung, die Steiner später einschlagen wird. Denn es lässt sich aus einem rechten Handschuh in der Tat faktisch ein linker Handschuh machen, indem man diesen nämlich umstülpt. (Steiner spricht später auch vom Durchgehen der dreidimensionalen Gestalt durch eine ›vierte Dimension‹.) In Steiners anthroposophischem Denken wird in der Tat das Denken in ›Umstülpungen‹ ein zentrales Element werden – und das kantsche Beispiel vom Handschuh taucht dabei regelmäßig als Illustration der Problematik auf. Aber das gedankliche Instrument, mit dessen Hilfe sich räumlich und zeitlich voneinander verschiedene Naturformen in der Weise des Handschuhbeispiels als in Raum und Zeit auseinander hervorgehend verstehen lassen, das ließ sich aus dem Rahmen idealistischer Philosophie nicht entwickeln. Dieses Instrument fand Steiner weder bei Kant noch bei Fichte oder Schelling, sondern erst in der morphologischen Naturanschauung Goethes. Die Geheimwissenschaft als ein großangelegter Versuch, ein raum-zeitliches Bild der die Natur konstituierenden überräumlichen und überzeitlichen Prozesse zu zeichnen, konnte erst in Angriff genommen werden, nachdem Steiners morphologisches Denken durch die Auseinandersetzung mit Goethe konkretere Gestalt gewonnen hatte. So jedenfalls sah Steiner selbst die Sache. Seine Anthroposophie verstand er rückblickend als Ergebnis einer Erweiterung und Anwendung goethescher Morphologie auf Seelisches und Geistiges:

Wer den Gedanken der Umbildung nicht nur der sinnlich-anschaulichen Formen – bei der Goethe in Gemäßheit seines besonderen Seelencharakters stehen geblieben ist –, son­dern auch des seelisch und geistig Erfaßbaren sich zugänglich macht, der ist bei der Anthroposophie angelangt. (GA 36, 336)

So erweist sich an Steiners Aussagen über Raum und Zeit einmal mehr, dass die konzeptionellen Grundlagen seiner Esoterik – und damit auch seiner Kosmogonie – nicht erst in der Auseinandersetzung mit der anglo-indischen Theosophie gebildet wurden, sondern bereits während seiner vortheosophischen Phase.

 

Evolution und Involution:

Der Doppelstrom der Zeit

Parallel zu seinen frühen philosophischen Gedankenexperimenten über Raum und Zeit entwickelte der junge Steiner auch schon sehr früh esoterische Vorstellungen zu diesem Thema. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist die Anschauung vom sogenannten ›Doppelstrom der Zeit‹, nach welcher alle Entwicklung in zwei gleichzeitig, aber in entgegengesetzter Richtung fließenden Zeitströmungen verläuft. Diese Vorstellung einer der natürlichen Evolution entgegenlaufenden geistigen ›Involution‹ ist eine der wesentlichen Erweiterungen, durch welche in Steiners Esoterik die sinnettsche Konzeption einer unidirektionalen kosmischen ›Daseinswelle‹ erweitert wird. Steiner hat sie in keinem seiner kosmogonischen Texte explizit zur Darstellung gebracht hat; nur in der Geheimwissenschaft wird sie ganz leise angedeutet. Sie lässt sich aber indirekt durchaus nachweisen, besonders in denjenigen Passagen der Geheimwissenschaft, die er später einer Umarbeitung unterzogen hat. Der mit dieser Frage sich eröffnende Problemhorizont kann an dieser Stelle zwar nicht im Detail verfolgt werden, soll aber doch zumindest kurz skizziert und als Aufgabe an die künftige Steinerforschung weitergegeben werden.

Die erste öffentliche Erwähnung der Doppelstrom-Vorstellung findet sich bezeichnenderweise in einem Text, der gar nicht von Steiner selbst stammt, nämlich in dem 1908 von Edouard Schuré verfassten Vorwort zur französischen Ausgabe der steinerschen Christentums-Schrift. Dort schreibt Schuré (nach der Übersetzung von Robert Friedenthal):

Wir alle sind uns bewußt des äußeren Stromes der Evolution, welcher alle Wesen des Himmels und der Erde mit sich zieht, Sterne, Pflanzen, Tiere, Menschen, und der sie in eine unendliche Zukunft hinein sich voranbewegen läßt, ohne daß wir die ursprüngliche Kraft gewahr werden, durch welche sie gestoßen werden und die sie rastlos weitertreibt. Es gibt jedoch im Universum nun noch einen umgekehrten Strom, der sich in entgegengesetzter Richtung bewegt und ständig in den ersten Strom eingreift. Dies ist derjenige der Involution, durch welchen die Prinzipien, die Kräfte, die Wesenheiten und die Seelen, die aus der unsichtbaren Welt und der Region des Ewigen kommen, ununterbrochen in die sichtbare Realität eindringen. Keine materielle Evolution wäre verständlich ohne diese ständige geistige Involution, ohne diesen okkulten astralen Strom, der mit seiner Hierarchie von machtvollen Wesenheiten der große Anreger alles Lebens ist. Es involviert sich so der Geist, welcher im Keime die Zukunft enthält, in der Materie; die Materie, welche den Geist empfängt, evolviert nach der Zukunft hin. Während wir also blind einer unbekannten Zukunft entgegengehen, geht diese Zukunft bewußt uns entgegen, indem sie sich in den Lauf der Welt und des Menschen hineinsenkt. Dergestalt ist die doppelte Bewegung der Zeit, die Ausatmung und Einatmung der Weltseele, die von der Ewigkeit kommt und zur Ewigkeit zurückkehrt.

Von dieser Doppelbewegung hatte der junge Steiner seit seinem 18. Jahre ein unmittelbares Gefühl. Dieses Gefühl ist ja die Bedingung für jede geistige Erkenntnis. Das Prinzip der zwei Strömungen hatte sich ihm durch eine unwillkürliche und unmittelbare Schau aufgedrängt, und er hatte von nun an eine unwiderlegliche Wahrnehmung geheimer Mächte, die hinter ihm und durch ihn hindurch wirkten, um ihn zu leiten. (BRSG 42 [1973], 7)

Als Quelle seines Wissens über Steiners Vorstellungen bezog Schuré sich auf Mitteilungen, die dieser ihm persönlich hatte zukommen lassen. Unter diesen sogenannten ›Barr-Dokumenten‹ befand sich auch eine Skizze von Steiners Lebenslauf von dessen eigener Hand. Darin erwähnte er die Doppelstrom-Theorie als eine Vorstellung, die er selbst in seiner Jugend auf der Grundlage seiner persönlichen geistigen Erfahrungen entwickelt habe, und zwar schon vor seiner Begegnung mit jener geheimnisvollen ungenannten Persönlichkeit, die er als seinen ›Meister‹ bezeichnete. In der Skizze heißt es:

Sehr früh wurde ich auf Kant hingelenkt. Im fünfzehnten und sech­zehnten Jahre studierte ich Kant ganz intensiv, und vor dem Übergang zur Wiener Hochschule beschäftigte ich mich intensiv mit den ortho­doxen Nachfolgern Kants […]. Dann trat hinzu ein ein­gehendes Vertiefen in Fichte und Schelling. In diese Zeit fiel – und dies gehört schon zu den äußeren okkulten Einflüssen – die völlige Klarheit über die Vorstellung der Zeit. Diese Erkenntnis stand mit den Studien in keinem Zusammenhang und wurde ganz aus dem okkulten Leben her dirigiert. Es war die Erkenntnis, daß es eine mit der vorwärtsgehenden interferierende rückwärtsgehende Evolution gibt – die okkult-astrale. Diese Erkenntnis ist die Bedingung für das geistige Schauen.


Dann kam die Bekanntschaft mit dem Agenten d. M. [des Meisters]. (GA 262, 7)

In einem autobiographischen Vortrag vom 4. Februar 1913 spricht Steiner wieder von der Doppelstrom-Vorstellung, allerdings jetzt in einer Weise, welche die Entwicklung dieser Anschauung in die Zeit nach der Begegnung mit seinem ›Meister‹ verlegt. Steiner schildert, wie er in Gesprächen mit diesem die konzeptionellen Grundlagen seiner späteren Geheimwissenschaft entwickelt habe und dass dies auf der Grundlage von bestimmten Anschauungen Fichtes geschehen sei.

Es bediente sich jene Persönlichkeit […] der Werke Fichtes, um gewisse Betrachtungen daran anzuknüpfen, aus denen sich Dinge ergaben, in welchen doch die Keime zu der ›Geheimwissenschaft‹ gesucht werden könnten, die der Mann, der aus dem Knaben geworden ist, später schrieb. Und manches, aus dem die ›Geheimwissenschaft‹ geworden ist, wurde damals in Anknüpfung an Fichtes Sätze erörtert. (BRSG 83/84 [1984], 18)

Steiner erwähnt dann neben Fichte noch einen anderen Autor, dessen Buch sein ›Meister‹ verwendet habe, um seinen Schüler in bestimmte esoterische Anschauungen einzuführen.

Ein Buch war es, das er gleichsam als Anhaltspunkt benutzte, das in Österreich oft wegen seiner antiklerikalen Richtung unterdrückt wurde, durch welches man sich aber zu ganz besonderen geistigen Wegen und geistigen Pfaden anregen lassen kann. Jene eigenartigen Strömungen, die durch die okkulte Welt gehen, die man nur erkennen kann, wenn man eine aufwärts- und eine abwärtsgehende Doppelströmung ins Auge faßt, traten damals lebendig vor des Knaben Seele. (ebd.)

Von welchem Autor und von welchem »Buch« hier die Rede ist, mittels dessen Steiner zu den »ganz besonderen geistigen Wegen« angeregt wurde, die zu der Doppelstrom-Vorstellung führten, konnte bisher nicht ermittelt werden. In seiner für die Öffentlichkeit bestimmten Autobiographie Mein Lebensgang ist er auf diesen Punkt ebenso wenig eingegangen wie auf das Doppelstrom-Theorem selbst. Auch in seinen erkenntnisschulischen Texten redet Steiner nie ausdrücklich über diese Anschauung, die er doch immerhin gegenüber Schuré als »Bedingung für das geistige Schauen« bezeichnet hatte. Wieso schwieg Steiner gegenüber der Öffentlichkeit so beharrlich über eine Einsicht, die er intern als entscheidend für die geistige Entwicklung des Menschen und für seine eigene Esoterik charakterisierte?

Im arkanen Kreis seiner Anhänger hat Steiner seine Doppelstrom-Konzeption nicht nur wiederholt erwähnt, sondern auch durch Beispiele näher konkretisiert. Als Beispiel mag ein Vortrag in Den Haag vom 18. November 1923 dienen. Da spricht er von denjenigen physischen Kräften, die beim Schmelzen von Metallen frei würden und beschreibt dann, wie diese Kräfte sich gewissermaßen strahlenartig von der Erde weg im Universum nach allen Richtungen ausbreiteten – dann aber, indem sie gewissermaßen an die ›Grenze‹ des physischen Universums gelangten, zugleich wieder an ihrem Ausgangspunkt auf der Erde auftauchten, und zwar jetzt als diejenigen geistigen Kräfte, welche dem Menschen dazu verhelfen, den aufrechten Gang zu erlernen.

Was im Metall sich verflüchtigt, das strahlt hinaus in die Weltenweiten, aber es kommt zurück in Lichtgewalten und in Lichteswärmestrahlungen. Und indem es zurückkommt aus den Weltenweiten, macht es aus dem Kinde, das noch nicht sprechen und gehen kann, das noch kriechen muß, das aufrecht gehende Kind. So haben Sie die Strömungen nach aufwärts, die Sie schauen können in den verschmelzenden Metallen; wenn sie weit genug in den Kosmos hinausgehen, kehren sie um, kehren sie zurück und sind dann dieselben Gewalten, die das Kind aufrichten. Was Sie auf der einen Seite sehen, finden Sie auf der anderen wieder. Und so bekommen Sie eine Vorstellung von den auf und absteigenden Weltenkräften, die im Weltenwesen wirken, von den Metamorphosen, den Verwandlungen dieser Weltenkräfte. (GA 231, 150)

Der Esoteriker Steiner betrachtete also diese Umstülpung physischer Kräfte in geistige analog zum Verlauf jener Linie, die ihn als Student der synthetischen Geometrie so fasziniert hatte: jener »Linie, die nach rechts in das Unendliche verlängert wird, von links wieder zu ihrem Ausgangs­punkt zurückkommt.« Diese Idee eines als ›Verwandeltes‹ zum Ursprung ›Zurückkommens‹ erscheint jetzt, angewandt auf die im Raum erscheinende Natur, als das Prinzip eines geistig-physischen ›Doppelstroms‹: Diejenigen Kräfte, die als physische in der Natur wirken und ihre Evolution bewirken, sind die gleichen, die als ›geistige‹ Aufbaukräfte in diese Evolution ›involviert‹ sind. Beide unterscheiden sich nur darin, dass sie vom Menschen in unterschiedlichen Modi (als ›Geist‹ bzw. als ›Natur‹) und als in unterschiedlicher Raum- und Zeitrichtung wirkend aufgefasst werden.

Das obige Beispiel illustriert sehr schön die Anschaulichkeit, mit der Steiner in seinen Vorträgen das Doppelstrom-Motiv illustriert. Es beschreibt allerdings den evolutiven Doppelstrom primär in Hinsicht auf die Räumlichkeit. Eine weitere Anwendung, in welcher die Idee einer doppelten Zeitströmung deutlicher zum Ausdruck kommt, sind Steiners Vorträge über Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Steiner spricht da von den drei seelischen Kräften des Vorstellens, Fühlens und Wollens als einer Realisierung dieses Doppelstroms im Menschen. Den einen Strom der Evolution, der zeitlich aus der Vergangenheit in die Gegenwart einfließt, bezeichnet Steiner hier als ein permanentes »Sterben« der Natur und bringt ihn mit der Vorstellungstätigkeit des Menschen in Verbindung. Den anderen, zugleich aus der Zukunft in die Gegenwart einfließenden involutiven Strom hingegen charakterisiert er als permanentes »Geborenwerden« der Natur und verortet ihn vor allem in den Äußerungen des Willens. Beide Ströme verlaufen nach dieser Darstellung nicht in die Unendlichkeit, sondern ›münden‹ sozusagen, ausgehend von ihrer jeweiligen ›Quelle‹ in der Zukunft und der Vergangenheit, in das Erleben der Gegenwart.

