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Einleitung

Von Christian Clement

SKA 2 (2016), XIX-CXXXI

Wir sollten endlich zugeben, daß der Gott, den eine abgelebte Menschheit in den Wolken wähnte, in unserem Herzen, in unserem Geiste wohnt. Er hat sich in voller Selbstentäußerung ganz in die Menschheit ausgegossen. Er hat für sich nichts zu wollen übrig behalten, denn er wollte ein Geschlecht, das frei über sich selbst waltet. Er ist in der Welt aufgegangen. Der Menschen Wille ist sein Wille, der Menschen Ziele seine Ziele.

Rudolf Steiner: Die Natur und unsere Ideale (1886)

 

 

Zentrale Inhalte und Probleme der Philosophie Rudolf Steiners

 

Als Rudolf Steiner im Jahre 1918 eine Neuauflage seiner knapp ein Vierteljahrhundert zuvor erschienenen Philosophie der Freiheit herausgab, identifizierte er in der neu hinzugefügten Einleitung »zwei Wurzelfragen«, auf die »alles, was durch dieses Buch besprochen werden soll«, ausgerichtet sei. Als erstes Kernthema benannte er die Frage nach der Freiheit:

Darf sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein Naturgeschehen? (PF, 1)

Diese Frage aber sei nur zu beantworten, so Steiner weiter, wenn zugleich bzw. zuvor nach dem Wesen des Denkens gefragt werde. Denn frei sei der Mensch nur da, wo sein Denken und sein Handeln aus einer bestimmten Art des Erkennens hervorgehen; eines Erkennens, das im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein nur in Ausnahmefällen spontan eintrete, prinzipiell aber von jedem Menschen hervorgebracht und kultiviert werden könne. In seinen philosophischen Texten nannte er dieses die Freiheit ermöglichende und verwirklichende Denken zunächst ein »intuitives« oder »reines«; später, im Rückblick von 1918, hieß es auch »leibfreies« oder »sinnlichkeitsfreies« Denken. Dahinter stand die Idee, dass das Bewusstsein und das Erkenntnisvermögen des Menschen, ja sein seelisches und geistiges Leben überhaupt, in der gleichen Weise einem fortschreitenden Entwicklungsprozess unterworfen sind wie die Natur und die Kultur im Allgemeinen; dass aber die kognitive Evolution, anders als die biologische, zu ihrer weiteren Entfaltung der freien und bewussten Mitarbeit des Menschen bedürfe. Und daraus folgerte Steiner, dass es in der Philosophie nicht primär darauf ankomme, diese oder jene Ansicht über das »Bewusstsein« oder die »Freiheit« theoretisch zu beweisen oder zu widerlegen, sondern darauf, durch »innere Seelentätigkeit«, d. h. durch Übung und Verwandlung der Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit an der Entwicklung und Schulung jener Bewusstseinsverfassung zu arbeiten, in der Freiheit sich verwirklichen und ihrer selbst gewiss werden kann:

Es wird nicht eine theoretische Antwort gegeben [...] sondern auf ein Erlebnisgebiet der Seele wird verwiesen, auf dem sich durch die innere Seelentätigkeit selbst in jedem Augenblicke, in dem der Mensch dessen bedarf, die Frage erneut lebendig beantwortet. (PF, 6)

Gestrichen bzw. in einen Anhang verbannt hat Steiner 1918 die Formulierung einer dritten »Wurzelfrage«, welche in der ursprünglichen Fassung der Schrift noch an prominenter Stelle im Anfangskapitel figuriert hatte, und zwar die Frage nach der Bedeutung der Kunst. Diese ist in der Philosophie der Freiheit eng mit dem Freiheits- und dem Erkenntnisthema verwoben, ja stellt gewissermaßen die Einheit zwischen beiden her, indem auf der einen Seite das Denken als »Begriffskunst« definiert und auf der anderen Seite die Verwirklichung der Freiheit als eine Art Lebenskunst charakterisiert wird, welche auf dem Erlernen und der Ausübung einer »moralischen Phantasie« und einer »moralischen Technik« beruhen soll. Dem heutigen Leser, der Steiners Texte zumeist nur in deren letzter Gestalt kennt, tritt diese trinitarische Signatur nicht mehr so deutlich vor Augen, denn der das Thema der Erstausgabe umreißende entscheidende Satz findet sich in späteren Fassungen erst in einem Anhang am Ende der Schrift:

Wie sich die Philosophie als Kunst zur Freiheit des Menschen verhält, was die letztere ist, und ob wir ihrer teilhaftig sind oder es werden können: das ist die Hauptfrage meiner Schrift. (PF, 281 f.)

Freiheit, Erkenntnis und Kunst sind also die drei grundlegenden Themen, die das Denken Rudolf Steiners maßgeblich bestimmen. Das gilt nicht nur für die anthroposophischen Texte des späten Steiner, sondern auch für seine philosophischen Schriften. Dabei wird allerdings das Element des Künstlerischen im Verlauf von Steiners Entwicklung als Philosoph immer weniger direkt angesprochen und schwingt in der Neuauflage der Philosophie der Freiheit eher wie ein subtiler Kontrapunkt im Hintergrund seiner Darstellungen mit. Beim Theosophen und Anthroposophen Steiner hingegen trat es ab dem Münchner Kongress 1907 zunehmend in den Vordergrund, kulminierte in seinen Mysteriendramen sowie in der Schaffung der Eurythmie als neuer Kunstform und durchdringt bis heute, zumindest dem Anspruch nach, als atmosphärisches Element alle Bereiche der anthroposophischen Arbeit.

 

Traditionsbezug und Aktualität

Durch die beschriebene Grundausrichtung stellt sich das steinersche Denken unübersehbar in die philosophischen Traditionen des deutschen Idealismus und  des Weimarer Ästhetizismus. Auch wenn sich eine Reihe weiterer philosophischer Strömungen benennen lassen, an die Steiner anknüpfte, so scheinen doch Fichte, Schelling und Hegel sowie Schiller und Goethe ihn tiefer als andere Denker geprägt zu haben. Die für Steiners Philosophie charakteristische Zentralstellung der Freiheitsfrage, die Verknüpfung derselben mit einer Theorie des Erkennens auf der einen und einer Theorie der Kunst und des Schönen auf der anderen Seite, ferner der Anspruch, mittels einer nach Kunstregeln vollzogenen Schulung und Verwandlung des Denkens zu einer »intellektuellen Anschauung« kommen zu können, in welcher sich, wie das Schlusskapitel der Schrift verspricht, die »letzten Fragen« beantworten, die bis dahin nur Gegenstand des Glaubens sein konnten – diese Konzeption einer aus der Verwirklichung von Freiheit erwachsenden Synthese von Wissenschaft, Kunst und Religion war in den Schriften Fichtes und Schellings als zentrale Aufgabe der Philosophie, besonders auch der »deutschen Philosophie«, postuliert und auf mannigfaltige Weise angegangen worden, und Steiners Freiheitsschrift knüpfte an dieses universalistische Programm an. Sie deutete wie Hegel die Geschichte des menschlichen Geistes als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« und war in vieler Hinsicht ein Echo auf Fichte, der über seine Philosophie schrieb, sie sei »vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit«. Sie machte sich aber auch das Glaubensbekenntnis Schillers und Goethes zu eigen, dass der Weg zur geistigen und moralischen Vervollkommnung des Menschen nur durch das Tor der ästhetischen Erfahrung bzw. einer künstlerisch-produktiven Lebens- und Erkenntnishaltung beschritten werden kann. Und sie stellte an sich selbst den von den Idealisten formulierten Anspruch, dass eine »ächte« Philosophie nicht nur »Tangente« des Lebens zu sein und das Leben nur zu berühren habe, sondern dass ihre Aufgabe darin bestehe, ein »Mittelpunkt« zu sein, von dem aus alle Bereiche des Lebens, auch und gerade die praktischen, bereichert und befruchtet werden (vgl. PF, 280 f.). Betrachtet man im Lichte dieser Programmatik die heute weltweit florierende Vielfalt der von Anthroposophen ins Leben gerufenen und geleiteten Kliniken, Schulen, Kindergärten, Lebensmittelketten, Banken, Landwirtschaftsbetriebe, Sozialeinrichtungen und politischen Initiativen, dann wird man in der auf Steiners Denken basierenden Kulturbewegung eine zwar vielleicht nur ansatzweise verwirklichte, aber dennoch beispiellose Realisierung jener Vision des deutschen Idealismus von einer wirklich ins Leben eingreifenden und dieses in allen Bereichen gestaltenden Philosophie sehen können.

Steiners Philosophie ist somit keine rein akademische Angelegenheit; sie hat das soziale und gesellschaftliche Leben nicht nur tangiert, sondern ist in dieses ungleich tiefer eingedrungen als in den Wissenschafts- und Lehrbetrieb. Und sie weist auch nicht nur in eine überkommene philosophische Vergangenheit, sondern war in vieler Hinsicht Vorspiel bedeutsamer und hochaktueller Gegenwartsentwicklungen und nahm zentrale Themen der neueren und neuesten Philosophie vorweg. Indem Steiners Freiheitsphilosophie beispielsweise das Erkennen wie das freie Handeln unter dem Begriff des Künstlerischen zu vereinigen suchte, antizipierte sie nicht nur die Anschauung moderner Künstler wie Joseph Beuys, für den alle sozialen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart im Kern Gestaltungsfragen und somit künstlerische Probleme sind, sondern auch das im Rahmen des postmodernen Diskurses diskutierte Modell einer Entwicklung des abendländischen Denkens vom bildhaften Mythos über das abstrakte Begriffsdenken hin zum neuen Bewusstseinsparadigma eines »ästhetischen Denkens«, dessen Begriff von Wirklichkeit sich nicht mehr von den Dichotomien des »Rationalen« oder des »Irrationalen«, des »Realistischen« oder des »Ideellen« bestimmen lässt, sondern welches Wirklichkeit als vom Menschen schöpferisch mit-hervorgebracht und somit als über diesen Gegensätzen stehend, nämlich als ästhetisch bzw. »aisthetisch« konstituiert begreift. Stellvertretend für diese Strömung schreibt etwa Wolfgang Welsch:

Das moderne Denken hat sich seit Kant zunehmend auf die Einsicht zubewegt, daß die Grundlagen dessen, was wir Wirklichkeit nennen, fiktionaler Natur sind. Wirklichkeit erwies sich immer mehr als nicht ›realistisch‹, sondern ›ästhetisch‹ konstituiert. Wo diese Einsicht durchdringt – und das geschieht heute weithin –, da legt die Ästhetik den Charakter einer speziellen Disziplin ab und wird zu einem generellen Verstehensmedium für Wirklichkeit. (Welsch [1990], 7).

Dieser Satz könnte so, in etwas anderen Worten, auch im Frühwerk Rudolf Steiners stehen und man täte Steiner somit unrecht, wenn man in seiner nachhaltigen Anknüpfung an den deutschen Idealismus und in seiner Bewunderung für Schiller und Goethe nur ein nostalgisches und rückwärtsgewandtes Motiv erkennen würde, eine Flucht vor der Komplexität und Unsicherheit der Moderne oder, wie jüngst von Helmut Zander von Steiners Denken insgesamt behauptet hat, eine Abwehrreaktion gegen den Historismus. Vielmehr zeigt der Blick auf die gesellschaftlichen Praxisanwendungen seines Denkens oder auf die gegenwärtige Debatte um eine postmoderne Ästhetik (andere Beispiele ließen sich anführen), dass diese Anknüpfung enormes Zukunftspotential barg und dass Steiners Philosophie mittels dieser Anknüpfung in mancher Hinsicht vor 120 Jahren bereits ein Problembewusstsein für Fragen entwickelt hatte, welche das Gegenwartsbewusstsein sich gerade erst zu stellen beginnt. Wie also immer man sich zu Steiners philosophischen Texten im Einzelnen stellen mag; die Aktualität ihrer Fragestellungen und der von ihnen angebotenen Lösungsvorschläge lässt sich, trotz ihres Herauswachsens aus einem mittlerweile 200 Jahre alten Gedankenparadigma, kaum von der Hand weisen. Rudolf Steiner, so haben wir zur Kenntnis zu nehmen, ist auch als Philosoph ein Zeitgenosse, wenngleich das Bewusstsein dafür in der akademischen Welt bisher erst in Ansätzen entwickelt ist.

 

Genuine Philosophie oder Mystik im philosophischen Gewand?

Allerdings muss die Frage erhoben werden, ob es sich bei den Texten dieses Bandes oder zumindest bei der Philosophie der Freiheit, trotz Steiners dezidierter Anknüpfung an bestehende philosophische Traditionen und besonders an den deutschen Idealismus, und trotz der oben skizzierten Evidenz für die Aktualität seines Denkens, tatsächlich um Philosophie im akademischen Sinne des Wortes handelt, oder ob ihr Verfasser, der später als bedeutender Esoteriker und Begründer der Anthroposophie hervortrat, schon in diesen frühen Schriften das Philosophische vielleicht nur als äußere Form, als Mittel nutzte, um ein in Wirklichkeit mystisch-esoterisches Weltverständnis auszusprechen. Diese Frage ist keine von übelwollender Kritik an Steiners Texte herangetragene, sondern ihr Verfasser hat sie durch vielfache während seines Lebens gemachte Äußerungen selbst aufgeworfen. Und er tat dies nicht erst als gereifter Esoteriker im Rückblick auf die Schriften seiner vortheosophischen Lebensphase, sondern schon zur Zeit ihrer Abfassung. So heißt es in einem Brief Steiners an seine damalige Gesprächspartnerin Rosa Mayreder aus dem Jahr 1894:

Ich lehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint. Auch die Form der Gedanken. Eine lehrhafte Natur könnte die Sache erweitern. Ich vielleicht auch zu seiner Zeit. Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele zeigen. Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. Man muß selbst sehen, darüberzukommen. Stehenzubleiben und erst andern klar zu machen: wie sie am leichtesten darüberkommen, dazu brennt im Innern zu sehr die Sehnsucht nach dem Ziele. Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht, die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. [...] Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet. Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst, dass man da ist. Vielleicht ist aber überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen. (GA 39, 232 f.)

Solche und ähnliche Äußerungen Steiners werfen das Problem auf, ob es sich bei seinen philosophischen Texten tatsächlich um fachphilosophische Abhandlungen über das »Grundproblem der Erkenntnistheorie«, das Wesen von »Wahrheit und Wissenschaft« und die Frage nach der Willensfreiheit handelt oder nicht vielleicht eher um Erzählungen von persönlichem inneren Erleben während der Beschäftigung mit philosophischen Fragen, um eine »innere Biographie« des mit dem Erkenntnisproblem und der Freiheit ringenden Rudolf Steiner und somit um eine Art in Philosophie gekleidete Mystik.

Noch schwieriger wird das Verständnis unserer Texte dadurch, dass Steiner als gereifter Esoteriker im biographischen Rückblick weitere Deutungsmodelle angeboten hat. So erklärte er in der 1918 vorgelegten Neuauflage der Philosophie der Freiheit, nachdem er inzwischen gute 14 Jahre im Rahmen der theosophischen und dann der anthroposophischen Gesellschaft als Esoteriker und spiritueller Lehrer gewirkt hatte, seine Schrift zu einer theoretischen Grundlegung und Rechtfertigung jener höheren »sinnlichkeitsfreien« Erkenntnis, aus welcher seine späteren übersinnlichen Erkenntnisse hervorgegangen seien. »Denn«, so heißt es da, »in diesem Buche wird versucht, zu zeigen, daß richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist« (PF, 267). Und nicht nur zur theoretischen Grundlegung der »höheren Erkenntnis«, auch zu einem Anleitungs- und Übungsbuch für die praktische Ausbildung derselben wurde die Philosophie der Freiheit jetzt erklärt. »Vom lebendigen Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens«, so die Vorrede von 1918, »wird sich [...] naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt ergeben« (ebd.). Angesichts der Tatsache, dass Steiner von einer systematischen Methode zur Ausbildung »höherer« Erkenntnis jedoch erst ab 1904 (in Anknüpfung an Annie Besants theosophischen Erkenntnispfad) gesprochen hatte, erscheinen solche Aussagen problematisch und sind von der Kritik als retrospektive Umdeutung (Hartmut Traub), gar als Versuch der Verschleierung einer offensichtlichen Bekehrung des Philosophen Steiner zum Theosophen (Helmut Zander) gedeutet worden.

Steiner hingegen hat zeit seines Lebens die Anschauung vertreten, dass sein Wandel zum Esoteriker keinen prinzipiellen Neuansatz und schon gar nicht einen Bruch in seinen Anschauungen bedeute, sondern dass er als Philosoph wie auch als Theosoph und Anthroposoph stets eine einhaltliche Linie verfolgt habe, wenn auch mit Akzentverschiebungen und aus je verschiedenen Perspektiven mit unterschiedlichen Darstellungsweisen. 1904 schrieb er in seiner Theosophie von »zwei Wegen« zur Erlangung des in der Anthroposophie zum Ausdruck kommenden und ihr zugrundeliegenden höheren Wissens und stellte dabei den »Denkweg« der Philosophie der Freiheit gleichberechtigt neben den in seinen theosophischen bzw. anthroposophischen Schriften dargelegten »Meditationsweg«:

 

Wer noch auf einem anderen Wege [als auf dem der Meditation, C.C.] die hier dargestellten Wahrheiten suchen will, der findet einen solchen in meiner »Philosophie der Freiheit«. In verschiedener Art streben diese beiden Bücher nach dem gleichen Ziele. Zum Verständnis des einen ist das andere durchaus nicht notwendig, wenn auch für manchen gewiß förderlich. (TH, XIII)

 

Bruch oder Kontinuität? Zur Textentwicklung

der philosophischen Schriften

Die Kontinuitätsfrage stellt sich freilich nicht nur im Hinblick auf Steiners Entwicklung vom Philosophen zum Esoteriker, sondern wird auch von den philosophischen Texten als solchen aufgeworfen. Sowohl die Philosophie der Freiheit als auch ihre wesentlich schmalere Vorgängerschrift Wahrheit und Wissenschaft liegen in zwei jeweils deutlich voneinander abweichenden Fassungen vor. Letztere erblickte zuerst als Inauguraldissertation Steiners im Jahre 1891 das Licht der Welt unter dem Titel Die Grundfrage der Erkenntnistheorie, mit besonderer Rücksicht auf Fichte’s Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst. Die ein Jahr später herausgegebene Buchversion der Arbeit trug nicht nur einen gänzlich neuen Titel – Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit –, sondern wies auch eine neue Vorrede und eine hinzugefügte Schlussbetrachtung auf, in der Steiner einen ganz anderen Ton anschlug und inhaltlich weit über das zuvor Geschriebene hinausging. Vieles von dem, was Steiner während der Niederschrift offensichtlich bewegt hatte, was er aber seinem akademischen Prüfungskomitee anscheinend nicht hatte zumuten wollen, zeigte sich erst in dieser Buchausgabe. So wurde aus der erweiterten Neuauflage, obwohl der Dissertationstext weitgehend unverändert übernommen ist, in gewisser Hinsicht ein neues Buch mit einer ganz neuen Ausrichtung.

In der Philosophie der Freiheit hingegen musste Steiner sich in der Erstauflage keine formale Zurückhaltung auferlegen und schrieb ohne große Rücksicht auf akademische Normen und Vorgaben. Doch legte er knapp 25 Jahre später eine Neuausgabe vor, in welcher der Text des jungen freiheitsdurstigen Philosophen aus der rückblickend-saturierten Perspektive des mittlerweile beinahe sechzigjährigen und zu einem der führenden Esoteriker des Abendlandes herangereiften Anthroposophen revidiert, wesentlich erweitert und in mehreren inhaltlichen Fragen tiefgreifend nachjustiert wurde. Und so liegt auch diese gemeinhin als Steiners philosophisches Hauptwerk verstandene Schrift mit den Fassungen von 1894 und 1918 in zwei völlig verschiedenen Gestalten vor.

Bisher ist es weder innerhalb der akademischen Steinerforschung noch im binnenanthroposophischen Diskurs gelungen, die verschiedenen Phasen in Steiners geistiger Entwicklung und seine verschiedenen Selbsteinschätzungen zufriedenstellend miteinander zu vermitteln. In der inneranthroposophischen Literatur herrscht die Tendenz, entweder Steiners philosophisches Werk von seiner späteren esoterischen Selbstdeutung her zu verstehen, oder (allerdings viel seltener) vom philosophischen Frühwerk her die spätere Esoterik Steiners zu deuten. Dabei besteht die Gefahr, tiefgreifende Wandlungen in Steiners Denken auszublenden und ihn auf eine Rolle zu reduzieren: auf den »Goetheanisten«, den »Freiheitsphilosophen« und »Anarchisten«, den »Anthroposophen« oder gar den »Erneuerer des Christentums«. Die akademische Forschung hingegen neigt dazu, Steiners Selbstdeutungen allesamt in Frage zu stellen und seine Philosophie generell durch die Optik eines von außen an sein Werk herangebrachten Interpretationsparadigmas zu verstehen, statt es am Maßstab seiner eigenen methodischen und hermeneutischen Ansprüche zu messen. Solche Untersuchungen erweisen sich oft als blind für die bei allem Wandel deutlich wahrnehmbare Kontinuität und kommen zu der Diagnose von tiefgreifenden Brüchen, Konversionen und Widersprüchen, wo die Rede von Perspektivwechseln und Metamorphosen die Entwicklung Steiners vielleicht sachgemäßer beschreiben würde.

 

Die Aporie der Freiheit:

selbstbestimmtes Handeln oder geistige Führung?

Einher mit den Problemen der Einordnung und der inneren Kontinuität von Steiners philosophischen Schriften gehen tiefgreifende Ambivalenzen auf der inhaltlichen Ebene. Nur eine davon, die Aporität des steinerschen Freiheitsbegriffs, soll hier angesprochen werden. Freiheit wird bei Steiner nicht nur formal in zweifacher Weise verstanden, nämlich als Handlungsfreiheit im ethischen Sinne einerseits und bewusstseinsphilosophisch als Fähigkeit zu einem schöpferisch-produktiven Denken andererseits; sie wird auch inhaltlich auf zwei völlig unterschiedliche Weisen gefasst. So definiert sich der »freie Geist« einerseits dadurch, dass er sich »der Idee als Herr« gegenüberstellt, d. h. dass er die sein Handeln bestimmenden »Motive« und »Triebfedern« nicht nur passiv empfängt, sondern mittels »moralischer Phantasie« selbst schöpferisch hervorzubringen vermag. Dabei formuliert Steiner seine Position in Anknüpfung an Fichtes Begriff des menschlichen »Ich« als reiner sich selbst bestimmender Tätigkeit und in stark pointierter Abgrenzung zu Kant, in dessen Ethik der Mensch sich (nach Steiners Ansicht) einem von außen ihm vorgeschriebenen Sittengesetz zu unterwerfen habe. An anderen Stellen jedoch erscheint die Freiheit in ganz anderem Licht, indem Steiner behauptet, dass diejenigen Sittlichkeitsimpulse, die der Mensch im »intuitiven Denken« ergreift, eben nicht »erschaffen«, sondern aus einer über dem Individuellen liegenden Seinssphäre »entnommen« würden, nämlich – und damit positioniert sich Steiner in ganz ähnlicher Weise wie der von ihm oft als Gegenpol dargestellte Kant! – aus dem überindividuellen und transpersonalen Element des Denkens bzw. der praktischen Vernunft.

Beim Esoteriker Steiner öffnet sich diese Kluft sogar noch weiter, denn dieser scheute sich nicht, die menschliche Freiheit als Verwirklichung des Willens höherer, über dem Individuum stehender Mächte und Wesen zu charakterisieren. Der esoterische Steiner versteht zwar weiterhin die vom freien Menschen erzeugten Handlungsmotive als Erzeugnisse der produktiven Geistestätigkeit und der »moralischen Phantasie«, arbeitet aber jetzt mit einer erweiterten Epistemologie, die neben der Intuition auch »Imaginationen« und »Inspirationen« kennt. Von dieser ausgehend beschreibt er, wie im imaginativen und inspirierten Bewusstsein dem Menschen von »höheren Mächten« vor Augen geführt bzw. zugesprochen werde, was er in bestimmten Situationen zu tun habe bzw. was sein Karma von ihm verlange. Dabei verbildlicht die esoterische Rede allerdings oftmals nur das, was schon in der philosophischen Rede ausgesprochen oder zumindest angelegt war, wie die eingangs zitierte Äußerung Steiners aus dem Aufsatz Die Natur und ihre Ideale deutlich vor Augen führt: Schon 1886 soll der Wille des Menschen nach Steiner sein eigener sein, und zugleich derjenige des in ihm aufgegangenen bzw. aufgehenden Gottes.

Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenzen tauchen zwei zentrale Probleme der steinerschen Freiheitskonzeption auf. Zunächst wäre zu fragen, wie das freie Handeln einerseits auf dem »Erschaffen« individueller Handlungsmotive begründet und zugleich als ein »Erfassen« bzw. »Erkennen« von aus der Wesenheit des Denkens stammenden Intuitionsinhalten verstanden werden kann. Und zweitens ergibt sich das Problem, wie und ob der auf Autonomie und Ideenschöpfung begründete Freiheitsbegriff der Frühschriften mit den Darlegungen des Esoterikers Steiner zu vereinbaren ist, in denen Freiheit als Übereinstimmung des individuellen Wollens mit den Absichten »höherer Mächte« bzw. mit den in seinem Karma veranlagten Notwendigkeiten beschrieben wird. Die Frage wäre zu stellen, ob nicht der 1894 von Steiner gegenüber Kant erhobene Vorwurf, dessen Ethik sei heteronom und unterwerfe den Menschen einer »Stimme aus dem Jenseits«, nicht auch auf einige seiner eigenen Darstellungen nach 1904 und auf die Fassung der Philosophie der Freiheit von 1918 zutrifft.

Schon dieses erste Herantreten an die Texte dieses Bandes macht deutlich, dass die Philosophie Rudolf Steiners und insbesondere die Philosophie der Freiheit ein spannendes und faszinierendes Forschungsfeld darstellt, welches eine Reihe von grundlegenden und bisher von der Forschung weitgehend ungeklärten Fragen aufwirft. Je nachdem, aus welcher Perspektive man an sie herangeht, kann man einen philosophischen oder einen anthroposophisch-esoterischen Text darin sehen, ein Frühwerk oder eine Schrift des reifen Anthroposophen, das kaum beachtete Experiment eines gescheiterten Akademikers oder das vielgelesene Hauptwerk eines der einflussreichsten Gestalten des deutschsprachigen Kulturraums im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Man kann mittels dieser Texte Brüche und Konversionen in Steiners Entwicklung postulieren oder für die innere Kontinuität seines Gesamtwerks argumentieren. Und man kann die Philosophie der Freiheit entweder als unfruchtbares Nebengleis oder als Vorwegnahme hochaktueller Gegenwartsdebatten ansehen.

Diese vielfachen Perspektiven spiegeln sich in der gegenwärtigen Steinerforschung wieder, in der sich kritisch-akademische und anthroposophisch ausgerichtete Interpretationsversuche bisher weitgehend als disparate und unversöhnliche Lager gegenüberstehen, und in der auch die verschiedenen akademischen und anthroposophischen Deutungsansätze unter sich bisher keine zusammenhängende Forschungslandschaft darstellen, sondern mehr oder weniger isoliert und unvermittelt koexistieren. Manche anthroposophische Autoren sträuben sich nach wie vor dagegen, die Methoden der kritischen Textforschung auf die, wie sie meinen, »inspirierten« Texte des »Eingeweihten« Steiner anzuwenden; aber auch das ernsthafte Aufgreifen und kritische Auseinandersetzen mit der Interpretation eines anderen anthroposophischen Autors hat eher Seltenheitswert. Auf der anderen Seite haben akademische Deutungen oft Schwierigkeiten damit, Steiners Texte in ihrem wissenschaftsmethodischen Selbstverständnis und Anspruch ernstzunehmen. Entsprechend sind die Fragen nach dem Stellenwert der Philosophie der Freiheit und worum es in diesem Buch eigentlich geht, das Verhältnis des Philosophen Steiner zum späteren Theosophen und Anthroposophen, das Verhältnis der beiden Ausgaben der Philosophie der Freiheit von 1893/94 und von 1918 zueinander sowie die Frage nach Gestalt und Stellung von Steiners Freiheitsbegriff in seinem Gesamtwerk bis heute Gegenstand kontroverser und oft ideologisch geführter Auseinandersetzungen.