In der Natur ist fortwährendes Sterben und Werden miteinander verbunden. Dass wir das Sterben auffassen, rührt davon her, dass wir in uns tragen das Spiegelbild unseres vorgeburtlichen Lebens, die Verstandeswelt, die Denkwelt, wodurch wir das der Natur zugrunde liegende Tote ins Auge fassen können. Und dass wir dasjenige, was in der Zukunft von der Natur da sein wird, ins Auge fassen können, rührt davon her, dass wir nicht nur unseren Verstand, unser Denkleben der Natur entgegenstellen, sondern dass wir ihr dasjenige entgegenstellen können, was in uns selbst willensartiger Natur ist. (GA 293, 50)

Das Vorstellen ist also für den reifen Steiner ein sich im Menschen realisierender Ausdruck des Stromes der absterbenden Kräfte, Ausdruck der Materialisierung des Geistigen. Im Wollen hingegen partizipiert der Mensch an der aufbauenden, aus der Zukunft in die Gegenwart hineinragenden Strömung. Und dort, wo das in der Vergangenheit verhaftete Vorstellen mit dem aus der Zukunft einströmenden Wollen zusammentrifft, im Augenblick der Gegenwart, entsteht das Fühlen als die Verbindung beider Ströme bzw. als eine Art Stauung, die durch das Aufeinandertreffen des abbauenden und des aufbauenden Stromes entsteht. Zugleich findet der Doppelstrom auch seinen physischen Ausdruck, nämlich auf der einen Seite im Nervensystem (auf dem ja alles Vorstellen beruht) und auf der anderen Seite im Blut- und Zirkulationssystem (in dem sich nach Steiner vor allem das Willenhafte manifestiert).

Wir haben einen polarischen Prozess in uns. Wir haben diejenigen Prozesse in uns, die längs des Blutes, der Blutbahnen laufen, die fortwährend die Tendenz haben, unser Dasein ins Geistige hinauszuleiten. […] Im Gegensatz zum Blut sind alle Nerven so veranlagt, dass sie fortwährend Absterben, im Materiellwerden begriffen sind. […] Das Blut will immer geistiger werden, der Nerv immer materieller; darin besteht der polarische Gegensatz. (ebd., 39)

Liest man mit den so gewonnenen Vorstellungen von Steiners Doppelstrom-Idee die Darstellungen der Geheimwissenschaft, so kann man den Gedanken in der Tat auch in dieser Schrift überall antreffen, auch wenn er nicht explizit als solcher formuliert wird. Man betrachte nur etwa das immer wiederkehrende Muster, nach dem bestimmte natürliche Veränderungen auf der Erde sich vollziehen, und diese dann als Ergebnis des Einflusses geistiger Wesen charakterisiert werden, welche die Erdentwicklung gewissermaßen von außen her lenken und beeinflussen. Im Licht der obigen Darlegungen Steiners bietet sich diese Grundstruktur geradezu an, als bildliche Darstellung des geistig-materiellen Doppelstromes verstanden zu werden. Dann würde man das in der Geheimwissenschaft geschilderte Eingreifen der geistigen Wesen nicht mehr in eindirektional-kausaler Weise als ›Ursache‹ der physischen Erdvorgänge verstehen, sondern gewissermaßen als die zurückkehrende Metamorphose von Physischem, welches (gemäß den oben genannten Beispielen) durch eine ›Umstülpung‹ gegangen ist und nun als geistige Formkraft zurückkehrt.

Die Doppelstrom-Vorstellung zeigt sich insbesondere auch in den oben beschriebenen Modifikationen von 1914, in denen Steiner an verschiedenen Stellen den jeweils gleichen Vorgang einmal als physisch-materiellen Prozess und dann zugleich als Tätigkeit von Geistwesen beschreibt. Und auch manch andere Textrevision wird vor diesem Hintergrund verständlicher. Man betrachte etwa die Hinweise (GU, 133), wo Steiner wieder einmal im menschlichen Leib vorgehende Prozesse als Ausdruck der Tätigkeit geistiger Prozesse beschreibt, und dann 1920 den folgenden Passus hinzufügt:

Nicht sie [die geistigen Wesenheiten] bewirken unmittelbar diese [im Menschen vor sich gehenden] Prozesse, sondern durch das, was sie bewirken, entstehen mittelbar solche Prozesse. (GU, 131)

Der Passus als solcher ist relativ dunkel und man kann im Kontext, in dem er steht, nicht recht nachvollziehen, was hier eigentlich gemeint ist. Vor dem Hintergrund der Doppelstrom-Idee macht die Aussage jedoch durchaus Sinn. Denn aus dieser Perspektive handelt es sich bei ›materiellen Prozessen‹ und bei ›geistigen Einwirkungen‹ gar nicht um zwei verschiedene Dinge, sondern um ein und denselben Vorgang, der nur aus zwei Perspektiven geschildert wird: einmal als Einwirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart (alle materiellen Prozesse sind ja aus diesem Blickwinkel als Abbauprozesse zu verstehen, als Verhärtung eines ursprünglich Geistigen) und einmal als Einwirkung der Zukunft auf die Gegenwart – insofern nämlich Geistiges sich darin äußert, materielle Formen aufzulösen und zu verlebendigen. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen kann nicht sinnvoll davon gesprochen werden, dass ein geistiger Vorgang einen materiellen ›verursachen‹ könnte (oder umgekehrt); vielmehr ist der eine Vorgang immer nur der metamorphisierte und in sich selbst zurückkehrende Ausdruck des jeweils andern. Oder, in Anlehnung an den bekannten Ausspruch Schellings: in Steiners Geheimwissenschaft ist Natur sichtbar gewordener, als vorwärtsschreitende raum-zeitliche Evolution aufgefasster Geist; und Geist ist unsichtbare, als von Zukunft her in die eigene Gegenwart involvierte Natur.

Auf diese Weise hilft die Doppelstrom-Vorstellung, das Gestaltungskonzept der Geheimwissenschaft in tieferer Weise zu verstehen. Die Kosmogonie Steiners könnte in gewisser Weise mit jenem Ausspruch charakterisiert werden, den im wagnerschen Parsifal der Weise Gurnemanz an seinen Schüler richtet, als sie sich in die Gralsburg begeben: »Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit!« Worum es in der Geheimwissenschaft eigentlich geht, wären aus der Perspektive der Doppelstrom-Idee eigentlich zeitliche Prozesse, Vorgänge, die sich aus dem Ineinanderfließen zweier entgegengerichteter Zeitströme ergeben: eines vergangenheitsbehafteten, abbauenden, absterbenden, in die Materialität führenden, und eines zukunftsträchtigen, aufbauenden, verlebendigenden, vergeistigenden Stromes. Diese ›Zeitströme‹ werden, um sie vorstellbar zu machen, in der Geheimwissenschaft in ein Raumbild gebracht: Steiner bringt die evolutiven Vorgänge in Bilder von Prozessen, die sich ›unten‹ bzw. ›im Zentrum‹ vollziehen, auf ›Weltkörpern‹ und in menschlichen ›Leibern‹, während die involutiven Vorgänge im Bild jener Wesenheiten zum Ausdruck kommen, die von ›oben‹ bzw. von ›außen‹ auf diese Körper einwirken. Das in Steiners Texten der Imagination des Lesers als Raumbild vorgehaltene Porträt der Wirklichkeit könnte somit als didaktische Form verstanden werden, in welcher sich eine Zeitgestalt entfaltet, zu welcher die räumlich-bildliche Imagination keinen Zugang mehr hat und das daher durch ein anderes Organ erfasst werden muss.

 

Schöpfung, Telos und Initiation

in Steiners vortheosophischem Werk (1884–1902)

Eine weitere wichtige Etappe in Steiners Biographie, nach seiner Auseinandersetzung mit dem Raum-Zeit-Problem und der Begegnung mit dem ›Meister‹, bestand in der Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie Goethes. Diese Auseinandersetzung begann unmittelbar nach der Abfassung des oben erwähnten Atomistik-Aufsatzes, indem der damalige Student Steiner durch Vermittlung seines Freundes und Mentors Karl Julius Schröer mit der Herausgabe einer historisch-kritischen Edition der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes betraut wurde. Ab 1884 veröffentlichte er die Ergebnisse dieser Arbeit in den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1884–1897) in der Schrift Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung (1886) sowie später noch einmal zusammenfassend in Goethes Weltanschauung (1897). In diesen Texten führte Steiner seine jugendlichen Überlegungen zu Raum und Zeit weiter und integrierte sie in seine sich jetzt entwickelnde morphologische Naturanschauung und in seine Erkenntnistheorie. Dazu kommt ein zweiter Faktor, der für die kosmogonischen Vorstellungen Steiners von Bedeutung ist, und zwar ein lebhaftes Interesse an der Frage nach dem Wesen der Naturentwicklung bzw. der ›Schöpfung‹. Schon im ersten Abschnitt der ersten Goethe-Einleitung von 1884 werden zwei grundsätzliche Schöpfungsvorstellungen diskutiert, nämlich eine im traditionellen Sinne kreationistische und eine mehr pantheistisch bzw. panentheistisch ausgerichtete:

Die erste Ansicht betrachtet die endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber dieses Unendliche bleibt in seinem Wesen erhalten, es vergibt sich nichts. Es geht nicht aus sich heraus, es bleibt, was es vor seiner Offenbarung war. Die zweite Ansicht sieht die endliche Welt ebenso als eine Offenbarung des Unendlichen an, nur nimmt sie an, dass dieses Unendliche in seinem Offenbarwerden ganz aus sich herausgegangen ist, sich selbst, sein eigenes Wesen und Leben in seine Schöpfung gelegt hat, so dass es nur mehr in dieser existiert. (EG, 56)

Der junge Steiner bevorzugt mit Goethe den zweiten (panentheistischen) Schöpfungsbegriff, zum einen weil nur dieser sich mit einem monistischen Wirklichkeitsverständnis wie dem steinerschen verträgt, und zum andern weil er ihn als Voraussetzung seines Freiheitsbegriffes versteht. In einer Welt, die von außerhalb durch ein allmächtiges Wesen gelenkt würde, könnte es seiner Ansicht nach keine Freiheit geben. Freiheit ist für ihn nur dadurch denkbar, dass »Gott sich nach der Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen und den letzteren ganz sich selbst überlassen« hat. Deshalb erscheint ihm der zum freien Selbstbewusstsein gelangte Mensch als Fortsetzer und Vollender der Schöpfungsgeschichte:

Lehrt die Religion, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt uns unsere Erkenntnistheorie, dass Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu einem gewissen Punkte geführt hat. Da hat er den Menschen entstehen lassen und dieser stellt sich, indem er sich selbst erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu vollenden, was die Urkraft begonnen hat. (EG, 124)

Ebenfalls in den achtziger Jahren begeistert sich Steiner für die von Goethe und Herder diskutierte anthropozentrische Entwicklungsidee, nach der im Schöpfungsprozess die verschiedenen unorganischen und organischen Naturgestalten in einem Prozess der immerwährenden Steigerung und Potenzierung auseinander hervorgehen, wobei die Gestalt des Menschen nicht nur das Ziel der Entwicklung darstellt, sondern zugleich das Urbild und die Synthese aller ihm vorhergehenden Lebensformen. So berichtet Steiner in seinen Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften von 1884:

Herder hat nun im ersten Teil [seines Werkes Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit] von dem Wesen der Welt folgende Auffassung. Es muss eine Hauptform vorausgesetzt werden, welche durch alle Wesen hindurchgeht und sich in verschiedener Weise verwirklicht. ›Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesem zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen‹. (EG, 30)

Die Entwicklungsidee, die Steiner an den Gesprächen zwischen Goethe und Herder fasziniert, gleicht in vieler Hinsicht, und zwar bis in die Formulierung hinein (»vom Stein zum Kristall« usw.) denjenigen Vorstellungen, welche Sinnett und Blavatsky 1888 zum leitenden Gesichtspunkt ihrer Kosmogonie gemacht haben und welche später auch das Grundgerüst seiner eigenen Kosmogonie abgeben wird. Deren Entwicklungsstationen sind: der physische Leib und das Mineralreich (esoterisch: ›Saturn‹), Ätherleib und Pflanzenreich (›Sonne‹), Astralleib und Tierreich (›Mond‹), Ich und Menschenreich (›Erde‹). Steiner referiert ferner die Ansicht Goethes und Herders, dass der Naturforscher, welcher den Prozess der Formenmetamorphose in der Natur verstehe, nicht nur die Entstehung der bereits existierenden Lebensformen erklären, sondern in gewisser Weise sogar in die Zukunft schauen könne. Auch mit dieser Vorstellung identifiziert sich der junge Steiner weitgehend: »Unser Erkennen führt uns dahin«, schreibt er, »die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen Andeutungen zu finden«. – Was mit solchen der Natur innewohnenden ›Tendenzen‹ gemeint ist, bleibt in den Frühschriften freilich unklar, vor allem da Steiner in diesen zugleich jegliche teleologische Deutung der Naturentwicklung ablehnt. So heißt es in den Grundlinien:

Niemand hat so wie Goethe erkannt, daß eine organische Wissenschaft ohne allen Mystizismus, ohne Teleologie, ohne Annahme besonderer Schöpfungsgedanken möglich sein muß. (GE, 84)

Wie, so wäre zu fragen, hat man sich solche ›inneren Tendenzen‹ innerhalb der Entwicklung der natürlichen Wesen vorzustellen, wenn nicht im Sinne von ›Schöpfungsgedanken‹ oder einer in der Natur waltenden ›Teleologie‹? Nachvollziehbar ist, dass Steiner als Monist betonen wollte, dass die ›Tendenzen‹, welche der Naturentwicklung innewohnen, dieser immanent sind und ihr nicht von einem außerhalb der Natur stehenden Schöpfergott vorgeschrieben werden. Aber selbst wenn dies zugegeben wird, bleibt die Ablehnung von ›Zwecken‹ bei gleichzeitiger Postulierung von ›Tendenzen‹ in der Natur klärungsbedürftig. Diese Ambivalenz wird ein herausstehendes Charakteristikum steinerschen Denkens bis in seine esoterische Zeit hinein bleiben, ja sich noch verstärken, indem der Esoteriker Steiner nicht nur von der Natur innewohnenden Tendenzen sprechen wird, sondern von geistigen Wesenheiten und Hierarchien, welche hinter der natürlichen Entwicklung stehen und in diese immer wieder eingreifen. Und zwar in solcher Weise eingreifen, dass die Verwirklichung des freien und selbstbewussten Menschen als Ziel und Zweck ihres Eingreifens erscheint. Mit einer plausiblen Erklärung dafür, wieso eine vom Eingreifen schöpferischer Geistwesen ausgehende und gelenkte Kosmogonie nicht auf ›Schöpfergedanken‹ beruhen bzw. nicht teleologisch ausgerichtet sein soll, wird sich Steiner zeitlebens schwertun.

Die gleiche Ambivalenz zeigt sich auch in Steiners Aussagen über die Menschheitsgeschichte in seinen frühen Schriften. So wird auch im Hinblick auf die Geschichte einerseits von darin waltenden Tendenzen gesprochen:

Die Geschichte ist durchaus auf die Menschennatur zu begründen. Ihr Wollen, ihre Tendenzen sind zu begreifen. (GE, 100)

Und dann heißt es gleich im nächsten Satz:

Unsere Erkenntniswissenschaft schließt es völlig aus, der Geschichte einen Zweck zu unterschieben, wie etwa, daß die Menschen von einer niederen Stufe der Vollkommenheit zu einer höheren erzogen werden u. dgl. Ebenso erscheint es unserer Ansicht gegenüber als irrtümlich, wenn man […] die historischen Ereignisse wie die Naturtatsachen nach der Abfolge von Ursache und Wirkung abfassen will. Die Gesetze der Geschichte sind eben viel höherer Natur. (ebd.)

Die Geschichte der Menschheit lässt sich also nach dem frühen Steiner weder, wie die Naturgeschichte, durch die Gesetze der Kausalität erklären, noch auch durch eine ihr innewohnende Teleologie, wie etwa in den Geschichtsentwürfen Fichtes, Schellings und Hegels postuliert worden war (nämlich als Entwicklung auf das Ziel der menschlichen Freiheit hin). Wenn also die Geschichte zweckmäßig verläuft, dann nach Steiner nur insofern, als es von Menschen geschaffene und gesetzte Zwecke sind, die in ihr verfolgt werden. So weit, so gut. Aber dem steht dann wieder die Aussage Steiners gegenüber, der geschichtlich handelnde Mensch entnehme die Ziele seines Handelns der Natur bzw. der Wirklichkeit:

Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden, einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese Intention zu erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er hat die Welt durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen fortzusetzen. (EG, 150)

Als Esoteriker hat Steiner diese Ambivalenz seiner vortheosophischen Aussagen wieder aufgegriffen und versucht, die hier klaffende Aporie dadurch zu lösen, dass er zwischen Zwecken ›wie sie sich im Menschentum verwirklichen‹ und einer ›höheren‹ Teleologie unterschieden hat. Ein solcher Vermittlungsversuch liegt etwa in dem folgenden enigmatischen Zusatz zur Neuauflage der Philosophie der Freiheit von 1918:

Man wird bei vorurteilslosem Durchdenken des hier Ausgeführten nicht zu der Ansicht kommen können, daß der Verfasser dieser Darstellung mit seiner Ablehnung des Zweckbegriffs für außermenschliche Tatsachen auf dem Boden derjenigen Denker stand, die durch das Verwerfen dieses Begriffes sich die Möglichkeit schaffen, alles außerhalb des Menschenhandelns liegende – und dann dieses selbst – als nur natürliches Geschehen aufzufassen. […] Wenn hier auch für die geistige, außerhalb des menschlichen Handelns liegende Welt der Zweckgedanke abgelehnt wird, so geschieht es, weil in dieser Welt ein höheres als ein Zweck, der sich im Menschentum verwirklicht, zur Offenbarung kommt. (PF, 195 f.)

Was soll hier eigentlich gesagt werden? Dass es zwar sehr wohl Zwecke in der Natur bzw. in der geistigen Welt gibt, dass diese Zwecke aber von anderer Art sind als jene Zwecke, welche der handelnde Mensch sich setzt – und deshalb nicht wirklich Zwecke sind? Steiners Neufassung seines Teleologie-Arguments von 1918 wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Die Aporie hätte sich möglicherweise mit Hilfe des Doppelstrom-Theorems (vgl. oben) auflösen lassen; aber dieses hat Steiner, wie bereits erwähnt, nie öffentlich dargestellt.

*

Sieben Jahre nach dem Erscheinen der Philosophie der Freiheit erschien ein weiteres Buch von Rudolf Steiner mit dem Titel Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens. Diese Schrift kann in vieler Hinsicht als Wegmarke in Steiners Übergang von der Goethe-Philologie und der Philosophie zur Esoterik gelten. Sprache und Duktus dieses Textes unterscheiden sich grundlegend von seinen früheren Veröffentlichungen, aber die Inhalte sind weitgehend die altbekannten. Äußerlich gibt sich die Schrift als eine Geschichte der abendländischen Mystik; aber diese Geschichte ist zugleich ein Fenster in die idealistischen Anschauungen Rudolf Steiners. Ja noch mehr: Steiners eigene philosophische Ideenwelt bildet gewissermaßen denjenigen Spiegel, durch den der Leser auf die Anschauungen der verschiedenen Mystiker und Okkultisten blickt. Die Mystik-Schrift erscheint somit als literarische Umsetzung jenes individualistischen Programms, welches der junge Steiner schon im Umfeld seiner Philosophie der Freiheit formuliert hatte:

Ich lehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint. […] Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen. (GA 39, 232 f.)

Die zweifache Bedeutung der Formulierung »als Erlebnis des Einzelnen« kann als Hinweis auf die Natur des in der Mystik-Schrift umgesetzten ideogenetischen Ansatzes verstanden werden. Es heißt zum einen: Steiner interessiert sich für Mystik insofern, als diese Mystik im menschlichen Ich zum persönlichen Erlebnis des Einzelnen wird. Es heißt aber auch: Er interessiert sich für Mystik insofern, als in solcher Betrachtung das menschliche Ich zum persönlichen Erlebnis des Einzelnen wird. In anderen Worten: Steiner interessiert die Mystik in diesem Buch nicht primär als historische Erscheinung, sondern vor allem insofern, als er mittels ihrer Darstellung von seinen eigenen Erkenntniserfahrungen, vom »Erlebnis des Einzelnen« im oben dargelegten doppelten Sinne des Wortes, erzählen konnte. Das in dieser Formulierung zum Ausdruck kommende ideogenetische Programm zeigt sich etwa an der oben bereits erwähnten Idee einer ›Forsetzung der Schöpfung‹ durch den Menschen. Hatte Steiner diese Vorstellung zuvor meist in Formulierungen gekleidet, die an Goethe oder Schelling anknüpften, so legt er sie jetzt in den Mund eines Meister Eckhart, eines Jakob Böhme oder eines Paracelsus:

Was der Mensch schafft, ist so wie er schafft, eine ursprüngliche Schöpfung. Soll sie göttlich genannt werden, so kann sie so genannt werden nur in dem Sinne, wie sie als menschliche Schöpfung ist. Deshalb kann Paracelsus dem Menschen eine Rolle im Weltenbaue zuweisen, die diesen selbst zum Mitbaumeister an dieser Schöpfung macht. Das göttliche Urwesen ist ohne den Menschen nicht das, was es mit dem Menschen ist. ›Denn die Natur bringt nichts an den Tag, was auf seine Statt vollendet sei, sondern der Mensch muss es vollenden.‹ Diese selbstschöpferische Tätigkeit des Menschen am Bau der Natur nennt Paracelsus Alchymie. (MA, 94)

Damit ist wieder ein wesentliches Element der späteren Esoterik Steiners vorweggenommen. Seine spätere Methode in der Geheimwissenschaft, die Evolutionsgeschichte des Kosmos in Form einer Darstellung der Wesenheit des Menschen zu erzählen, hat in der Mystik-Schrift insofern einen Vorläufer, als hier die Entwicklungsgeschichte der Mystik in Form einer Darstellung der Erkenntnisgeschichte ihres Verfassers, einer Schilderung der geistigen Physiognomie Rudolf Steiners vorgetragen worden war.

Noch näher rückt die Mystik-Schrift an die Geheimwissenschaft, wenn Steiner darin über die Theosophie Jakob Böhmes referiert. Böhme wird hier gewissermaßen ex ante zum Advokaten von Steiners 1910 erscheinendem Hauptwerk gemacht, indem er den Görlitzer Denker die philosophische Begründung dafür aussprechen lässt, wie ein Mensch es wagen kann, den Vorgang der Weltschöpfung so beschreiben zu wollen, als sei er selbst dabeigewesen – und zwar nicht auf der Basis naturwissenschaftlicher Forschungen, sondern als Ergebnis der Vertiefung in die eigenen inneren Erlebnisse. Böhmes kühne Replik haben wir oben bereits angeführt. In einem weiteren Schritt sieht sich Steiner dann sogar selbst – wiederum Jahre vor der tatsächlichen Umsetzung – als eine Art ›moderner Böhme‹, indem er erklärt, dass der Görlitzer Theosoph, würde er heute leben, seine übersinnlichen Erfahrungen nicht mehr in das Gewand traditioneller christlicher Glaubensanschauungen und alchemistischer Symbolik kleiden, sondern ihnen die Form einer modernen Evolutionslehre geben würde.

Ein [heutiger Böhme] würde mit seiner Vorstellungsart nicht das biblische Sechstagewerk und den Kampf der Engel und Teufel durchdringen, sondern Lyells geologische Erkenntnisse und die Tatsache der ›natürlichen Schöpfungsgeschichte‹ Haeckels. (MA, 106)

Diese Aussagen Steiners über das Werk eines ›heutigen Böhme‹ nehmen sich aus heutiger Perspektive wie eine Vorankündigung seiner eigenen, knapp neun Jahre später erscheinenden Geheimwissenschaft aus. Wobei freilich auch gesagt werden muss, dass Steiner in diesem Buch nur ansatzweise dasjenige verwirklichte, was er in der Mystik-Schrift seinen hypothetischen ›modernen Böhme‹ unternehmen lässt: nämlich seine idealistischen Vorstellungen und übersinnlichen Erfahrungen in das Kleid einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu kleiden. Der esoterische Steiner hat seinen kosmogonischen Vorstellungen ausdrücklich keine naturwissenschaftliche Form gegeben, sondern diese zunächst in das Gewand der mystisch und esoterisch ausgerichteten Theosophie gekleidet. Zwar lassen sich, wie oben dargestellt, methodische Einflüsse Goethes und Haeckels in der Geheimwissenschaft nachweisen; aber in der Schrift insgesamt durchdringt Steiner mit seiner Vorstellungsart eben nicht primär »Lyells geologische Erkenntnisse« oder »die Tatsache der natürlichen Schöpfungsgeschichte« Haeckels, sondern vor allem – wie ihrerzeit Böhme und Blavatsky – »das biblische Sechstagewerk und den Kampf der Engel und Teufel«. Insofern wird man wohl sagen können, dass die Esoterik der Geheimwissenschaft nicht ganz so ausfiel, als sich der Verfasser der Mystik-Schrift das Werk eines ›heutigen Böhme‹ vorgestellt hatte. Und es ist faszinierend sich vorzustellen, wie wohl eine Kosmogonie Steiners ausgefallen wäre, wenn sein Weg zu derselben nicht durch die Rezeption der anglo-indischen Theosophie geführt hätte. In einem rückblickenden Vortrag des Jahres 1924 jedenfalls machte er (in der für die anthroposophische Sprache charakteristischen Bildlichkeit) noch einmal ganz deutlich, dass er seine Kosmogonie nicht von ihren biblischen Konnotationen oder ihren theosophischen Anleihen her verstanden wissen wollte, sondern von der modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre her:

Studieren Sie […] den Haeckelismus mit all seinem Materialismus, studieren Sie ihn, und lassen Sie sich durchdringen von dem, was Erkenntnismethoden sind nach ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹: Was Sie in Haeckels ›Anthropogenie‹ über die menschlichen Vorfahren in einer Sie vielleicht abstoßenden Weise lernen, lernen Sie es in dieser abstoßenden Weise, lernen Sie alles dasjenige darüber, was man durch äußere Naturwissenschaft lernen kann, und tragen Sie das dann den Göttern entgegen, und Sie bekommen dasjenige, was in meinem Buche ›Geheimwissenschaft‹ über die Evolution erzählt ist.

Zur Entstehung und zur Form der Texte

Nachdem Rudolf Steiner sich entschlossen hatte, die Behandlung der Weltentstehung in seiner Theosophie von 1904 auszusparen, dachte er zunächst an einen zweiten Band zu diesem Buch, entschloss sich dann aber für den anderen Plan, diese Zusammenhänge in einer ganz neuen Schrift herauszugeben, der späteren Geheimwissenschaft. Am 5. Dezember 1904 fanden Gespräche mit dem Verleger Max Altmann über diese Schrift statt, und vier Tage später übersandte dieser an Steiner einen entsprechenden Vertragsentwurf.

Aus der damit ins Auge gefassten Zeit stammt ein Manuskript Rudolf Steiners, welches sich in seinem Nachlass fand und zu Lebzeiten nie gedruckt wurde. Das Manuskript enthält eine Skizze der Weltentwicklung nach theosophischem Vorbild, die sich in wesentlichen Zügen an Blavatskys Geheimlehre anlehnt, aber auch schon einige charakteristische Neuerungen enthält, wie sie sich später in Steiners Chronik und seiner Geheimwissenschaft finden. Das Manuskript bricht innerhalb der Darstellung der atlantischen Zeit abrupt ab.

Ob Steiner beim Verfassen dieses Textes bereits eine eigenständige Schrift vor Augen hatte oder ob er es zu der Zeit verfasste, als er noch die Möglichkeiten eines kosmogonischen Schlusskapitels oder eines zweiten Bandes zur Theosophie erwog, lässt sich aus dem Inhalt nicht eindeutig rekonstruieren. Deshalb setzen die Herausgeber der GA die Entstehungszeit des Fragments nur recht vage auf den Zeitraum um 1903 oder 1904 an. Die Tatsache jedoch, dass Steiner in diesem Text die Wesensgliederlehre ganz neu entwickelt, und zwar aus der Lehre von den Bewusstseinszuständen heraus, lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass das Fragment in der vorliegenden Form wohl nicht als zweiter Band zur Theosophie konzipiert war – denn diese enthielt bereits ein Kapitel zu den ›Wesensgliedern‹ – sondern den Entwurf zu einer eigenständigen Schrift darstellt. Die hier entfaltete Argumentation erinnert in Ansätzen schon an Steiners Anthroposophie-Schrift von 1910 (vgl. Einleitung zu SKA 6, CXL ff.). Eine Entstehung nach 1904 erscheint unwahrscheinlich, weil Steiner ab Juli dieses Jahres damit begonnen hatte, seine kosmogonischen Vorstellungen in der Aufsatzreihe Aus der Akasha-Chronik zu veröffentlichen. Eine Entstehung vor der Abfassung der Theosophie kann ebenfalls ausgeschlossen werden, da der Text in vieler Hinsicht auf diese Schrift Bezug nimmt.

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Indem das kosmologische Fragment von 1903/04 unvollendet und unveröffentlicht blieb, der ursprüngliche Plan eines zweiten Theosophie-Bandes sich zerschlug und die Fertigstellung der Geheimwissenschaft sich bis 1909 hinzog, war eine doktrinale Lücke in der steinerschen Esoterik entstanden. Während im Hinblick auf die ontologischen und anthropologischen Vorstellungen Blavatskys mit der Theosophie von 1904 eine eigene Darstellung aus seiner Feder vorlag, fehlte eine solche für die Kosmogonie und die Anthropogenese. Diese Lücke schloss Steiner in den Jahren 1904 bis 1908 zunächst vorläufig mit einer in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Lucifer-Gnosis erscheinenden Folge von zwanzig Artikeln unter dem Titel Aus der Akasha-Chronik. Die Serie kam nicht zum Abschluss, da die Publikation der Zeitschrift 1908 eingestellt worden war. Die bis dahin erschienenen Artikel gab Steiner dann gebündelt in Sonderdrucken und Sammelheften der Zeitschrift nochmals mehrfach heraus (1908 und 1910). Diese Hefte dienten deutschsprachigen Theosophen bis zum Erscheinen der Geheimwissenschaft als Ersatz für die noch ausstehende steinersche Kosmogonie. Als Buch wurden sie erst nach Steiners Tod von seiner Witwe Marie Steiner herausgegeben. Ob Steiner selbst nach dem Erscheinen der Geheimwissenschaft noch die Absicht hatte, diese Frühform seiner Kosmogonie weiterhin öffentlich zu machen, darf angesichts der gegenüber der Chronik deutlich elaborierteren und eigenständigeren Darstellung in seinem Hauptwerk bezweifelt werden. Wohl aber hat er den Inhalt der ersten drei Aufsätze, in denen er sich eng an Scott-Elliots Beschreibung von ›Atlantis‹ angeschlossen hatte und die später in dieser Form nicht in die Geheimwissenschaft übernommen worden waren, unter dem Titel Unsere atlantischen Vorfahren mehrfach als gesonderte Broschüre herausgegeben, sogar noch 1918 und 1920.