Es steht zu hoffen, dass es der künftigen Anthroposophieforschung gelingen wird, diese Situation zu überwinden und durch Vermittlung und Integration der verschiedenen Perspektiven zu einem differenzierteren und sachgemäßeren Steinerbild zu kommen oder doch zumindest ein geschärftes Methoden- und Problembewusstsein für die vielfachen mit seinen philosophischen Texten verbundenen Schwierigkeiten und Deutungsmöglichkeiten auszubilden. Die in diesem Band erstmalig vollständig vorgelegte kritische Edition der beiden philosophischen Hauptschriften Steiners mit sämtlichen Textvarianten und Entwicklungsstufen versteht sich als Anregung und Hilfsmittel zu einer erst in den Anfängen befindlichen Grundlagenforschung in dieser Richtung.

Rudolf Steiner und die Philosophie:

Stationen einer intellektuellen Biographie (1872–1902)

Als erster Schritt zu einer geistesgeschichtlichen Kontextualisierung der in diesem Band vorgelegten Texte soll im folgenden Abschnitt zunächst die philosophische Entwicklung Steiners von seiner Schulzeit bis zum Jahr 1902 skizzenhaft nachgezeichnet werden. Zwar hat Steiner sich auch danach noch mit philosophischen Texten auseinandergesetzt und sich auch schriftlich dazu geäußert, doch dann explizit aus Sicht des Theosophen bzw. Anthroposophen. Zeugnisse einer solchen esoterischen bzw., wie Steiner es nannte, geisteswissenschaftlichen Beleuchtung philosophischer Fragen sind etwa der Aufsatz Philosophie und Theosophie (1908), die Neuauflage der Schrift Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert, die 1914 unter dem Titel Die Rätsel der Philosophie herauskam, oder auch die Schriften der Jahre 1916 (Vom Menschenrätsel) und 1917 (Von Seelenrätseln). In diesen Texten versucht Steiner Schnittstellen herauszuarbeiten, an denen eine esoterisch-anthroposophische Betrachtung von Mensch und Welt sich mit traditioneller Philosophie und Wissenschaft begegnen kann. Aufgrund dieser Ausrichtung gehören sie aber eher zum anthroposophischen als zum philosophischen Werk Steiners und sollen, obwohl sie bisweilen für das Verständnis der Neuauflage der Philosophie der Freiheit mit heranzuziehen sind, in den entsprechenden Bänden der SKA eingehend dargestellt werden.

Um einen Überblick über die philosophische Entwicklung Steiners bis etwa 1902 zu geben, soll diese im Folgenden grob in fünf Zeitabschnitte unterteilt werden, ohne dass damit eine Periodisierung im strengen Sinne intendiert wäre. Während seiner Realschulzeit (1872–1879) fanden erste philosophische Gehübungen in der Auseinandersetzung mit Immanuel Kant und Johann Friedrich Herbart statt. Dann folgte die Studienzeit in Wien (1879–1882), welche ganz im Zeichen der Rezeption des deutschen Idealismus stand, wobei besonders Fichte und Schelling tiefe Spuren bei Steiner hinterlassen haben. In Franz Brentano begegnete er auch einem bedeutenden Vertreter des Neuaristotelismus, dessen Einfluss sich jedoch erst in der nachphilosophischen Zeit in Steiners Texten niederschlug. Während eines dritten Abschnitts, der mit dem Abbruch des Studiums begann, fand zunächst eine intensive Auseinandersetzung mit Goethe statt. Steiner gab, während er weiterhin in Wien lebte, im Rahmen der Deutschen National-Litteratur, eines editionsphilologischen Großprojekts von Joseph Kürschner, eine fünfbändige Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes samt Einleitungen heraus (1882–1890) und war dann im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar an der Herausgabe der so genannten Sophien-Ausgabe der goetheschen Werke beteiligt (1890–1897). Während dieses dritten Zeitabschnitts entstanden die Erstfassungen der in diesem Band herausgegebenen Schriften. In diesen zeigt sich, neben den bereits genannten Einflüssen, eine intensive Beschäftigung Steiners mit der Weltanschauung Eduard von Hartmanns sowie eine Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus.

Steiner empfand schon bald die mühsame Kleinarbeit der Goethe-Philologie als Last und erhoffte sich eine Laufbahn in freier philosophischer Lehrtätigkeit oder einen akademischen Lehrstuhl an einer Universität. Da trat als ein zentrales biographisches Ereignis die Philosophie Nietzsches in sein Leben. Dessen Schriften muss Steiner schon Ende der achtziger Jahre begegnet sein und in den neunziger Jahren verfasst er zu Nietzsche mehrere Aufsätze und eine Monographie: Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895). Der Einfluss Nietzsches kündigte sich stilistisch schon in der Buchfassung seiner Dissertation von 1892 und in der Philosophie der Freiheit von 1894 an, kam aber zur vollen Entfaltung erst in einem vierten Abschnitt philosophischer Entwicklung, der um 1897 einsetzte, als Steiner mit der Veröffentlichung der Monographie Goethes Weltanschauung seine philologische Arbeit mit Goethe und seine akademische Laufbahn insgesamt beendete. Nachdem sich die Pläne für eine universitäre Karriere zerschlagen hatten, war er nach Berlin umgesiedelt und versuchte, sich dort eine neue Existenz als freier Schriftsteller und Herausgeber literarischer Zeitschriften aufzubauen. Während dieser Zeit nahm sein Denken eine radikal individualistische, ja anarchistische Färbung an, worin sich der Einfluss nicht nur Nietzsches, sondern auch Max Stirners und John Henry Mackays wiederspiegelt. Zwar gab Steiner damals keine größere Schrift heraus, doch der Aufsatz Der Egoismus in der Philosophie aus dem Jahr 1899 sowie eine Vielzahl kürzerer Artikel und Rezensionen geben einen lebendigen Eindruck von dieser Phase seines Denkens. Neben Nietzsche und Stirner war in dieser Zeit aber auch die monistische Weltanschauung Haeckels und dessen auf alle Bereiche des Seins ausgedehntes Entwicklungdenken eine zentrale Inspiration für Steiner. Besonders das von Haeckel formulierte biogenetische Grundgesetz hatte auf den jungen Philosophen einen nachhaltigen Einfluss, der sich sowohl in seinem philosophischen wie in seinem esoterischen Denken zeigt.

Eine fünfte und für unseren Betrachtungsrahmen vorerst letzte Wegmarke in Steiners Auseinandersetzung mit der Philosophie findet sich dann in den Schriften von 1901 (Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens) und 1902 (Das Christentum als mystische Tatsache). In diesen Texten griff Steiner einerseits wieder verstärkt zurück auf seine idealistischen Inspiratoren – Fichte, Hegel und besonders Schelling – und entwickelte von deren Standpunkt aus die Grundzüge einer bewusstseinsphilosophischen Dastellung der abendländischen Geistesgeschichte als einer (in Anlehnung an Haeckels Begriff der Biogenese) »Ideogenese« der Selbsterkenntnis des Menschen; ein methodisches Konzept von Geisteswissenschaft, welches neben den Goethe-Schriften der achtziger und den philosophischen Texten der neunziger Jahre als eine dritte theoretische Grundlegung seines späteren esoterischen Denkens verstanden werden kann. Zugleich aber begab er sich in diesen Schriften auf das Feld der Mystik, der Religion und des antiken Mysterienwesens, wodurch seine Philosophie, in ähnlicher Weise wie knapp ein Jahrhundert zuvor das Werk Schellings, allmählich in eine theosophisch-esoterische Betrachtung des Menschen und der Welt überging. Nicht zufällig fällt daher in diese Zeit auch seine Annäherung an die Theosophische Gesellschaft, die er 1897 noch recht spöttisch abgekanzelt hatte, in die er aber nun 1902 eintrat, schnell zum Generalsekretär der deutschen Gesellschaft aufstieg und damit seine Laufbahn als Esoteriker und spiritueller Lehrer begann.

In der Zeit von 1904 bis 1918 widmete Steiner sich vor allem dem Ausbau seiner esoterischen Anschauungen, die allerdings in vieler Hinsicht als Reformulierung seiner philosophischen Überzeugungen im Gewande theosophischer Terminologie und Bildlichkeit aufgefasst werden können. Sowohl die Theosophie von 1904 wie auch die Geheimwissenschaft von 1910 können, wie in den entsprechenden Einleitungen zu SKA 6 und 8 gezeigt wird, als solche ideellen Metamorphosen angesehen werden. Dies ist freilich nicht im einseitigen Sinne einer bloßen Verbildlichung philosophischer Anschauungen durch esoterische Metaphern gemeint; diese Texte zeigen eine durchaus weitgehende Aufnahme und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem theosophischen Gedankengut, welches aber dann im Sinne von Steiners erkenntnistheoretischen und ontologischen Anschauungen der neunziger Jahre und gemäß der nach 1900 entwickelten ideogenetischen Methodologie als eine Phänomenologie der Erscheinung der Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein aufgefasst, methodisch neu durchgeformt und begrifflich umgestaltet wurde. In dieser wechselseitigen Spiegelung erfuhren sowohl das Philosophische wie das Theosophische in Steiner eine tiefgreifende Wandlung und Vertiefung und formten sich nach und nach zu seiner spezifisch anthroposophischen Wirklichkeitsauffassung. Ferner entwickelte Steiner in dieser Zeit eine Theorie von höheren Erkenntnisformen und verfasste Texte zur systematischen Schulung derselben (vgl. SKA 7), formulierte aber auch eine anthroposophische Erkenntnistheorie, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Schrift Von Seelenrätseln (1917) gefunden hat. In dieser wurde das menschliche Vorstellungsleben in ausgesprochen platonischer Weise als eine Form des Erinnerns an vorgeburtliche Erlebnisse der Seele beschrieben. Daneben machte Steiner mehrere Versuche, das Verhältnis seiner sich entwickelnden anthroposophischen Anschauungen zur Philosophie darzustellen. Dies sind vor allem die Aufsätze Philosophie und Theosophie (1909) und Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Theosophie (1911). – All diese Entwicklungen können hier nicht im Detail geschildert werden, müssen jedoch für ein sachgemäßes Verständnis der Neuauflage der Philosophie der Freiheit in Betracht gezogen werden. Denn hier blickt Steiner auf den begrifflichen Organismus der Freiheitsphilosophie von 1893/94 durch die Brille jener Wandlungen, welche seine Weltanschauung in den inzwischen vergangenen 25 Jahren durchlaufen hatte.

Im Folgenden soll also nur die philosophische Entwicklung Steiners bis etwa 1902 eingehender charakterisiert werden, indem chronologisch die Begegnung Steiners mit den verschiedenen Denkern und Denkrichtungen nachgezeichnet und dann in jedem Einzelfall ein kurzes Bild seiner Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Philosophen bis 1902 entworfen wird. Dabei sollen als Quellen vor allem Steiners eigene Texte aus der in Frage stehenden Zeit sowie sein eigener Lebensrückblick Mein Lebensgang aus den Jahren 1924 und 1925 dienen. Aus dieser doppelten Perspektive wird mit der folgenden Skizze der intellektuellen Entwicklung Steiners zugleich ein umrisshafter Überblick über die ideengeschichtlichen Kontexte gegeben, vor dessen Hintergrund dann Entstehung, Inhalt und Textentwicklung der beiden philosophischen Hauptschriften Steiners skizziert werden sollen. Ziel dieser Darstellung ist nicht, Steiner auf bestimmte Vorbilder festzulegen oder zu reduzieren oder seine Originalität mit Hilfe der »Strukturgitter philosophiegeschichtlicher Konstruktionen« (Hartmut Traub) einfangen zu wollen, sondern eine Skizzierung der Vielfalt jener philosophischen Anregungen, welche von Steiner aufgenommen wurden, bevor er mit den in diesem Band editierten Texten als Philosoph an die Öffentlichkeit trat.

 

Erkenntnisgrenzen und transzendentale Freiheit:

Kant und Herbart als erste philosophische Einflüsse

Wenn man Rudolf Steiners unvollendeter Autobiographie Mein Lebensgang folgt, begann seine Auseinandersetzung mit Kant und sein Weg in die Philosophie insgesamt schon während seiner Realschulzeit in Potschach, die er ab Herbst 1872 besuchte. Schon während der Schulzeit, so lesen wir da, sei der Knabe im Rahmen naturwissenschaftlicher und mathematischer Studien auf Kants Kritik der reinen Vernunft gestoßen, in die er sich in freien Stunden und während langweiliger Geschichtslektionen in der Schule vertieft habe. Mittels dieser Kant-Studien, in denen er sich freilich noch »ganz unkritisch« zu dem Königsberger Denker verhalten habe, glaubte der Knabe sich Klarheit über das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichen und mathematischen Denkweisen einerseits und religiösen Vorstellungen andererseits verschaffen zu können und auch überhaupt sich Rechenschaft über die menschliche Erkenntnisfähigkeit zu geben und »mit dem eigenen Denken zurecht zu kommen« (ML, 24). Kant wird ferner erwähnt in einem späteren Kapitel, in dem Steiner die Zeit nach seinem Realschulabschluss im Sommer 1879 und die ersten Monate seines Studiums an der technischen Hochschule in Wien darstellt. Anhand des Studiums der Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik habe er als junger Student eingesehen, dass »ein gründliches Eingehen auf alle die Fragen, die Kant in den Denkern angeregt hatte, für mich notwendig sei« (ebd.). Ferner werden aus dieser Zeit eingehende »erkenntnistheoretische Studien« erwähnt, in die Steiner durch Problemstellungen in seinen naturwissenschaftlichen Pflichtfächern »hineingedrängt« worden sei. So habe er sich zu dieser Zeit auch in den Neukantianismus eingelesen, wobei als eine Quelle die Fundamentalphilosophie Traugott Krugs namentlich genannt wird.

In Anbetracht dieser Selbstzeugnisse darf Kant wohl mit Recht als der erste philosophische Lehrmeister Steiners bezeichnet werden. Auch wenn Steiner sich später Fichte und Goethe, Eduard von Hartmann, Friedrich Nietzsche, Max Stirner und andern als maßgeblichen Leitfiguren zuwandte und sich in seinen Veröffentlichungen dezidiert als Gegenpol zu Kant positionierte, so blieb sein philosophisches Denken doch in vielen zentralen Aspekten den transzendentalphilosophischen und neukantianischen Paradigmen verpflichtet, welche der Königsberger Philosoph und seine Nachfolger entworfen hatten. Ähnlich wie vor ihm bei Fichte und beim frühen Schelling spielte sich auch Steiners philosophischer Versuch eines »Hinausgehens über Kant« weitgehend in einem Rahmen ab, der auf Kant bezogen blieb.

Die Bedeutung Kants für das steinersche Denken spiegelt sich in seinen Schriften überall wieder. Schon in seinen ersten Veröffentlichungen, den Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (ab 1882) und der Erstlingsschrift Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1883) wird immer wieder auf Kant rekurriert. Kant und die von diesem formulierte Theorie der Grenzen des menschlichen Erkennens figurieren hier als geistesgeschichtlicher Gegenpol zu Goethe, dessen Bedeutung in Steiners Augen vor allem darin lag, dass er sich für die prinzipielle Möglichkeit einer Erweiterung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit eingesetzt habe, dessen Grenzen Kant so rigoros abgesteckt hatte. Auch in mehreren Aufsätzen der folgenden Jahre widmete er sich entweder Kant direkt oder der von diesem aufgeworfenen Frage nach den Grenzen des menschlichen Erkennens. Daneben entwickelte sich in dieser Zeit ein lebhaftes Interesse an dem Neukantianer Johannes Volkelt, dessen methodisches Konzept einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie später Steiners Dissertationsthema maßgeblich beeinflussen sollte. – Ganz prominent figuriert Kant dann in Steiners Dissertation von 1891 als Vertreter einer Erkenntnistheorie, die dem von Volkelt und anderen Vertretern des Neukantianismus geforderten Kriterium der Voraussetzungslosigkeit nicht genüge und daher zu kritisieren sei. Die sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Kant verschärfte sich dann sehr schnell zum weltanschaulichen Kampf gegen den Kantianismus in der Buchfassung der Dissertation, Wahrheit und Wissenschaft (1892), und in der Philosophie der Freiheit (1894). Kant wurde jetzt als derjenige Denker gebrandmarkt, der in der Erkenntnistheorie einen unversöhnlichen Dualismus von »Phänomen« und »Ding an sich« sowie in der Moralphilosophie einen strikten Gegensatz zwischen »Pflicht« (Moralgesetz) und »Neigung« (egoistischem Wollen) in das moderne Denken eingeführt habe. Dieses negative Urteil wurde dann in Steiners späteren Schriften wie auch in den zahlreichen Erkursen zu Kant im Vortragswerk konsequent durchgehalten. Bis in die späten Vorträge Steiners finden sich Äußerungen wie »Kant ist vielfach schuld daran, dass die Menschen nicht aus dem Materialismus herausgekommen sind« (GA 353, 314), »Kant war im Grunde genommen eine Wissenschaftskrankheit« oder »diese Kantsche Lehre ist eben in Wirklichkeit ein großer Unsinn« (ebd., 240 u. 313).

Diese bis an sein Lebensende durchgehaltene Polemik gegen Kant steht jedoch in einer unübersehbaren Spannung zu dem großen Einfluss, den der Königsberger Philosoph sowohl auf Steiners eigenes Denken wie auch auch seine beiden philosophischen Lehrmeister Goethe und Fichte hatte. Sie reibt sich auch mit den gelegentlichen Zugeständnissen Steiners, dass Kant in seiner Analyse des gewöhnlichen Erkenntnisvermögens prinzipiell doch eigentlich Recht gehabt habe und dass sein wirklicher Gegensatz mit Kant letztlich nur darin bestehe, dass dieser eine Weiterentwicklung des menschlichen Bewusstseins über die Grenzen des gewöhnlichen Erkennens hinaus ausgeschlossen habe. Selbst als Steiner in seinen anthroposophischen Texten begann, die Frage nach der Bedeutung, Bewusstmachung und Überwindung von Erkenntnisgrenzen ins Zentrum der anthroposophischen Bewusstseinslehre und Erkenntnisschulung zu rücken, gab er Kant nicht die Ehre, die diesem gebührt hätte, obwohl ihm gerade die Problematik der Erkenntnisgrenzen in der Philosophie des Königsberger Philosophen zum ersten Mal in aller Schärfe entgegengetreten war. Steiner hat sich und seinen Lesern nur ganz selten eingestanden, dass sein Verständnis des Erkennens, zumindest des »gewöhnlichen« Erkennens, dem kantschen Modell im Grunde sehr nahe stand.

Ein zweiter Angelpunkt philosophischer Entwicklung während der Realschulzeit neben Kant – und zugleich eine erste Auseinandersetzung mit der Freiheitsfrage – findet sich in Mein Lebensgang im Kontext der Beschreibung des 15. Lebensjahres. Steiner berichtet hier von einem Lehrer, der als Vertreter der herbartschen Philosophie in der Schule bekannt gewesen sei. Da habe sich der jugendliche Steiner, um diesen zu beeindrucken, eine Einleitung in die Philosophie und eine Psychologie verschafft, »die beide vom Herbartschen philosophischen Gesichtspunkte aus geschrieben« gewesen seien, und habe nun in seine Aufsätze für diesen Lehrer immer wieder entsprechende Ideen und Gesichtspunkte einfließen lassen. Auf einen solchen Aufsatz habe ihn dann dieser Lehrer angesprochen: »Sie schreiben da etwas von psychologischer Freiheit; die gibt es ja gar nicht.« (ML, 28) Er, Steiner, habe erwidert: »Ich meine, das ist ein Irrtum, Herr Professor, die ›psychologische Freiheit‹ gibt es schon; es gibt nur keine ›transzendentale Freiheit‹ im gewöhnlichen Bewusstsein.« Interessant an dieser Episode für den gegenwärtigen Zusammenhang ist, dass Steiners erste philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema der Freiheit offenbar nicht im Kontext seiner Studien Kants oder Fichte stattfand, sondern im Rahmen herbartscher Vorstellungen. Bezeichnenderweise hat August Döhring später in seiner Rezension der Philosophie der Freiheit den steinerschen Freiheitsbegriff mit Herbart in Verbindung gebracht.

Als Fazit dieser ersten jugendhaften Periode philosophischer Entwicklung lässt sich also festhalten, dass Steiner von zwei Denkern in die Philosophie eingeführt wurde, von denen er sich später zeitlebens deutlich distanziert hat, obwohl er durch sie in nachhaltiger Weise beeinflusst worden ist. Trotz heftiger Polemik gegen Kant ist er dem kantschen Denken für lange Zeit und bis in seine philosophischen Hauptschriften hinein tief verpflichtet geblieben. Erst in der oben angedeuteten fünften Phase nach 1900, und besonders in den Schriften Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens (1901) und Das Christentum als mystische Tatsache (1902), ließ Steiner seine grundsätzliche Ausrichtung an kantischen und neukantianischen Fragestellungen und Denkfiguren hinter sich und bewegte sich auf ein neues philosophisches Paradigma zu, welches in Vielem an die schellingsche Spätphilosophie anknüpfte.

 

»Erweckung« durch den Idealismus:

Fichte, Schelling und Hegel

Ende des Sommers 1879, nach dem Abschluss der Realschule und dem Eintritt des nunmehr Achtzehnjährigen in die technische Hochschule in Wien, lernte Steiner in Fichte, Schelling und Hegel eine ganz neue philosophische Gedankenwelt kennen, die für ihn prägender werden sollte als seine bisherigen philosophischen Lehrer. In seinem Lebensbericht berichtet er von einem intensiven Studium Fichtes, Schellings und Hegels in der Zeit zwischen dem Realschulabschluss und dem Beginn des Studiums. Briefe aus dieser Zeit dokumentieren eine besonders emphatische und hochemotionale Identifikation mit Schelling und Fichte. Im Rahmen dieser Entdeckung des deutschen Idealismus schrieb Steiner nach eigenem Zeugis die Wissenschaftslehre des Letzteren Seite für Seite um, woraus dann »ein langes Manuskript« entstanden sei. Während des Studiums in Wien las Steiner weiterhin mit Begeisterung Fichte, etwa Über die Bestimmung des Gelehrten und Über das Wesen des Gelehrten, und auch in der Zeit nach Abbruch des Studiums, als er in die Arbeit mit Goethe eintauchte, ging die Auseinandersetzung mit Fichte weiter. Das zeigen etwa die vielfachen Hinweise auf den Philosophen in Steiners Texten aus dieser Zeit und natürlich die Tatsache, dass Steiner Fichte ins Zentrum seiner 1891 verfertigten Doktoraldissertation stellte. Hartmut Traub hat in seiner Arbeit detailliert gezeigt, wie der Einfluss Fichtes in den philosophischen Schriften buchstäblich auf jeder Seite in den Strukturen, Formulierungen und Argumentationen Steiners nachzuweisen ist. Am 30. November 1890 etwa schrieb Steiner an seinen Zögling Richard Specht und berichtete, eine Stelle von Fichte habe ihn am Morgen »geradezu in Entzückung versetzt«:

Die Liebe theilet das an sich todte Seyn gleichsam in ein zweimaliges Seyn, dasselbe vor sich selbst hinstellend, – und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut, und von sich weiss; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet. Wiederum vereiniget und verbindet innigst die Liebe das getheilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde. Diese letztere Einheit, in der dadurch nicht aufgehobenen, sondern ewig bleibenden Zweiheit, ist nun eben das Leben; wie jedem, der die aufgestellten Begriffe nur scharf denken und auseinander halten will, auf der Stelle einleuchten muss. Nun ist die Liebe ferner Zufriedenheit mit sich selbst, Freude an sich selbst, Genuss ihrer selbst, und also Seligkeit; und so ist klar, dass Leben, Liebe und Seligkeit schlechthin Eins sind und dasselbe. (SW V, 401 f.)

Die Passage macht deutlich, in welchem Umfang Steiner die zentrale Denkfigur seiner philosophischen Schriften bei Fichte vorformuliert fand: dass nämlich die verschiedenen Dualitäten, in welchen dem Menschen die Wirklichkeit entgegentritt, nicht in der Wirklichkeit selbst bestehen, sondern nur im und durch das menschliche Bewusstsein, und dass deshalb diese Gegensätze durch das Erkennen und im praktischen Tun auch vom Menschen wieder vereinigt werden können. Und wie Fichte im obigen Text beschreibt auch Steiner in der Philosophie der Freiheit die Liebe als diejenige Kraft, welche hinter dieser Vereinigung der Wirklichkeit mit sich selbst im denkenden und handelnden Menschen steht. Ferner heißt es bei Steiner ganz ähnlich wie hier bei Fichte: »Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott« (PF, 260). Steiner bekennt denn auch geradeheraus, dass seine ›Entzückung‹ über Fichtes Formulierungen seinen Grund darin hatte, dass er hier die Grundgedanken seiner eigenen Philosophie ausgesprochen fand.

Während diese und andere Dokumente aus den achtziger Jahren Zeugnis davon ablegen, wie tief der Einfluss Fichtes auf Steiner und wie weitgehend die persönliche Identifizierung war, finden sich in den eigentlich philosophischen Schriften des folgenden Jahrzehnts fast nur kritische Bemerkungen über sein früheres Idol. So heißt es im zweiten Band der Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1887), Fichte habe weniger deutlich als Goethe seine erkenntnistheoretischen Überlegungen in eine »Lehre von der Bedeutung und Bestimmung des Menschen« überführt. Zudem wird er als Repräsentant eines »falschen« bzw. eines »einseitigen« Idealismus kritisiert. In den Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886) spricht Steiner gar den fichteschen Überlegungen zur Tätigkeit des Ich den fundamentalphilosophischen Anspruch ab und verweist sie in den Bereich der Psychologie. Und während die Auseinandersetzung in der Dissertation von 1891 dann relativ sachlich und nuanciert ausfällt, hat Steiner in seinem philosophischen Hauptwerk über Fichte nur einige wenige Bemerkungen übrig, die allesamt extrem vereinfachend, einseitig und abwertend sind. Erst in dem Aufsatz Der Egoismus in der Philosophie und dann ganz deutlich in der Schrift Lebens- und Weltanschauungen im neunzehnten Jahrhundert ändert sich diese Tendenz deutlich. Fichte erscheint jetzt nicht mehr als der extreme und einseitige Spiritualist, sondern als der »große Philosoph der abendländischen Gedankenentwicklung, der in unmittelbarer Weise auf eine Erkenntnis des menschlichen Selbstbewusstseins ausging« und der als erster »das klare, scharfe Bewusstsein« davon gehabt habe, dass »nirgends in der Welt ein Wesen zu entdecken ist, von dem das Ich abgeleitet werden könnte« (GA 30, 135). Damit sei er eigentlich der Entdecker des modernen Selbstbewusstseins gewesen. Allerdings, fährt Steiner fort, habe Fichte »in seinem späteren Leben sein auf sich gestelltes, absolutes Ich wieder in den äußeren Gott zurückverwandelt und dadurch der aus der menschlichen Schwäche stammenden Selbstentäußerung die wahre Selbsterkenntnis, zu der er so wichtige Schritte getan, zum Opfer gebracht« (ebd., 138). In anderen Worten: der frühe Fichte wird als Heros der Entwicklung zum radikalen Individualismus gedeutet, während der späte Fichte hinter die freiheitlich-emanzipatorischen Errungenschaften seiner Jugend zurückgefallen sei und sich wieder traditionellen religiösen Vorstellungen angenähert habe – eine damals übrigens weitverbreitete Ansicht, die sich auch in der von Steiner damals gelesenen Philosophiegeschichte des Herbertianers Christfried Albert Thilos findet.

In den zur Jahrhundertwende erscheinenden Lebens- und Weltanschauungen ist Steiners Ton wieder etwas ruhiger und sachlicher geworden und findet eine Mitte zwischen der emphatischen Begeisterung für Fichte um 1879 und seiner distanziert-kritischen Darstellung dieses Denkers in der Philosophie der Freiheit. Zwar wird Fichte weiterhin unterstellt, dass in seiner Philosophie »die Welt außer dem ›Ich‹ ihr selbständiges Dasein verloren« habe (RP I, 115), aber immerhin schildert er diese Ansicht jetzt ausführlicher, belegt sie mit Zitaten und versucht Fichte insgesamt wohlwollend von seinem eigenen Standpunkt aus zu verstehen. Und in der Revision der Schrift von 1914 wertet er Fichte sogar zum Repräsentanten eines welthistorischen Wandels auf, der in der menschlichen Bewusstseinsgeschichte vom bloßen »Ich-Gedanken« zum »Ich-Erleben« geführt habe. »In Fichtes Weltanschauung«, lesen wir da, »wird der Gedanke zum Ich-Erlebnis, wie in den griechischen Denkern das Bild zum Gedanken wurde« (ebd., 120). In seinen theosophischen und anthroposophischen Schriften nach 1904 hat Steiner dann Fichte, wie so manchen anderen seiner früheren philosophischen Inspiratoren (einschließlich Schelling und Hegel), zu einem Vorläufer der modernen Theosophie erklärt, ja stellenweise sogar verlauten lassen, Fichte sei in seinem Spätwerk »zu der reinen Theosophie gekommen« (GA 52, 118).