In den ersten neun Aufsätzen ist der Text durch die Verwendung von Anführungszeichen optisch getrennt in einleitende Passagen, die als Einleitung eines nicht genannten Redaktors gedeutet werden konnten, und in die eigentliche Schilderung der Welt- und Menschheitsentwicklung, welche auffälligerweise in Anführungszeichen gesetzt ist. Demgegenüber hat Helmut Zander die Vermutung ausgesprochen, dass Steiner hier möglicherweise den Eindruck erwecken wollte, als werde in den Aufsätzen Bezug auf einen bestehenden autoritativen Text oder auf eine Meisterinspiration genommen, wie dies bei den Schriften Sinnetts und Blavatskys der Fall war. Dieser Eindruck kann auf den ersten Blick in der Tat entstehen, da Steiner zudem von »Schriftstücken« spricht, welche der Darstellung zugrunde lägen. Im Text selbst wird freilich klargestellt, dass das ›Lesen in der Akasha-Chronik‹ als esoterisches Bild für die geistige Forschung gemeint ist und dass somit die Ausdrücke ›Chronik‹, ›Lesen‹ und ›Schriftstücke‹ ebenso uneigentlich zu nehmen sind wie die von Steiner anderwärts gebrauchte Metapher einer ›okkulten Schrift‹ zur Charakterisierung des Erlebens im übersinnlichen Modus der Inspiration. Die Anführungsstriche sind also wohl eher so zu deuten wie diejenigen, die Steiner in seiner zeitgleich entstehenden Aufsatzreihe Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten zur Charakterisierung der ›Reden‹ der beiden Schwellenhüter verwendet hat: Sie weisen darauf hin, dass hier seelisch-geistiges Erleben, welches als solches prinzipiell nicht versprachlicht werden kann, in die Form einer Erzählung gebracht wird, um es überhaupt irgendwie mitteilbar zu machen.

Daneben fällt auf, dass Steiner in den originalen Aufsätzen nicht ausdrücklich selbst als Autor der Akasha-Texte zeichnet. Auch dies muss nicht notwendig bedeuten, wie Helmut Zander vermutet, dass Steiner dadurch den Eindruck erwecken wollte, es handle sich um Texte eines Meisters oder einer anderen ungenannten Autorität. Viele Beiträge in der Zeitschrift waren nicht namentlich gezeichnet und die Leser konnten davon ausgehen, dass Texte ohne Autorenangabe vom Herausgeber Steiner stammten. Dennoch bleibt die Frage, warum Steiner bei den anderen zwei in der Lucifer-Gnosis erschienenen Aufsatzreihen – Wie erlangt man Erkenntnisse und Die Stufen der höheren Erkenntnis – jeden Beitrag ohne Ausnahme mit dem Zusatz »von Dr. Rudolf Steiner« versehen hat, bei den Akasha-Aufsätzen jedoch konsequent darauf verzichtete.

Der erste Aufsatz dieser Reihe stellt eine Art programmatische Einleitung dar, in welcher Steiner sein Konzept der geisteswissenschaftlichen Erforschung des Menschheitsursprungs erläutert und von der Methodologie gewöhnlicher historiographischer oder archäologischer Forschung abgrenzt. Die auf übersinnlicher Forschung beruhende Geisteswissenschaft wird als »zuverlässiger« und »weitreichender« als die quellenbasierte Historiographie bezeichnet, da sie nicht auf historische Dokumente und archäologische Funde angewiesen und somit den damit verbundenen Unsicherheiten und Schwierigkeiten weniger unterworfen sei. Die hier entwickelte Anthropogenie versteht sich also programmatisch und methodisch genausowenig als ›Geschichtsforschung‹ im traditionellen Sinne, wie seine Kosmogonie sich als ›Naturwissenschaft‹ begreift.

Der Begriff eines ›Weltgedächtnisses‹, auf den Steiner sich mit dem Ausdruck Akasha-Chronik bezieht, ist eine in der abendländischen Geistesgeschichte verbreitete Vorstellung. Wir haben oben bereits angedeutet, dass die Konzeption einer Quelle übersinnlichen Erkennens, welche durch Erinnerung an vorgeburtliche bzw. außerleibliche Erlebnisse zugänglich wird, schon in der platonischen Philosophie formuliert worden war und von da aus die verschiedenen Strömungen abendländischer Esoterik und Mystik beeinflusste. Sie findet sich der Sache nach (als ›Weltseele‹ oder ›Weltgedächtnis‹) bei Jakob Böhme und Giordano Bruno ebenso wie bei Schelling und Blavatsky. Die konkrete Bezeichnung ›Akasha-Chronik‹ allerdings stammt wahrscheinlich von Steiner selbst. Zwar sprachen auch die theosophischen Texte von einer sogenannten ›Akasha-Substanz‹, aber nur (wie auch schon die indischen Quellen, auf die man sich dabei berief) im Zusammenhang mit ontologischen Bestimmungen. Man verstand darunter einen ausgesprochen ›feinen‹ Zustand der Materie und somit allenfalls implizit den möglichen Träger eines kosmischen Gedächtnisses, nicht aber die konkreten Inhalte desselben.

Neben dem Verweis auf dieses ›kosmische Gedächtnis‹ als zentraler Metapher für die Tatsache des »darbey-Seins« des Menschen beim Schöpfungsgeschehen und für die daraus resultierende Möglichkeit übersinnlicher, Raum und Zeit transzendierender Erkenntniserlebnisse benannte Steiner die Literatur der Theosophen und insbesondere die Veröffentlichungen Scott-Elliots über ›Atlantis‹ und ›Lemurien‹ als Bezugspunkte seiner Darstellung. Dabei charakterisierte er sein Verhältnis zu Scott-Elliot so, dass er zu dem von diesem Geschilderten im Wesentlichen nur Ergänzungen beizubringen beabsichtige. Diese Selbstbehauptung erscheint allerdings bei genauem Hinsehen als Untertreibung, da seine Schilderungen diejenigen Scott-Elliots keineswegs bloß ergänzen. Vielmehr ist die methodische Anlage und die inhaltliche Ausrichtung seiner Akasha-Aufsätze eine ganz andere. Für die historischen, biologischen und physiologischen Details und die Einzelheiten aus dem politischen, kulturellen und sozialen Leben der Lemurier und Atlantier, die Scott-Elliot vor allem beschäftigt hatten und mit denen dieser Seite um Seite gefüllt hatte, interessiert Steiner sich nur am Rande. Stattdessen erklärt er, es sollte hier »hauptsächlich von den seelischen Eigenschaften dieser unserer Vorfahren« die Rede sein. Wo Steiner dann aber doch einmal näher auf das von Scott-Elliot geschilderte praktische und materielle Leben eingeht, tut er dies in der Regel, um daran seine eigenen Vorstellungen über die psychische und mentale Entwicklung des Menschen zu illustrieren. Während Scott-Elliot in seinen Büchern als eine Art Historiker der Vorgeschichte auftrat, der sich in naiver Weise auf Leadbeaters Visionen wie auf historische Quellen berief, verstand sich Steiner als ›Archäologe der inneren Geschichte‹, als Chronist seelisch-geistiger Entwicklungen.

Auffällig ist auch der formale Aufbau der Artikelserie. Sie beginnt mit einer Schilderung der atlantischen Epoche, also dem zentralen Thema Scott-Elliotts, und schreitet dann chronologisch rückwärts weiter: Es folgen der Übergang von der dritten zur vierten Periode, dann die dritte (lemurische) Periode selbst, dann die zweite und erste bis zum Urzustand der Erde. Mit der Schilderung des Erdanfangs ist dann ein gewisser Abschluss der Darstellung erreicht und der folgende 11. Aufsatz mit dem Titel Einige notwendige Zwischenbemerkungen setzt eine deutliche Zäsur, nach der das Prinzip der rückwärtigen Chronologie aufgegeben wird. Die Darstellung springt jetzt an den Anfang der Weltentwicklung und schildert die Entwicklung der großen Weltperioden (›Saturn‹, ›Sonne‹, ›Mond‹, ›Erde‹), wie schon im Fragment, in vorwärtsschreitender Chronologie.

Die zwanzig Aufsätze der Reihe waren bei ihrem ersten Erscheinen keiner äußerlichen Gliederung unterworfen, wiesen jedoch eine deutliche Zweiteilung in eine ›Anthropogenie‹ (in den Aufsätzen 2–10) und eine anschließende ›Kosmogonie‹ (Aufsätze 12–20) auf, wobei die Aufsätze Nr. 1 und 11 als programmatische Einleitung und als überleitende Zwischenbetrachtung dienten. Steiner ging somit umgekehrt zu Blavatsky vor, in deren Geheimlehre die ›Cosmogenesis‹ den ersten und die ›Anthropogenesis‹ den zweiten Band konstituierte. – In den späteren Sonderheft-Drucken wurden die Artikel auf vier Hefte verteilt, von denen jedes 3 bis 5 Aufsätze vereinigt. Dabei wurden einige Artikel zu einem einzigen Abschnitt zusammengefasst, andere wurden neu unterteilt und es wurde die Standard-Überschrift »Aus der Akasha-Chronik« an mehreren Stellen durch neue Überschriften ersetzt, welche den Inhalt der einzelnen Aufsätze besser wiedergaben. Durch diese Eingriffe entstand ein Text mit insgesamt 17 Abschnitten. Die Verteilung auf vier Hefte lässt keine inhaltlich begründete Aufteilung erkennen und hatte wohl rein technische Gründe.

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Mit der Einstellung der Zeitschrift Lucifer-Gnosis im Mai 1908 brach auch die Artikelserie Aus der Akasha-Chronik unvollendet ab, nachdem schon in den beiden Vorjahren die Zeitschrift nur noch sporadisch erschienen war (1906 drei Hefte, 1907 zwei und 1908 nur eines). Steiner erklärte dies seinen Lesern mit einer Überlastung durch seine Vortragstätigkeit und andere Aufgaben. Im Dezember 1909 zeichnete er dann das Vorwort zur Geheimwissenschaft, in deren zentralem Kapitel er die dritte und letzte schriftliche Gesamtdarstellung seiner Ansichten über Welt- und Menschheitsentstehung vorlegte.

Pläne und Entwürfe für dieses Buch hatte Steiner bereits um 1904, als er seine Theosophie ohne das ursprünglich geplante Kapitel zur Kosmogonie veröffentlichte und darin einen Folgeband in Aussicht stellte: »Eine weitere Schrift nur wird davon handeln können«, hieß es in der Erstauflage dieser Schrift (TH XIII, gestrichen in der 2. Auflage). Im selben Jahr fanden Gespräche mit dem späteren Verleger Altmann in Leipzig statt und ein Vertragsentwurf wurde verfasst, aber die Arbeit zog sich über mehrere Jahre hin. Noch in der Neuauflage der Theosophie von 1908 musste Steiner, obwohl das neue Buch schon mehrfach angekündigt worden war, seine Leser vertrösten. Immerhin konnte er jetzt definitiv dessen Titel angeben: »Eine weitere, sich an diese anschließende Schrift, nämlich des Verfassers demnächst (in gleichem Verlage) erscheinende ›Geheimwissenschaft‹, wird davon handeln können.« Das Manuskript muss dann wohl Ende 1909 fertiggestellt worden sein (darauf deutet jedenfalls die Zeichnung des Vorworts), kam aber mit dem offiziellen Erscheinungsjahr 1910 heraus.

Die Textentwicklung der Geheimwissenschaft

Nach Veröffentlichung der Erstausgabe der Geheimwissenschaft 1910 kamen zu Steiners Lebzeiten drei Neuauflagen der Schrift heraus, und zwar in den Jahren 1914, 1920 und 1924 (im Apparat D2, D3 und D4). Von diesen enthielten die ersten beiden grundlegende inhaltliche und stilistische Änderungen, deren einschneidenste im Folgenden kurz dokumentiert werden. Die textuellen Eingriffe in der letzten Auflage von 1924 hingegen waren im Wesentlichen orthographischer und formaler Natur und werden hier nicht im Einzelnen verfolgt.

 

Generelle Bearbeitungstendenzen

Bevor im Folgenden die einzelnen Kapitel der Geheimwissenschaft im Hinblick auf ihre Textentwicklung betrachtet werden, soll zunächst auf einige allgemeine Tendenzen der Neuauflagen von 1914 und 1920 aufmerksam gemacht werden, welche sich durch alle Teile des Buches ziehen. Diese allgemeinen Bearbeitungstendenzen decken sich weitgehend mit den Befunden, die sich bereits in der Untersuchung anderer theosophischer Schriften Steiners gezeigt haben – besonders in der Theosophie (Band 6) und in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (Band 7). Ihre Darstellung kann daher hier kurz gehalten werden:

1. Neujustierung des Verständnisses von ›Geheimwissenschaft‹ von einer ›Lehre‹ zu einer ›Methode‹.

2. Relativierung der Bedeutung des ›Geheimlehrers‹ und der Notwendigkeit einer mündlichen Unterweisung gegenüber dem Buchstudium.

3. Betonung des uneigentlichen Charakters von Schilderungen übersinnlicher Erfahrung.

4. Insistieren auf die Überprüfbarkeit der Aussagen übersinnlicher Forschung mit den Mitteln des gewöhnlichen Bewusstseins.

5. Eliminierung theosophischer Fachterminologie und Ausblendung theosophischer Quellen.

6. Inhaltliche Neufassung einiger anthropologischer Begriffe, insbesondere der ›Erinnerung‹ und des ›Willens‹.

7. Verwahrung gegenüber naturwissenschaftlichen Deutungen der Terminologie und der Methodik geisteswissenschaftlicher Darstellungen (z. B. der Begriffe ›Äther‹ oder ›Wärme‹).