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Neben Fichte hat besonders Schelling einen nachhaltigen Einfluss auf die philosophische Entwicklung Steiners während seiner Studienzeit gehabt. Dieser begann spätestens 1881, denn aus diesem Jahr ist ein Brief des jungen Studenten an seinen Jugendfreund Köck überliefert, der auf emotionale Weise eine tiefe Faszination mit Schelling zum Ausdruck bringt. Emphatisch berichtet Steiner von seiner Lektüre der Schellingschen Schrift Philosophische Briefen über Kriticismus und Dogmatismus (1795/96):

[…] mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ›Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.‹ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst –; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund! (GA 38, 13)

Abgesehen von diesem Brief gibt es weitere Zeugnisse für ein frühes Studium Schellings bei Steiner. Die Autobiographie spricht bereits für die Sommermonate des Jahres 1879 von »ausgedehnten philosophischen Studien« über Schelling. Welche Texte er las und welche Ideen ihn besonders anregten, verrät Steiner hier nicht, lässt aber durchblicken, dass die bereits erwähnte Philosophiegeschichte Albert Thilos ein zentraler Bezugspunkt seines Studiums war. Auch in der Zeit nach 1884, während der Steiner an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes arbeitete, finden sich immer wieder Hinweise auf Schelling. Besonders der frühe Schelling wird hier als Nachfolger und radikaler Weiterdenker der fichteschen Ich-Philosophie, aber auch als tiefschürfender Naturphilosoph gepriesen, dessen Vorstellungen zur Natur Goethe tief beeindruckt und beeinflusst hätten. Der späte Schelling hingegen wird gering geachtet als ein Denker, der wie Fichte im Alter in bestimmte dogmatische Positionen zurückgefallen sei, die er in seinen früheren Schriften bereits überwunden hatte. Ferner moniert Steiner, dass der späte Schelling postuliert habe, »daß wir einen positiven Weltinhalt haben können, ohne die Überzeugung, daß er existiere, und daß wir dieses Daß erst durch höhere Erfahrung gewinnen müssen« (EG, 135) Diese Berufung Schellings auf die Notwendigkeit einer »höheren Erfahrung« findet er so »unbegreiflich«, dass er sie sich nicht anders erklären kann, als das Schelling »in seiner späteren Zeit den Standpunkt seiner Jugend […] selbst nicht mehr verstanden« habe (ebd.).

Ein weiterer interessanter Aspekt der frühen Schelling-Rezeption Steiners ist der Aufsatz Goethe als Vater einer neuen Ästhetik aus dem Jahre 1889. Steiner wirft hier die schellingschen Anschauungen über Kunst und Schönheit recht pauschal in einen Topf mit den hegelschen und unterzieht dann diese hegel-schellingsche Ästhetik einer scharfen Kritik. Es sei nämlich, so Steiner, in Friederich Schillers ästhetischen Briefen die idealistische Ästhetik mit dem Begriff des »schönen Scheins« auf einen Höhepunkt geführt worden, von dem aus Schelling und Hegel dann wieder zurückgefallen seien auf einen »platonisierenden« Standpunkt, welchen es mit Hilfe Goethes zu überwinden gelte.

Trotz dieser intensiven Auseinandersetzung mit Schelling in den Jahren 1879 bis 1886 setzte Steiner sich in seinen philosophischen Hauptwerken kaum mit ihm auseinander. Über einige en passant gemachte Bemerkungen über den »kühnen Naturphilosophen«, nach dem das Naturerkennen ein Naturschaffen sei, ging es nicht hinaus. Wie schon im Fall von Fichte ist auch hier wieder der Kontrast bemerkenswert, der besteht zwischen der frühen Begeisterung für Schelling während der Jugendzeit, und der weitgehenden Ignorierung dieses Denkers in seinen philosophischen Texten. Denn wie bei Fichte lassen sich auch im Zusammenhang mit Schelling tiefe Einflüsse, vor allem seines identitätsphilosophischen Denkens, auf Inhalt und Konzeption der Philosophie der Freiheit nachweisen.

Das Schema einer Bewunderung für den jungen und einer Abwertung des späten Schelling hält auch in den kommenden Jahren an und lässt sich etwa in Goethes Weltanschauung von 1897 und in dem Aufsatz Der Egoismus in der Philosophie von 1899 nachweisen. Dann aber vollzieht sich auch hier eine Wandlung, wie sie schon in Steiners Fichte-Deutung zu beobachten war. Denn schon ein Jahr später, also im Jahr 1900 in den Lebens- und Weltanschauungen, gibt er urplötzlich dieses lange verwendete Deutungsmuster auf. Zwar grenzt er sich im Vorwort weiterhin generell von Schelling ab, bewertet aber nun auf einmal die Spätphilosophie Schellings ausgesprochen positiv. Ja, der »späte« Schelling wird sogar in mancher Hinsicht als der »tiefere« und »bedeutendere« charakterisiert. Ausführlich geht Steiner auf die Böhme-Rezeption Schellings ein und schildert einfühlsam dessen allmählichen Übergang von der bloß »negativen« Philosophie zur »positiven« Philosophie oder Theosophie. Und Schellings Hinweis auf die Notwendigkeit einer »höheren Erfahrung«, den der frühe Steiner so »unbegreiflich« gefunden hatte, zeichnet diesen Denker jetzt als besonders tiefschürfenden Geist aus.

Ein weiterer Aspekt, den Steiner in der Darstellung von 1900 an der Spätphilosophie Schellings faszinierte, war dessen Verfahren der Vermittlung philosophischer Positionen durch Bilder und Theoreme aus der esoterischen Tradition. Dies ist angesichts der Tatsache, dass dieses Vorgehen nach der Jahrhundertwende zu einem Charakteristikum seiner eigenen Texte wurde, von besonderem Interesse für das Verständnis der steinerschen Esoterik. Vor allem in der Mystik-Schrift von 1901 ist es das zentrale Gestaltungsprinzip der Darstellung; man kann das Buch gewissermaßen als einen durchlaufenden Kommentar zur Philosophie der Freiheit mittels ausgewählter Äußerungen europäischer Mystiker von Meister Eckhart bis Angelus Silesius lesen. Eben jene Mystik und jene Esoterik, gegenüber denen Steiner in den achtziger Jahren noch ein tiefes Unbehagen empfunden hatte, sind nun nicht nur akzeptiert, sondern werden als stilistisches Mittel, als Medium der Darstellung des eigenen Idealismus genutzt. – Schelling selbst hingegen wird von Steiner seit dieser Zeit nicht mehr ausschließlich als Philosoph gesehen, sondern wie Fichte als Vertreter einer philosophischen Theosophie charakterisiert. Schelling gehöre, so Steiner in einer Besprechung aus dem Jahre 1904, »zu den tiefsten Geistern des deutschen Volkes«, von dem »jeder unsäglich viel lernen« könne; insbesondere aber für »den Theosophen« sei in Schellings späten Texten »unendlich viel […] wirkliche Weisheit zu finden«.

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Neben Fichte und Schelling wurde auch Hegel ein wichtiger innerer Gesprächspartner Steiners während seiner Studienzeit in Wien. In seiner Autobiographie schildert Steiner, dass er sich um 1879 anhand von Sekundärliteratur zu einem ersten Verständnis Hegels »durchgerungen« habe. In den darauffolgenden Jahren sei ihm Hegel dann zunehmend wichtiger geworden als Vorbild eines organischen und von innerer Gesetzmäßigkeit gehaltenen Denkens, welches mit Sicherheit »von Gedanke zu Gedanke fortschreitet«, obwohl dieser Philosoph andererseits »nur zu einer Gedankenwelt, wenn auch zu einer lebendigen«, vorgedrungen sei, nicht aber zu einer »Anschauung einer konkreten Geisteswelt«. Dieses Doppelmotiv findet sich auch in den Äußerungen zu Hegel in Steiners frühen Texten. Steiner spricht da einerseits von der inneren »Gediegenheit und Vollkommenheit des Denkens in dem wissenschaftlichen Systeme Hegels«, von der organisch-lebendigen Natur des hegelschen Philosophierens und von dem absoluten »Vertrauen auf das Denken« (GE, 33), welches einem in Hegel entgegetrete, rügt aber zugleich die »reinen Begriffskonstruktionen« Hegels gegenüber dem lebendigen Denken Goethes (EG, 193). Und auch von seinem eigenen Denken versichert er, dass es zwar am Idealismus festhalte, aber bei der Betrachtung der Entwicklung des Idealen in der Welt »nicht die dialektische Methode Hegels« zugrunde lege, »sondern einen geläuterten, höhern Empirismus« (EG, 94). Und zu dieser Parteinahme für Goethe gegen Hegel fügt er dann noch eine Versicherung seiner Unabhängigkeit gegenüber beiden: »Der Herausgeber dieser Schriften ist zu seiner Weltansicht nicht allein durch das Studium Goethes oder etwa gar des Hegelianismus gekommen. Er ging von der mechanisch-naturalistischen Weltauffassung aus, erkannte aber, dass bei intensivem Denken dabei nicht stehen geblieben werden kann« (EG, 95). Trotz dieser Entgegensetzung von Hegel und Goethe verstand Steiner nichtsdestoweniger die Philosophie des Ersteren aber doch als den vollkommensten Ausdruck der Naturanschauung des Letzteren, wobei beide sich gegenseitig befruchtet und bedingt hätten. Nur Hegel und einige seiner Schüler, so Steiner, hätten Goethe »wirklich verstanden«, und umgekehrt sei Goethe »ohne [...] Hegel nicht denkbar« gewesen. (EG, 219)

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die philosophischen Schriften der neunziger Jahre, so lässt sich auch hier wieder das völlige Ausbleiben einer näheren Auseinandersetzung mit Hegel konstatieren, die man doch aufgrund der oben skizzierten Vorgeschichte durchaus hätte erwarten können. In Wahrheit und Wissenschaft wird Hegel nur ganz allgemein als Vertreter des deutschen Idealismus mit Fichte und Schelling erwähnt (WW, VIII f.), während die hegelsche »objective Weltdialectik« nur en passant als Gegenfolie zur Steiners subjektiver Erkenntnisdialektik angeführt wird (WW, 2). Und auch in der Philosophie der Freiheit wird der große Systemdenker nur zwei Mal im Vorübergehen erwähnt (PF, 24 u. 58), ohne dass eine nähere Würdigung oder gar Auseinandersetzung stattfindet. Erst in späteren Texten hat Steiner die enge Verwandschaft seines eigenen philosophischem Denken mit demjenigen Hegels offen thematisiert. Im Kapitel zu Hegel in den Lebens- und Weltanschauungen im neunzehnten Jahrhundert verschmelzen steinersche und hegelsche Anschauungen so vollkommen, wie in den Texten der achtziger Jahre diejenigen Steiners und Goethes. Viele seiner inhaltlichen Referate von Hegels Gedanken könnten genauso in der Philosophie der Freiheit als Ausdruck seines eigenen Denkens stehen. Und während auf diese Weise Hegel ab 1900 in Steiners Texten als philosophischer Seelenverwandter erscheint, spricht er nunmehr in geschlossenen wie auch in öffentlichen Vorträgen zunehmend vom »philosophischen Theosophen Hegel«.

Steiners Umgang mit den drei großen Denkern des deutschen Idealismus weist somit ein deutliches Schema auf. Alle drei haben einen tiefgehenden Einfluss auf Rudolf Steiner während seiner Studienzeit ausgeübt, indem jeder von ihnen auf seine Weise dem jungen Studenten eine Möglichkeit bot, seine eigenen Anschauungen und Erlebnisse in Begriffe zu fassen und sich so mit sich und anderen darüber zu verständigen. In den achtziger Jahren wurden dann alle drei Idealisten, auf je unterschiedliche Art, aus der Perspektive der von Steiner damals ausgebildeten »Goethe-Schillerschen Weltanschauung« interpretiert, bewertet und in eine mehr oder weniger große Nähe zu Goethe gerückt. In den neunziger Jahren hingegen schwieg Steiner sich über seine tiefe Verpflichtung gegenüber seinen idealistischen Lehrmeistern weitgehend aus; besonders in der Philosophie der Freiheit wird der profunde Einfluss Fichtes, Schellings und Hegels auf die eigene Entwicklung kaum thematisiert. Statt dessen fungieren diese Denker, was allerdings in der philosophischen Literatur dieser Zeit gang und gäbe war, als bloße weltanschauliche Wegmarken, deren Steiner sich bedient, um seine eigene Position darzustellen. Nach der Jahrhundertwende hingegen treten die philosophischen Lehrmeister wieder in den Vordergrund und gelten Steiner nun als Vertreter einer Theosophie im philosophischen Gewand, die seine eigene Auffassung von Theosophie legitimieren sollen.

                                                             

Die Ausbildung der ›goethe-schillerschen Weltanschauung‹

Johann Wolfgang von Goethe galt in der Steinerforschung lange Zeit als zentrale geistig-intellektuelle Referenzfigur Rudolf Steiners. Und das nicht ohne Grund, denn Steiner hat sich sein Leben lang intensiv mit dessen naturwissenschaftlichem und künstlerischem Werk beschäftigt. Dem Philosophen Steiner war Goethe »der Kopernikus und Kepler der organischen Welt«, der den Weg gefunden hatte, über das Lebendige so umfassend und angemessen zu denken, wie ein Newton über die unorganische Welt. Dem Theosophen und Anthroposophen Steiner hingegen war Goethe ein Wegbereiter der modernen Theosophie, in dessen Versuch einer Synthese von Kunst, Religion und Wissenschaft er den Ausdruck tiefer esoterischer Einsichten sah. Steiners dramatisches und sprachkünstlerisches Schaffen wuchs aus der Beschäftigung mit Goethe ebenso heraus wie zentrale Elemente seiner Esoterik. Und auch das physische Zentrum der anthroposophischen Bewegung, das Goetheanum in Dornach, sowie der naturwissenschaftlich-anthroposophische Ansatz des »Goetheanismus« sind nach ihm benannt.

Während also die Bedeutung Goethes für Steiners Lebenswerk insgesamt unbestreitbar ist, wird in der jüngeren Steinerforschung zunehmend darauf hingewiesen, dass Goethe für das philosophische Denken Steiners wohl nicht jene zentrale Bedeutung hatte, die man ihm lange zuschrieb. Lange Zeit wurde nicht hinreichend wahrgenommen, dass zu der Zeit, als Goethe gegen 1880 in den geistigen Horizont Steiners trat, dieser durch seine Auseinandersetzung mit Kant und Herbart und mehr noch durch Schelling, Hegel und vor allem Fichte geistig bereits tief geprägt worden war und eine dezidiert idealistische Weltanschauung ausgebildet hatte. Wesentliche Grundzüge seiner Philosophie brachte Steiner also bereits mit, als er um 1883 an die Herausgabe der goetheschen Texte heranging und aus dieser idealistischen Perspektive heraus Goethes naturwissenschaftliche Schriften interpretierte. Dies muss im Auge behalten werden, wenn im Folgenden einige der zentralen Gesichtspunkte referiert werden, in denen sich Steiners philosophische Ansichten tatsächlich mit grundlegenden Vorstellungen Goethes decken.

Herangeführt an Goethe wurde Steiner durch den bereits erwähnten Literaturprofessor Karl Julius Schröer, der zu der hier in Frage kommenden Zeit die Rolle eines väterlichen Beraters und Freundes gegenüber dem jungen Studenten einnahm. Steiner besuchte ihn zu Hause, nahm an Familienereignissen teil und wurde zu einer Art Protegé Schröers. Angeregt von ihm wollte Steiner nun, wie es in Mein Lebensgang heißt,

durch eine innere Notwendigkeit getrieben, Goethes naturwissenschaftliche Schriften in allen Einzelheiten durcharbeiten. Ich dachte zunächst nicht daran, eine Erklärung dieser Schriften zu versuchen, wie ich sie dann bald in den Einleitungen zu denselben in ›Kürschners Deutscher Nationalliteratur‹ veröffentlicht habe. Ich dachte vielmehr daran, irgendein Gebiet der Naturwissenschaft selbständig so darzustellen, wie mir diese Wissenschaft nun als ›geistgemäß‹ vorschwebte. (ML, 67)

Diese Äußerung bestätigt, dass auch Steiner selbst, zumindest im biographischen Rückblick, Goethe nicht primär als Anreger der eigenen philosophischen Gedankenbildung betrachtete, sondern dass ihn der goethesche Versuch faszinierte, ausgehend von einer idealistischen Weltanschauung den Anschluss an das naturwissenschaftliche Denken zu finden. Eine solche idealistische Weltanschauung hatte ja auch er selbst in Auseinandersetzung mit Fichte, Schelling und Hegel in Ansätzen bereits ausgebildet. Aber diesen philosophischen Vorbildern war nicht gelungen, was Goethe nach Steiners Auffassung erfolgreich vollbracht hatte: nämlich Naturforschung auf eine Art und Weise zu betreiben, die einerseits auf einer idealistischen Weltanschauung beruhte und deren konkrete Ergebnisse sich andererseits an denen der bestehenden positivistischen Naturwissenschaften messen lassen, ja mit ihnen konkurrieren konnten. So wie Goethe an die Farbenlehre oder die Botanik herangegangen war und damit eine ernstzunehmende Alternative zu Newton und Linné in die Welt gestellt hatte, so sollte nach Steiner die Wissenschaft insgesamt an die organische Natur herangehen.

Als Schröer seinen Schüler dann 1882 als Herausgeber für eine historisch-kritische Edition der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes innerhalb der von Joseph Kürschner veranstalteten Sammlung Deutsche National-Litteratur vorschlug, kam es zu einer kleinen Sensation: Der 21-jährige Student ohne Abschluss und ohne jede Editionserfahrung wurde tatsächlich mit der Aufgabe betraut und trat als völlig unerfahrener Neuling dem von Kürschner versammelten Kreis von arrivierten und angesehenen Gelehrten und Goetheforschern bei. Zunächst erfüllte Steiner die an ihn gestellten hohen Erwartungen und der erste Band wurde überwiegend positiv aufgenommen. Aber je weiter die Edition voranschritt, desto deutlicher funktionalisierte Steiner seine Einleitungen zum Medium der Ausformulierung seiner eigenen philosophischen Anschauungen um, in der Goethe selbst zunehmend in den Hintergrund tritt. So weist etwa die letzte Einleitung von 1897 kaum noch Goethe-Zitate oder Hinweise auf die Sekundärliteratur auf und der sachlich-deskriptive Stil weicht einem apodiktischen und apologetischen Gestus, der sich grundlegend von dem der ersten beiden Einleitungen unterscheidet. Auch zog sich die Arbeit länger hin als geplant; während zunächst ein Band pro Jahr vorgesehen war, kamen die Folgebände erst 1887, 1890 und dann 1897 heraus. Beides wurde sowohl von Kürschner wie auch von der Kritik bemerkt und beklagt.

Zwischen dem ersten Band der Kürschner-Ausgabe von 1884 und dem zweiten von 1887 unternahm Steiner zudem den Versuch, die dem naturwissenschaftlichen Denken Goethes zugrundeliegenden Prinzipien zu extrahieren und in die Form eines philosophischen Systems zu bringen. Diese Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung erschienen als Steiners erste selbständige Veröffentlichung im Jahr 1886. Mit diesen drei Arbeiten erwarb sich Steiner immerhin so viel Anerkennung in der akademischen Welt, dass er 1890 von Bernhard Suphan als Mitarbeiter an das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar berufen wurde, um dort an der Herausgabe der Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mitzuwirken. Diese Aufgabe ging er nun parallel zur Arbeit an der immer noch nicht abgeschlossenen Kürschner-Ausgabe nach und übernahm die Betreuung der Bände 6, 7 und 9 bis 12 der Sophien-Ausgabe mit den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, welche zwischen 1891 und 1896 herauskamen. Anders aber als bei der Kürschner-Ausgabe, für die Steiner vor allem die Einleitungen und Kommentare zu besorgen hatte und sich dabei schriftstellerisch relativ frei entfalten konnte, bestand die Arbeit am Weimarer Archiv zu einem großen Teil aus philologischer Kleinarbeit, welche Steiner zunehmend frustrierte und belastete. Daher suchte er schon bald nach beruflichen Alternativen und seine Promotion zum Doktor der Philosophie, seine Dissertation von 1891, seine Philosophie der Freiheit von 1893/94 wie auch sein Buch über Nietzsche sowie seine Bemühungen, als Mitarbeiter oder gar Herausgeber an das Nietzsche-Archiv in Weimar berufen zu werden, können als Versuche gesehen werden, die zermürbende Arbeit im Goethe-und-Schiller-Archiv hinter sich zu lassen.

Zu einer Art Abschluss der Beschäftigung mit Goethe kam es dann im Jahr 1897. Steiner hatte im Vorjahr den letzten der von ihm betreuten Bände der Sophien-Ausgabe abgeschlossen, und konnte nun auch die lange ausstehenden letzten Bände der Kürschner-Edition endlich abliefern. Zudem veröffentlichte er die Monographie Goethes Weltanschauung, in der er seine Anschauungen über Goethe noch einmal zusammenfasste, aber auch neue Wege der Interpretation einschlug und in mancher Hinsicht sogar mit Goethe brach. Wie schon die letzten Einleitungen der Kürschner-Ausgabe war auch dieses Buch weniger eine sachlich-distanzierte Darstellung Goethes, sondern über weite Strecken eine Darlegung der steinerschen Weltanschauung, illustriert am Beispiel Goethes – aber teilweise jetzt eben auch in Abgrenzung zu diesem.

Die Jahre nach 1897 stellen eine Unterbrechung der Auseinandersetzung mit Goethe dar. Steiner beschäftigte sich jetzt mit anderen Leitfiguren, deren Denken eine stärkere Affinität zu seinem in der Philosophie der Freiheit formulierten ethischen Individualismus hatten: mit Friedrich Nietzsche etwa, sowie mit Max Stirner und John Henry Mackay. Doch nach Steiners Hinwendung zur Theosophie um das Jahr 1902 tritt Goethe wieder ganz prominent in seinen Veröffentlichungen und Vorträgen auf und wird in die nun zunehmend sich ausbildende esoterische Weltanschauung Steiners integriert. Steiner hält seinen nach eigener Aussage »ersten wirklich esoterischen Vortrag« über Goethes Märchen, das er später als zentrale Inspirationsquelle seiner eigenen Esoterik charakterisierte und seinem ersten Mysteriendrama von 1910 zugrundelegte. Ferner charakterisiert er Goethe in den folgenden Jahren zunehmend als einen »Eingeweihten«, dessen Autorität nun die steinersche Esoterik verbürgt. Ähnlich ist Steiner, wie bereits angedeutet, auch mit anderen seiner früheren Inspiratoren von Fichte bis Hegel umgegangen.

Im Zentrum von Steiners Goethe-Deutung in der ersten Einleitung von 1884 steht dessen Begriff der »Idee« eines Wesens, welches »in beständiger Veränderung begriffen ist und dabei doch immer identisch bleibt«. Eine solche goethesche Idee ist, nach Steiner, »eine ideelle, typische Form, die als solche selbst nicht sinnenfällig wirklich ist«, sich aber »in einer unendlichen Menge« von Formen und Gestaltungen innerhalb der Natur, vom anorganischen bis herauf zum Menschen manifestiert. Beispiele solcher goetheschen »Ideen« sind nach Steiner die »Urphänomene«, also etwa die »Urpflanze« oder der den Tierformen zugrundeliegende »Typus«. Die Idee stiftet also Einheit in der Vielfalt der Gestaltungen, insofern »der Idee nach alle Organismen gleich, nur der Erscheinung nach verschieden sind«.

1887 ging Steiner dann über diese konkret-phänomenologische Deutung der goetheschen Ideenlehre hinaus und interpretierte die goethesche »Idee« im umfassenden Sinn als Ausdruck für jenes Absolute und Ganze, welches er später in der Philosophie der Freiheit als »Denken« bezeichnete und in späteren theosophischen und anthroposophischen Schriften den »Geist« nannte:

In der [goetheschen, C.C.] Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles übrige herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophie das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, aufgrund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee. (EG, 121)

Dem Menschen jedoch stelle sich nach Goethe, so Steiner weiter, die Idee zunächst nicht in ihrer absoluten, einheitlichen Gestalt dar, sondern nur in einem Teilaspekt, nämlich als sinnliche »Erfahrung«. Das in der sinnlichen Erfahrung Gegebene stelle also nach Goethe gewissermaßen nur einen Teil der absoluten Idee dar und der erkennende Mensch müsse zu dieser Idee selbst Zugang gewinnen, um aus dieser ideellen Beobachtung heraus dasjenige, was er als sinnlich Beobachtender seinem Gegenstand gewissermaßen entrissen hat, diesem als Denkender wieder hinzufügen. Goethes Naturauffassung sei deshalb eine so fruchtbare, schreibt Steiner, weil hier »Idee und Erfahrung in allseitiger Durchdringung sich gegenseitig beleben und zu einem Ganzen werden«. – Allerdings ist dasjenige, was Steiner in diesem letzten Zitat »Idee« nennt (das vom subjektiven Betrachter ideell Erfasste) etwas anderes, als diejenige »absolute, ewige Idee«, von der weiter oben die Rede war. Steiner unterschied nun innerhalb des goetheschen Denkens gewissermaßen die »Idee an sich« (das Absolute) und die »Idee, wie sie uns erscheint« (den im Bewusstsein erscheinenden Begriff):

Wir gelangen, indem wir uns der Idee bemächtigen, in den Kern der Welt. Was wir hier erfassen, ist dasjenige, aus dem alles hervorgeht. Wir werden mit diesem Prinzipe eine Einheit; deshalb erscheint uns die Idee, die das Ob­jektivste ist, zugleich als das Subjektivste. (EG, 122)

In noch späteren Einleitungen und auch in seinen philosophischen Schriften verabschiedete sich Steiner dann gänzlich vom dem vieldeutigen und missverständlichen Begriff der »Idee« und setzte dafür das »Denken«, später auch den »Geist«. Und wie der Goethesche Idee-Begriff gerät auch Goethe selbst in Steiners Darstellung immer weiter in den Hintergrund. Statt dessen nimmt sein eigener erkenntnistheoretischer Monismus, wie er sich dann in seiner Dissertation und im ersten Teil der Philosophie der Freiheit finden wird, immer konkretere Formen an. So findet sich in der Einleitung von 1887 folgende Passage, die so auch in den Schriften der neunziger Jahre stehen könnte:

Die Wirklichkeit tritt uns, indem wir uns ihr mit offenen Sinnen entgegenstellen, gegenüber. Sie tritt uns in einer Gestalt gegenüber, die wir nicht als ihre wahre an­sehen können; die letztere erreichen wir erst, wenn wir un­ser Denken in Fluß bringen. Erkennen heißt: zu der hal­ben Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf daß ihr Bild vollständig werde. (EG, 111 f.)

Wie die Grundzüge von Steiners eigenem Erkenntnisbegriff bereits in der Einleitung von 1887 formuliert sind, so auch die Richtung seiner Kritik an Kant und am naturwissenschaftlichen Illusionismus, wie sie später in der Dissertation und der Philosophie der Freiheit zu finden sind. Diese Denkrichtungen werden dafür kritisiert, dass sie bestimmte Voraussetzungen an den Anfang der Erkenntnistheorie stellen, ohne zuvor Wesen und Begriff des Erkennens selbst geklärt zu haben. Und auch die Freiheitslehre Steiners kann in ihren Grundzügen bereits in den ein Jahrzehnt zuvor entstandenen Arbeiten zu Goethe nachgewiesen werden. Schon in den Grundlinien etwa findet sich der Umriss einer Theorie der menschlichen Freiheit, welche Steiner zu der Einschätzung führt:

Die Geisteswissenschaften sind im eminenten Sinne daher Freiheitswissenschaften. Die Idee der Freiheit muß ihr Mittelpunkt, die sie beherrschende Idee sein (GE, 91) [...] Unsere Philosophie ist daher im eminenten Sinne Freiheitsphilosophie. (GE, 99)

Ferner lässt sich auch die in der Philosophie der Freiheit breit ausgeführte Kritik des teleologischen Geschichtsverständnisses und einer von außen gegebenen »Bestimmung des Menschen« bereits in diesen frühen Texten nachweisen. Und auch andere zentrale Elemente sowohl der philosophischen Schriften Steiners wie auch der späteren Anthroposophie sind bereits in den Goethe-Arbeiten der achtziger Jahre keimhaft vorgeprägt. Der grundlegende phänomenologische Zug des steinerschen Denkens, der evolutive Wirklichkeitsbegriff und das Denken in Metamorphosen, die Hochschätzung der Einbildungskraft als einem über das rein diskursive Denken hinausgehenden Erkenntnisorgan sowie die Verbindung des künstlerischen Schaffens mit dem wissenschaftlichen Erkennen seien hier nur als einige Beispiele angeführt, deren ausführliche Darstellung Aufgabe der Einleitung zu SKA 1 sein wird.

*

Bei aller Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen Steiner und Goethe darf nicht übersehen werden, dass Steiner selbst das von ihm 1886 ausgearbeitete Gedankengebäude als »goethe-schillersche Weltanschauung« bezeichnet hat. Diese Tatsache wird in der bestehenden Literatur oft ignoriert und der spezifische Beitrag Schillers zur steinerschen Weltanschauung wird nur marginal oder gar nicht ins Auge gefasst. Einen ersten Hinweis darauf, worin dieser schillersche Beitrag bestehen könnte, liefert wiederum die Autobiographie Mein Lebensgang. Dort erwähnt Steiner eine erste Bekanntschaft mit Schiller bereits in der Realschulzeit, die aber anscheinend keine tieferen Spuren bei ihm hinterlassen hat, da keinerlei inhaltliche Details mitgeteilt werden. Einen wirklichen Einfluss scheint Schiller erst ab 1880 auf den jungen Studenten gemacht zu haben, und wie im Fall Goethes war es auch hier offenbar wieder Karl Julius Schröer, der Steiner näher mit Schillers philosophischem Denken bekannt machte. Besonders die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen nennt er als nachhaltigen Einfluss, weil darin die Idee entwickelt werde,

dass man das Bewusstsein erst in einer bestimmten Verfassung haben müsse, um ein Verhältnis zu den Erscheinungen der Welt zu gewinnen, das der Wesenheit des Menschen entspricht. Mir war damit etwas gegeben, das die Fragen, die sich für mich aus Naturbetrachtung und Geist-Erleben stellten, zu einer größeren Deutlichkeit brachte. Schiller hat von dem Bewusstseinszustand gesprochen, der da sein muss, um die Schönheit der Welt zu erleben. Konnte man nicht auch an einen solchen Bewusstseinszustand denken, der die Wahrheit im Wesen der Dinge vermittelt? Wenn das berechtigt ist, dann kann man nicht in Kantscher Art das zunächst gegebene menschliche Bewusstsein betrachten und untersuchen, ob dieses an das wahre Wesen der Dinge herankommen könne. Sondern man musste erst den Bewusstseinszustand erforschen, durch den der Mensch sich in ein solches Verhältnis zur Welt setzt, dass ihm die Dinge und Tatsachen ihr Wesen enthüllen. (ML, 45)

Betrachtet man von dieser Seite aus die philosophischen Texte Steiners, so lassen sich in der Tat die beiden zentralen Dichotomien des Erkennens (Wahrnehmen vs. Denken) und der Handelns (Triebfeder vs. Motiv) als gedankliche Variationen der schillerschen Triebanthropologie von »Stofftrieb« und »Formtrieb« interpretieren. Und auch seine Charakterisierung der »Intuition« bzw. des »Denk-Erlebens« weist in vieler Hinsicht Ähnlichkeiten mit Schillers Darstellung des »ästhetischen Zustands« bzw. des »Spieltriebs« auf.

Die Tatsache, dass der Einfluss Schillers gegenüber demjenigen Goethes oft unterbewertet wird, hat sicherlich auch Steiner selbst zu einem gewissen Teil zu verantworten. Denn obwohl er in den Grundlinien explizit eine »Goethe-Schillersche Weltanschauung«, eine »besondere Rücksicht auf Schiller«, ja eine »Wissenschaft Goethes nach der Methode Schillers« (EG, 8) ankündigt, stehen die wenigen konkreten Aussagen zu Schiller im Schatten der vielfachen Bezugnahmen auf Goethe. Und in den philosophischen Schriften der neunziger Jahre verschwindet Schiller dann nahezu vollständig; sein Name taucht, wie auch derjenige Goethes, in der Philosophie der Freiheit nur ein einziges Mal auf, und da auch nur als Urheber eines griffigen Klassiker-Zitats. Dass die dichotomische Struktur sowohl des erkenntnistheoretischen wie des ethischen Teils der Philosophie der Freiheit in gewisser Weise »nach der Methode Schillers« gestaltet ist, wird mit keinem Wort angedeutet.

Dies ändert sich, wie auch das bereits erwähnte Schweigen gegenüber Fichte, Hegel und Schelling, mit der Schlüsselschrift von 1900, den Welt- und Lebensanschauungen. Hier wird Schiller in der Breite dargestellt und behandelt, die ihm philosophiegeschichtlich wie auch im Hinblick auf seine Bedeutung für Steiner gebührt. In späteren Texten vollzieht sich dann dieselbe »Adelung« Schillers zum Proto-Theosophen, die schon im Zusammenhang von Steiners Deutung seiner übrigen philosophischen Lehrmeister zu beobachten war. Auch in Schiller haben wir also einen wichtigen philosophischen Lehrer Steiners vor uns, der in dessen philosophischen Schriften weitgehend ignoriert und dann, nach Steiners Wende zum Theosophen, als Vorläufer der theosophischen Weltanschauung angesehen wird.

Johannes Volkelt und der Neukantianismus

Ein weiteres philosophisches Bezugsfeld, welches in Wahrheit und Wissenschaft und in der Philosophie der Freiheit unübersehbar ist, ist der Neukantianismus. Dieser entstand Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Reaktion auf die weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen einer weitgehend materialistisch-positivistisch orientierten Geistes- und Naturwissenschaft einerseits und den verschiedenen philosophischen Weiterbildungen des deutschen Idealismus andererseits, unter denen der Hegelianismus in seinen verschiedenen Ausprägungen wohl die bedeutendste darstellte. Die Neukantianer wandten sich einerseits gegen die in den Wissenschaften vorherrschende Tendenz einer materialistischen Weltauffassung, lehnten aber zugleich den als rein spekulativ empfundenen Wissenschaftsbegriff des deutschen Idealismus ab. Unter der von Otto Liebmann ausgegebenen Devise »Zurück zu Kant!« suchte man an die Philosophie des Denkers aus Königsberg anzuknüpfen, um eine philosophische Begründung des menschlichen Wissens und der Wissenschaften zu entwickeln, welche sich einerseits nicht in reiner Spekulation verlor und andererseits methodisch streng wissenschaftlich blieb, ohne jedoch andererseits den positivistischen Tendenzen der Naturwissenschaften zu verfallen.

Unter den verschiedenen Schulen, die sich innerhalb des Neukantianismus ausbildeten, waren es vor allem dessen metaphysisch (Johannes Volkelt, Otto Liebmann, Eduard von Hartmann, Gideon Spicker) und physiologisch ausgerichtete Strömungen (Friedrich Albert Lange, Hermann von Helmholtz), welche auf Steiner einen nachhaltigen Einfluss hatten. Auch Johannes Rehmke, Johannes Kreyenbühl und einige andere Denker gehören in diesen Kreis neukantianischer Philosophen, die Steiner während seiner Arbeit an den philosophischen Schriften beschäftigt haben und die in den beiden Schriften dieses Bandes häufig zitiert werden. Eine besondere inhaltliche Nähe, die Steiner auch selbst herausstreicht (vgl. WW, 70 f.), besteht ferner zu Alois Emmanuel Biedermann, bei dem unter anderem auch Reflexionen über die für Steiner zentrale Vorstellung der Möglichkeit eines ›reinen Denkens‹ vorlagen.

Wenn man insbesondere Wahrheit und Wissenschaft im Kontext des neukantianischen Diskurses betrachtet, wird deutlich, dass der von Steiner und seinen Apologeten immer wieder betonte dezidierte Gegensatz zu Kant differenzierter gesehen werden muss, als in der bisherigen Literatur zumeist geschehen. Wenn Steiner dort etwa die »Überwindung« des »ungesunden Kant-Glaubens« seiner Zeit forderte (WW, 1), dann fiel dieser Satz in einen Kontext hinein, in dem dieser Satz nicht notwendig als Kritik an Kant verstanden werden musste, sondern auch als Aufruf zu einem ›gesunden Kant-Verstehen‹ interpretiert werden konnte. Auch von einer »Überwindung« Kants wurde von den Neukantianern viel gesprochen, aber im Sinne einer Weiterführung nach der Devise Windelbrands: »Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen«. Harsche Kritik am kantschen Begriff des »Ding an sich«, wie sie sich bei Steiner findet (WW, VII), war unter den Neukantianern nichts Unbekanntes: »Hätte Kant nur einigermaßen herzhaft diesen Pseudobegriff analysirt anstatt immer scheu darum herumzutasten«, heißt es etwa in Liebmanns Kant und die Epigonen, »so hätte er ihn wegwerfen müssen, wie wir hier gethan haben.« Eine generelle Tendenz bestand hier, die Johannes Volkelt auf den Punkt brachte mit dem Anspruch: »Kant besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat«. Auch der in Steiners philosophischen Texten sich abzeichnende Versuch, von der Erkenntnistheorie aus in den Bereich der Metaphysik vorzustoßen, war ein charakteristisches Merkmal dieser Denker. Im Besonderen war es Johannes Volkelt, der entscheidende Gesichtspunkte für den methodischen Ansatz Steiners in Wahrheit und Wissenschaft lieferte. Steiner knüpfte in Wahrheit und Wissenschaft eng an die methodischen Vorgaben Volkelts an, bevor er durch Anknüpfung an Fichtes Anschauungen über die »intellektuelle Anschauung« aus dem unmittelbaren Denkhorizont des Neukantianismus heraustrat. Er stellte sich somit nicht nur mit den Anfangssätzen seiner Dissertation und seiner Widmung an Eduard von Hartmann, sondern auch durch seinen methodischen Ansatz unverkennbar in den Kontext des metaphysischen Neukantianismus, ohne freilich auf diesen begrenzt zu bleiben. Seine spätere Polemik gegen Kant muss, um recht eingeschätzt werden zu können, auch im Kontext dieser frühen Anknüpfung an den Neukantianismus gesehen werden.

Eduard von Hartmann

Eduard von Hartmann ist ein weiterer zentraler Faktor in der philosophischen Entwicklung Rudolf Steiners. Er ist derjenige Philosoph, der sowohl in Wahrheit und Wissenschaft wie auch in der Philosophie der Freiheit am häufigsten zitiert wird. Steiner hat ihm die erste Schrift gewidmet und in der zweiten im Untertitel auf dessen Hauptwerk Bezug genommen. Ferner hat er eine ganze Reihe von Inhalten aus Hartmanns Philosophie entweder in das eigene Denken übernommen oder zur Zielscheibe seiner Kritik gemacht.

Trotz dieser Sachlage ist Hartmann bis vor wenigen Jahren in der bestehenden Steiner-Literatur kaum irgendwo als ein bedeutsamer philosophischer Einfluss auf Rudolf Steiner behandelt worden. Lange Zeit interessierte man sich lediglich für seine Kritik an Steiner, die er in Briefen und in Randbemerkungen zu seinem Handexemplar der Philosophie der Freiheit zum Ausdruck gebracht hatte. Es stammt aber nicht nur die grundlegende Unterscheidung von »Triebfedern« und »Motiven« von ihm, welche sich durch den ganzen zweiten Teil von Steiners Freiheitsphilosophie zieht, sondern auch der Schematismus der Argumente für den erkenntnistheoretischen Illusionismus (physiologische, physikalische und eigentlich philosophische), auf dem Steiner in beiden philosophischen Schriften einen Großteil seiner Argumentation aufbaut. Auch das für die Philosophie der Freiheit zentrale Modell der Entwicklung des philosophischen Bewusstseins durch die Stufen des »naiven Realismus«, »kritischen Idealismus« und »metaphysischen (bzw. transzendentalen) Realismus« findet sich so bei Hartmann. Dadurch kommt diesem Denker eine Rolle als bedeutender philosophischer Einfluss auf die Philosophie der Freiheit zu, die zuerst von Helmut Zander (AiD, 506 f.) und dann noch eingehender von Hartmut Traub (PuA, 441 ff.) gewürdigt worden ist. Insbesonders hat Traub zum ersten Mal auf die Nähe hingewiesen, die zwischen Steiners Intuitionsbegriff und demjenigen Hartmanns besteht (ebd., 483 ff.). Davon später mehr.

Die These von einer Vorbildfunktion Hartmanns für Steiner kann zunächst überraschen, da einige zentrale Elemente der hartmannschen Philosophie auf den ersten Blick in diametralem Gegensatz zum steinerschen Denken stehen, etwa seine pessimistische Grundhaltung oder auch sein erkenntnistheoretischer Dualismus. In Mein Lebensgang schreibt Steiner denn auch von den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Schriften Hartmanns, dass ihm deren »Grundrichtung und ihre Lebensanschauung zuwider« gewesen seien. Und auch in einem Brief an Vinzenz Knauer vom 15. November 1893 heißt es: »Ich stehe in dem denkbar schärfsten Gegensatze zu Ed. von Hartmann«. Allerdings schreibt Steiner auf der anderen Seite, er habe an Hartmann geschätzt, wie dieser als Moralphilosoph »die sittliche Entwicklung der Menschheit am Leitfaden des empirisch zu Beobachtenden verfolgt« (ML, 72) habe. In seinen Schriften werde,

was als Sittlichkeit erlebt werden kann, in seiner Erscheinung erfaßt. Und so ging es mir auch mit den populären Schriften Eduard von Hartmanns, die kulturhistorische, pädagogische, politische Probleme behandeln. Ich fand ›gesunde‹ Lebenserfassung bei diesem Pessimisten, wie ich sie bei manchem Optimisten nicht finden konnte. (ebd.)

Die Auseinandersetzung Steiners mit Hartmann begann nach Mein Lebensgang während der Zeit, in der er als Hauslehrer mit der Erziehung der Söhne in der Familie Specht betraut war. Ein erster Brief an Hartmann, mit dem Steiner dem Berliner Philosophen den ersten Band seiner Kürschner-Ausgabe übersandt hatte, stammt vom 4. September 1884. Eine Korrespondenz zwischen beiden entstand, in der man allerdings so gar nichts von dem im Lebensgang berichteten grundlegenden »Widerwillen« gegenüber Hartmann findet. Vielmehr stellt Steiner sich in diesen Briefen als glühender Bewunderer Hartmanns dar, der dessen Philosophie durchweg positiv beurteilt. So schreibt er, »daß ich mit meiner Gedankenrichtung ganz im Sinne Ihrer Philosophie wirke« (GA 38, 145) oder »daß ich seit Jahren mit aufrichtiger Verehrung zu Ihrem philosophischen Wirken emporblicke und mich gedrängt fühle, meine Gedanken vor den Urheber der ›Philosophie des Unbewußten‹ zu bringen« (ebd., 104).

Konkret unterschied sich das Denken Hartmanns von demjenigen Steiners dadurch, dass er einen erkenntnistheoretischen Dualismus vertrat, in dem er zwischen bewussten und unbewussten Ideen unterschied. Hartmann postulierte, dass das Weltgeschehen von den Ideen eines vernünftigen absoluten Weltwesens geregelt wird, verneinte aber die Möglichkeit, dass diese Weltideen unmittelbar vom Bewusstsein des Philosophen wirklich als solche erfasst werden könnten. Die dem Menschen bewussten Ideen haben nach Hartmann vielmehr transzendentalen Charakter im Sinne der kantschen Erkenntniskritik, d. h. sie zeigen dem Menschen eine Welt von Phänomenen, die nur durch und für ihn besteht. Das sich in der Wirklichkeit und im menschlichen Seelenleben auslebende Weltwesen und dessen Ideen und Intentionen können nach Hartmann also nicht direkt erkannt, sondern müssen durch die in empirischer Beobachtung gründenden philosophischen Betrachtung des Lebens erschlossen werden. Daher gab er seiner Philosophie des Unbewussten den Untertitel »Speculative Resultate nach induktiv-wissenschaftlicher Methode«.

Den Weltprozess als solchen sah Hartmann als Prozess der Entwicklung des geistigen Weltwesens innerhalb der Formen einer aus demselben hervorgegangenen physischen Wirklichkeit, also gewissermaßen als dessen Inkarnation in der sinnlich-materiellen Welt. Doch stellte sich ihm dieser Entwicklungsprozess nicht, wie etwa bei Hegel, als positive Entwicklung hin zu immer größerer Vollkommenheit und Freiheit dar, sondern im pessimistischen Sinne Schopenhauers als ein Prozess des schmerzvollen Leidens des Weltwesens an dieser seiner Inkarnation. Das Ziel des Weltprozesses liegt damit nach Hartmann nicht in einem irgendwie gearteten Fortschritt, sondern in der Verneinung und Umkehrung des zum Leiden führenden Prozesses. Die Menschen müssten, so Hartmann, die Sinnlosigkeit alles Strebens nach Lust und nach Erhaltung ihres materiellen Lebens einsehen und ihr Leben in selbstloser Hingabe in den Dienst der Verwirklichung der Ziele des Weltwesens hingeben, also das sinnlich-materielle Dasein als solches verneinen und überwinden, damit das Weltwesen wiederum als reiner Geist leben kann und somit vom Leiden erlöst wird.

Schon aus dieser kurzen Charakterisierung wird deutlich, dass es trotz aller Verschiedenheit der Weltanschauung in der Tat auch wesentliche Übereinstimmungen zwischen beiden Denkern gab. Beide vertraten einen ontologischen Monismus, meinten also, dass die Wirklichkeit trotz aller Differenzierung innerhalb des Seienden eine einzige ist, die sie das »einheitliche Weltwesen« nennen. Beide gingen ferner davon aus, dass alle Verschiedenheit in der vom Menschen erlebten Wirklichkeit als eine nur für den Menschen existierende Differenzierung und Auseinanderfaltung dieses einen Weltwesens verstanden werden muss. Sie stimmten auch darin überein, dass das Ziel des sittlichen Lebens darin besteht, dass der Mensch sein individuelles Denken und Wollen in Übereinstimmung mit dem Denken und Wollen dieses absoluten Weltwesens bringt. – Unterschiedlicher Meinung waren sie darin, dass Steiner davon ausging, dass der Mensch im intuitiven Denken die Ideen und Absichten des Weltwesens nicht nur spekulativ erschließt, sondern selbst unmittelbar anschaut und so zu den eigenen macht und verwirklicht. Steiner meinte ferner, dass der Mensch durch sein subjektives Bewusstsein nicht prinzipiell von den Ideen und Intentionen des Weltwesens abgeschnitten ist, sondern sich durch ein Eintauchen in und ein verstärktes Erleben seines Gedanken- und Gefühlslebens mit diesem Weltwesen gerade erst voll verbindet, weil das in diesen Gedanken und Gefühlen waltende Eigenleben letztlich identisch sei mit jenem des universellen »Weltwesens«. Der sein eigenes Innenleben intuitiv anschauende Mensch beobachtet somit nach Steiner in Wirklichkeit das Weltwesen selbst und muss daher dessen Denken und Wollen nicht, wie Hartmann meinte, auf induktive Weise noch erschließen. Und so setzt er im Untertitel der Philosophie der Freiheitdem hartmannschen Motto – »Speculative Resultate nach induktiv-wissenschaftlicher Methode« – das eigene entgegen: »Beobachungs-Resultate (1918: seelische Beobachtungsresultate) nach naturwissenschaftlicher Methode«.

Auch in der Ethik zeigen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch fundamentale Unterschiede zwischen Steiner und Hartmann. Beide betonen zwar die Notwendigkeit der Einswerdung des individuellen Wollens im Menschen mit den »Absichten« des Weltwesens, aber beide stellen sich diese Absichten und damit die »Bestimmung des Menschen« ganz unterschiedlich vor. Nach Steiner wird der Individualwille nicht, wie bei Hartmann, dadurch mit dem Universalwillen eins, dass der Mensch seine subjektiven und individuellen Handlungsziele aufgibt und einer allgemeinen, für alle Menschen gleichen Sittlichkeitsmaxime unterordnet. Die Einheit des Individuellen mit dem Universellen soll nicht durch ein Aufgehen des Individuums im Allgemeinen erreicht werden, sondern umgekehrt durch ein Aufgehen des Weltwesens im Individuum, ein – wiederum durch Intuition zu verwirklichendes – Einziehen der universellen Absichten des Weltwesens in das individuelle Wollen des einzelnen Menschen. Wie bei Hartmann ist auch für Steiner die »Hingabe an den Weltprozess« das höchste ethische Ideal des Menschen, aber diese Hingabe soll nach Steiner keine asketisch-selbstlose sein, welche das sinnlich-materielle Dasein und die Selbstliebe verneint, sondern eine von der Liebe des Individuums gegenüber den Welterscheinungen getragene, welche sich auch und gerade den sinnlichen und partikulären Welterscheinungen zuwendet und in diesen sich selbst liebt. Das Mittel der »Erlösung Gottes« ist also für Steiner nicht die von Hartmann geforderte Selbstaufgabe, sondern das schöpferische Erkennen und Handeln des freien, restlos individualisierten Menschen.

Zusammenfassend lässt sich Steiners Verhältnis zu Hartmann somit als ein ausgeprochen vielschichtiges und ambivalentes beschreiben. Auf der einen Seite erkennt er in ihm eine führende Denkerpersönlichkeit seiner Zeit an, sucht den Kontakt und den Austausch mit ihm, bewundert die Schärfe seines Blicks und seine Fähigkeit, mit seinen Ideen den Grund der natürlichen und sozialen Phänomene zu beleuchten. Aus diesem Verhältnis heraus nimmt er ab 1887 zentrale Inhalte, Strukturen und Methoden der hartmannschen Philosophie in sein Denken auf, welche dann die gedankliche Architektur seiner Philosophie der Freiheit deutlich mitbestimmen. Er tut dies aber mit dem Ziel, durch das so geschaffene Gedankengebäude den dualistischen Erkenntnisbegriff Hartmanns durch einen monistischen zu ersetzen und dessen Entsagungsethik einen ethischen Individualismus entgegenzuhalten, welcher die Verwirklichung des individuellen Wollens als höchste Form der Sittlichkeit versteht. Dabei dient der »metaphysische Realismus« Hartmanns durchgehend als ideeller Hintergrund, den Steiner einerseits als Überwindung der früheren bewusstseinsgeschichtlichen Entwicklungsstufen des »naiven Realismus« und des »kritischen Idealismus« würdigt, der aber andererseits, wenn er sich nur recht verstehe, in den von ihm (Steiner) vertretenen »objektiven Idealismus« einfließen müsse.

Hartmanns Urteil über diesen Versuch einer Verbesserung seiner eigenen Philosophie durch Steiner fiel, wie bereits angedeutet, nicht besonders positiv aus. Umso bemerkenswerter ist, dass Steiner in späteren Schriften und Vorträgen, in denen er sonst gegenüber Andersdenkenden und Kritikern nicht mit harschen und bisweilen herabsetzenden Formulierungen sparte, über Hartmann weiterhin stets mit Respekt und Anerkennung gesprochen hat. 

Radikaler Individualismus:

Friedrich Nietzsche und Max Stirner

Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf die philosophische Entwicklung Steiners ist deutlich schwieriger festzumachen als derjenige Hartmanns und darüber, wann dieser einsetzte und wie tiefgehend er war, herrschen in der Steinerforschung kontroverse Ansichten. Argumente für einen nachhaltigen Einfluss Nietzsches schon vor oder während der Abfassung seiner philosophischen Schriften ab 1891 sind jüngst von Helmut Zander und Hartmut Traub vorgebracht worden. Ähnliche Ansichten waren aber auch schon zu Steiners Lebzeiten laut geworden, wogegen dieser sich allerdings vehement verwahrte. So beklagt er 1893 in einem Brief an Vinzenz Knauer:

Ich habe in der letzten Zeit zu meinem Schmerze erfahren müssen, daß man meine individualistische Weltanschauung als eine Folge meiner Nietzsche-Lectüre hinstellt, und Prof. Tönnies in Kiel hat eine besondere Broschüre geschrieben, als Antwort auf einen Journal-Artikel von mir, worin er mich als »Nietzsche-Narren« verspottet. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich die Keime zu meinem Individualismus schon 1887 im 2. Bande meines Kommentars zu Goethes wissenschaftlichen Schriften ausgesprochen habe, und zwar ohne damals ein einziges Wort von Nietzsche gelesen zu haben. Mein eben erscheinendes Buch [die Philosophie der Freiheit] ist vom Nietzscheanismus völlig unbeeinflußt. Mein Standpunkt ist der Monismus und mein Individualismus nur eine notwendige Folge meiner monistisch-naturwissenschaftlichen Beobachtungsweise der Welt. (GA 39, 187)

Steiners Versicherung, seine Freiheitsphilosophie »völlig unbeeinflußt« von Nietzsche entwickelt zu haben, muss freilich zur Seite gestellt werden, dass er selbst an anderer Stelle als Datum seiner ersten Bekanntschaft mit Nietzsche das Jahr 1889 angegeben hat (GA 28, 187) und dass er, obwohl er anfangs wohl noch ein ambivalentes Verhältnis zu Nietzsches Weltanschauung hatte, sich spätestens im April 1892 so stark mit dieser identifizierte, dass er sich in einem Artikel über den »Nietzscheanismus« nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich und stilistisch eng an dessen Gestus anlehnte. 1895 schrieb Steiner seine leidenschaftliche Apologie für den Denker: Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit und wurde in der Öffentlichkeit als ein so glühender Advokat Nietzsches gesehen, dass er eine Zeit lang von Elisabeth Förster-Nietzsche als ernsthafter Kandidat für die Stellung des Herausgebers von Nietzsches nachgelassenen Schriften gehandelt wurde. Auch wenn es aus verschiedenen Gründen nicht dazu kam, dass Steiner diese Position antreten konnte, verbrachte er doch viel Zeit mit den entsprechenden Verhandlungen und Auseinandersetzungen um den Nietzsche-Nachlass. Auch war er regelmäßig im Archiv zu Gast, hatte Zugang zu Nietzsches Nachlass und Bibliothek, verfasste eine Bibliographie zur Nietzsche-Literatur und legte ein erstes vollständiges Verzeichnis der persönlichen Bibliothek Nietzsches an, welches für die spätere Nietzsche-Forschung maßgeblich wurde. Darüber hinaus durfte er den komatösen Philosophen, der unter der Pflegschaft seiner Schwester dahindämmerte, persönlich besuchen; eine Begegnung, die Steiner nachhaltig beeindruckt hat und von der er später oft berichtet hat. Obwohl aber Elisabeth Förster-Nietzsche offenbar anfänglich von Steiner sehr angetan war, und obwohl auch Steiner sich als geeignet für diese Position empfand – es gebe, so schrieb er einmal seiner damaligen Frau, außer ihm »niemanden, der die Sache machen könnte, wenn Koegel hinausexpediert wird« –, kam es später zu Zerwürfnissen um die Frage der Herausgeberschaft und Steiner positionierte sich immer stärker gegen Nietzsches Schwester, deren ideologisch motivierte Einflussnahme auf die Archiv- und Editionsarbeit er dann auch öffentlich kritisierte. Das verworrene Hin und Her dieser Auseinandersetzungen ist von David Marc Hoffmann (1991) minutiös dargestellt worden; eine übersichtliche Zusammenfassung findet sich auch bei Helmut Zander.

Wie immer man diese Streitereien auch auslegen mag; sie machen deutlich, dass Steiner sich in hohem Maße mit Nietzsche identifizierte und sich eine Karriere als Nietzsche-Herausgeber gut vorstellen konnte. Es war sicher nicht nur Kalkül, sondern Steiners ehrliche Überzeugung, wenn er sich noch 1898, also kurz vor Ende der Nietzsche-Affäre, gegenüber der Schwester des Philosophen als jemanden charakterisierte, der »erstens den Glauben hat, daß Friedrich Nietzsche die Zukunft gehört und der zweitens diesem größten Geiste der neueren Zeit doch einigermaßen zu folgen glaubt«. Kurz nach diesem letzten Brief jedoch zerschlugen sich die Hoffnungen Steiners endgültig, da sich Elisabeth Förster-Nietzsche für andere Herausgeber entschieden hatte. Er nahm aber weiterhin lebhaften Anteil an den Geschehnissen um das Nietzsche-Archiv und griff als Herausgeber des Magazins für Litteratur, das er seit 1897 herausgab, mehrfach in die andauernde Debatte ein.