Die Art und Weise, wie Rudolf Steiner 1910 das Wesen und die Aufgabe der ›Geheimwissenschaft‹ und des ›Geheimlehrers‹ bestimmt hatte, blieb in der Auflage von 1914 im Wesentlichen unverändert. In der Auflage von 1920 jedoch zeigen sich tiefgreifende Neujustierungen. Wo es früher hieß, Geheimwissenschaft werde sich über ihre Inhalte in apodiktischer Weise »klar«, schreibt Steiner jetzt vorsichtiger, man »könne sich« mit ihrer Hilfe »darüber klar werden«. Geheimwissenschaft führt jetzt nicht mehr notwendig in die übersinnliche Welt, sondern »kann in die übersinnliche Welt führen«. Überhaupt wird der Begriff Geheimwissenschaft an vielen Stellen ersetzt durch Ausdrücke wie »unbefangenes Denken«, »ein solches Erkennen«, »solche Erkenntnisse«, »übersinnliche Forschung« und andere. Wo Steiner zuvor geschrieben hatte »die Geheimwissenschaft nennt dies x«, werden jetzt unverbindlichere Alternativen gesucht wie: »man kann dies x nennen«. Außerdem wird der Ausdruck ›Geheimwissenschaft‹ an vielen Stellen durch den der ›Geisteswissenschaft‹ ersetzt. Offenbar war es Steiners Bestreben, neben dem einerseits deutlich formulierten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gleichzeitig der Vorstellung entgegenzuwirken, als sei die hier angestrebte Wissenschaft ein System feststehender Lehrsätze, deren Validität sich primär auf die Autorität des Hellsehers stützt. Geheimwissenschaft soll vielmehr als eine bestimmte Methode des Forschens erscheinen, nicht als ein System von Doktrinen. Dabei wird das ursprüngliche theosophische Vokabular zunehmend durch andere Ausdrücke, bisweilen auch durch sprachliche Neuschöpfungen ersetzt. Das »Hellsehen« etwa wird durchgehend durch Wendungen wie »übersinnliche Forschung«, »Schauen« und »Geistesforschung« ersetzt. Auch für den »Hellseher« werden alternative Ausdrücke gesucht wie »jemand, der nach Geheimwissenschaft strebt«, der sich »geheimwissenschaftlicher Betrachtung«, »geisteswissenschaftlichem Suchen«, »übersinnlichem Erkenntnisstreben« oder »übersinnlicher Erkenntnisart« hingibt. Der Schulungsweg hingegen ist jetzt nicht mehr ein festgelegter Weg, den man zu gehen hat, sondern es geht jetzt darum, sich »in dessen Eigenart« einzuleben. Die beschriebenen Übungen und Anweisungen sind nicht mehr normativ, sondern werden als Anregungen und Illustrationen verstanden, welche die »Eigenart« verdeutlichen sollen.

Ein zweites Feld durchgehender Bearbeitung in der Geheimwissenschaft ist die treffende sprachliche Charakterisierung der übersinnlichen Erfahrung. Diese beginnt bereits in der zweiten Auflage von 1914. Darin wird etwa im Kontext der Darstellung des Erlebens nach dem Tode dem Missverständnis entgegengearbeitet, dass es sich bei solchen Darstellungen um realistische Schilderungen im Sinne einer Ortsbeschreibung handle. Stattdessen wird der uneigentliche bzw. der Vergleichscharakter der Schilderung betont, z. B. wenn Steiner das zuvor betonte »Furchtbare und Trostlose« dieser Erlebnisregionen jetzt deutlicher als »Vorstellung des Furchtbaren und Trostlosen« charakterisiert. Und wo Steiner zuvor das Wesen übersinnlicher Erfahrungen im Bild des Sehens von Farben und Auren geschildert hatte, ist er 1914 präziser. Statt von einem Sehen der Farben Rot oder Grün spricht er jetzt von »Erfahrungen«, die als »rötlich« oder »grünlich« bezeichnet werden könnten. – Diese in der zweiten Auflage noch verhaltene Tendenz zeigt sich deutlich stärker in der Fassung von 1920, und zwar durch Umformulierungen, erläuternde Fußnoten oder Zusätze im laufenden Text. Was zuvor noch »Farberlebnis« war, wird nun durchweg charakterisiert als »ein Erlebnis wie das durch die Farbe«. Und statt dass die besagten Farben »mit geistigem Sinne gesehen« werden können heißt es jetzt, sie kämen »dem geistigen Sinne zum Bewusstsein«. Die gleiche Tendenz findet sich bei der Beschreibung der übersinnlichen Wahrnehmungsorgane. Der Bildcharakter der beschriebenen »Lotusblumen« wird deutlich herausgestellt und Steiner betont, dass es sich bei deren Charakterisierung nicht um die Beschreibung raumzeitlicher Gestaltungen handelt, sondern um die bildhafte Illustration »reiner Seelenbetätigung«. Wo es zuvor hieß: ein solches Organ »bildet sich in der Nähe des Herzens« wird jetzt herausgestrichen, dass man sich seiner lediglich »an dieser Stelle bewusst« werde. Die »Organe«, mit denen Seelisches und Geistiges wahrgenommen werden kann, erscheinen also 1920 weniger als ›Dinge‹ und mehr als seelische und geistige Akte. – Auch in der Schilderung der planetarischen Entwicklung zeigt sich diese Bearbeitungstendenz. Wo zuvor noch gesagt wurde, dass bestimmte geistige Wesen »auf dem Saturn ihre Wirkungsstätte haben«, schreibt Steiner jetzt von Wesen, »deren sich das übersinnliche Erkennen bei Betrachtung des Saturn bewußt wird«. Während bestimmte Wesen oder Welten zuvor einfach »da sind« oder »vorhanden sind«, stellen sie sich jetzt »vor das [übersinnliche] Erkennen hin«. Generell wird für die Schilderung früherer Weltzustände und nicht-sichtbarer Seinszustände herausgestellt, man dürfe das Gesagte »sich nicht zu ähnlich denken dem, was für die gegenwärtige Erde mit diesen Bezeichnungen gemeint ist«. Ferner mahnt Steiner seine Leser: »Wie die Dinge gemeint sind, geht aus dem Zusammenhange hervor«.

Eine dritte Haupttendenz der Bearbeitung, die sich an vielen Stellen im Text zeigt und sowohl in der Erstauflage wie in späteren Zusätzen betont wird, ist die Betonung der Nachprüfbarkeit von geheimwissenschaftlichen Aussagen durch den gewöhnlichen kritischen Verstand. Steiner wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass man zu Erfahrungen, wie sie in seinen esoterischen Schriften beschrieben werden, zwar nur mittels übersinnlicher Erkenntnis kommen könne, dass es aber sehr wohl für jeden Menschen möglich sei, die Plausibilität des so Gewonnenen durch Anwendung auf die sichtbaren Phänomene des Lebens selbst zu überprüfen.

Ebenso allgegenwärtig in der Geheimwissenschaft wie in allen Texten Steiners zwischen 1904 und 1910 ist die Tendenz einer sukzessiven terminologischen Enttheosophisierung. Zwar nicht die zentralen Vorstellungen und Lehren der Theosophie, wohl aber die entsprechenden sprachlichen Ausdrücke hat Rudolf Steiner nach und nach aus seinen Darstellungen getilgt. 1914 ist diese terminologische Flurbereinigung noch verhalten: Steiner streicht überwiegend nur direkte Hinweise auf die theosophische Literatur als Quelle der eigenen Darstellung, lässt aber bestimmte charakteristische Ausdrücke wie ›budhi‹ und ›manas‹ noch stehen und merkt dazu an, dass diese Dinge »in der morgenländischen Weisheit« so bezeichnet würden. 1920 geht Steiner weiter und streicht neben allen Hinweisen auf die Theosophie auch sämtliche auf diese verweisenden Begriffe. Selbst nur vage an Theosophie erinnernde Ausdrücke wie »die Arbeit mit dem Stein der Weisen« und »Gottseligkeit« als Stufen erkenntnisschulischer Entwicklung fallen jetzt dem Rotstift zum Opfer. Ferner eliminiert Steiner sämtliche Hinweise darauf, dass viele seiner Texte zunächst in der theosophischen Zeitschrift Luzifer-Gnosis erschienen waren; nur noch ihre späteren, in anthroposophischen Verlagen erschienenen Drucke werden genannt.

Eine weitere Tendenz durch das gesamte Buch hindurch ist die Neufassung einiger anthropologischer Grundbegriffe, inbesondere der »Erinnerung« und des »Willens«. Beide Begriffe haben auch in anderen Schriften Steiners eine tiefgreifende Umdeutung erfahren, wie in der Geheimwissenschaft von 1920; namentlich in der Neuauflage der Philosophie der Freiheit von 1918 und in den späteren Umarbeitungen der Theosophie. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass Steiner ab 1918 seinen Begriff von übersinnlicher Erfahrung stark an die Fähigkeit des Erinnerns geknüpft hatte (etwa im Reinkarnationskapitel der Theosophie). Dabei verstand er ›Erinnerung‹ jetzt nicht mehr als das bloße Wiederhervorrufen einer zuvor gebildeten Vorstellung, sondern als einen Akt übersinnlicher Wahrnehmung im gewöhnlichen Bewusstsein. Dieser neue Begriff der Erinnerung schuf so eine Brücke zwischen der traditionellen Psychologie und Steiners Geisteswissenschaft. So erklärt sich, warum es in der Geheimwissenschaft zunächst hieß, eine Erinnerungsvorstellung werde im Gedächtnis »behalten«, später hingegen, sie werde »wieder erweckt«. – Das Wollen hingegen hatte der frühe Steiner zunächst als geistige Tätigkeit aufgefasst, zählte es jedoch seit der Neuausgabe der Philosophie der Freiheit von 1918 zu den seelischen Akten. So auch in der dritten Auflage der Geheimwissenschaft.

Als letzte allgemeine Bearbeitungstendenz, welche sowohl die verschiedenen Kapitel der Geheimwissenschaft untereinander wie auch diese Schrift mit anderen Texten Steiner verbindet, ist der Hinweis darauf, dass seine für die geisteswissenschaftliche Darstellung geprägten Begriffe nicht im naturwissenschaftlichen Sinne zu verstehen bzw. nicht mit gleichlautenden naturwissenschaftlichen Konzepten zu verwechseln sind. Sein Begriff vom ›Ätherischen‹ etwa dürfe nicht verwechselt werden mit der in der damaligen Naturwissenschaft und besonders der Physik gebräuchlichen Vorstellung eines »hypothetischen Äthers«. Und wenn die Natur des ›alten Saturn‹ mit dem Begriff ›Wärme‹ beschrieben werde, so dürfe darunter keine Wärme im physikalischen Sinne verstanden werden. Solche Grenzziehungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft können allerdings zugleich als Akte der Abgrenzung gegenüber Blavatsky, Besant und der anglo-indischen Theosophie verstanden werden. Denn anders als Steiner gingen diese Autoren davon aus, dass der Naturwissenschaft und der Theosophie eine im wesentlichen identische wissenschaftliche Methodik zugrundeliege; dass also z. B. die Anschauungen der modernen Ätherphysik als naturwissenschaftlicher ›Beweis‹ theosophischer Ontologie dienen könnten. Steiner hingegen betonte den methodisch und hermeneutisch völlig unterschiedlichen Ansatz seiner Konzeption von Geisteswissenschaft.

 

Zum Kapitel

›Charakter der Geheimwissenschaft‹

Die Idee einer grundlegend neuartigen Wissenschaftsdisziplin bestimmte das Denken Steiners von Anfang an. Schon der erste von ihm enthaltene Text reflektiert über eine »Reform des Zeit- und Raumbegriffes« und impliziert somit eine radikale Umwandlung dessen, was seiner Zeit als Wissenschaft galt. Als Goethe-Forscher sah er in dessen naturwissenschaftliche Schriften die Morgenröte einer neuartigen Wissenschaft des Lebendigen bzw. Organischen. Und als Philosoph schwebte ihm eine neue Wissenschaft der menschlichen Freiheit vor, die sich für das Streben nach der Wahrheit nur insofern interessiert, als dieses »Erlebnis des Einzelnen« ist.

Nach Steiners Hinwendung zur Theosophie wurde ihm diese zum Inbegriff einer neuen Wissenschaft, die zu entwickeln er sich auf die Fahnen schrieb. Allerdings beschrieb er diese Theosophie nicht primär als eine Wissenschaft der Eigentümlichkeit des ›Lebendigen‹, des ›Individuellen‹ oder der ›Freiheit‹, sondern – in scheinbarer Abkehr von seiner bisherigen individualistischen und anti-metaphysischen Haltung – als eine Wissenschaft vom ›Übersinnlichen‹, ›Ewigen‹ und ›Ganzen‹ (Göttlichen). So heißt es zu Beginn seiner Theosophie von 1904:

Das höchste, zu dem der Mensch aufzublicken vermag, bezeichnet er als das ›Göttliche‹. Und er muß seine höchste Bestimmung in irgend einer Art mit diesem Göttlichen in Zusammenhang bringen. Deshalb mag wohl auch die höchste Weisheit, welche ihm sein Wesen und damit seine Bestimmung offenbart, ›göttliche Weisheit‹ oder Theosophie genannt werden. (TH, 6)

Auffällig an dieser Formulierung ist, dass Steiner 1904, in Anlehnung an theosophische Gepflogenheiten, den Begriff Wissenschaft nicht besonders priorisierte und an dessen Stelle den bei Blavatsky und Besant höher angesetzten Begriff der ›Weisheit‹ wählte. Und diese theosophische ›Weisheit‹ erscheint in ihrem epistemologischen Status stets als ›höhere‹ Wissenschaft gegenüber der ›gewöhnlichen‹. In späteren Auflagen der Theosophie zeigt sich jedoch eine gewisse Rückkehr zur Wertschätzung des Wissenschaftlichen. Der Begriff der ›höheren Weisheit‹ weicht zunehmend dem einer ›Geheim‹- und noch später einer ›Geisteswissenschaft‹. So fügt Steiner dem obigen Passus in der 5. Auflage Folgendes hinzu:

Der Betrachtung der geistigen Vorgänge im Menschenleben und im Weltall kann man die Bezeichnung Geisteswissenschaft geben. Hebt man aus dieser, wie in diesem Buche geschehen ist, im besonderen diejenigen Ergebnisse heraus, welche auf den geistigen Wesenskern des Menschen sich beziehen, so kann für dieses Gebiet der Ausdruck ›Theosophie‹ gebraucht werden, weil er durch Jahrhunderte hindurch in einer solchen Richtung angewendet worden ist. (ebd.)

Die zeitweise Abwertung des Wissenschaftsbegriffs gegenüber einer ›höheren Weisheit‹ wird vom Esoteriker Steiner zunehmend wieder zurückgenommen, je länger er an seiner eigenen Fassung einer Theosophie arbeitet. Als Problematik des ›gewöhnlichen‹ Wissens gilt nicht länger, dass es Wissenschaft ist, sondern dass es, als Wissenschaft, das ›Geheime‹, das Übersinnliche, das Geistige nicht so in den Blick nimmt, wie es diesem der Sache nach zukommt – ganz so, wie für den jungen Steiner die gewöhnlichen Naturwissenschaften den Raum oder das Organische oder wie die Kulturwissenschaften das Individuelle und die Freiheit nicht angemessen betrachteten.

In diesem Prozess einer Rückkehr Steiners von der postulierten Höhe eines theosophischen Weisheitsbegriffes, der auf die Wissenschaft despektierlich herabsieht, zu einer Identifikation des eigenen Denkens als Wissenschaft vom Geist ist das Eingangskapitel zur Geheimwissenschaft zu lesen. Diese präsentiert sich hier ostentativ als dem traditionellen Wissenschaftsbegriff verpflichtet und grenzt sich begrifflich von der Geheimlehre Blavatskys ab. Steiner will seine Forschungen eingeschlossen sehen in das abendländische Wissenschaftsprojekt und sieht es als kompatibel mit den allgemeinen Anforderungen an wissenschaftliches Forschen an. Und so präsentiert sich die Geheimwissenschaft im ersten Kapitel als prinzipiell basierend auf Empirie (freilich auf einer ›inneren‹ Empirie), als systematisch, den Regeln der Logik folgend, als falsifizierbar und ihre eigenen methodischen Grundlagen kritisch reflektierend. Freilich ist in vielen Formulierungen weiterhin der theosophische Anspruch einer Überlegenheit dieser ›Wissenschaft des Geistigen‹ gegenüber den traditionellen Natur- und Kulturwissenschaften zu spüren. Steiner stellt die Geheimwissenschaft inhaltlich in die ideengeschichtliche Tradition des ›Occultismus‹, grenzt sich aber zugleich von dieser mit dem Hinweis ab, dass in dieser in der Regel eben nicht die Disziplin des wissenschaftlichen Denkens gewaltet habe, sondern eine »verhängnisvolle Sucht nach dem Unbekannten, Geheimnisvollen, ja Unklaren«, durch welche diese Tradition vor dem Forum modernen Denkens weitgehend desavouiert sei. Steiners Buch tritt mit dem Anspruch auf, diese marginalisierte Tradition des okkulten bzw. esoterischen Wissens wieder in die allgemeine Kulturentwicklung zu integrieren, indem er deren traditionelle Inhalte in einer Form vorträgt, die modernen Ansprüchen an wissenschaftliche Darstellungsweise genügt.