Am deutlichsten zeigen sich die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen Steiners Denken in den neunziger Jahren und Nietzsche, wenn man dessen Charakterisierung des »freien Geistes« als eines »Übermenschen« im Gegensatz zu den einer »Sklavenmoral« anhängenden »Herdenmenschen« vergleicht mit Steiners Charakterisierung des »freien Geistes«. In der Philosophie der Freiheit findet sich mehrfach die Metapher vom »Sklaven« für den noch nicht befreiten Geist (PF, 182, 241, 248). Auch die radikale Kritik der konfessionellen Religiosität, der Metaphysik und alles gedanklichen Konformismus und Systemdenkens sind bei beiden Denkern stark ausgeprägt. Und Steiners Deutung des kategorischen Imperativs bei Kant als heteronome »Stimme aus dem Jenseits« hatte ein deutliches Vorbild bei Nietzsche, welcher schrieb: »Zum ›kategorischen Imperativ‹ gehört ein Imperator!« Ferner wird sowohl bei Nietzsche wie bei Steiner die schöpferische Tat des freien Geistes als quasi-göttliches Äquivalent des Schöpfungsaktes, als Geburtsstunde einer neuen Dimension von Wirklichkeit charakterisiert. Bei Nietzsche ist die Tat des Übermenschen »ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen [...] zum Spiele des Schaffens«; bei Steiner ein »freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten«. Ähnliche Übereinstimmungen finden sich in der Hervorhebung des Begriffs vom »Leben« als Gegenbegriff zu allem Konventionellen, durch Normen, Traditionen oder Regeln Beschränkten. Wie Nietzsche kommt es auch Steiner in dieser Phase weniger auf »Erkenntnisse« als auf »Erlebnisse«, weniger auf das »Wahre« oder »Gute« denn auf das »Lebendige«, »Erlebte« oder »Lebensvolle« an. Und was für die zentralen Inhalte des Denkens bei Nietzsche gilt, trifft auch für den Stil und die Form der Darstellung zu. Das kämpferische Pathos und die Krassheit des Ausdrucks (Hartmut Traub spricht von »verbaler Kraftmeierei«) sowie das weltanschaulich-kämpferische Sendungsbewusstsein Nietzsches haben in den Texten Steiners nach seiner Nietzsche-Begegnung ebenso ein Spiegelbild wie bestimmte rhetorische Wendungen, etwa die Charakterisierung alles Individuellen, Originären und »Erlebten« als »gesund«, während das Gemeinschaftliche, Traditionelle und Rationalistische zum Symptom geistig-kultureller »Krankheit« (vgl. etwa WW, VII) stilisiert wird

Die emphatischen Äußerungen Steiners gegenüber Nietzsche, welche seine Monographie über den Philosophen prägen, finden sich auch nach 1895 in zahlreichen Briefen und Veröffentlichungen, und zwar bis etwa zur Jahrhundertwende. Dann werden andere Töne angeschlagen, angefangen mit Steiners Aufsätzen über Die Philosophie Nietzsches als psycho-pathologisches Phänomen, in denen er, nach dem Urteil Zanders, »faktisch mit seiner Nietzsche-Verehrung brach« (AiD, 520). Zwar hatte Steiner bereits in einem Aufsatz von 1893 das Pathologische an Nietzsche thematisiert, hatte verlauten lassen, dass seine Bücher an der »Grenzscheide zwischen Wahnsinn und Genialität« schwebten, sah ihren Reiz in dem »abnormen Gewand, in dem sie auftreten« und verkündete, er sehe in Nietzsche nicht »ein philosophisches, sondern immer ein psychologisches Problem«; hatte daneben aber weiterhin die Größe und Überlegenheit Nietzsches gegenüber den Erscheinungen der Gegenwartsphilosophie unterstrichen und seinem Glauben Ausdruck gegeben, »daß Friedrich Nietzsche die Zukunft gehört«. Jetzt hingegen betont er nicht nur das Problematische an Nietzsche, seinen angeblichen Mangel an Wahrheitssinn, seine Inkohärenz und das Überwiegen des Destruktiven, sondern billigt ihm nicht einmal mehr den Rang eines maßgeblichen Denkers zu, so daß Zander meint, hier von einer systematischen »Demontage von Nietzsches Persönlichkeit« und dessen »Entmachtung als kulturelle Leitfigur« sprechen zu können. Tatsächlich finden sich Aussagen wie die folgenden in Steiners Nachruf zum Tode des Philosophen:

Wer Nietzsches Schriften wirklich mit Verständnis liest, der wird sich vor allen Dingen darüber klar werden, dass er es mit einem Mann zu tun hat, der dem wirklichen Leben der Gegenwart, den großen Bedürfnissen der Zeit ganz fernstand. [...] Deshalb konnte er auch nur zu Ideen kommen, die als Äußerungen einer merkwürdigen Einzelpersönlichkeit interessieren können. [...] Wer ihn dennoch geradezu als einen Geist hinstellt, der für unsere Zeit charakteristisch ist, der beweist nur, dass Verständnislosigkeit für die eigentlichen Bedürfnisse der Gegenwart bei vielen auch eine charakteristische Erscheinung dieser Gegenwart ist. [...] Diejenigen, die aber in diesem [Nietzsches] Standpunkt nicht eine durch die Persönlichkeit Nietzsches höchst interessante, extreme Ausgestaltung einer absterbenden Ideenwelt sehen, sondern ein lebensfähiges Glaubensbekenntnis, müssen blind gegenüber den Forderungen der Gegenwart sein. Ein merkwürdiger Denker ist am 25. August gestorben; nicht einer der führenden Geister in die Zukunft (GA 31, 491 ff.).

Nach Steiners Hinwendung zur Theosophie nahm seine Nietzsche-Deutung dann noch einmal ein ganz andere Formen an. Diese hat mit seinen philosophischen Schriften wenig zu tun, prägt aber in vieler Hinsicht bis heute die anthroposophische Perspektive auf Nietzsche, weshalb sie hier kurz erwähnt werden soll. Zum einen wird Nietzsche nach 1904, ähnlich wie Goethe, Schiller, Fichte, Hegel und Schelling, als ein »unbewusst Eingeweihter« und Wegbereiter moderner Geisteswissenschaft im Sinne Steiners gedeutet, der besonders mit seiner Idee des Über-Menschen bereits »vor dem Tore der Theosophie« gestanden habe« (GA 57, 376), aber durch dieses Tor selbst nicht mehr habe schreiten können. Zu dieser Charakterisierung kommt dann später das Motiv einer dämonischen Besessenheit des geisteskranken Philosophen. Nietzsches Feder sei, so Steiner jetzt, in bestimmten Schriften direkt durch die Wesenheit des »Ahriman« geführt worden. Dabei zählt nun allerdings ausgerechnet der Antichrist, den der junge Steiner als »Jahrhundertwerk« bejubelt und als kongenialen Ausdruck seiner eigenen Anschauungen bezeichnet hatte, zu den als »ahrimanisch inspiriert« eingestuften Schriften.)

 

Ernst Haeckel und die Entwicklungslehre

Neben den bisher skizzierten klassischen Vertretern philosophischen Denkens darf in einer Darstellung der zentralen geistigen Einflüsse auf Rudolf Steiner auch die Entwicklungslehre Ernst Haeckels nicht fehlen. Dies mag zunächst überraschen, da Haeckel einen ausgeprägt materialistischen Standpunkt vertrat. Steiner lehnte denn auch Haeckels Materialismus konsequent ab, hielt den populären Naturwissenschaftler in philosophischen Dingen für einen Dilettanten, ja für »ein Kind« (GA 262, 20) und war auch sonst in vielen Punkten anderer Meinung als dieser. In zwei Fragen jedoch stimmte er mit Haeckel überein und diese waren ihm so wichtig, dass er den Entwicklungstheoretiker trotz aller sonstigen Kritik für einen der wichtigsten Vertreter des deutschen Geisteslebens seiner Zeit hielt und zeitlebens gegen seine Kritiker verteidigte. Es war dies zum einen seine strikt ausgearbeitete monistische Wirklichkeitsauffassung, d. h. die konsequente Ableitung sämtlicher Welterscheinungen aus einem Prinzip heraus, auch wenn dieses Prinzip bei Haeckel nicht der Geist, sondern die Materie war. Zum anderen waren es Haeckels Vorstellungen über die Phylogenese, die besonders in dem sogenannten »biogenetischen Grundgesetz« zum Ausdruck kamen. Dieses Gesetz, das heutzutage vielleicht Haeckels bekannteste Leistung ist, auch wenn es in seiner strengen Form in der modernen Entwicklungsbiologie als widerlegt gilt, besagt, dass die embryonale Entwicklung eines individuellen Lebewesens eine konzentrierte Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung seiner Art darstellt. Diesen Gedanken Haeckels wandte Steiner in seinen Schriften von 1901 und 1902 auf die geistige Entwicklung der Menschheit an, indem er dort ein dem biogenetischen Grundgesetz analoges (und in der Einleitung zu SKA 5 als »ideogenetisches Grundgesetz« bezeichnetes) Prinzip zur Anwendung brachte, nach dem sich die verschiedenen im Verlauf der Geschichte aufgetretenen Ausprägungen des menschlichen Geistes als Variationen ein und desselben geistigen Grunderlebnisses, nämlich der Projektion von Erkenntnissen über die Struktur und Entwicklung des eigenen Wesens in ein als Außenwelt vorgestelltes Sein verstehen lassen. Diese Vorstellung bildet ein wesentliches konzeptionelles Element in Steiners Entwicklung vom Philosophen zum Theosophen. Es kommt auch im Konzept der anthroposophischen Erkenntnisschulung zur Geltung, in welchem Steiner die Vorstellung formulierte, dass das individuelle Bewusstsein durch ein inneres Nachvollziehen und intensives gedankliches Miterleben der allgemeinen Natur- und Geistesgeschichte dazu befähigt werden könne, seine Individuierung zu transzendieren und zu einer Erfahrung des in dieser Geschichte sich entfaltenden Weltgrundes selbst zu kommen.

Die Wertschätzung des Philosophen Steiner gegenüber Haeckel kam vor allem darin zum Ausdruck, dass er seine Lebens- und Weltanschauungen im neunzehnten Jahrhundert diesem Denker widmete und in der Schrift Haeckel und seine Gegner offen für ihn Partei ergriff. Aber auch als Esoteriker bezeichnete er Haeckels Grundgesetz als »die bedeutendste Tat des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts«, denn in ihm war seiner Auffassung nach ein Grundprinzip der spirituellen Wirklichkeitsbetrachtung zum Ausgangspunkt naturwissenschaftlicher Welterklärung geworden, indem es neben den bloßen Entwicklungsgedanken die hermetische Vorstellung einer gegenseitigen Entsprechung und wechselseitigen Spiegelung von Individualentwicklung und Weltentwicklung stellte. Dieser Gedanke ist in Steiners Werk allgegenwärtig. Schon in den goetheanischen Texten der achtziger Jahre wird Haeckel als der geistige Nachfolger Goethes im 19. Jahrhundert dargestellt. Und auch die Philosophie der Freiheit ist, schon in der Erstauflage, überall von einem universalistischen Entwicklungsdenken nach haeckelschem Vorbild durchdrungen, sowohl in der Beschreibung der individuellen und der allgemeinen philosophischen Bewusstseinsentwicklung wie auch in der Darstellung der menschlichen Freiheit als Ergebnis eines individuellen und kollektiven Evolutionsprozesses. Und auch darin, dass Steiner in der Philosophie der Freiheit den individuellen erlebenden Nachvollzug der allgemeinen Philosophiegeschichte zum initiationsdidaktischen Instrument der Transformation des diskursiven Bewusstseins macht, zeigt sich ein Widerhall des Einflusses, welchen das haeckelsche Grundgesetz auf Steiner gehabt hat. Ein Gleiches gilt für Steiners spätere anthroposophische Schriften zur Anthropologie (SKA 6), zur Erkenntnisschulung- und entwicklung (SKA 7) sowie für das große Werk über die geistige, seelische und körperliche Evolution des Menschen und des Kosmos, die Geheimwissenschaft von 1910 (SKA 8). Dieses esoterische Hauptwerk Steiners lässt sich lesen als seine literarische Antwort nicht nur auf Hegels Phänomenologie des Geistes und Annie Besants The Ancient Wisdom, sondern auch auf Haeckels Welträtsel.

Neben den benannten philosophischen Einflüssen auf Steiner bestehen noch eine Reihe anderer inhaltlicher Bezugsfelder, die im Frühwerk eher diffus und im Hintergrund zu bemerken sind und erst nach 1902 deutlicher in seinen Texten und Vorträgen hervortreten und konkret benannt werden. So wäre, wie bereits angedeutet, über Franz Brentano ausführlicher zu sprechen; ferner wären Steiners Verhältnis zum Platonismus und zum Aristotelismus sowie seine vielfachen Darstellungen zu Thomas von Aquin ausführlicher zu untersuchen. Im Rahmen der Anknüpfung an diese Denker hat Steiner, über die epistemologischen, ethischen und anthropologischen Fragestellungen seiner Freiheitsphilosophie hinaus, verschiedene Versuche unternommen, die im Verlauf der Neuzeit aus der Philosophie herausgefallenen Kerndisziplinen traditionellen philosophischen Denkens, besonders die Theologie und die Psychologie, aus ihrem disziplinären Sonderdasein wieder in ein ganzheitlich ausgerichtetes Philosophieverständnis zu integrieren. All dies kann jedoch im Rahmen dieser Einleitung nicht näher dargestellt werden und ist zwar für eine Würdigung Steiners als Denker insgesamt, nicht aber für das Verständnis der vorliegenden Texte unmittelbar relevant.

Zur Entstehung der Texte

 

Allgemeiner Hintergrund

Rudolf Steiners Beschäftigung mit der Philosophie und sein besonderes Interesse für das Erkenntnisproblem und die Freiheitsfrage reichen, wie der obige Überblick gezeigt hat, bis in seine Jugendzeit zurück. Wann aber sein objektiver Idealismus und sein ethischer Individualimus konkret die Formen annahmen, in welchen sie uns in Wahrheit und Wissenschaft und der Philosophie der Freiheit entgegentreten, lässt sich nicht genau ausmachen. Ein erster dokumentierter Hinweis auf das Projekt einer »Freiheitsphilosophie«, in dem sich auch schon konkrete Vorstellungen über deren inhaltliche und stilistische Ausgestaltung finden, ist ein Brief Steiners an seinen Freund Rudolf Ronsperger vom 27. Juli 1881. Schon zu dieser Zeit war Steiner klar, dass er ein populärwissenschaftliches Werk schreiben wollte, »ohne die üblichen gelehrten Zitate und schulmäßigen Schnörkeleien«, und das Ziel wurde formuliert (möglicherweise mit Blick auf das von Steiner oft zitierte Ästhetik-Ideal Robert Zimmermanns), »durch die Form den Inhalt so nahe zu bringen, daß man philosophische Gedanken wie einen unterhaltenden und lehrreichen Roman liest« (GA 38, 18 f.).

Nachdem Steiner im Herbst 1883 mit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften innerhalb der Goetheausgabe bei Kürschner betraut worden war, machte er von Anfang an seine Rolle als Goethe-Herausgeber zu einer Plattform für die Darstellung seiner eigenen philosophischen Vorstellungen. Schon 1884 im ersten Band der Goethe-Ausgabe und dann noch stärker in den Grundlinien von 1886 flossen seine Interpretation von Goethes Ansichten oft mit der Darstellung seiner eigenen in eins zusammen, so daß die nach und nach ausgestaltete »goethe-schillersche Weltanschauung« von der des begeisterten Herausgebers nicht mehr säuberlich zu trennen ist. In den Schlusskapiteln der Grundlinien entwarf Steiner eine Darstellung der goetheschen Ideen zur Ethik, die jedoch deutlich über Goethe hinausgeht und als erster Umriss seines eigenen ethischen Individualismus gelten kann. Im zweiten Band der Goethe-Ausgabe von 1887 hingegen interpretierte er die goetheschen Anschauungen zur Wissenschaftstheorie durch die Linse seiner eigenen sich allmählich ausbildenden Erkenntnistheorie und gab so seinen bereits in der Jugendzeit geformten idealistischen Vorstellungen zunehmend jene Formen, in denen sie uns dann in den philosophischen Schriften der neunziger Jahre entgegetreten. Auch der übergeordnete ästhetische Gesichtspunkt seiner Freiheitsphilosophie war in diesen Texten bereits deutlich formuliert, etwa in den Kapiteln »Von der Kunst zur Wissenschaft« (EG, 99 ff.) und »Erkennen und künstlerisches Schaffen« (GE, 103 ff.). Dieser Prozess zeigt sich ferner in anderen Texten dieser Zeit, die nicht im Rahmen seiner Herausgebertätigkeit entstanden, etwa in dem Aufsatz Die Natur und unsere Ideale von 1886, den Steiner später in seiner Autobiographie als »Urzelle der Philosophie der Freiheit« bezeichnete.

 

Zur Entstehung der Dissertationsschrift

Bereits im Sommer 1886 hatte man Steiner aufgrund seiner bisherigen Veröffentlichungen zur Mitarbeit an der im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv herauskommenden Sophienausgabe der Werke des Klassikers eingeladen. Er hatte angenommen, arbeitete seitdem simultan an beiden Goethe-Ausgaben und siedelte im Herbst 1890 selbst nach Weimar um. Spätestens um diese Zeit lässt sich anhand seiner Briefe der Wunsch nachweisen, trotz des abgebrochenen Studiums doch noch irgendwie einen akademischen Titel zu erwerben. Verschiedene erfolglose Versuche wurden unternommen, sich mit den bereits erschienenen Grundlinien irgendwo nachträglich zu promovieren. Auch erkundete Steiner Möglichkeiten, einen sogenannten ›englischen Doktortitel‹ ohne Absolvierung einer Prüfung zu erwerben. Seine Bemühungen wurden Ende 1890 von Erfolg gekrönt, als er sich mit dem Ordinarius für Philosophie an der Universität Rostock, Heinrich von Stein, einigte, an der dortigen Fakultät mit einer neu zu verfassenden Dissertation einen philosophischen Doktortitel zu erwerben. Zu diesem Zweck hatte Steiner offenbar einige seiner bisherigen Publikationen eingereicht, möglicherweise vielleicht auch schon einen Dissertationsentwurf. Aus dem Antwortschreiben von Steins an Steiner vom 15. November 1890 geht das Wohlwollen hervor, welches dieser Steiner entgegenbrachte, aber auch das Vorhandensein von Bedenken gegenüber der wissenschaftlichen Form von Steiners bisheriger Arbeit:

Verehrter Herr! Meinen herzlichen Dank sage ich Ihnen sowol für die gütige Übersendung Ihrer Schriften, als auch für die freundliche Art, wie Sie mir meiner platonischen Arbeit gedenken. Sie begreifen, wie sehr es mich erfreuen musste, bei Ihnen eine sympathische Aufnahme gefunden zu haben. Mit besonderem Interesse habe ich aber auch von Ihren eigenen Auffassungen und Unternehmungen Kenntnis genommen. Leider! muss ich hinzusetzen, bis jetzt nur eine vorläufige, da ich grade jetzt von verschiedenen Amtsgeschäften etwas überhäuft bin. Aber ich habe doch gründlich und umfassend genug gelesen, um Ihnen grosse Anerkennung, wenn auch vielleicht nicht überall Zustimmung aussprechen zu dürfen [...]. Ich habe mir erlaubt, Ihnen unsere Promotionsbestimmungen zusenden zu lassen, weil es mir nicht ganz sicher war, ob Sie dieselben kannten. Sie werden daraus ersehen, daß es eines Dispenses für Sie bedarf, von dem ich aber wohl annehmen darf, daß die Facultät Ihnen denselben gewähren wird. Ich urtheile so nach dem Gesammteindruck Ihrer bisherigen literarischen Thätigkeit. Die Wahl der Prüfungsfächer steht Ihnen frei (in den bezeichneten Gränzen). […] Bei dem Interesse und der Achtung, die Sie mir einflössen, gestatten Sie mir aber eine ganz offene, und nur in Ihrem Interesse gemachte Äusserung hinzuzufügen. Da Sie noch eine besondere Promotionsschrift einreichen müssen, so möchte ich bitten, derselben auch ja eine streng wissenschaftliche Gestalt zu geben, da wir seit Langem unsere Anforderungen grade nach dieser Seite hin ziemlich hoch stellen. Ich verstehe darunter eine recht vollständige, auch äusserlich heraustretende Auseinandersetzung mit der Litteratur des betreffenden Gegenstandes, genaue Citate und methodische Beweisführung. Die mir gütigst eingesandten Schriften verfolgen offenbar mehr einen allgemein litterarischen Gesichtspunkt, als ›zunftmässiger‹ (sit venia verbo) Wissenschaft. Sie lesen sich sehr gut, und lassen Ihre Kenntniss nach den verschiedensten Seiten erkennen. Aber z. B. Ihren Dissensus von Kant, der jetzt wieder so unerschöpflich viel behandelt wird, und wie ich glaube, im Princip, mit Recht – müßten Sie doch noch strenger erörtern, als es bis jetzt der Fall war. Fast ist mir auch der Gedanke gekommen, ob das Forum der Deutschen Sprache und Litteraturgeschichte (Prof. Bechstein) für Sie nicht günstiger wäre, als das eigentliche philosophische [...]«. (RSD, 187 f.)

Ob sich von Stein mit seinen Hinweisen auf die mangelhafte »wissenschaftliche Gestalt« von Steiners Arbeit und seinen unzureichend dargestellten »Dissensus von Kant« auf dessen veröffentlichte Texte bezog oder aber auf einen ihm möglicherweise vorliegenden Dissertationsentwurf, ist unklar. Falls Steiner einen solchen Entwurf vorgelegt haben sollte, könnte es sich um jene unveröffentlichte und nicht erhaltene Abhandlung gehandelt haben, die Steiner in einem Brief vom 24. Juli 1890 erwähnt: Fichtes Wissenschaftslehre und das punctum saliens aller Erkenntnistheorie. Prolegomena zu jeder künftigen Wissenschaftstheorie. Nach der positiven Antwort von Steins wird Steiner dann seine Abhandlung im Sinne der von diesem gemachten Vorschläge umgearbeitet haben. Anfang Mai 1891 reiste er nach Rostock, um von Stein persönlich zu treffen und die Angelegenheiten hinsichtlich seiner Promotion zu regeln. Am 6. August wurden die Bewerbungsunterlagen und das Manuskript seiner Dissertation eingereicht. Der Titel lautete jetzt: Die Grundfrage der Erkenntnistheorie, mit besonderer Rücksicht auf Fichte‘s Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst. Am 23. Oktober fand die mündliche Prüfung in den Gebieten Philosophie, analytische Mechanik und Mathematik statt, die »rite« bestanden wurde. Am 26. Oktober wurde Steiner offiziell der Titel eines Doktors der Philosophie verliehen. 150 gedruckte Exemplare der Dissertation waren an die Universtität abzugeben.

Diese Druckfassung der Dissertation wurde zur Grundlage einer für die Öffentlichkeit bestimmten Buchfassung, die dann im April oder Mai 1892 im Verlag von Hermann Weißbach in Weimar erschien. Darin wurden dem ursprünglichen Dissertationstext ein Vorwort und eine erkenntnistheoretische Schlussbetrachtung hinzugefügt. Neu waren auch Titel und Untertitel der Schrift: Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit, in dem somit Steiners enge inhaltliche Anlehnung an Kant und Fichte nicht mehr zum Ausdruck kam. Die Schrift wurde zuerst am 28. Mai 1892 und dann noch mehrmals während des Sommers im ebenfalls von Weißbach verlegten Litterarischen Merkur angekündigt.

 

Zur Entstehung der Philosophie der Freiheit

Wann genau Steiner die Philosophie der Freiheit in ihrer jetzigen Gestalt konzipierte, lässt sich anhand der Quellenlage nicht eindeutig ermitteln. Es wurde oben bereits nachgewiesen, dass Steiner spätestens seit 1881 an dem Projekt einer »Freiheitsphilosophie« arbeitete und dass sich zentrale Inhalte und Argumente der Schrift bereits in seinen Schriften über Goethe in den Jahren zwischen 1884 und 1887 abzeichneten. Auch die systematische Verbindung der Freiheitsfrage mit dem Erkenntnisthema und der Frage nach dem Künstlerischen findet sich spätestens in den Grundlinien von 1886 und in der zweiten Goethe-Einleitung von 1887 formuliert, sodann auch in den textlichen Zusätzen zur Dissertation, die 1892 als Wahrheit und Wissenschaft erschien. Nach deren Erscheinen behandelte Steiner auch in anderen Texten moralphilosophische Fragen aus derjenigen Perspektive, die er dann in der Philosophie der Freiheit als ethischen Individualismus systematisch darzulegen versuchte. Zu nennen wären hier zwei Aufsätze vom 10. und 29. Oktober 1892 über die Gesellschaft für ethische Kultur sowie der Aufsatz Alte und neue Moralbegriffe von 14. Januar 1893, in denen Steiner die Freiheitsfrage in Verbindung mit dem Thema des philosophischen Dualismus diskutiert. Auch hierher gehört ein Vortrag vom 20. Februar im »wissenschaftlichen Klub« in Wien über Einheitliche Naturanschaung und Erkenntnisgrenzen. Dieser endete, gemäß Steiners Autoreferat, mit den Worten: »Der Monismus als Wissenschaft ist die Grundlage für ein wahrhaft freies Handeln, und unsere Entwickelung kann nur den Gang nehmen: durch den Monismus zur Freiheitsphilosophie

Aus all dem geht hervor, dass die Arbeit an der Philosophie der Freiheit inhaltlich und konzeptionell bereits weit vorgeschritten sein musste, als im Frühjahr 1892 der Verleger Emil Felber an Steiner herantrat und man über die Publikation eines Buches zu verhandeln begann. Schon am 3. Februar ist in einem Brief an denselben die Rede von einem philosophischen Buch, welches Steiner zu schreiben beabsichtigte. Damit war der Auftakt gegeben zu einer intensiven und spannungsvollen Kommunikation zwischen Felber und Steiner, der aufgrund einer Überlastung durch mehrfache Aufgaben die Fertigstellung des Manuskripts wieder und wieder verschieben musste und die Geduld Felbers enorm strapazierte. Denn neben der Fertigstellung von Wahrheit und Wissenschaft und der Arbeit an der Philosophie der Freiheit hatte er nun, zusätzlich zur fortgesetzten Arbeit an zwei kritischen Goethe-Ausgaben, auch noch die Herausgabe einer Werkausgabe der Schriften Schopenhauers für Cotta angenommen. Ab August spitzte sich die Sache zu einem wahren Drama zu und Felbers abwechselnde Bitt- und Drohbriefe werden immer dringender. Für eine Weile stand in Frage, ob das Buch noch rechtzeitig, ja ob es überhaupt noch herauskommen werde. Das Drama endete dann aber doch glücklich am 14. November 1893 mit dem Erscheinen der Schrift. Auf der Titelseite erschien allerdings 1894 als offizielles Erscheinungsjahr. Eine erste Ankündigung des Buches erschien am 3. Dezember 1893 in der Frankfurter Zeitung.

Die zweite Auflage der Schrift kam, wie bereits dargestellt, erst gute 25 Jahre später im Jahre 1918 heraus. Sie dokumentiert in dem neuen Vorwort und vielen umfangreichen Zusätzen, aber auch in zahlreichen inhaltlichen Eingriffen in den ursprünglichen Text, die Entwicklung Steiners zum Esoteriker, der nun im Rückblick seine philosophische Frühschrift als Grundlage und Rechtfertigung seines theosophischen und anthroposophischen Lebenswerks interpretiert und den Text von 1893/94 entsprechend umgestaltet. Die dritte Auflage von 1921 hingegen weist nur einige marginale Abweichungen gegenüber derjenigen von 1918 auf.

Zentrale Inhalte und Textwicklung

Im folgenden Abschnitt sollen die zentralen Themen und Inhalte der philosophischen Schriften Steiner in den Blick genommen und in ihrer Textentwicklung verfolgt werden. Damit die jeweiligen Erstausgaben von Wahrheit und Wissenschaft und Die Philosophie der Freiheit als eigenständige Werkstufen hinreichend wahrgenommen und gewürdigt werden können, werden zunächst nur diese berücksichtigt. Die Zusätze und Bearbeitungen aus späteren Ausgaben werden im Anschluss an die inhaltliche Darstellung der Erstausgaben in einem separaten Abschnitt zur Textentwicklung dokumentiert. Dies scheint besonders angezeigt in Anbetracht der Tatsache, dass in der reichhaltigen Literatur zu Steiner die verschiedenen Werkstufen seiner Texte, besonders aber der Philosophie der Freiheit, oft nicht berücksichtigt worden sind. Demgegenüber scheint es geboten, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass man in gewisser Weise aus zwei ganz verschiedenen Büchern zitiert, je nachdem ein Satz schon in der Erstausgabe stand oder erst später hinzukam. Die folgende Darstellung soll der Ausbildung einer solchen differenzierteren Wahrnehmung der unterschiedlichen Textstufen dienen.

 

Zentrale Inhalte der Dissertation von 1891

Rudolf Steiners Inauguraldissertation weist drei grundsätzliche inhaltliche Themengebiete auf: Im Zentrum steht Steiners Darlegung einer theoretischen Lösung des Grundproblems der Erkenntnistheorie, in der er die Bedingungen der Möglichkeit eines voraussetzungslosen Erkennens darzustellen versucht. Eingerahmt ist dieser Mittelteil durch eine Darstellung von Steiners »Dissensus mit Kant« im Eingangsteil und eine zwar auch distanzierende, aber gegenüber dem Kant-Abschnitt deutlich affirmativere Auseinandersetzung mit Fichte im Schlusskapitel. Während Steiner die kantsche Philosophie insgesamt als unzureichend begründet kritisiert, schließt er sich Fichte in vielen Punkten an, meint aber in der zentralen Frage seiner Dissertation, der Letztbegründung des menschlichen Wissens, über Fichte hinausgehen und dessen Wissenschaftslehre eine ihr bisher fehlende sichere Grundlage geben zu können.

 

Auseinandersetzung mit Kant und dem

naturwissenschaftlichen Illusionismus

Im Mittelpunkt des ersten Teils der Dissertation (Kapitel I-III) steht der Versuch, der kantschen Theorie des Erkennens und verschiedenen in der Nachfolge Kants stehenden Denkern des 19. Jahrhunderts nachzuweisen, dass ihre Anschauungen über die menschliche Erkenntnis allesamt nicht »voraussetzungslos« und darüber hinaus in sich widersprüchlich sind. Steiner fordert in Kapitel I von einer überzeugenden Erkenntnistheorie prinzipielle Voraussetzungslosigkeit und bezieht sich dabei auf die Schriften des Neukantianers Johannes Volkelt. Dieser hatte gefordert, dass der Ausgangspunkt, von dem eine Theorie des menschlichen Erkennens auszugehen hat, nicht bereits ein Ergebnis des Erkenntnisprozesses selbst sein dürfe, also nicht eine bereits formulierte Theorie oder eine Definition, sondern dass dieser Ausgangspunkt noch unberührt von der Erkenntnistätigkeit zu sein habe, die es ja erst zu erkennen gilt.

Um der Erkenntnistheorie Kants ihre mangelnde Voraussetzungslosigkeit nachzuweisen, setzt Steiners Kritik in Kapitel II bei dessen Theorie von den »synthetischen Urteilen a priori« an. Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft postuliert, dass solche zwar erfahrungsunabhängigen und doch erkenntniserweiternden Urteile einen großen Teil der inneren Struktur des menschlichen Erkenntnisapparates und somit die prinzipielle Form einer jeden möglichen Erfahrung ausmachen. Steiner geht in seiner Dissertation davon aus, dass diese Theorie der apriorischen Urteilsformen der zentrale Ausgangspunkt der kantschen Theorie des Erkennens gewesen sei und versucht dann zu zeigen, dass dieser Punkt dem geforderten Kriterium der Voraussetzungslosigkeit nicht entspricht. Denn damit, so sein Argument, sei ein Theoriekonstrukt und eben nicht eine unmittelbare Erfahrung an den Anfang der Erkenntnistheorie gestellt worden. – Das anschließende III. Kapitel versucht dann nachzuweisen, dass ein gleiches auch für verschiedene neuere Philosophen in der Nachfolge Kants gelte sowie für jene naturwissenschaftlichen Anschauungen des 19. Jahrhunderts, die dem menschlichen Weltbild nur den Charakter einer subjektiven Repräsentation, einer »Illusion« zubilligten. Einem Modell folgend, welches Eduard von Hartmann in seinen Grundproblemen der Erkenntnistheorie vorgegeben hatte, geht Steiner die verschiedenen physikalischen, sinnesphysiologischen und philosophischen Argumente jener Denker durch, welche beweisen wollten, dass sinnliche Beobachtung und Wissenschaft dem Menschen immer nur eine subjektive Repräsentation der Wirklichkeit vermitteln können und versucht dann diesen Theorien allesamt nachzuweisen, dass sie in sich widersprüchlich sind. Denn sie alle versuchten, so Steiner, den Illusionscharakter des menschlichen Weltbildes dadurch zu erweisen, dass sie in naiver Weise dieses Weltbild und seine Inhalte selbst (also z. B. die durch Physik und Physiologie gewonnenen Erkenntnisse über die menschlichen Sinne) zur Grundlage ihrer Argumentation machten.

 

Auseinandersetzung mit Fichte

In Kapitel VI, in dem sich Steiner mit Fichte auseinandersetzt, bekennt er zunächst, dass er in einer Reihe grundlegender Voraussetzungen mit diesem Denker übereinstimmt. So teilt er mit Fichte die Vorstellung, dass der Denkakt des Menschen nicht in rein formaler Weise in bestimmte Urteilsformen aufgelöst werden könne (wie Kant das versucht habe), sondern in einem ursprünglichen Entschluss, in einer Tat bzw. »Tathandlung« des freien Geistes bestehe. Auch das »Ich« selbst fasst er mit Fichte nicht wie viele vorkritische Metaphysiker als ein »denkendes Ding« oder eine substantielle »Seele« auf, aber auch nicht, wie Kant, als bloße »regulative Idee«, sondern als reine prozesshafte Wirklichkeit, d. h. als eine sich selbst konstituierende Tätigkeit, die auf nichts als auf sich selbst beruht und die erst (und nur) im Moment ihres Vollzuges wirklich existiert. Drittens schließlich übernimmt Steiner von Fichte auch die Idee, dass dieses »Ich« sich nicht nur in den Produkten seiner Tätigkeit wiedererkennen könne (also in den Vorstellungen, die es sich von der Welt und von sich selbst bildet), sondern sich in seiner »Ich« und »Welt« konstituierenden Tätigkeit selbst anzuschauen vermag. Die Möglichkeit einer solchen »intellektuellen Anschauung« (WW, 42) des Denkakts, also einer Erkenntnis ohne konkret-sinnliche Wahrnehmungsgrundlage, war von Kant strikt abgeleht worden, hatte aber in den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels eine zentrale Rolle gespielt. »Für den klassischen deutschen Idealismus«, schreibt Traub, »ist die intellektuelle Anschauung [...] das Fundament seiner Theorie der Wahrheit und Gewissheit und zugleich der Ausgangspunkt für eine Entwicklung der Philosophie über Kant hinaus« (PuA, 21).

Ausgehend von solchen Gemeinsamkeiten zieht Steiner dann aber auch Grenzlinien gegenüber Fichte und meint, von den fichteschen Voraussetzungen ausgehend über diesen hinaus gehen zu können. So habe Fichte der von ihm nur formal postulierten Tätigkeit des »Ich« keinen konkreten Inhalt geben können. Besonders was das »Ich« im Erkennen eigentlich tue, habe Fichte nur »dunkel gefühlt«, ohne es aber in »klare Begriffe« zu fassen (WW, 55). Diese fehlende Klarheit innerhalb der Wissenschaftslehre will Steiner nun nachliefern. Außerdem kritisiert er, dass Fichte die Tätigkeit des »Ich« beim Erkennen insofern überschätzt habe, als er nicht nur die Begriffe und Ideen, sondern auch allen Erfahrungsinhalt, ja die »Welt« insgesamt aus der Tätigkeit des Ich habe herauskonstruieren wollen. Aufgrund dieser Schwächen, so Steiners Resüme, bleibe Fichtes Wissenschaftslehre trotz aller Verdienste insgesamt unbefriedigend.

 

Steiners eigener Versuch einer Letztbegründung des Wissens

Im Mittelteil der Dissertation, eingerahmt zwischen der Kritik Kants und der Auseinandersetzung mit Fichte, formuliert Steiner seinen eigenen Versuch einer Lösung der Grundfrage des Erkenntnisproblems: Die Kapitel IV und V entwickeln eine Theorie des Erkenntnisaktes, welche zum einen den vermeintlichen Fehler Kants vermeiden will (indem ein »Ausgangspunkt« gefunden wird, der völlig voraussetzungslos ist) und zugleich diejenigen Leerstellen füllen zu können vermeint, welche Fichte nach Steiners Auffassung offengelassen bzw. nicht deutlich ausgeführt hat. Konkret soll diese Theorie durch die Beschreibung der Grundform alles Erkennens aufzeigen, worin die absolute Tätigkeit des »Ich« konkret besteht. Ferner soll sie zeigen, dass dieser absoluten Tätigkeit des »Ich« etwas gegenüber steht, was nicht vom »Ich« selbst hervorgebracht, sondern was ihm vielmehr als Wahrnehmung von außen »gegeben« werde. Drittens soll sie diese Tätigkeit des »Ich« in der Konfrontation mit dem Gegebenen, d. h. den wirklichkeitshervorbringenden Prozess des Erkennens, als dasjenige erweisen, was in der intellektuellen Anschauung konkret anschaubar wird.

Steiner meint, das Kriterium der Voraussetzungslosigkeit zu erfüllen, indem seine Erkenntnistheorie nicht (wie seiner Ansicht nach diejenige Kants) von einer bestimmten theoretischen Setzung ausgeht, sondern (mit Fichte) von etwas, das unmittelbar gegeben ist und sich anschauen lässt: von der Tätigkeit des »Ich« im Erkenntnisakt. Diese beschreibt er dann als das Zusammenwirken von Wahrnehmung und Denken und reformuliert so seine grundlegende Definition des menschlichen Erkennens, die er in den Goethe-Schriften der achtziger Jahre bereits im Kern entwickelt hatte: Der Mensch zerreißt die Wirklichkeit durch seine duale Organisation als sinnlich-geistiger Mensch in einen sinnlichen, durch Wahrnehmung gegebenen Teil, und einen ideellen, durch das Denken erfassbaren Teil. Das Erkennen hingegen bestehe in der Applizierung der Begriffe auf die Wahrnehmungen, wodurch die ursprüngliche Einheit des Seins im Erkenntnisakt wieder hergestellt werde.

Gegenstand des Wissens ist also sowohl bei Steiner als auch schon bei Kant nicht eine unabhängig vom Menschen existierende Welt-an-sich, sondern etwas, was dieser selbst im Prozess des Erkennens überhaupt erst hervorgebracht hat. Während aber Kant auf die Produkte dieser Tätigkeit blickte und als mentale Repräsentation einer jenseits derselben liegenden unerkennbaren Wirklichkeit auffasste, blickt Steiner mit Fichte auf diese Tätigkeit selbst und bezeichnet sie als höchste Erscheinungsform des Wirklichen, hinter und jenseits derselben eine andere, an-sich bestehende Welt zu suchen für den Menschen kein Anlass bestehe. Denn für Steiner ist dieses ›Zerreißen‹ und ›Wiedervereinigen‹ der Wirklichkeit nicht nur subjektiv-mentale Repräsentation von Wirklichkeit, sondern als solche zugleich auch realer und objektiver Vorgang innerhalb des Wirklichen selbst. Folglich hat für ihn der nach »Wahrheit und Wirklichkeit« strebende Mensch diese nicht in einer Sphäre jenseits der erkennenden Tätigkeit zu suchen, sondern – ganz wie Fichte, Schelling und Hegel dies gefordert hatten – innerhalb desselben.

Mit dieser Darstellung des Erkenntnisvorgangs und dieser Definition der Wirklichkeit als reiner Prozessualität, die sich im Menschen ihrer selbst bewusst wird, meint Steiner in seiner Dissertation nicht nur philosophisch über Kant hinausgekommen und Fichte zurechtgerückt zu haben, sondern zugleich den transzendentalen Standpunkt des Neukantianismus, den metaphysischen Realismus Eduard von Hartmanns und den »Illusionismus« der modernen Naturwissenschaft überwunden zu haben.

 

Die Zusätze zur Dissertation von 1892

Als im Jahre 1892 die Buchfassung der Dissertation erschien, hatte Steiner am ursprünglichen Text kaum inhaltliche Veränderungen vorgenommen und, neben dem neuen Titel, nur ein knappes Vorwort und eine sehr kurze »Praktische Schlussbetrachtung« hinzufügt. Dennoch trat mit diesen wenigen Veränderungen ein Buch an die Öffentlichkeit, das einen ganz anderen Schwerpunkt hatte und auch einen ganz anderen Anspruch erhob, als der ursprüngliche Text.

Diese Neuorientierung deutet sich bereits im Titel an. Nicht länger geht es nur um Steiners Position zu einer Spezialfrage der Erkenntnistheorie im Verhältnis zu Kant und Fichte, also um ein relativ begrenztes Sachthema der theoretischen Philosophie, sondern dem vergleichsweise kurzen Text wird zugemutet,weitreichende und weltanschaulich hoch aufgeladene Themenfelder abzudecken. Um »Wahrheit« und »Wissenschaft« sollte es gehen, sowie um deren Verhältnis zueinander. Dem konnte der knappe Text, trotz der Zusätze von 1892, nicht gerecht werden, vor allem da im ursprünglichen Dissertationstext diese Themenfelder kaum und jedenfalls nicht systematisch oder gar erschöpfend behandelt worden waren.

Ferner wird durch die Titeländerung Steiners direkte Bezugnahme auf Kant (durch die Bezeichnung »Prolegomena«) und auf Fichte, die im Untertitel der Erstfassung deutlich wurde, unkenntlich gemacht. Dadurch erscheint die Auseinandersetzung mit diesen Denkern, die immerhin auch in der Neufassung noch den weitaus größten Teil der Schrift ausmacht, jetzt nebensächlich neben den im Titel genannten großen weltanschaulichen Schlagworten, die aber ihrerseits im Text nur kursorisch behandelt werden. Dass dies kein Versehen war, sondern in Steiners Absicht lag, lässt sich daraus entnehmen, dass Steiner im Rückblick das knappe Schlusskapitel als den »wichtigsten Teil« der Arbeit bezeichnete und somit den größten Teil der eigenen Denkarbeit von 1891 praktisch marginalisierte. – Auch der neue Untertitel, »Vorspiel einer Philosophie der Freiheit«, kann als Signal einer Ausweitung des Horizonts von erkenntnistheoretischen Spezialfragen hin zu großen weltanschaulichen Grundsatzthemen verstanden werden. Zum einen, indem Steiner damit auf seine später erschienene und wesentlich umfangreichere Hauptschrift vorauswies, auf die er bekanntlich seit zehn Jahren zielstrebig hingearbeitet hatte, aber auch, indem die Formulierung als Anspielung auf Friedrich Nietzsche verstanden werden konnte, dessen Schrift Jenseits von Gut und Böse den Untertitel trug: »Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«.

Die in der Titeländerung sich andeutende Aufwertung der Dissertation zum weltanschaulichen Manifest setzt sich auch im neuen Vorwort und in der hinzugekommenen »Praktischen Schlussbetrachtung« von 1892 fort. Dies geschieht etwa durch die Umdeutung der erkenntnistheoretischen Differenz mit Kant zum Symptom eines grundsätzlichen weltanschaulichen Gegesatzes zwischen dem Kantianismus und Steiners Position. Während Kants Anschauungen ursprünglich nur als ideengeschichtlicher Hintergrund fungierten, vor dem Steiner seine eigene erkenntnistheoretische Position verdeutlicht, wird er im neuen Vorwort zum weltgeschichtlichen Gegenpol aufgebaut. Dies zeigt sich z. B. daran, dass das neue Vorwort an Kant nicht länger das Sonderthema der »synthetischen Urteile a priori« hervorhebt, sondern den ideologisch viel aufgeladeneren Begriff des »Ding an sich« (WW, VII), der im Dissertationstext keine Rolle spielte, durch den Kant aber jetzt als weltgeschichtlicher Gegner dasteht, welcher die Unerkennbarkeit der Wirklichkeit verkündet habe und daher nun von Steiner bekämpft werden müsse. Parallel dazu bringt Steiner auch die Ethik Kants ins Spiel (ebenfalls kein Thema in der Dissertation) und charakterisiert die Theorie des »kategorischen Imperativ« in der Weise, als habe Kant damit eine heteronome, die Freiheit des Menschen verneinende Ethik begründet, in welcher der Mensch auf eine autoritative »Stimme aus dem Jenseits« (WW, X) zu hören habe, um sittlich sein zu können.

Ein weiteres Merkmal der Zusätze von 1892 ist Steiners Ausweitung seines ursprünglichen Bezugs auf Fichte hin zu einer Einreihung der eigenen Position in den Kontext des deutschen Idealismus. »Fichte, Schelling und Hegel« werden mehrfach in einem Atemzug genannt und von Steiner zur philosophischen Gegenströmung zu Kant stilisiert, die sich »überall im Gegensatz« zu diesem entwickelt habe. Diese Strömung wird dann zwar einerseits kritisiert als ohne sicheres erkenntnistheoretisches Fundament dastehend, aufgrund welchen Mangels »die stolzen Gedankengebäude Fichtes, Schellings und Hegels [...] ohne Fundament« dastünden und daher »den Stürmen einer philosophiefeindlichen Zeit nicht zu trotzen« (WW, IX) vermocht hätten. Insofern Steiner aber diese Strömung als eine gegen Kant gerichtete und Kant überwindende darstellt, reiht er sich selbst in dieselbe ein und stellt sich somit unausgesprochen als möglicher Vollender des deutschen Idealismus dar, der diesem die ihm bisher fehlende sichere Erkenntnisgrundlage zu verschaffen verspricht.

Begleitet wird diese Neupositionierung Steiners innerhalb der Strömung des deutschen Idealismus durch einen unübersehbaren Abgrenzungsversuch von Goethe. Steiner hatte ja vor seiner Dissertation gute neun Jahre mit der Edition und Interpretation Goethes verbracht. Und auch in seinem Erstlingswerk, den Grundlinien einer Erkenntnistheorie, hatte er nur beansprucht, die in Goethes naturwissenschaftlichem Denken unausgesprochenen philosophischen Prinzipien herauszustellen. Ab 1892 jedoch finden sich Anzeichen einer Distanzierung von Goethe in Briefen Steiners. Jetzt, nach erfolgreicher Promotion und vor dem Hintergrund der beschriebenen Neupositionierung als Denker in der Tradition des deutschen Idealismus, findet diese Abgrenzung auch einen ersten literarischen Niederschlag, indem Steiner betont, dass sein »Gedankengebäude eine in sich selbst begründete Ganzheit« sei, die »nicht aus der Goethe’schen Weltanschauung abgeleitet zu werden braucht« (WW, XII).

Der zentrale Punkt der Zusätze von 1892 besteht aber wohl in der Formulierung dessen, was Steiner jetzt als das zentrale Resultat seiner Arbeit ansieht, nämlich

daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgend einem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums. (WW, X)

Dieses Zitat greift zwar zentrale Aussagen der Dissertation auf, formuliert sie aber in einer Weise, die inhaltlich über das 1891 Geschriebene hinausgehen. Denn hier wird nicht mehr über bloße Erkenntnistheorie gesprochen, sondern hier wird keimhaft eine ganze Theorie der Wahrheit umrissen, die zugleich Wirklichkeitstheorie, die Ontologie zu sein beansprucht. Und nicht nur das: die Theorie des Wissens geht zugleich in eine Theorie des menschlichen Wesens über, indem Steiner einerseits das Wesen der Wahrheit an das Wesen des Menschen anbindet, sie als dessen freies Erzeugnis charakterisiert, und andererseits das Wissen als »organisch in das Weltgeschehen eingegliedert«, als »das vollendetste Glied im Organismus des Universums« versteht. Damit wird Steiners monistische Wirklichkeitsauffassung, wie sie sich in seiner Auseinandersetzung mit Goethe und Haeckel entwickelt hatte, nicht nur mit seiner idealistischen Erkenntnislehre verbunden, sondern geht organisch in eine Lehre vom sich entwickelnden Wesen des Menschen und dessen Rolle innerhalb der Evolution des Universums über.

In dieser monistisch begründeten Verknüpfung von Wissenschaftstheorie mit einer existenzial ausgerichteten Anthropologie, in dieser sinngebenden Einbettung der Evolution menschlicher Erkenntnis in die Entwicklung des Universums, kann man mit Hartmut Traub die erste Formulierung von Steiners Grundkonzept seiner Anthroposophie sehen, wie er sie in seinen späteren Schriften und Vorträgen ausgestaltet hat. Entgegen jenen Anschauungen, nach denen Steiner die konzeptionellen Grundlagen der Anthroposophie erst nach 1900 in der Auseinandersetzung mit theosophischen Anschauungen und als eine Art Abkehr von seinem philosophischen Denken entwickelt haben soll, lässt sich somit argumentieren, dass Steiner die gedankliche Grundgestalt der späteren Anthroposophie bereits hier, im Vorwort von Wahrheit und Wissenschaft, im Medium einer zwar gegen Kant gerichteten aber im wesentlichen noch neukantianisch gefassten Erkenntnistheorie, keimhaft ausgesprochen hat.

Mit diesem Menschen- und Wirklichkeitsverständnis ist aber zugleich auch die Freiheitsfrage bereits angeklungen, auch wenn das Wort »Freiheit« bisher nicht gefallen ist. Dies liefert Steiner in der praktischen Schlussbetrachtung nach, in welcher das bisher Erarbeitete auf organische Weise mit der Freiheitsfrage verbunden wird. Folgerichtig schließt denn das Buch auch mit dem Satz: »Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen« (WW, 74). Mit diesem vielzitierten Satz ist der eigentliche Gesichtskreis von Wahrheit und Wissenschaft bereits überschritten und auf die zwei Jahre später erscheinende Philosophie der Freiheit hingedeutet.

Grundstruktur und zentrale Begriffe der

Philosophie der Freiheit von 1893/94

Als die am Schluss von Wahrheit und Wissenschaft anvisierte Freiheitsphilosophie zwei Jahre später herauskam, reformulierte deren erster Teil, die »Wissenschaft der Freiheit«, im Wesentlichen noch einmal Steiners Erkenntnistheorie von 1886/87 und 1891. Die zentralen Aussagen der ersten sieben Kapitel sind im Kern dieselben, die Steiner in den Grundlinien, den Einleitungen zu Goethe und dann in seiner Dissertation bereits formuliert hatte, nur dass jetzt diese Inhalte auf eine breiter angelegte Weise dargestellt und – gemäß dem Anspruch, vor dem geistigen Auge des Lesers einen Begriffs-Organismus entstehen zu lassen – gewissermaßen ideendramatisch inszeniert wurden. Den doppelten Hintergrund dieser Inszenierung geben eine sich ganz schlicht und populärwissenschaftlich gebende Phänomenologie des alltäglichen individuellen Bewusstseins und die allgemeine Annahme einer gesetzmäßig ablaufenden Evolution des philosophischen Bewusstseins, welche den Einfluss sowohl Haeckels wie der Denker des deutschen Idealismus auf Steiner deutlich erkennen lässt. Ein »Trieb zur Wissenschaft« tritt da auf und führt, ähnlich wie Hegel in seiner Phänomenologie, Fichte in den Anweisungen oder Schelling in seinen späten Texten, den mitdenkenden Leser durch mannigfache Stufen des sich entwickelnden Wissens: durch »Dualismus« und »Monismus«, »Spiritualismus« und »Materialismus«, durch »Willensphilosophie« und »Gefühlsphilosophie«, durch »naiven Realismus«, »kritischen Idealismus«, »metaphysischen Realismus« – und wie die Ideengestalten alle heißen, die Steiner auf der Bühne der menschlichen Bewusstseinsgeschichte auftreten lässt. In der zunächst letzten Stufe, im »metaphysischen Realismus« Eduard von Hartmanns bzw. im »naturwissenschaftlichen Illusionismus«, sieht sich das Denken nach Steiner an eine Grenze geführt, wo das philosophierende Bewusstsein zunächst nicht weiterkommt und sich in einer Aporie verfängt. Es könne nämlich dieses Gedankengebäude zwar als widersprüchlich aufweisen (und Steiner tut dies ausführlich mit Hilfe der Argumente aus seiner Dissertation), nicht aber etwas anderes an ihre Stelle setzen. Da erscheint, gewissermaßen als der deus ex machina im Drama der menschlichen Erkenntnis, der sogenannte Ausnahmezustand der »Beobachtung des Denkens«. Er führt den Leser aus der Ausweglosigkeit, in welche das philosophische Bewusstsein sich verfangen hat, heraus, indem er das Grundübel dieses Bewusstseins selbst, das Zerfallen der Wirklichkeit in dualistische Seinhälften, überwinden hilft. Die in der Denkbeobachtung erfahrbare, die Einheit des Seins erweisende höhere Stufe des Erkennens bekommt dann jenen Namen, den Steiner in früheren Schriften zur Charakterisierung von Goethes Anschauung des Organischen verwendet hatte, und heißt fortan »Intuition«. In der intuitiven Erkenntnis, so Steiner, erweise sich das Erkannte mit dem Erkenner identisch, Subjekt und Objekt des Erkenntnisprozesses seien ein und dasselbe und somit sei eine Basis für ein nicht-dualistisches Bewusstsein geschaffen, welches sich aus dem Netz zu befreien vermag, in welchem das rein diskursive Denken sich am Ende seiner bisherigen Entwicklung verfangen hatte. In diesem nicht-dualen intuitiven Bewusstsein schaue der sich selbst beobachtende Mensch zwar zunächst nichts anderes an, als die innere Wesenheit des Denkens; aber da diese Wesenheit sich im zentralen Kapitel des ersten Teils als der »Kern der Welt«, als absolutes alleiniges Weltwesen selbst erweist, aus dem alles hervorgeht, kann der Leser sich der berechtigten Hoffnung hingeben, so Steiner, daß ihn die intuitive Erkenntnis von der Einsicht in das Wesen des Denkens schließlich auch zur Erkenntnis aller Dinge führen wird.

Die Intuition ist aber nicht nur die höchste Form der im ersten Teil der Schrift geschilderten Entwicklung des theoretischen Erkennens, sondern auch das Kronjuwel in Steiners ethischem Individualismus, der im zweiten Teil der Schrift unter dem Titel »Wirklichkeit der Freiheit« formuliert wird. Im Zentrum desselben steht eine Stufentheorie des sittlichen Handelns, dessen höchste Stufe ein Handeln darstellt, das seine Motivierung aus einer »moralischen Intuition« bezieht. Diese ist verwandt mit, aber auch zu unterscheiden von der »epistemischen Intuition« des ersten Teils: der »freie Geist« handelt nach Steiner nicht auf der Grundlage heteronomer, von außen vorgegebener Sittlichkeitsprinzipien wie Trieb, Lust, Nützlichkeit oder Pflicht, sondern ausgehend von moralischen Intuitionen, von denen es heißt, dass der Mensch sie selbst schöpferisch »hervorbringe«. Und, da solche moralischen Intuitionen ja in konkrete sittliche Tat umgesetzt werden müssen, beschreibt Steiner zudem ein Vermögen der Verwandlung moralischer Intuitionen in konkrete Handlungsvorstellungen, die »moralische Phantasie«, sowie ein weiteres zur praktischen Implementierung einer solchen Handlungsvorstellung in einer konkreten Lebenssituation, die »moralische Technik«. Die Darstellung dieser Vorstellungen erfolgt in den zwei zentralen Kapiteln des zweiten Teils (»Die Idee der Freiheit« und »Die moralische Phantasie«); die übrigen Abschnitte desselben haben den Charakter von Überleitungen, Illustrationen, Erweiterungen und praktischen Anwendungen der steinerschen Freiheitsidee und sind für den Hauptgedankengang der Schrift eher sekundär.

Den dritten Teil der Schrift bildet ein Schlusskapitel, in welchem die erkenntnistheoretischen und ethischen Inhalte der ersten beiden Teile in eine allgemeine pantheistisch bzw. panentheistisch geprägte Ontologie und Theologie eingegliedert werden, die in vieler Hinsicht bereits Steiners spätere Zuwendung zur Mystik und zur Theosophie wenn nicht vorwegnimmt, so doch andeutet und konsequent erscheinen lässt. Der mystische Charakter kommt im Zentralsatz dieses Kapitels prägnant zum Ausdruck, wo es heißt: »Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott« (PF, 260).

Im Folgenden sollen einige der zentralen Problemfelder des Textes umrissen werden. Obwohl eine solche Darstellung nur skizzenhaft ausfallen kann und zudem die Gefahr birgt, der unbefangenen Leseerfahrung vorzugreifen, sei sie hier eingefügt. Zum einen um, wie bereits angedeutet, den Eigencharakter der Originalausgaben gegenüber den Neuauflagen deutlicher als bisher herauszuarbeiten; dann aber auch, weil durch die folgende, das bewusstseinsevolutive Moment der Darstellung besonders hervorhebende Perspektive möglicherweise neue Fragestellungen und Perspektiven für die derzeit noch in den Anfängen steckende Forschung über Steiners philosophisches Werk entstehen können.