Diese 1910 vorgenommene Bestimmung des »Charakters der Geheimwissenschaft« wird 1914 ohne große Änderungen übernommen. Nur einige stilistische Eingriffe fallen auf sowie die Reformulierung einiger Ausdrücke, die Steiner jetzt wohl zu informell erschienen. Wesentliche inhaltliche Änderungen jedoch sind in dieser ersten Überarbeitung nicht nachzuweisen.

Dies ändert sich mit der dritten Ausgabe von 1920, in der gleich zu Beginn die gesamte Eingangspassage des Kapitels neu formuliert und erweitert wird. Die neue Fassung zielt besonders darauf ab, für die im Buch angewandte Darstellungsweise und für die dahinterstehende Erkenntnismethode nachdrücklicher als zuvor den Status der Wissenschaftlichkeit zu beanspruchen. Aufbau und Gedankenführung seines Werkes, so Steiner jetzt, entsprächen im Hinblick auf das formale Vorgehen und die gedankliche Strenge voll den Anforderungen etablierter Wissenschaftlichkeit, nur die Gegenstände der wissenschaftlichen Behandlung seien eben hier andere, nämlich übersinnliche bzw. geistig-seelische. – Einher mit dieser Tendenz geht ein Bestreben Steiners, sein esoterisches Denken deutlicher als zuvor mit seinem philosophischen Frühwerk zu verknüpfen. So schreibt er etwa:

Nicht in dem lebt das Seelische, was der Mensch an der Natur erkennt, sondern in dem Vorgang des Erkennens. In ihrer Betätigung an der Natur erlebt sich die Seele. Was sie in dieser Betätigung lebensvoll sich erarbeitet, das ist noch etwas anderes als das Wissen über die Natur selbst. Das ist an der Naturerkenntnis erfahrene Selbstentwickelung. Den Gewinn dieser Selbstentwickelung will die Geheimwissenschaft betätigen auf Gebieten, die über die bloße Natur hinaus liegen. (GU, 5)

Solche und andere Formulierungen nehmen unmittelbar Bezug auf die steinerschen Frühschriften, in denen schon in den achtziger Jahren der Gedanke formuliert worden war, dass ›Wirklichkeit‹ nicht in den eine ›Außenwelt‹ repräsentierenden Vorstellungen des Menschen zu finden ist, sondern allein in der vorstellungsbildenden Erkenntnistätigkeit selbst und somit als etwas im Erkenntnisakt überhaupt erst Hervorgebrachtes zu verstehen ist. Dieser Gedanke wird jetzt aufgegriffen, um den spezifischen Gegenstand der Geisteswissenschaft im Sinne Steiners vom Gegenstand der Naturwissenschaften zu unterscheiden: Geisteswissenschaft zielt nicht – wie Naturwissenschaft – auf Erkenntnis eines bereits vorhandenen, unabhängig vom erkennenden Menschen existierenden Seins, sondern auf etwas anderes. Und dieses ›andere‹ wird nun nicht länger, wie noch 1904, primär als ein vom Menschen unabhängig bestehendes ›Ewiges‹ und ›Göttliches‹ charakterisiert, sondern als etwas, das im und durch den Menschen zunächst einmal hervorgebracht werden muss, bevor es wahrgenommen und erforscht werden kann. – Ebenfalls neu ist 1920 der Gedanke, dass das naturwissenschaftliche Denken nicht nur nicht im Gegensatz stehe zum geisteswissenschaftlichen, wie Steiner es versteht, sondern sogar dessen Voraussetzung sei. Durch strenges und diszipliniertes naturwissenschaftliches Denken, so das Argument in der dritten Auflage, erfahre der Mensch nicht nur etwas über die Natur, sondern entwickle zudem bestimmte seelische Qualitäten und Fähigkeiten, die Voraussetzung seien für die geisteswissenschaftliche Forschung. Aber freilich steckt auch in dieser Anerkennung des Wertes der Naturwissenschaft zugleich eine Abwertung, indem sie diese zur bloßen Propädeutik erklärt.

Am Ende des Kapitels nahm Steiner 1920 eine ähnlich umfassende Umarbeitung einer längeren Passage vor wie zu Beginn desselben. Dabei unterstreicht er noch einmal den Gedanken, dass das Wesen und die Qualität der übersinnlichen Erlebnisse, auf denen Geisteswissenschaft beruht, völlig verschieden seien von allem, was der Mensch im gewöhnlichen Bewusstsein erleben kann. Sprich: von allem, was durch traditionelle Natur- und Kulturwissenschaften vermittelbar ist. Die Versuche Steiners, die eigene Esoterik mit dem Gütesiegel ›Wissenschaft‹ zu versehen, erodieren zugleich das Prädikat, welches das eigene Denken eigentlich aufwerten soll.

 

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›Wesen der Menschheit‹

In den Einleitungen zu Band 2 und Band 6 dieser Edition wurde bereits dargestellt, dass die Konzeption der menschlichen ›Wesensglieder‹, auf welcher die esoterische Anthropologie Steiners beruht, nicht angemessen verstanden werden kann, wenn sie als bloße Adaption theosophischer Vorstellungen gedeutet wird. Inhaltlich ist die Wesensgliederidee eine solche, die sich sowohl historisch in der abendländischen Philosophiegeschichte als auch strukturell in Steiners vortheosophischem Werk nachweisen lässt. Allerdings hat Steiner bei seiner Hinwendung zur Theosophie deren Modell der sieben ›Prinzipien‹ zunächst übernommen und dieses dann Schritt für Schritt im Sinne seiner eigenen Vorstellungen umgedeutet und erweitert. Schon in ihrer ersten veröffentlichten Form, in der Theosophie von 1904, weist die steinersche Wesensgliederlehre eine gegenüber theosophischen Vorbildern eigenständige Signatur auf, die in den folgenden Neuauflagen immer stärker in den Vordergrund trat.

In der Darstellung seiner menschenkundlichen Vorstellungen von 1904 war Steiner in dezidierter Form von der aristotelischen Idee einer Dreigliederung des menschlichen Wesens in Leib, Seele und Geist ausgegangen und hatte die theosophische Lehre von den sieben ›Wesensgliedern‹ systematisch aus dieser Grundbestimmung abgeleitet, ja sie im Grunde eigentlich an diese angehängt und von ihr aus interpretiert. In dieser Spannung zwischen aristotelischer Dreigliederung und theosophischer Siebengliederung entstand dann in den folgenden Auflagen ein drittes anthropologisches Grundmodell, welches vier grundsätzliche Wesensglieder unterschied: ›physischer Leib‹, ›Ätherleib‹, ›Astralleib‹ und ›Ich‹. Dieses Konzept avancierte im fortschreitenden Prozess der steinerschen Emanzipation von der Theosophie zum menschenkundlichen Standardmodell seiner Anthroposophie.

Dieses neue anthroposophische Modell implizierte eine progressive Differenzierung des viergliedrigen Grundmodells in ein neungliedriges, wobei die drei geistigen Wesensglieder (›Geistselbst‹, ›Lebensgeist‹ und ›Geistesmensch‹) als Produkt der ›Arbeit‹ des Ich an seinen leiblichen Gliedern (physischer Leib, Ätherleib und Astralleib) und somit gewissermaßen als Metamorphosen derselben verstanden wurden. In diesem Komplex differenziert sich auch das gewissermaßen in der Mitte liegende Seelische in die drei Aspekte von ›Empfindungsseele‹, ›Verstandesseele‹ und ›Bewusstseinsseele‹.

Dieser Prozess der Verwandlung theosophischer Prinzipienlehre in anthroposophische Wesensgliederlehre, der in Band 6 ausführlicher geschildert worden ist, steht im Hintergrund der Konzeption des menschenkundlichen Kapitels der Geheimwissenschaft. Deren erste Ausgabe war ja bezeichnenderweise im selben Jahr erschienen, in dem Steiner einen ersten systematischen Versuch machte, seiner anthroposophischen Esoterik-Konzeption schriftlichen Ausdruck zu geben – nämlich in dem Anthroposophie-Fragment von 1910. Statt wie in der Theosophie die neun Wesensglieder aus der Dreigliederung abzuleiten, wird zunächst das viergliederige Modell exponiert und dann vom Ich aus die ›Ausfaltung‹ des menschlichen Wesens in neun ›Glieder‹ vorgenommen. Ein weiterer Ausdruck dieser ›Anthroposophisierung‹ theosophischer Menschenkunde ist die besondere Betonung, die Steiner jetzt auf die Rolle des Gedächtnisses und der Bewusstseinsseele legt.

Dieser Grundcharakter des Kapitels bleibt auch in den folgenden Neuausgaben bestehen. Die Ausgabe von 1914 weist gegenüber der Erstausgabe – abgesehen von den oben bereits charakterisierten allgemeinen Bearbeitungstendenzen – kaum bedeutsame Zusätze oder Änderungen auf. Lediglich einige Unstimmigkeiten und missverständliche Formulierungen der früheren Fassung werden berichtigt und einige Definitionen schärfer gefasst.

In der Ausgabe von 1920 hingegen erstreckt sich die Bearbeitung auch auf Inhaltliches. So finden sich ein längerer Absatz und eine zusätzliche Schlussbemerkung am Ende des Bandes, in denen argumentiert wird, dass die Tiere kein Gedächtnis haben. Steiners Interesse an dieser Problematik erklärt sich aus der oben angesprochenen Bedeutung, welche seine Definition des Erinnerns für seine Esoterik hatte. – Ein weiterer längerer Zusatz, der als Erwiderung auf einen Einwand Eduard von Hartmanns zu verstehen ist, beschäftigt sich mit dem Verhältnis von ›Ich‹ und Selbstbewusstsein. Neben diesen zwei herausstehendsten Neuerungen finden sich einige kleinere Modifikationen, die aber im Wesentlichen nur ergänzender und erläuternder Natur sind und inhaltlich keine Neuerungen darstellen. Wie im ersten Kapitel sind also auch die Bearbeitungen des zweiten insgesamt als relativ moderat anzusehen.

 

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›Schlaf und Tod‹

In der Theosophie hatte Steiner seine Vorstellungen über Reinkarnation und Karma sowie über das Erleben der Seele im nachtodlichen bzw. im ›leibfreien Zustand‹ in zwei separaten Kapiteln geschildert. Damit war er der Methodik seiner theosophischen Vorbilder in Sinnetts Geheimbuddhismus und Annie Besants Uralter Weisheit gefolgt. (Blavatskys Geheimlehre kennt keine separaten Kapitel zu diesen Themen.) Die Schilderung von 1910 stellt insofern einen methodischen Neuansatz – und einen weiteren Aspekt der Emanzipation von der Theosophie – dar, als diese Themen jetzt ganz neu gegriffen werden: inhaltlich ausgehend von der Analogie zwischen Schlaf und Tod und methodisch durch Vereinigung in einem einzigen Kapitel.

Auch in anderen Aspekten des Kapitels zeigt sich deutlich die Entwicklung Steiners. Die noch stark am Vorbild Annie Besants und Charles Leadbeaters orientierte Schilderung der Thematik in der Theosophie von 1904 ist einer eigenständigeren gewichen und weist deutlich anthroposophischere Züge auf. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Steiner 1910 die ausgesprochen detaillierte und konkrete Schilderung der verschiedenen ›Abteilungen‹ des ›Geisterlandes‹, bei der er 1904 noch unmittelbar an Besants Schrift Die Uralte Weisheit und deren drastisch-anschauliche, teilweise geradezu danteske Höllen- und Himmelsmetaphorik angeknüpft hatte, weitgehend fallen lässt – in ganz ähnlicher Weise, wie er im kosmogonischen Kapitel Scott-Elliots detailliert-konkrete Schilderungen der atlantischen Kultur, die er 1904 teilweise noch in seine Chronik aufgenommen hatte, in der Geheimwissenschaft nicht wieder aufgreift. Der anthroposophische Ton zeigt sich ferner daran, dass Steiner in seiner Diskussion der Ideen von Reinkarnation und Karma nicht mit hochesoterischen Theoremen, sondern mit lebensnahen Argumenten und Beobachtungen aus seiner persönlichen pädagogischen Praxis argumentiert. Und auch darin zeigt sich der neue ›anthroposophische‹ Ansatz des Buches, dass Steiner keinen theosophischen Autor und auch keine ›geheimwissenschaftliche Literatur‹ mehr als Autorität anführt, sondern statt dessen Immanuel Hermann Fichte zitiert und seine Position somit ideengeschichtlich in den Kontext des deutschen Idealismus einordnet.

Änderungen in der Ausgabe von 1914 gegenüber der Erstausgabe erschöpfen sich im Wesentlichen auf solche, die wir oben im Abschnitt über allgemeine Tendenzen beschrieben haben. Insbesondere die zunehmende Betonung der Uneigentlichkeit von Schilderungen übersinnlicher Erfahrung und die Tendenz zur terminologischen Enttheosophisierung lassen sich hier gut verfolgen. Inhaltlich hingegen findet sich wenig Neues.

Die dritte Neuauflage von 1920 hingegen bringt inhaltlich einige neue Aspekte. So findet sich hier eine vertiefte Betrachtung der Phänomene von Schlaf und Ermüdung und des damit verbundenen Verhältnisses zwischen Ätherleib und physischem Leib einerseits und dem Astralleib andererseits. Das Thema war Steiner so wichtig, dass er auch hierzu, wie schon zur Frage nach der Gedächtnisfähigkeit der Tiere, eine neue Schlussbemerkung am Ende des Buches hinzugefügt hat.

 

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›Die Weltentwicklung und der Mensch‹

In welcher Beziehung Steiners Darstellung der Welt- und Menschheitsentwicklung von 1910 zu früheren Veröffentlichungen steht wurde oben bereits ausführlich entwickelt und muss hier nicht wiederholt werden. Richten wir unsere Aufmerksamkeit daher gleich auf die spätere Textentwicklung dieses Kapitels in den Neuauflagen der Geheimwissenschaft. Diese sind, im Vergleich zu den bisher betrachteten Kapiteln, ungleich zahlreicher und tiefgreifender.

In der Fassung des Kapitels von 1914 finden sich eine Vielzahl kleinerer Zusätze, die zwar inhaltlich Neues bringen, aber im Gesamtbild des Werkes keine substantielle Änderung bedeuten. Diese können hier nicht im Einzelnen verfolgt werden, ohne ins Uferlose zu geraten. Wir beschäftigen uns daher im Folgenden nur mit solchen Abschnitten, die das Bild der Steinerschen Kosmogonie von 1910 nachhaltig erweitern oder verändern.