 

 

Zentrale Problemfelder der Philosophie der Freiheit von 1894

Rahmen und Aufgabenstellung der Freiheitsphilosophie

Das ursprüngliche Anfangskapitel der Philosophie der Freiheit, »Die Ziele allen Wissens«, umriss den thematischen Rahmen des Buches mit Hilfe zweier aufeinander bezogener Begriffsfelder. Auf der einen Seite wurde der Begriff der Freiheit hervorgehoben und dessen Bedeutung mit einem »aufs höchste gesteigerten menschlichen Freiheitsdrang« als einem »Grundzug des Zeitalters« gerechtfertigt. Auf der anderen Seite drehte sich die Darstellung um Begriffe wie »Wissen«, »Erkennen«, »Denken« und »Philosophie«. Beide Begriffsfelder wurden dann zudem mit dem Element des Künstlerischen in Verbindung gesetzt: Die Philosophie wurde als »Begriffskunst« charakterisiert und die Freiheit erschien als Vollendung einer durch das Individuum zu verwirklichenden Lebenskunst. Mit dieser dreigliedrigen Ideenkonstellation stellte Steiner sein Buch unübersehbar in die Tradition des deutschen Idealismus. Die Triade von Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik (bzw. von theoretischer, praktischer und teleologischer Vernunft) als der drei Hauptgebiete philosophischen Denkens war ja bereits von Immanuel Kant mittels seiner drei »Kritiken« populär gemacht worden und hatte auch die innere Struktur der Systementwürfe Fichtes, Schellings und Hegels stark bestimmt.

Mit dem Begriff der »Philosophie als Kunst« verbanden sich 1894 zwei weitere zentrale Konzeptionen, in welchen sich die starke Verbundenheit des steinerschen Denkens mit Goethes naturwissenschaftlichem Denken und mit der hegelschen Wissenschaftskonzeption zeigte. Es waren dies die Begriffe des »Organischen« und der »Evolution«. Zum einen sollte »die Wissenschaft [...] selbst organisch-lebendig« und »zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht« werden; andererseits wurden Wissen und Bewusstsein nicht als bloße mentale Repräsentationen äußerer Wirklichkeit verstanden, sondern als Ausdruck einer sich unentwegt entwickelnden Wirklichkeit, die in der erkennenden und selbstbewussten Tätigkeit des Menschen zu ihrer zunächst höchsten Form gelangt und von dort aus zur Entwicklung neuer, noch vollkommenerer Formen des Erkennens drängt. Folgerichtig wurde als Ziel der wissenschaftlichen Untersuchungen nicht ein theoretisches, sondern ein existentielles formuliert: die im schöpferischen Erkennen und im freien Handeln praktisch verwirklichte »Erhöhung des Daseinswertes« und »allseitige Entfaltung der ganzen Menschennatur« (PF, 282). Philosophie sollte Evolutionstheorie sein, angewendet nicht auf Pflanzen und Tiere, sondern auf Ideen und Weltanschauungen; zugleich aber auch Evolutionspraxis, d. h. konkrete Hervorbringung neuer, höherentwickelter Formen des Denkens und Bewusstseins.

Als ein weiteres Element zeigte sich im Anfangskapitel gleich zu Beginn ein mystisch-esoterischer Zug des steinerschen Philosophierens, der schon in den Goethe-Arbeiten der achtziger Jahre gelegentlich durchschien, in der Dissertation von 1891 aber fast ganz fehlte. Diese esoterische Unterströmung zeigt sich unter anderem darin, dass der Zentralbegriff des »Individuums« von Anfang an mit dem des »Universums« zusammengestellt und dialektisch vermittelt wird, und zwar in Metaphern, die unverkennbar platonisch-mystische Luft atmen. So hieß es da, der Mensch habe sich in den »Grund seines Wesens« zu versenken und von dort wieder »zur Erkenntnis des ganzen Universums aufzusteigen«; er habe sich zunächst in das »Ätherreich der Abstraktion« zu erheben, um von da aus wieder ins »konkrete Leben« eintauchen zu können. Diese aus der mystisch-apokalyptischen wie auch der platonischen Literatur bekannte Metaphorik eines »Aufstiegs« und »Abstiegs« der menschlichen Erkenntnis sowie der damit evozierte hermetische Gestus einer Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch und geben so der Schrift einen nur leicht verhüllten gedankenmystischen Unterton, der meist als eine Art Unterströmung der Darstellung mitfließt, bisweilen aber deutlich an die Oberfläche kommt, etwa in der Beschreibung der Einheit des Menschen mit dem Absoluten im Denken (PF, 59 f.), und vor allem im Schlusskapitel. Die Frage nach dem Verhältnis des Philosophen Steiner zum Mystiker stellt sich somit nicht erst im Vergleich der beiden Auflagen von 1894 und 1918, sondern bereits innerhalb der Erstauflage als solcher.

Kritisch anzumerken wäre, dass Steiner durch die Umstellung des ersten Kapitels der Erstausgabe und dessen retrospektive Umdeutung als »eine Art Vorwort« den letzten Satz des ursprünglichen Anfangskapitels zum letzten Satz des ganzen Buches gemacht hat, was binnenanthroposophisch zu einer Überbewertung dieses Satzes geführt und den ursprünglich letzten Satz des Buches – »Er ist frei.« – seiner exponierten Stellung beraubt hat. Zudem wäre zu fragen, wie solch massive Eingriffe in die ursprüngliche Struktur des Werkes mit Steiners später erhobenem Anspruch zu vereinbaren sind, dass die Philosophie der Freiheit als Gedankenorganismus aufzufassen sei, der gerade »nicht so geschrieben [sei] wie andere Bücher, daß sie einen Satz einer bestimmten Stelle auch an eine andere Stelle des betreffenden Buches setzen könnten« (GA 55, 187 f.).

 

Die Verknüpfung der Freiheitsfrage mit der Erkenntnistheorie

Schon in der Philosophie Kants und dann auch in den Systementwürfen Fichtes, Schellings und Hegels war es stets ein zentrales Problem gewesen, das Verhältnis der verschiedenen philosophischen Disziplinen untereinander zu klären, um dann zu einer begründeten Theorie ihrer inneren Einheit und Zusammengehörigkeit zu kommen. Auch Steiner stand vor diesem Problem: Sollte der ethische Individualismus nicht nur eine Beigabe zum monistischen Wirklichkeits- und Erkenntnisverständnis sein, sondern, gemäß des ideogenetischen Programms der Schrift, organisch als deren innere Konsequenz aus ihnen hervorgehen, dann musste gezeigt werden, wie theoretische und praktische Vernunft, wie Erkenntnistheorie und Ethik innerlich zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen. Dies leistet zunächst das Kapitel »Das bewußte menschliche Handeln«, welches das Freiheitspathos des ursprünglichen Anfangskapitels aufgreift und mit dem Erkenntnisthema zusammenführt. So kommt es zu einer ersten vorläufigen Bestimmung der Freiheit als ein Handeln, bei dem der Mensch ein »Wissen von den Gründen seines Handelns« (PF, 20) hat. Die Notwendigkeit einer Untersuchung der Natur des Wissens bzw. des Bewusstseins erweist sich so als Voraussetzung der Beantwortung der Freiheitsfrage. In den folgenden sechs Kapiteln geht es dann vornehmlich darum, was der Mensch erkennen und wissen kann; die Freiheitsfrage hingegen wird erst mit Beginn des zweiten Hauptteils wieder aufgegriffen, wo sie dann, so jedenfalls Steiners offensichtliche Intention, als organische und zwingende Konsequenz der erkenntnistheoretischen, ontologischen und anthropologischen Bestimmungen des ersten Teils erscheinen soll. Steiner versucht dies, indem er im zweiten Teil die Freiheit aus eben jener intuitiven Erkenntnis abzuleiten versucht, die im ersten Teil als höchste Stufe der Evolution der theoretischen Erkenntnis dargestellt wurde.

 

Überwindung des Dualismus als

individuelle und menschheitliche Aufgabenstellung

Um die Frage nach Ursprung und Wesen des Wissens zu beantworten, untersucht das folgende Kapitel, »Der Grundtrieb zur Wissenschaft«, die Struktur des menschlichen Bewusstseins. Es beschreibt dessen charakteristischste Qualität als ein Auseinanderfallen der Welt in die unversöhnlichen Gegensätze von »Wahrnehmung« und »Gedanke«, »Ich« und »Welt«, »Subjekt« und »Objekt«, »innen« und »außen« usw. Dieses Auseinanderfallen kann, im Sinne der goetheanistischen Studien Steiners, als das »Urphänomen« des Bewusstseins betrachtet werden, von dem aus alle weiteren Argumentationsstränge des Buches ihren Ausgang nehmen; und es nimmt eine ähnliche Funktion ein, wie die Anschauung der Ich-Tätigkeit in der Dissertation: Es ist für Steiner nicht Theorem, sondern eine von jedem im eigenen Bewusstsein unmittelbar anschaubare Tatsache. Aus ihr leitet Steiner dann ein weiteres Phänomen ab, nämlich die Sehnsucht des Menschen, beide Hälften der Wirklichkeit wieder miteinander zu verbinden. In Wissenschaft, Kunst und Religion sieht Steiner die drei natürlichen, sich gesetzmäßig aus der Entfremdung des Bewusstseins ergebenden Reaktionen des Menschen auf seine Entfremdung von sich selbst durch den Akt der Bewusstwerdung. Wieder erkennt man im Hintergrund dieser Darstellung die Vorbilder Fichte, Schelling und Hegel, welche allesamt die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins mit derselben dialektischen Gedankenfigur von ursprünglicher Einheit, durch Bewusstheit erzeugter Entfremdung und durch Philosophie erlangter Wiedervereinigung erklärt hatten.

Folgerichtig (und gemäß dem hermetischen Grundsatz der Entsprechung von Individualentwicklung und Menschheitsgeschichte) überträgt Steiner dann die zunächst am individuellen Bewusstsein aufgewiesene Dialektik des »Trennens« und »Verbindens« auf die allgemeine Geistesgeschichte. »Die Geschichte des geistigen Lebens« sei, so Steiner, als »ein fortwährendes Suchen nach der Einheit zwischen uns und der Welt« (PF, 27) zu verstehen. Und auch die zwei prinzipiell möglichen Antworten des entfremdeten Bewusstseins werden sogleich angegeben und als »Dualismus« und »Monismus« geschildert. Beide erweisen sich freilich im Lauf der Darstellung als einseitig bzw. widersprüchlich: Der Dualismus projiziert nach Steiner den nur im und durch das Bewusstsein bestehenden »Riss« in der Wirklichkeit in diese selbst hinein und glaubt dann an zwei grundverschiedene Seinssphären, die er aber denkerisch nicht vermitteln kann. Der Monismus hingegen erkläre eine dieser fiktiven Seinshälften für wirklich und halte die andere für illusionär, wodurch dann die einseitigen Weltanschauungen des Idealismus (»Spiritualismus«) und des »Materialismus« entstünden. Oder aber er erkläre, wie bei Spinoza geschehen, »Geist« und »Materie« (oder in welcher Dichotomie sich ihm die Wirklichkeit auch immer darstellt) zu Attributen einer einzigen dahinterstehenden Substanz. Und so ergibt sich aus der Betrachtung ein konkretes Ziel des individuellen und kollektiven Erkenntnisstrebens, nämlich alle im Bewusstsein erzeugten Aufspaltungen wieder zu überwinden und Wirklichkeit als einheitliche zu denken, ohne die beschriebenen Projektionsfehler des Dualismus und des Monismus zu begehen. Es gelte, so Steiner, den Riss nicht durch irgend eine »monistische« oder »dualistische« Theorie zu erklären, sondern durch eine reale Transformation zu einer höheren Bewusstheit zu kommen, in der sich der Riss und das Zerrissene, das Rissbildende, das den Riss Erfahrende und das ihn Überwindende allesamt als Momente der einen »Wirklichkeit« erweisen.

 

Reduktion und Schematismus als initiationsdidaktisches Stilmittel

Die in diesem Zusammenhang von Steiner vorgenommene Reduktion komplexer ideengeschichtlicher Entwicklungen auf simplifizierte Schlagworte (»Dualismus«, »Monismus«), die bisweilen auch einer bestimmten historischen Denkerpersönlichkeit wie Spinoza, Fichte oder Eduard von Hartmann zugeordnet werden, erweist sich im Verlauf der Schrift als eines ihrer zentralen stilistischen und philosophiedidaktischen Mittel. Die Frage stellt sich, warum Steiner dies tat, denn dass er sich inhaltlich sachgemäß mit der Komplexität anderer Weltanschauungen auseinandersetzten konnte, hatte er ja in seinen frühen Goethe-Arbeiten und in seiner Dissertation gezeigt. Hier, in der Philosophie der Freiheit, wollte er offensichtlich etwas anderes, nämlich einer allgemeinen Leserschaft auf populärwissenschaftliche Weise den Nach- und Mitvollzug komplexer bewusstseinsgeschichtlicher Entwicklungen und Verhältnisse ermöglichen. Für diesen seinen Umgang mit Fichte, Spinoza, Kant und Schopenhauer sowie mit »Spiritualismus« und »Materialismus«, mit »Willensphilosophie« und »Gefühlsphilosophie« sowie mit den Positionen des »naiven Realismus«, des »kritischen Idealismus« und des »metaphysischen Realismus« ist Steiner in der neueren Literatur und insbesonders von Hartmut Traub heftig kritisiert und gar des philosophischen Dilettantismus bezichtigt worden. Eine solche Einschätzung wird jedoch weder dem historischen Kontext noch der didaktischen Funktion dieser Passagen innerhalb der Schrift gerecht. Zum einen war ein solcher schlagworthafter Umgang mit philosophischen Positionen gang und gäbe in der philosophischen Literatur seiner Zeit. Namen wie »Fichte« und »Spinoza« oder Positionsbezeichnungen wie »metaphysischer Realismus« standen abkürzend für gewisse durchaus auch differenziert verstandene philosophische Paradigmen, deren Bedeutung die Autoren der Zeit sehr wohl kannten. Zweitens war es Steiner ein Anliegen, seinen Lesern unabhängig von deren fachlicher Bildung, d. h. auch dem »einfachsten Menschengemüt, das ferne steht dem, was man philosophisches Denken nennt«, einen inneren Mitvollzug, ein gedankliches Miterleben des großen Bogens der menschlichen Bewusstseinsevolution im eigenen »Ich« zu ermöglichen. Es ist eine in der mystischen wie in der philosophischen Literatur oft zu beobachtende und bis auf Platos Timaios zu verfolgende initiationsdidaktische Methode, zu versuchen, den Leser mittels eines mikrokosmischen Nachvollzugs makrokosmischer Vorgänge zu einer »höheren« Erfahrung oder gar einer Erkenntnis des dem Ich und dem Universum zugrundeliegenden Seinsgrundes selbst zu führen. Steiner tat dies 1910 ausdrücklich in seiner Geheimwissenschaft, und eine ähnliche Grundkonzeption lässt sich auch in der Struktur der Philosophie der Freiheit nachweisen, nur dass hier nicht die Geschichte des Kosmos, sondern die Entwicklung des philosophischen Bewusstseins Gegenstand der »makrokosmischen« Darstellung ist, die der Leser innerlich nach- und mitvollziehen soll. Ein solches Unternehmen ließ sich aber in beiden Schriften nur durch weitgehende Simplifizierung von an sich hochkomplexen (kosmogonischen und ideengeschichtlichen) Zusammenhängen bewerkstelligen. Steiner hat diesen initiationsdidaktischen Ansatz in seinen Schriften von 1901 und 1902 (vgl. SKA 5) sowie in seinen erkenntnisschulischen Texten ab 1904 (vgl. SKA 7) ausführlich beschrieben und sich auch in der Neuauflage der Philosophie der Freiheit offen dazu bekannt. Ob aber und in welchem Maße Steiner tatsächlich die Schrift schon in der Erstausgabe bewusst und konsequent als Schulungsschrift konzipiert hat, oder sie erst in der retrospektiven Deutung von 1918 so verstanden hat, bleibt vorerst eine offene Frage.

 

 

Ideogenese: Eine Evolutionstheorie

des philosophischen Bewusstseins

Im Kapitel »Die Welt als Wahrnehmung« inszeniert Steiner anhand der oben charakterisierten Methode die gesamte abendländische Philosophiegeschichte in einem vereinfachenden ideendramatischen Szenario. Diesmal heißen die Akteure nicht »Dualismus« und »Monismus«, sondern, wie bereits in der Dissertation von 1891, »naiver Realimus«, »kritischer Idealismus« und »metaphysischer Realismus«. Wie in den Welträtseln Haeckels eine neue Tier- oder Pflanzenart aus der vorherigen durch Metamorphose entsteht, so lässt Steiner diese Begriffsgestaltungen, die freilich in sehr groben Zügen gezeichnet werden, als die drei grundlegenden Stufen des sich entwickelnden philosophischen Bewusstseins auseinander hervorgehen, wobei die jeweils höhere Stufe die niedrigere sowohl logisch widerlegt als auch ontologisch, d. h. als charakteristische Bewusstseinsstufe, aufhebt. Und auch die zunächst höchste Stufe, der metaphysische Realismus (womit zum einen die Philosophie Eduard von Hartmanns und zum andern die moderne rein hypothetisch vorgehende Naturwissenschaft, d. h. der »ungesunde Kant-Glaube« aus Wahrheit und Wissenschaft gemeint ist) erweist sich – und zwar anhand jener Argumente, die Steiner bereits 1891 vorgelegt hatte – als in sich widersprüchlich. Wenn dieser aber dazu komme, so Steiners Resümee, die in ihm liegenden Widersprüche zu erkennen, dann verwandle er sich notwendig in die vierte und höchste Stufe des philosophischen Bewusstseins, die nichts anderes ist als Steiners eigener objektiver Idealismus, der somit als zunächst höchste Stufe und Ziel der menschlichen Bewusstseinsevolution überhaupt erscheint. Warum Steiner so vorgeht, wird in der Erstauflage nicht unmittelbar thematisiert. In der Neuauflage von 1918 jedoch wird eine konkrete initiationsdidaktische Erklärung dafür angeboten: dem mitdenkenden Leser soll eine Anschauung der allgemeinen Bewusstseinsgeschichte vor Augen geführt werden, damit er durch mitdenkende Teilnahme diese nicht nur intellektuell versteht, sondern de facto vollzieht und somit wirklich werden lässt (vgl. PF, 103). Er soll gewissermaßen wie der sich während des Lesens als Held des von ihm gelesenen Buches erkennende Bastian in Michael Endes Roman Die Unendliche Geschichte die Naturgeschichte des Bewusstseins, von der er in der Philosophie der Freiheit liest, im eigenen Bewusstsein realisieren und fortsetzen.

Das ungelöste Problem der Vermittlung von

Individualität und Universalität

Schon durch die bisher erörterten Gedanken entstehen in der Philosophie der Freiheit eine Reihe fundamentaler und von Steiner nicht durchweg beantworteter Fragen. So wurde die Tätigkeit des »Ich« und somit das Wesen des Menschen einerseits als Aktivität eines individuellen Denkers und andererseits als Ausdruck der universell-absoluten Natur des Denkens beschrieben. Ferner stellt sich die Intuition, die höchste Stufe des Erkennens (sowohl in ihrer »epistemischen« wie in ihrer »moralischen« Variante) aus der Perspektive des Denkens als Vereinigung des universellen Begriffs mit der Individualität des Menschen, zugleich aber, aus der Perspektive des Menschen, als Vereinigung des Individuums mit dem absolut-universellen Wesen des Denkens dar. Die Frage nach der Individualität des Menschen, welche im ursprünglichen Anfangskapitel so vehement erhoben wurde, dann aber in den Hintergrund trat, und die Fragen nach ihrer Definition, ihrem Stellenwert im Erkenntnisprozess und ihrem Verhältnis zur Universalität des Denkwesens werden somit zu einem zentralen Problem der Schrift. Steiner bekannte selbst in einem Brief an Eduard von Hartmann, dass er dieses Problem zumindest in der Erstauflage nicht befriedigend gelöst hatte. »Ich empfinde es auch als einen Mangel meines Buches«, heißt es da, »daß es mir nicht hat gelingen wollen, die Frage ganz klar zu beantworten, inwiefern das Individuelle doch nur ein Allgemeines, das Viele ein Eines ist«. Ob ihm die Vermittlung in der Neuauflage besser gelungen ist oder nicht, könnte ein spannendes Thema künftiger Steinerforschung sein.

 

Vorstellung und Gefühl als Vehikel der

Individuierung des Absoluten

Die zentrale Darstellung des Verhältnisses zwischen dem »Individuellen« und dem »Allgemeinen« findet sich im Kapitel »Die menschliche Individualität«. Hier beschreibt Steiner die Vorstellungsbildung und das Fühlen als die beiden Mittel, durch welche sich das absolute Wesen der Wirklichkeit bzw. des Denkens im Menschen individualisiert, sich dann aber, als zum Individuum geworden, im Denken wieder dem Universellen zuwendet. »Vorstellung« wird definiert als etwas, was als ein gewisser »Rückstand« übrigbleibt, nachdem sich durch den Einschlag des Denkens in den konkreten Beobachtungsinhalt des Individuums das Erkennen vollzogen hat. Es ist der zurückbleibende »Bezug« eines bestimmten universellen Begriffs zu einer bestimmten konkreten Wahrnehmung und wird dementsprechend als »individualisierter Begriff« (PF, 110) charakterisiert. Das Vorstellungsleben des Menschen ist somit für Steiner das principium individuationis, in ihm nimmt die universelle Welt der Begriffe und Ideen individuelle Gestalt an. – Aber auch die Gefühle des Menschen spielen bei dieser Konkretisierung und Individualisierung der an sich universellen Begriffswelt eine Rolle. Denn eine Vorstellung, mit welcher der Mensch kein Gefühl verbindet, ist nach Steiner für den Erkennenden ohne jegliches Interesse und kann somit nicht die Aufgabe erfüllen, das im Menschen individualisierte Absolute wieder zu seinem Ursprung zurückzuführen. Die Begriffe müssen also nach Steiner nicht nur durch die Vorstellungsbildung individualisiert, sondern durch das Gefühl mit dem individuellen Selbsterleben des Menschen verbunden und so existentiell gemacht werden. Dadurch aber kehrt sich die Geste des epistemischen »Abstiegs« in diejenige des existentiellen »Aufstiegs« um: das im Fühlen sich äußernde Individuelle wird, durch die Verbindung mit dem im Begriff anwesenden Ideellen, wieder in die allgemeine und universelle Sphäre des Absoluten gehoben, aus der es ursprünglich stammt. Anders gesagt: die Vorstellung ist für Steiner Mittel der Individuellwerdung des Universellen, und das Gefühl ist Mittel der Universalisierung des Individuellen. Auf diese Weise wird konkretisiert, was zu Beginn der Schrift mit der Formulierung gemeint war: das Ziel des Erkennens bestehe in einer »Erhöhung des Daseinswertes« (PF, 282) des Menschen. Diese Erhöhung kann jetzt konkret verstanden werden als Ausbildung eines Bewusstseins, in dem sich das Vorstellungs- und Gefühlsleben in möglichst reicher und aktiver Weise ausbilden und miteinander verbinden. Im »erhöhten Dasein« reicht der Mensch einerseits mit seinen Gefühlen möglichst weit in die Allgemeinheit und Universalität der Ideenwelt hinein und durchdringt andererseits die abstrakt-universellen Begriffe möglichst weitgehend mit sinnlicher Konkretheit und persönlichem Gefühl. Unübersehbar knüpft Steiner hier bis ins Detail der Darstellung an Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen an, deren Lektüre ihn schon als Student so lebhaft angeregt hatte. Denn dort hieß es bereits 1794, des ästhetischen Menschen »Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen und auf seiten des Gefühls die Passivität aufs höchste zu treiben: zweitens: dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben [. . . ]« (13. Brief). Steiners Anschauungen über das Verhältnis von Vorstellungsbildung und Gefühl erweisen sich (wie auch seine Begriffspaare Denken vs. Wahrnehmung und Motiv vs. Triebfeder) als »nach der Methode Schillers« gebildet, d. h. als ideelle Umbildung des schillerschen Modells von »Formtrieb« und »Stofftrieb«.

 

Ein sich entwickelndes Bewusstsein kann

keine prinzpiellen Grenzen haben

Den Abschluss des ersten Teils der Schrift bildet das Kapitel »Gibt es Grenzen des Erkennens?«. Darin versucht Steiner zu zeigen, dass, obwohl aufgrund des Vorigen einerseits die subjektive Natur der Wahrnehmungen und der Vorstellungen anerkannt werden muss, daraus aber andererseits nicht folgt, dass dem menschlichen Erkenntnisvermögen prinzipielle Grenzen gesetzt seien. Denn die Vorstellung von solchen Grenzen mache nur Sinn im Kontext jener erkenntnistheoretischen und ontologischen Dualismen, welche sich im Verlauf der Schrift bereits als widersprüchlich erwiesen haben. Der richtig verstandenen Erkenntnis hingegen können nach Steiner prinzipiell keine Grenzen gesetzt sein. Denn jede nur denkbare dichotomische Aufspaltung der Wirklichkeit sei vom Bewusstsein selbst gesetzt und könne somit prinzipiell auch im Erkennen von diesem wieder aufgehoben werden. – Ein zweites Argument wird so nicht ausgesprochen, ergibt sich aber aus dem Gang der Darstellung: Das Erkennen kann auch deshalb keine Grenzen haben, weil das Begriffsleben, wie gezeigt wurde, einer unbegrenzten Bereicherung und individuellen Ausdifferenzierung durch neue Wahrnehmungen und Gefühle fähig ist, während auf der anderen Seite das Gefühlsleben immer höher in den Bereich des Allgemein-Ideellen heraufgehoben werden kann. In anderen Worten: jede mögliche Begrenztheit des menschlichen Bewusstseins ist nach Steiner immer eine durch die allgemeine Natur des Erkennens und die individuelle Entwicklungsstufe eines Bewusstseins selbst hervorgerufene – und kann daher prinzipiell durch die Betätigung des Erkennens und durch die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit aufgehoben bzw. verschoben werden. Der Evolution des menschlichen Erkenntnisvermögens kann daher nach Steiner ebensowenig eine Grenze gesetzt sein, wie der Höherentwicklung der biologischen Lebensformen innerhalb der natürlichen Evolution.

 

Denken, Fühlen und Wollen

Es wurde oben bereits angesprochen, dass es für Steiner darauf ankam, den Übergang von der Erkenntnistheorie zur Behandlung der Freiheitsfrage organisch zu gestalten. Wenn die Philosophie der Freiheit wirklich ein Gedanken-Organismus sein soll, welcher als subjektives Spiegelbild der Evolution des objektiven Geistes fungiert, so muss der ethische Individualismus organisch aus den erkenntnistheoretischen und ontologischen Überlegungen des ersten Teils herauswachsen. Steiner versucht dies, indem der zweite Teil der Schrift mit einer Betrachtung der drei Seelentätigkeiten beginnt. Die innere Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie wird somit aus der inneren Einheit des menschlichen »Ich« begründet, welches, auch wenn es sich im Bewusstsein in die Akte des Denkens, Fühlens und Wollens vervielfacht, ja doch als solches ein einheitliches sein muss. Allerdings bestimmt Steiner Fühlen und Wollen nicht als gleichwertige und gleichursprüngliche Äußerungen des Ich. Vielmehr dominiert eindeutig die autopoetische, absolute und in sich selbst bestehende Wesenheit des Denkens, während Fühlen und Wollen als reine Epiphänomene, als Formen der Selbstwahrnehmung des Subjekts bestimmt werden. Im Fühlen, so Steiner, werde die Beziehung des Subjekts auf ein Objekt, im Wollen hingegen umgekehrt die Beziehung eines Objekts auf das Subjekt wahrgenommen (PF, 144). Indem somit das Wollen gewissermaßen als ein defizitärer Modus des Denkens erscheint, ist Steiners Ethik durchaus in die Gesamtgestalt seiner Philosophie integriert; aber es fragt sich, ob dies, trotz der Betonung der Bedeutung des Gefühls, um den Preis einer Unterbewertung des Willens geschehen ist. Mit Blick auf Steiners bereits zitiertes Bekenntnis ließe sich vielleicht formulieren: auch hier wieder fehlt, zumindest im Blick auf die Erstausgabe, die Balance zwischen dem »Einen« und dem »Vielen« und die Waage neigt sich zur Einheit des »Ich« auf Kosten der sachgemäßen Charakterisierung seiner vielfachen Tätigkeiten. In der Neuauflage von 1918 jedenfalls bemühte Steiner sich deutlich, dem Wollen ein schärferes Eigenprofil gegenüber dem Denken zu geben, als in der Erstauflage.