Eine solche Änderung findet sich etwa in der Darstellung der ›Mond‹-Entwicklung. Dort beschreibt Steiner 1914 ein Ereignis, welches in mancher Hinsicht dem bereits 1910 geschilderten ›Fall der Engel‹ während der Erdentwicklung gleicht, sich nun aber schon während der lunaren Phase abspielt. Dieser ›Proto-Sündenfall‹ ist nicht nur gegenüber der Chronik, sondern auch gegenüber der Geheimlehre Blavatskys ein Novum. Diese hatte zwar im Kontext ihrer Schilderung des irdischen Sündenfalls bemerkt, es habe ähnliche Ereignisse auf frühen Entwicklungsstufen gegeben, aber dazu keine Details mitgeteilt. Steiners Zusatz von 1914 kann als konkrete Ausgestaltung dieser vagen Andeutungen Blavatskys verstanden werden. Die Passage ist nicht nur insofern von Bedeutung, als sie ein neues Detail der kosmischen Evolution enthält, sondern führt zudem eine ganz neue Perspektive in die Darstellung ein, welche zu mehreren weiteren und teilweise umfangreichen Zusätzen des Kapitels geführt hat. Diese neue Perspektive auf das kosmogonische Geschehen wird als eine ›innerliche‹ oder auch ›geistige‹ charakterisiert, im Gegensatz zu der die frühere Darstellung nunmehr als ›äußerliche‹ oder auch ›physische‹ bezeichnet wird. Was zuvor als Prozess natürlicher Entwicklung, als Differenzierung der Weltsubstanz in verschiedene Aggregatzustände, Äther- und Lebensformen, Naturreiche und Welten geschildert worden war, erscheint in dieser zweiten Optik als Tätigkeit geistiger Wesen.

Eine solche Passage findet sich etwa in GU, 157 f. An dieser Stelle hatte Steiner zuvor geschildert, wie die Vorfahren der späteren Menschen zwei unterschiedliche Naturreiche in ihren Leibern ausbildeten. In den Zusätzen von 1914 erscheint dieser zunächst rein naturgeschichtliche Prozess als äußerliches Ergebnis eines ›geistigen Kampfes‹, eines Konfliktes zwischen gewissen ›Sonnenwesen‹ und den während des oben angedeuteten lunaren Sündenfalles ›abgefallenen Mondwesen‹. Von diesen hatte Steiner, wie wir uns erinnern, in der Chronik bereits gesprochen. Was aber dort als zwei gesonderte, durch das Kausalgesetz verknüpfte Ereignisse beschrieben worden war, erscheint jetzt als die innere (geistige) und die äußere (physische) Seite ein und desselben Vorgangs. Da mit dieser Neuerung ein ganz neues Licht auf die ursprüngliche Schilderung geworfen wird, zieht dies eine Reihe weiterer Zusätze im Kapitel nach sich. – Eine weitere solche Neubetrachtung und Umdeutung der ursprünglichen Darstellung aus ›geistiger Perspektive‹ findet sich in GU 207–210. Es ist dies die Passage, in welcher der irdische ›Sündenfall‹ beschrieben wird. In diesem Zusammenhang hatte Steiner 1910 berichtet, dass sich zu einem bestimmten Zeitpunkt immer weniger Menschen auf der Erde inkarnieren konnten, weil die physischen Bedingungen für die Inkarnation menschlicher Seelen ungünstig geworden waren. In diesem Fall fügt Steiner nun nicht bloß der originalen Darstellung einen ergänzenden Zusatz bei, sondern streicht die Fassung von 1910 komplett und formuliert sie neu. Dies mag damit zusammenhängen, dass Steiner mit seiner Verwendung der Metapher eines »Hauptpaares«, die sich doch sehr stark an die biblische Paradieserzählung anlehnt, jetzt nicht mehr glücklich war, denn dieser Ausdruck verschwindet in der Revision völlig. Nur noch von einem »zurückgebliebenen Rest« der Menschheit ist die Rede.

Ähnliche Zurücknahmen des Bezugs der Geheimwissenschaft zur biblischen Schöpfungsgeschichte zeigt sich auch in anderen Zusätzen. So hatte Steiner 1910 den Einfluss der luziferischen Wesen auf den Menschen noch in Bildern geschildert, die eindeutig Bezug auf den biblischen Bericht vom Sündenfall nahmen. 1920 war Steiner hier vorsichtiger und deutete den Bezug zum biblischen Bericht nur äußerst verhalten an:

Wenn man dagegen sagt, die Wesenheiten mit der alten Mondennatur traten an den Menschen heran, um ihn für ihre Ziele ›verführend‹ zu gewinnen, so gebraucht man einen symbolischen Ausdruck, der gut ist, solange man sich seiner Sinnbildlichkeit bewußt bleibt und sich zugleich klar ist, daß hinter dem Symbol eine geistige Tatsache steht. (GU, 209)

Auch diese Passage zog wieder eine Reihe von weiteren Änderungen mit sich. Die Äußerung gibt zudem eine mögliche Erklärung dafür, weshalb Steiner die Bezugnahme auf biblische Schilderungen jetzt offensichtlich als problematisch empfand. Er befürchtete anscheinend, dass gewisse Leser die uneigentliche Darstellung der geisteswissenschaftlichen Inhalte in einer ähnlich naiv-realistischen Weise auffassen würden, wie trotz kritischer Bibelforschung viele Gläubige und Kritiker bis heute die biblischen Schilderungen verstehen.

Was die Hinzufügung dieser zweiten, ›innerlichen‹ oder ›geistigen‹ Perspektive in Steiners kosmogonischem Entwurf insgesamt bewirkte, haben wir weiter oben bereits angesprochen. Die Schilderungen der natürlichen Entwicklung und diejenigen, in welchen die Tätigkeit der geistigen Hierarchienwesen beschrieben wird, stehen nun nicht mehr nebeneinander in einem kausalen Geist-bewirkt-Materie-Verhältnis, sondern erscheinen als zwei aus verschiedener Perspektive unternommene Darstellungen ein und derselben Wirklichkeit. Die natürliche Schöpfungsgeschichte erscheint als die von außen betrachtete Geschichte der Entwicklung des Geistigen; und die Geschichte des Geistes als die von innen her angeschaute Geschichte des natürlichen Kosmos.

*

Bestanden die bedeutendsten Aspekte der Bearbeitung des komogonischen Kapitels von 1914 in der Hinzufügung einer zweiten bzw. ›geistigen‹ Darstellungsperspektive, die zur naturgeschichtlichen hinzutrat, und im Abstandnehmen von zu deutlichen Bezugnahmen auf die biblische Schöpfungsgeschichte, so beziehen sich die tiefgreifendsten Änderungen der dritten Auflage von 1920 auf die christologischen Aspekte des Kapitels.

Die auffallendste Modifikation besteht darin, dass eine Reihe von Sachverhalten, die in den ersten beiden Ausgaben mit dem Christuswesen in Verbindung gebracht werden, nun als Taten eines anderen Wesens erscheinen, welches als eine Art ›Vermittler‹ oder ›Bote‹ des Christus erscheint. So findet sich in GU, 219 eine eigenartig gewundene Äußerung Steiners. In dieser hatte Steiner in den ersten beiden Auflagen berichtet, wie die in das ›Sonnenmysterium‹ eingeweihten Atlantier Erkenntnis von einem Wesen erlangten, »das als der Christus erscheint«. 1920 hingegen bezieht sich dieses Initiationswissen auf ein Wesen, welches »das ist, in dem sich ihnen das Verhältnis offenbart, welches der Christus zum Kosmos hat« (ebd.). An einer anderen Stelle wird ebenfalls von bestimmten Eingeweihten gesprochen, welchen in der Schilderung von 1910 und 1914 eine Christus-Erkenntnis zuteil wurde. Aber 1920 erkennen sie statt des Christus ein solches Wesen, »durch das sich später den Menschen das Verständnis für den ›Christus‹ eröffnete«. Im weiteren Verlauf wird dann mehrfach der Ausdruck ›Christus-Wesen‹ durch ›Sonnenwesen‹ ersetzt. Eine Erklärung für diese Änderungen ist möglicherweise ein Zusatz in GU, 233, wo die dritte Auflage ausführt, der Christus habe vor seinem Erscheinen auf der Erde nicht als solcher erkannt werden können. So erklärt sich auch, dass an mehreren Stellen, wo zuvor von Christus-Offenbarungen in vorchristlicher Zeit die Rede gewesen war, ab 1920 der Ausdruck »prophetische Christus-Offenbarung« steht. Ferner lesen wir an Stellen, wo zunächst davon gesprochen worden war, dass das ›hohe Sonnenwesen‹ mit Christus in menschlicher Gestalt erschienen sei, in der Fassung von 1920, dieses ›Sonnenwesen‹ habe die Inkarnation Christi nur »vorbereitet«.

Aber nicht nur die Schilderung der vorchristlichen Mysterien erschien 1920 anders als in den früheren Auflagen. Auch im Hinblick auf die nachchristlichen Mysterien finden sich Änderungen. So hatte Steiner bis 1914 geschildert, in den nachchristlichen Mysterien sei erstrebt worden, »in dem Christus den Urgeist« zu erkennen. In der dritten Auflage hingegen besteht deren Aufgabe darin, »den menschgewordenen Christus zu erkennen«. Während es zuvor geheißen hatte, in der nachchristlichen Zeit habe die »Christus-Gestalt« dahingehend gewirkt, alle Sonderungen unter den Menschen zu überwinden, schwächt Steiner 1920 diese Aussage dadurch ab, dass er diese Wirkung nur der »Christus-Vorstellung« zuschreibt. Und wo bis 1914 behauptet worden war, dass in allen Menschen, die »den Namen Christi tragen« (was Steiner damit meinte, bleibt unklar), »das Sonnenwesen lebt«, so leben in ihnen nach der Fassung von 1920 nur noch »die Kräfte des hohen Sonnenwesens«. Als letztes Detail in diesem Zusammenhang sei noch der Schlusssatz der Erstausgabe genannt: »Es ist ja auch in den Auseinandersetzungen über die Wirkung der Christuswesenheit auf die Menschheitsentwicklung nur die mehr äussere Seite dargestellt worden. Die innere wird sich an die Betrachtungen über die Einweihung anzuschließen haben.« Diese Aussage wurde 1920 ersatzlos gestrichen.

Im Kontext der Geheimwissenschaft bleibt die Frage offen, welches dieses »andere Wesen« ist, das 1920 an die Stelle des ›Christus‹ tritt. Zieht man jedoch spätere Schriften und Vorträge Steiners zu Rate, so liegt die Annahme nahe, dass es sich um die Wesenheit des ›Michael‹ handelt, auf die Steiner hier dunkel hindeutet. Denn diese Wesenheit rückte in seinen späteren Äußerungen zunehmend in den Mittelpunkt des antroposophischen Interesses. Dem ›Michael-Wesen‹ hat der Anthroposoph Steiner später viele jener Funktionen und Eigenschaften zugeschrieben, die in der Geheimwissenschaft dem ungenannten Wesen zukommen, das Steiner zunächst als den Christus identifiziert, dann aber als den Vorbereiter des Christus-Verständnisses charakterisiert.

 

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›Die Erkenntnis der höheren Welten‹

Als die Geheimwissenschaft im Jahre 1910 erschien, lagen im Hinblick auf Steiners Anschauungen zur Erkenntnisschulung bereits drei Veröffentlichungen vor: das Schulungskapitel der Theosophie, die von 1904 bis 1905 als Aufsatzreihe entstandene und 1909 als Buch herausgekommene Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten und die zwischen 1905 und 1908 publizierte Aufsatzreihe Die Stufen der höheren Erkenntnis. Das Kapitel »Die Erkenntnis der höheren Welten« greift die wesentlichen Elemente dieser in sich recht unterschiedlich gestalteten literarischen Vorstufen auf und ordnet sie in neuer Weise an, um eine Art Synthese herzustellen. Dabei werden einige Aspekte wie etwa die Darstellung der sogenannten ›Schwellenhüter‹ grundlegend neu angelegt. Insbesondere die Identifikation des zweiten ›Hüters‹ mit dem Christuswesen ist völlig neu. – Indem wir diesen Neuansatz von 1910 im Folgenden charakterisieren, werden seine verschiedenen Elemente nicht je im Einzelnen erklärt oder kontextualisiert; dies ist bereits in der Einleitung zu Band 7 dieser Edition mit den eigentlichen Schulungsschriften geschehen und der Leser sei hiermit auf diese Darstellung verwiesen. Auf den folgenden Seiten soll es nur darum gehen, wie sich die Darstellung der anthroposophischen Erkenntnisschulung in der Geheimwissenschaft zu derjenigen in Steiners früheren Texten verhält.

Neu ist zunächst der methodische Einstieg in die Thematik der Erkenntnisschulung über eine Analogie zwischen dem ›übersinnlichen‹ Bewusstsein und dem Traumerleben. Steiner weist besonders auf zwei Ähnlichkeiten hin, die zwischen der von der Erkenntnisschulung angestrebten Form des ›imaginativen‹ Erlebens und dem Traumbewusstsein bestehen: die symbolische Bildlichkeit und die Unabhängigkeit von sinnlichen Wahrnehmungen. Die Inhalte des imaginativen Bewusstseins bestünden, wie die Trauminhalte, in Bilderlebnissen, die aber nicht unmittelbar auf der Tätigkeit der Sinnesorgane beruhen, sondern durch psychisch-mentale Aktivität hervorgebracht werden. Der Unterschied zwischen Imagination und Traum hingegen bestehe darin, dass im imaginativen Bewusstsein die Wachheit und Klarheit des Denkens, die vollbewusste Beteiligung des ›Ich‹ nicht so abgedämpft sei wie im Traum. Das sogenannte ›Hellsehen‹ bestehe somit in gewisser Weise in einem Träumen, bei dem der Träumer aber vollständig wach bleibt und durch die innerlich erzeugten Symbolbilder so klar zu erkennen vermag, wie im gewöhnlichen Wachzustand durch die Sinneswahrnehmungen. Die ›Imagination‹, wie Steiner sie hier beschreibt, könnte somit auch, in Anlehnung an die bekannten Ausdrücke Goethes, als ein ›anschauendes Denken‹ bzw. als eine ›exakte‹ (also nicht willkürlich vorgehende) ›sinnliche Phantasie‹ charakterisiert werden. Imaginationsschulung nach Steiner ist systematische Verwandlung der gewöhnlich in Traum- und Phantasietätigkeit sich betätigenden menschlichen Bilderzeugungskraft in ein Organ des Erkennens. Dieser Einstieg schließt mit einer Erörterung von möglichen Bedenken gegen die systematische Ausbildung eines solchen Bewusstseinszustandes, wobei Steiner vielfach auf Argumentationen aus seinen früheren Texten zurückgreift.

An diesen einleitenden Teil schließt sich eine mehr praktisch ausgerichtete Passage. Während aber in der Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse eine ganze Reihe konkreter Übungen und Meditationen zur Ausbildung des imaginativen Bewusstseins zur Darstellung gekommen waren, beschränkt sich das Schulungskapitel der Geheimwissenschaft im Wesentlichen auf eine einzige: die sogenannte Rosenkreuz-Meditation. Diese bespricht Steiner ausführlicher als alle übrigen Meditationsübungen in früheren Texten. Offenbar geht es ihm 1910 nicht um die Ausbreitung eines konkreten Übungsprogramms, sondern um eine methodische Illustration des Wesens der anthroposophischen Meditation. Dazu passt, dass sich im Anschluss an die Übungsbeschreibung weitere Hinweise zur Natur der imaginativen Erkenntnis finden.

Indem Steiner in diesem Kontext mit dem Begriff der ›Imagination‹ operiert (und später im Kapitel auch auf ›Inspiration‹ und ›Intuition‹ als weitere Stufen übersinnlichen Erlebens eingeht), greift er auf eine theoretische Konzeption zurück, die in der Erkenntnis-Schrift nur implizit enthalten war und die er erst in der anschließenden Aufsatzserie Die Stufen der höheren Erkenntnis systematisch entwickelt hatte.

Relativ neu gegenüber früheren Schilderungen ist der nächste Schritt der Darstellung, in dem Steiner betont, dass das erste geistige Erlebnis, welches der Mensch im Modus des übersinnlichen Erlebens mache, in der Erkenntnis der geistigen Natur seines eigenen Wesens bestehe. In der Erkenntnis-Schrift bestanden die ersten übersinnlichen Erlebnisse des Schülers in licht- und farbartigen Erlebnissen, in denen, als Ergebnis gelenkter Imaginationsübungen, die ›übersinnliche Natur‹ der Pflanzen ›seelisch erfahrbar‹ werden sollte. Jetzt hingegen wird als erste Erfahrung der höheren Erkenntnis die des eigenen ›Ich‹ genannt. Diesem begegne der Schüler jetzt zum ersten Mal nicht in dessen Spiegelung im gewöhnlichen Bewusstsein, also in Form einer ›Ich-Vorstellung‹, sondern in seiner Eigennatur als geistige Wesenheit. Außerdem, so betont Steiner, bestehe dieses Erleben des ›wahren Selbst‹ nicht in der Entdeckung von etwas zuvor bereits Vorhandenem; vielmehr werde das so entdeckte geistige ›Ich‹ im Moment seiner Wahrnehmung als solches überhaupt erst hervorgebracht. Die Erkenntnis des ›höheren Ich‹ ist somit – ganz wie in der Philosophie Fichtes und wie Steiner selbst es bereits in seinen Schriften von 1901 und 1902 gefasst hatte – zugleich ›Geburt‹ dieses ›höheren Ich‹, und umgekehrt. In dieser Perspektivveränderung kann ein Wechsel von einem eher ›goetheanischen‹ zu einem eher ›fichteschen‹ Zugang zur Definition und Darstellung der ›höheren Erkenntnis‹ gesehen werden. Die methodische Hinführung des Bewusstseins zu einer Anschauung des Übersinnlichen in der Natur durch systematisch-einfühlende Betrachtung von Naturgestaltungen erinnert sehr stark an die Art und Weise, wie Steiner Goethes naturwissenschaftliche Schriften interpretiert hatte. Die Konzentration auf das Erlebnis des sich in der Eigenwahrnehmung selbst hervorbringenden ›Ich‹ hingegen weist deutliche Parallelen zur Erkenntnisdidaktik der fichteschen Wissenschaftslehre auf.

Im Anschluss an diese systematische Schlüsselpassage wendet sich Steiner wieder den mehr praktischen Aspekten seiner Schulungskonzeption zu. Zu der früher beschriebenen Imaginationsübung kommen jetzt solche hinzu, die primär auf die Ausbildung der ›Inspiration‹ abzielen. In diesem Kontext finden die sogenannten ›fünf Eigenschaften‹, die sich in allen Schulungstexten Steiners finden, einen neuen systematischen Ort. Neuartig an der Schilderung von 1910 ist ferner, dass diese fünf Eigenschaften jetzt in ihrer Beziehung auf die dreigliedrige Organisation des Menschen und insbesondere auf die drei zentralen Seelentätigkeiten betrachtet werden. Weitere aus früheren Schriften bereits bekannte Elemente, die jetzt als Elemente der Inspirationsschulung erscheinen, sind das ›Studium‹ (d. h. der meditative Umgang mit Schilderungen des Übersinnlichen) und der in der Zeit rückwärts verlaufende ›Tagesrückblick‹.

An die Schilderung der Inspirationsübungen schließt sich eine Beschreibung der seelischen Organe des übersinnlichen Wahrnehmens, der sogenannten ›Lotosblumen‹. Diese schildert Steiner im Wesentlichen in gleicher Weise wie in der Erkenntnis-Schrift, jetzt aber deutlich knapper. Außerdem bezieht er seine Darstellung der einzelnen ›Seelen-Organe‹ jetzt deutlicher auf diejenigen Aspekte der Wirklichkeit, welche mittels ihrer erkannt werden sollen. Der Leser erfährt, welche Lotosblumen jeweils involviert sind, wenn etwa das Wesen der früheren ›Weltstufen‹ oder der ›luziferischen Geister‹ erkannt wird.

Es folgen weitere Aspekte der Schulung, die bereits in der Erkenntnis-Schrift zur Darstellung gekommen waren – etwa die Ausbildung eines ›reichen Innenlebens‹ und die methodische Übung der ›Devotion‹, der ›Achtsamkeit‹ und der ›Geduld‹, aber auch das Erlebnis der ›Spaltung der Persönlichkeit‹. So gelangt Steiner zum Schlussteil des Kapitels, in dem er eine grundlegende Neudarstellung der in Wie erlangt man Erkenntnisse erstmals geschilderten ›Begegnung mit dem Hüter der Schwelle‹ vornimmt. Genauer: mit den schon 1905 geschilderten zwei ›Hütern‹.

Um diese Neujustierung der Hüter-Konzeption verständlich zu machen, muss an dieser Stelle, entgegen der uns oben auferlegten Beschränkung, nun doch etwas weiter ausgegriffen werden. Steiners Schilderung der beiden ›Schwellenhüter‹, besonders in der sehr bildhaft und dramatisch angelegten Darstellung von 1905, könnte leicht als ein Regress in ein metaphysisches oder mythisches Denken verstanden werden. Oder, wie Helmut Zander diese Passagen gelesen hat, als Versuch einer »Reifizierung fiktionaler Literatur zu okkultistischen ›Fakten‹«. Solche Deutungen übersehen allerdings, dass die beiden hier in Frage stehenden ›Hüter‹ in beiden Darstellungen bei Steiner als didaktisches Mittel der Verbildlichung und Versprachlichung rein seelischen und geistigen Erlebens fungieren – jenes Erlebens nämlich, welches Ergebnis und Inhalt der Konfrontation des Menschen mit dem eigenen ›wahren Selbst‹ ist. Es geht Steiner also keineswegs um ›Metaphysik‹ oder um die ›Reifizierung‹ von literarischer Fiktion, sondern um den Versuch, bestimmte Formen des seelischen und geistigen Erlebens, die sich als als solche der sprachlichen Darstellung entziehen, irgendwie doch zu versprachlichen. Es handelt sich also gerade um das Umgekehrte einer Reifizierung literarischer Fiktion: nämlich um eine Literarisierung und dramatische Inszenierung dessen, was nach Steiners Ansicht psychische und mentale Realität ist und was in der Erkenntnisschulung Erlebnis werden kann.

Richten wir zunächst den Blick darauf, wie diese Dramatisierung der Begegnung mit dem eigenen Selbst sich in den Erkenntnis-Aufsätzen von 1905 darstellte. Hier trat dem Schüler der erste ›Hüter‹ als Bild der eigenen karmischen Verstrickung in die Wirklichkeit entgegen. Er repräsentierte all jene seelischen und geistigen Unvollkommenheiten des Menschen, alle karmische ›Schuld‹ sozusagen, die diesen in seiner Entwicklung zurückhalten. Er tritt also als eine Art Mahner auf, der darauf hinweist, in welcher Hinsicht der Mensch noch an sich zu arbeiten hat, um die in ihm angelegten Entwicklungspotentiale zu verwirklichen. In Begriffen jungscher Tiefenpsychologie könnte diese Erfahrung wohl auch als eine Begegnung mit dem eigenen ›Schatten‹ charakterisiert werden. – Der ›zweite‹ Hüter hingegen fungiert in der Schilderung von 1905 eher wie ein jungscher ›animus‹ bzw. eine ›anima‹, d. h. als eine bildhaft-dramatisierte Projektion eben jener menschlichen Entwicklungspotentiale, jenes Idealbildes vom vollständig integrierten Menschen, von dessen Verwirklichung der Mensch durch seinen ›Schatten‹ abgehalten wird. Und wie bei Jung, so ist auch bei Steiner eine Entwicklung des Schülers auf das Bild des ›vollkommenen Menschen‹ hin davon abhängig, dass dem furchterregenden Bild des ›unvollkommenen Selbst‹ gerade ins Auge geschaut wird. Der ›erste Hüter‹ darf nicht verleugnet oder verdrängt werden, sondern muss angenommen und verwandelt werden, damit der zweite Wirklichkeit werden kann.

Indem die ›Hüter‹ 1905 in dieser Weise geschildert worden waren, konnte leicht der Eindruck entstehen, als spreche Steiner hier von rein psychologischen Phänomenen, von subjektiven Projektionen der individuellen Psyche. In der Tat unterstrich Steiner in der Erstfassung der Aufsätze, wie bedeutsam es sei, dass der erste ›Hüter‹ in gewisser Hinsicht zwar ein »übersinnliches Wesen« darstelle, welches aber der Schüler durch seine innere Entwicklung »selbst hervorgebracht« habe. In späteren Auflagen der Schrift sah er offenbar die Gefahr einer psychologistischen Deutung dieser Formulierung und schränkte seine Aussage ein zu: »gewissermaßen selbst hervorgebracht«. Auch an anderen Stellen der Schrift wird in späteren Bearbeitungen deutlicher betont, dass die Erscheinung der ›Hüter‹ zwar Ergebnis der menschlichen Arbeit am Selbst ist, dass aber die darin erscheinende Gesetzmäßigkeit durchaus nicht nur Ausdruck derjenigen individuellen empirischen Persönlichkeit ist, der sie erscheinen, sondern von überpersönlicher, ja universeller Natur.

Diese Nachjustierungen machen die neue Gestaltung verständlicher, in welcher die beiden ›Hüter‹ in der Darstellung der Geheimwissenschaft erscheinen. Sie erklären insbesondere, wie es sein kann, dass der zweite ›Hüter‹, der doch in der ursprünglichen Fassung als subjektive Projektion des Ideals menschlicher Entwicklung erschien, in der Schilderung von 1910 nunmehr mit der ›Christuswesenheit‹ identifiziert wird.

Zunächst fällt an der Darstellung der Geheimwissenschaft auf, dass der ›erste Hüter der Schwelle‹ im Wesentlichen so geschildert wird, wie in Wie erlangt man Erkenntnisse, dass aber dann das oben erwähnte ›neugeborene‹ ›höhere Selbst‹ an seine Seite tritt und in eine Art ›Kampf‹ mit dem ersten Hüter tritt. In der ursprünglichen Fassung stand der Schüler dem Hüter relativ passiv gegenüber und wurde vor allem von ihm über sein Schicksal belehrt. Jetzt tritt der Repräsentation des ›niederen Selbst‹ eine solche des ›höheren Selbst‹ entgegen, mit der Aufgabe, »sich in das rechte Verhältnis zu ihm [zu] setzen, ihn nichts tun lassen, was nicht unter dem Einflusse des neugeborenen ›Ich‹ geschieht«. Schon in diesem Detail zeigt sich deutlicher als zuvor, dass das Bild des ›Hüters‹ nicht nur ein Mittel zur Darstellung der individuellen seelisch-geistigen Befindlichkeit des Menschen ist, sondern dass in ihm (paradoxerweise also in der individuellen empirischen Persönlichkeit) zugleich ein ›Nicht-Ich‹ auftritt, mit dem das ›Ich‹ sich auseinanderzusetzen hat.

Noch deutlicher wird die zugleich subjektiv-psychologische und objektiv-transpersonale Natur der Hüter-Gestalten in der Identifikation des ›zweiten Hüters‹ mit dem ›Christus‹. Hier könnte es wieder zunächst so scheinen, als falle Steiner in ein metaphysisches bzw. mythisches Denken zurück oder betreibe eine ›Reifikation‹ religiöser Fiktion. Aber auch hier ist wieder in Anschlag zu bringen, dass man den steinerschen ›Christus‹, wie alle anthroposophischen Darstellungen, unter den Bedingungen ihres ideogenetischen Ursprungs zu betrachten hat. Steiners ›Christus‹ ist nicht als ein von der ›Natur‹ oder vom ›Ich‹ wesenhaft getrenntes und anthropomorphisch vorgestelltes Wesen im Sinne kirchlicher Volksfrömmigkeit zu verstehen, sondern eher als ein johanneischer logos; als Ursprung ›aller Dinge‹ und somit genauso identisch mit dem innersten Wesen des Menschen wie mit dem ›Innersten der Natur‹. In Steiners ›Christus‹ tritt dem Menschen nichts anderes entgegen als sein eigenes transpersonales Wesen.

In anderen Worten: Steiner versucht, mit den gedanklichen und sprachlichen Mitteln seiner Geisteswissenschaft, den traditionellen mystisch-religiösen Motiven von der ›Geburt Christi im Menschen‹ und der ›unio mystica‹ eine vom religiösen Kontext emanzipierte, kritisch-rationaler Betrachtung zugängliche und nachvollziehbare Bedeutung zu geben. Dieses anthroposophische Verfahren ›entthront‹ jedoch den Mythos nicht, ersetzt nicht, wie so manches aufklärerische Entmythologisierungskonzept, das mythische Bild durch einen wissenschaftlichen Begriff, sondern fasst ihn als ein neues, den Bedürfnissen kritisch-moderner Bewusstheit angepasstes Denkbild, d. h. anthroposophisch: als eine Imagination. Diese nimmt selbst die Form des Mythos an, der durch Bilder spricht und wirkt, aber solcher Bilder, die sich dem Logos, der gedanklichen Durchdringung, nicht verschließen, sondern zu dieser einladen. An den steinerschen ›Christus‹, den ›alten Saturn‹, die ›Geister der Form‹ oder den ›lemurischen Menschen‹ zu ›glauben‹ (oder nicht zu glauben) erscheint ebenso sinnlos, wie ihre Existenz beweisen (oder leugnen) zu wollen. Denn ›wie Tische oder Stühle‹ existieren sie nach Steiners Verständnis eben explizit nicht, sondern nur in jener Form, in welcher der Betrachtende sie zuvor hervorgebracht hat und sich dabei seiner Schöpferrolle bewusst ist. Die Imaginationen Steiners (bzw. seine Übersetzungen imaginativen Erlebens in die anthroposophischen Denkbilder) verstehen sich daher als Material zur gedanklich-verstehenden Durchdringung oder zur meditativ-vertiefenden Übung; wer sie als ›Offenbarungen‹ eines unabhängig vom Menschen existierenden ›Jenseits‹ liest, verfehlt den Zweck, für den sie geschrieben wurden.

[Die originalen Fußnoten wurden in dieser HTML-Fassung weggelassen.]

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