Moralische Intuition, moralische Phantasie

und moralische Technik

Im Kapitel »Das Wesen der Freiheit« legt Steiner seine Analyse des Willensaktes und damit das zentrale Kapitel des zweiten Teils der Schrift vor. Die Analyse des menschlichen Handelns wird ganz analog der Analyse des Erkenntnisaktes vorgenommen: Wie beim Erkennen die Beobachtung und das Denken, so seien auch bei menschlichen Handlungen stets zwei Faktoren beteiligt, die Steiner als »Motiv« (als begrifflicher Faktor) und als »Triebfeder« (oder charakterologische Anlage) bezeichnet. Motive sind Begriffe oder Vorstellungen, d. h. die ideellen Komponenten des Willensaktes, die dem Menschen als Beweggrund für seine Handlung vorschweben; Triebfedern hingegen liegen in den Gewohnheiten, den biologischen, sozialen und psychologischen Determinanten des menschlichen Handelns und müssen dem Handelnden nicht unbedingt bewusst sein. Aufbauend auf dieser sprachlich von Eduard von Hartmann übernommenen, inhaltlich aber auch auf Schiller verweisenden Grunddichotomie entwickelt Steiner ein Stufenmodell ethischer Entwicklungsgrade, indem er drei Typologien vorführt: die der Triebfedern, der Motive und die der Handlungen. Bei allen drei Stufenmodellen steht an höchster Stelle ein Handeln, welches einer »moralischen Intuition« entspringt, die somit als höchste Form der praktischen Vernunft und als Gegenstück der »epistemischen Intuition« fungiert, welche wir im ersten Teil als höchste Stufe der theoretischen Vernunft kennengelernt haben. Am Ende dieser drei Durchgänge kommt Steiner dann zu einer vertieften Fassung des Freiheitsbegriffs. Hieß es zu Beginn der Schrift noch recht allgemein, frei sei die Handlung, bei der sich der Mensch der Gründe seines Handelns bewusst sei, so wird nun präzisiert: frei sei diejenige Handlung, deren Beweggrund dem Menschen nicht nur bewusst ist, sondern dem eine rein ideelle moralische Intuition zugrunde liegt.

Steiner konstruiert also seine Freiheitslehre als ideelles Spiegelbild bzw. als Metamorphose seiner Erkenntnis- und Wirklichkeitslehre. Der Wille konstituiert sich aus Motiv und Triebfeder wie die Erkenntnis aus Begriff und Wahrnehmung. Allerdings bedarf es für den Handelnden noch eines weiteren Schrittes, nämlich der praktischen Umsetzung seines Wollens. Dieser Weg von der ideellen Intuition zur tatsächlichen wirklichkeitsverändernden Tat wird von Steiner als ein zweischrittiger beschrieben, welcher daher auch zweier verschiedener Kompetenzen bedarf. Nämlich erstens der Fähigkeit, eine moralische Intuition in Beziehung zu einer konkreten Handlungssituation zu bringen und eine entsprechende individuelle Handlungsvorstellung zu formen – diese Fähigkeit nennt Steiner »moralische Phantasie« – und zweitens der Fähigkeit der praktischen Umsetzung dieser Handlungsvorstellung innerhalb der Gesetzlichkeit der jeweiligen Lebenssituation – Steiner spricht hier von »moralischer Technik«.

Mit diesen Bestimmungen ist der im später gestrichenen Anfangskapitel formulierte unmittelbare Bezug des Handelns zum Künstlerischen näher begründet. Wie im ersten Teil der Schrift das Denken als Begriffskunst verstanden wurde, so nun auch das praktische Handeln als »Lebenskunst«, bei der es, wie bei der Produktion eines Kunstwerkes, sowohl der schöpferischen Phantasie wie des handwerklichen Könnens bedarf. Auf diese Weise hängen bei Steiner theoretische und praktische Vernunft bzw. Erkenntnistheorie und Ethik im Begriff des Künstlerischen bzw. im Konzept der schöpferischen Wirklichkeitshervorbringung durch den intuierenden Menschen zusammen.

In der Kritik von Steiners Zeitgenossen ist dieser Konzeption ein elitärer und weltfremder Zug vorgeworfen worden. »Diese freien Menschen des Dr. Steiner sind aber bereits keine Menschen mehr«, heißt es in der Kritik Wilhelm Reins. »Sie sind in die Welt der Engel schon auf Erden eingetreten.« In der jüngeren Kritik hingegen sind Steiners Freiheitskonzept und seine Theorie der moralischen Phantasie vor allem insofern in Frage gestellt worden, als hier eine Sittlichkeit beschrieben wird, die sich ausschließlich im und durch das Individuum konstituiert und realisiert. Nach Traub formuliert Steiner eine Ethik, in der sich das Handeln des Menschen »einer intersubjektiv und rational diskutier- und entscheidbaren Beurteilung moralischen Handelns« entzieht (PuA, 764). Ferner klammere Steiner mit seinem rein individualitätsbezogenen Moralbegriff sämtliche politischen, sozialen und gesellschaftlichen Aspekte aus – also gerade jene Bereiche, in denen die Freiheitsfrage im praktischen Leben relevant sei, d. h. »die Presse- und Meinungsfreiheit, die Informations- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit von Bekenntnis, Kunst und Wissenschaft, das Recht auf Subsistenz, Freizügigkeit, Erziehung, Bildung und so weiter« (PuA, 765). Zander sieht dies ähnlich, wenn er schreibt: »Ungeklärt blieb auch das Verhältnis des Individuums und seiner moralischen Phantasie zur sozialen Konstitution der Gesellschaft« (AiD, 529). Mit diesen Vorwürfen gegen den ethischen Individualismus wird sich eine künftige Steinerforschung auseinanderzusetzen haben. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass Steiner seine Vorstellungen über das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft zwar erst 1923 in seinen Kernpunkten der sozialen Frage ausführlich dargestellt hat, dass er aber schon an verschiedenen Stellen der Philosophie der Freiheit, wie Hartmut Traub aufgezeigt hat, interessante Ansätze zu einer Theorie der Interpersonalität entwickelt hatte.

Die Philosophie der Freiheit:

Vorspiel einer zukünftigen Theosophie?

Das letzte Kapitel der Erstfassung von 1894 stellt, trotz der Kürze der Darstellung gegenüber den vorigen zwei Hauptteilen und trotz des umrisshaften Charakters der darin vorgestellten Gedanken, eigentlich einen dritten und eigenständigen Abschnitt der Philosophie der Freiheit dar. Denn der Blick geht jetzt weit hinaus über die bisher verhandelten erkenntnistheoretischen und ethischen Fragestellungen und spricht religionsphilosophische, theologische und ontologische Themen an. Im Anschluss an das bisher Gewonnene stellt Steiner seiner bisherigen Ablehnung traditioneller religiöser Gottesvorstellungen als reine Hypostasen oder Projektionen einen positiven philosophischen Gottesbegriff entgegen, in dessen Licht der steinersche Monismus insgesamt als eine Spielart des Pantheismus bzw., wenn man diesen Ausdruck gelten lassen will, des Panentheismus erscheint. »Die Welt ist Gott« (PF, 260), so lautet das entsprechende, 1918 allerdings vom Anthroposophen Steiner wieder gestrichene pantheistische Credo. Der bereits im Anfangskapitel angedeutete und im Verlauf der Schrift immer wieder auftauchende mystische Zug des Buches tritt jetzt offen zutage, denn der nunmehr formulierte steinersche Gottesbegriff hat nicht nur in Spinoza, Fichte, Schelling und Hegel philosophische Vorläufer, sondern gemahnt auch an das Gottesbild der abendländischen Mystiker von Plotin über Meister Eckhart, Tauler und Seuse bis zu Nikolaus von Kues, Jakob Böhme, Angelus Silesius und anderer. Somit ist die gedankliche Grundlage für Steiners spätere Identifikation mit der Mystik (vgl. Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens) und seinen biographischen Übergang von der Philosophie zur Theosophie und Anthroposophie bereits in diesem Kapitel keimhaft angelegt. Die Frage, ob und inwiefern die Philosophie der Freiheit von 1894 bereits eine Art »Vorspiel« und Vorbereitung darstellt zu jener esoterischen Weltanschauung, die Steiner dann ab 1902 bis zu seinem Lebensende auszuarbeiten versuchte, ist somit nicht notwendig Ausdruck unkritischer Übernahme der Selbstdeutung des späten Steiner, sondern stellt sich aus dem Text selbst heraus.

Ob allerdings der Charakter der Freiheitsschrift von 1894 als philosophisches Vorspiel der steinerschen Esoterik all jene weitgehenden Ansprüche rechtfertigt, die Steiner dann in der Neuauflage von 1918 in seiner retrospektiven Deutung des Textes erhoben hat, ist eine andere Frage. Die Metapher des Vorspiels soll nicht den Abstand verschleiern, der zwischen den philosophischen Texten der neunziger Jahre und den esoterischen Texten Steiners nach 1902 besteht und somit auch zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Philosophie der Freiheit.

Aspekte der Textentwicklung der Philosophie der Freiheit

Um den Abstand deutlich zu machen, der zwischen den Auflagen von 1893/94 und 1918 besteht, seien im Folgenden die wichtigsten der Änderungen und Zusätze kurz skizziert, welche der Anthroposoph Steiner ein Vierteljahrhundert später an der Philosophie der Freiheit vorgenommen hat. Dabei kann es im Rahmen dieser Einleitung nur um eine Auswahl gehen. Für eine umfassendere Darstellung und Analyse der hier nur kursorisch angedeuteten Textentwicklung sei der Leser auf die sehr ausführliche Dokumentation bei Traub (2011) verwiesen.

Ein interessanter Nebenaspekt der Text- und Rezeptionsgeschichte der Philosophie der Freiheit, der hier wenigstens angedeutet werden soll, liegt darin, dass das Buch selbst schon einige wenige Jahre nach der ersten Auflage vergriffen und kaum noch zugänglich war. Dennoch verwies Steiner in seinen Schriften und Vorträgen immer wieder auf den Text als wichtige Referenz. Zwischenbemerkungen wie: »Lesen Sie in meiner Philosophie der Freiheit, wie ich dort dies oder jenes gezeigt habe« usw. ist eine häufig in den Vortragsnachschriften zu findende Formulierung. Und an diese Äußerungen knüpfte sich eine ganze Gattung von Literatur in den Schriften und Zeitschriften der Anhängerschaft. Die Schrift existierte somit für eine ganze Reihe von Jahren unter Theosophen und Anthroposophen als reiner »Mythos«, ohne dass das Buch selbst den meisten Lesern tatsächlich vorlag. Eine Art »Rezeptionsgeschichte ohne Text« setzte ein, mit ganz eigenen Fragen und Problemen, bis dann mit der 2. Auflage nun 1918 tatsächlich wieder eine allgemein zugängliche Textform des Buches vorlag. Diese soll im Folgenden näher betrachtet werden.

 

Das Vorwort von 1918: Verdeutlichung oder

retrospektive Umdeutung der Erstausgabe?

Die erste bedeutende Änderung, die dem Leser der Neuauflage der Philosophie der Freiheit von 1918 entgegentritt, ist – abgesehen von dem modifizierten Untertitel – die Kürzung des ursprünglichen Anfangskapitels und dessen Versetzung in den Anhang. Damit sind die ersten Eindrücke des Lesers nicht länger der »aufs höchste gesteigerte menschliche Freiheitsdrang« als einem »Grundzug des Zeitalters«, auch nicht mehr Rudolf Steiners emphatisches Bekenntnis zu einem radikalen und kompromislosen Individualismus, sondern die sachliche Exposition zweier philosophischer »Wurzelfragen«. Der existentialistische Ton, der kämpferische Duktus des Kapitels und damit auch die zumindest implizite Forderung nach mehr Freiheit und Individualismus im geistigen und sozialen Leben werden somit dem unmittelbaren Blick des Lesers entrückt und teilweise sogar gestrichen.

Auch in der neuen Vorrede, die nun an die Stelle des ursprünglichen Eingangskapitels trat, ist eine deutliche methodische und inhaltliche Perspektivverschiebung zu verzeichnen. Wurden im Anfangskapitel der Erstfassung als Ziele der Schrift die begriffskünstlerische Hervorbringung eines »realen, sich selbst beherrschenden [Begriffs-]Organismus« und die dadurch zu bewirkende »allseitige Entfaltung der ganzen Menschennatur« als Ziele der Schrift und der Wissenschaft überhaupt benannt, so sollte es nunmehr um unmittelbare »Anschauung« seelischer und geistiger Phänomene gehen. Nicht mehr sollte sich der Leser rein gedanklich in das »Ätherreich der Abstraktion« erheben, sondern durch »seelische Beobachtung« dasjenige »Erlebnisgebiet der Seele« auffinden, auf dem sich Fragen nach der Wahrheit und der Freiheit durch »wirkliche Anschauung« von selbst beantworten (PF, 6).

Zusätzlich zu dieser neuen methodischen und inhaltlichen Ausrichtung deutet Steiner seine Schrift 1918 retrospektiv als theoretische Rechtfertigung einer Wissenschaft vom Geist und als praktische Anleitung zur realen Anschauung des Geistigen. Hieß es 1894 noch vage, dass die Schrift durch die Darstellung der Natur des Erkennens und des Handelns »die Entwicklung aller in uns schlummernden Fähigkeiten« anzuregen beabsichtigte, wodurch der Mensch dann in der Lage versetzt werden sollte, sich »Ziele seines Schaffens« selbst setzen zu können und so seinen »Daseinswert« als Individuum zu erhöhen, so wird 1918 dem allgemeinen Ausdruck »schlummernde Fähigkeiten« eine ganz konkrete Bedeutung gegeben. Schon mit der Erstausgabe habe er »die Grundlage erbauen« wollen (PF, 7), so Steiner im Rückblick, für jene Art geistiger Forschung, aus der heraus er dann zehn Jahre später seine esoterische Weltanschauung zu entwickeln begann, und somit »eine Erkenntnis des Geistgebietes vor dem Eintritte in die geistige Erfahrung zu rechtfertigen« gesucht. Ausserdem habe er schon damals den Leser durch sein Buch zu der realen »Anschauung« bringen wollen, »daß der Mensch in einer wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt« (PF, 7 f.).

Trotz dieses gänzlich neuen methodischen Einstiegs in das Buches versichert Steiner nichtsdestoweniger im neuen Vorwort, dass der Inhalt des Buches »im wesentlichen fast ganz unverändert« geblieben sei, dass er seine Grundüberzeugungen in keinem Punkt geändert habe und dass selbst die umfangreichen Zusätze lediglich dem Zweck dienen würden, missverständlichen Deutungen entgegenzutreten, welche ihm in den Reaktionen auf die Erstfassung entgegegetreten seien. Dieser Anspruch erscheint einerseits plausibel, nämlich insofern manche der neuen Aussagen von 1918 tatsächlich als Konkretisierung der oben zitierten vagen Andeutungen über »schlummernde Fähigkeiten« verstanden werden können, die Steiner in der Erstauflage gemacht hatte. Auf der anderen Seite erscheint er insofern problematisch, als in der Erstausgabe weder von einer »geistigen Welt« noch von der Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Eintretens in eine solche die Rede war, sondern allein vom »Denken« und dem »Leben im Denken«, welches zugleich als »Leben in Gott« (PF, 260) verstanden wurde.

 

Ausschärfung der Begriffe »Ich« und »Geist«

Im Kapitel über den »Grundtrieb zur Wissenschaft« versucht die Neuauflage zwei Begriffe schärfer zu fassen, die in der Erstfassung nur sehr unspezifisch gebraucht wurden, die aber inzwischen, d. h. in der Zeit von 1904 bis 1918, zu Zentralbegriffen der steinerschen Esoterik avanciert und daher klärungsbedürftig waren. Zum einen erfährt der Begriff »Geist« eine merkliche Umdeutung. Während »Geist« 1894 weitgehend mit dem Ideellen (Begriffen, Ideen und Bewusstsein) identifiziert wurde, übernimmt er nun die Funktion, die sonst in der Schrift durch den Begriff »Wirklichkeit« bezeichnet wird, d. h. für das jenseits und über den vom menschlichen Bewusstsein erzeugten Dualismen stehende Absolute. Die früher von Steiner bisweilen selbst vorgenommene Identifikation des Geistigen mit dem Ideellen wird jetzt als Grundfehler des einseitigen Spiritualisten charakterisiert, der nicht dazu komme, »durch die Ideenwelt eine geistige Welt zu suchen« (PF, 32), sondern »in der Ideenwelt selbst die geistige Welt« sehe. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des »Ich«. Steiner beschreibt es 1918 als einen Grundfehler dualistischen Denkens, sich das »Ich« lediglich auf der Seite des Ideellen zu denken, denn dadurch entstehe die irrtümliche Überzeugung, dass der geistigen Aktivität das Wesen des sinnlich Wahrgenommenen verschlossen bleiben müsse. Vielmehr müsse das wahre Wesen des »Ich« ausserhalb der Leibesorganisation gesucht werden.

 

Vom Denken als Absolutum zum Denken als Seelentätigkeit

Im Zusatz zum Kapitel »Das Denken im Dienste der Weltauffassung« werden die Tätigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens beschrieben auf der Grundlage der nunmehr eingeführten Kategorie der »Seele«, die in der Erstauflage keine Rolle spielte. Indem aber jetzt das Denken als »Seelentätigkeit« aufgefasst wird, entsteht das Problem, in welchem Verhältnis diese zu jenem Denken steht, das in der Erstausgabe als »absolut« und jenseits von Subjekt und Objekt stehend charakterisiert wurde. Wenn Steiner jetzt hervorhob, dass unter den drei Seelenvermögen das Denken – und zwar dieses – völlig durchschaubar sei, da »in der Betätigung des Denkens das ›Ich‹ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen« wisse (PF, 54), war somit nicht mehr ganz klar, ob damit das Denken in seiner absoluten Wesenheit oder in seiner subjektiven Erscheinungsform als Seelentätigkeit gemeint war. Ferner wird gegenüber der früheren Charakterisierung des Wollens als bloßer Form der Selbstwahrnehmung geltend gemacht, dass das Wollen eng mit dem Denken verbunden, ja in seinem Wesen immer »durch und durch gewollt« sei (ebd.). Somit erscheint das Wollen nunmehr als zumindest ebenso eigenständig und selbstursprünglich wie das Denken als Seelentätigkeit, ganz entsprechend den Ausführungen, die Steiner 1919 in seiner über die Natur des Willens gemacht hat. Doch die neuen Aussagen zum Wollen reiben sich mit jenen von 1894, in denen das Wollen als bloße Form der Selbstwahrnehmung beschrieben worden war und die auch 1918 so stehen geblieben sind.

Methodisch fällt in diesem Zusatz auf, dass Steiner jetzt, wie schon im neuen Vorwort, nicht mehr rein argumentativ seine Ansichten vorträgt, sich also nicht mehr auf die im ursprünglichen Eingangskapitel beschworene »Begriffskunst« verlässt, sondern sich entweder auf eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit oder einen besonderen Grad von Unbefangenheit beruft. Nicht mehr der klare Begriff oder das Kunstvolle der Gedankenbewegung, sondern der Besitz überlegener Erkenntnis- und Unterscheidungsfähigkeit entscheidet jetzt über Wahrheit und Irrtum. Wer Steiners Ansicht nicht teile, so lesen wir, der schaue eben das Seelenleben nicht »wirklich unbefangen« an bzw. sei jener »feineren Beobachtung« (PF, 54) nicht mächtig, auf die der Geistesforscher sich beruft.

 

Die initiationsdidaktische Dramatisierung

der Bewusstseinsgeschichte

Im Kapitel »Das Erkennen der Welt« findet sich ein längerer Zusatz, in dem Steiner jenen Gebrauch von simplifizierten Theoriepositionen rechtfertigt, auf den wir bereits hingewiesen haben. Seine Darstellung von »naivem Realismus«, »kritischem Idealismus« oder »metaphysischem Realismus« usw., erklärt Steiner nun, sei nicht primär zum Zweck der Information sondern vielmehr als Mittel der Transformation gedacht. Deshalb seien diese Wegmarken oder Reifestufen der Bewusstseinsentwicklung auch nicht theoretisch zu widerlegen, sondern müssten innerlich »durchlebt« werden, »um aus der Einsicht in die Verirrung, in die sie führt, den Ausweg zu finden« (PF, 103). Damit knüpft Steiner an bestimmte Elemente seiner Einweihungspädagogik an, die er ab 1904 in seinen anthroposophischen Schriften systematisch entfaltet hatte und die besagt, dass das menschliche Bewusstsein durch das innere seelische Erleben bei der Auseinandersetzung mit logisch nicht auflösbaren Aporien oder »Grenzorten der Erkenntnis« eben diejenigen seelisch-geistigen Kräfte ausbilde, anhand derer diese Grenzen dann letztendlich überwunden werden können.

 

Abmilderung der Religions- und der Metaphysikkritik

Innerhalb des Kapitels »Gibt es Grenzen der Erkenntnis?«, aber auch an anderen Stellen der Schrift nimmt Steiner 1918 eine ganze Reihe von Formulierungen zurück, in denen er 1894 seiner Kritik der Religion und der Metaphysik Ausdruck gegeben hatte. Während etwa in der Erstausgabe der naive Realismus zur Ursache des Offenbarungsglaubens erklärt worden war, gilt dies nunmehr nur noch für die »primitiven Formen« derselben. Und während zuvor der Gott der Religionen wie auch der »durch das Denken gegebene« Gott der Metaphysiker »immer nur ein gedachter Gott« sein konnte, trifft dies 1918 nur noch für die Gottesvorstellungen des »naiven Bewusstseins« zu (vgl. PF, 123). Dieselbe Tendenz zeigt sich auch an anderen Stellen des Textes. So wird im Kapitel »Freiheitsphilosophie und Monismus« die frühere Ablehnung eines transzendenten Gottes bzw. der von einem solchen Gott ausgehenden Gebote oder einer von diesem festgesetzten Weltordnung durchweg durch relativierende Adjektive wie »außermenschlich«, »bloß gedacht« oder »nur erschlossen« abgemildert. Nicht mehr ein »Weltenlenker« schlechthin, sondern nur noch eine »dem Menschen fremde Weltordnung« wird abgelehnt, und nicht mehr jeder Metaphysik gilt Steiners Absage, sondern nur mehr einer »bloß schlußfolgernden Metaphysik« (PF, 184 und anderwärts).

 

Von erweiterten Sinnen und

vom Tiefenblick der Intuition

Im Zusatz zum Kapitel »Gibt es Grenzen der Erkenntnis?« wirft Rudolf Steiner die Frage auf, ob der Mensch vielleicht eine erweiterte Erkenntnis der Wirklichkeit haben könnte, wenn er mit zusätzlichen Sinnen ausgestattet wäre; und umgekehrt, ob die Erkenntnis mit seinen jetzigen Sinnen, die ja notwendig beschränkt sind, nicht immer eine beschränkte sein müsse. Er antwortet darauf, dass die Anzahl und Beschaffenheit der menschlichen Sinne von dem in der Philosophie der Friheit eingenommenen Standpunkt letztlich keine Rolle spiele, da ja »Wahrnehmungsbild seine Gestalt [...] von der Organisation des wahrnehmenden Wesens« erhalte und somit zwangsläufig subjektiv und begrenzt sei, daß aber andererseits jedes »von der erlebten denkenden Betrachtung durchsetzte Wahrnehmungsbild den Menschen in die Wirklichkeit« führe. Bemerkenswert an dieser Replik ist, dass Steiner hier nicht mehr, wie 1894, dem Denken schlechthin diese Funktion zuschreibt, sondern der »erlebten denkenden Betrachtung«. Somit erhebt sich die Frage, ob Steiner 1918 nicht mehr die menschliche Erkenntnis schlechthin für produktiv und wirklichkeitserzeugend hielt, wie noch in der Erstausgabe, sondern nur mehr die Erkenntnis desjenigen Menschen, der sich zum »erlebenden« und »anschauenden« Denken erheben kann.

Ein zweiter Einwand in derselben Richtung lautet: Gibt es nicht Elemente der Wirklichkeit, die nachweislich existieren und doch der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind, etwa magnetische Kräfte oder das ultraviolette Licht? Steiners Antwort ist hier zunächst dieselbe wie 1894: alle Elemente der Wirklichkeit seien notwendig allein durch Wahrnehmung und Denken erschlossen. Aber, und jetzt kommt das Neue: man müsse die Begriffe »Wahrnehmung« und »Denken« weiter verstehen als gewöhnlich. Während das bekannte Grundmodell der Erkenntnis – Wirklichkeit entsteht durch die denkende Durchdringung des Wahrgenommenen – beibehalten wird, spricht die Neuauflage nunmehr von verschiedenen Modi des Denkens und des Wahrnehmens und von verschiedenen »Tiefenschichten« und »Untergründen« der Wirklichkeit (und somit implizit auch von verschiedenen Modi des Erkennens), anhand derer die vom erkennenden Menschen hervorgebrachte Wirklichkeit eine mehr oder weniger tiefe sein könne.

 

Revision der Mystik-Kritik von 1894

Parallel zu Steiners Zurücknahme seiner Religions- und Metaphysikkritik wird im Kapitel »Die Faktoren des Lebens« auch die in der Erstausgabe formulierte Mystikkritik deutlich abgemildert. Genauer gesagt: die frühere Pauschalkritik an der Mystik gilt jetzt nur noch gegenüber einer bestimmte Form derselben, nämlich »einer bloß auf das Gefühl gebauten mystischen Anschauungsweise« (PF, 144). Steiner moniert, dass eine solche reine Gefühlsphilosophie fälschlicherweise »oft als Mystik bezeichnet« werde (wie ja auch von ihm selbst in der Erstausgabe). An weiteren Stellen des Kapitels und im gesamten Rest der Schrift wird daher konsequent, wenn von der entsprechenden Weltanschauung die Rede ist, nicht mehr von »Mystik« gesprochen, sondern nur noch von »Gefühlsmystik«. Auch in anderen Schriften spricht Steiner seit der Jahrhundertwende positiv von einer »recht verstandenen« bzw. »wahren« Mystik und zögert auch nicht, die Theosophie bzw. die Anthroposophie als eine Form derselben zu charakterisieren. Offenbar hatte er eingesehen, dass sein Mystikverständnis von 1894 zu eng gewesen war, ja dass er in gewisser Hinsicht, trotz seiner damaligen Polemik gegen die Mystiker, bereits in der Erstauflage selbst einer gewesen war.

 

Die Leichname des lebendigen Denkens

und die Liebe als Weltmacht

Am Ende des Kapitels »Die Faktoren des Lebens« findet sich ein Zusatz, in welchem Steiner wieder deutliche Anleihen macht bei der anthroposophischen Seelenlehre, wie er sie in den Jahren vor Herausgabe der Neuauflage und besonders in der Schrift Von Seelenrätseln in der Auseinandersetzung mit Franz Brentano entwickelt hatte. Entgegen der verhältnismäßigen Leichtigkeit, mit der sich laut Darstellung der Erstauflage der Zustand der »Beobachtung des Denkens« herstellen ließ, spricht Steiner jetzt davon, dass das Wesen des Denkens dem Beobachter »allzu leicht schon entschlüpft ist, wenn diese es in die Richtung ihrer Aufmerksamkeit bringen will« und dass ihm dann nur »das tote Abstrakte, die Leichname des lebendigen Denkens« (PF, 147) zu Bewusstsein kämen. Was hier mit den »Leichnamen« des Denkens gemeint ist, ist im Text selbst nicht thematisiert und wird erst durch den Vergleich mit der Schrift Von Seelenrätseln klar. Dort hatte Steiner die Grundzüge einer anthroposophischen Seelenlehre entwickelt, in welcher der Begriff der »Vorstellung« eine völlig andere Bedeutung annimmt als in der Philosophie der Freiheit. »In Wahrheit ergreift in den Vorstellungen die Seele ihr eigenes sich entwickelndes Wesen«, lesen wir da etwa. »Und erst durch die eigene Tätigkeit der Seele geschieht es, dass die Vorstellungen zu Vermittlern der Erkenntnis einer Wirklichkeit werden« (VS, 34). Dieses Umfunktionieren der Vorstellungen, die als solche Repräsentationen des eigenen vorgeburtlichen Erlebens seien, zum Mittel der Erkenntnis einer materiell und äußerlich vorgestellten »Außenwelt« bezeichnet Steiner in Von Seelenrätseln als »Ablähmung« oder auch »Ertötung« des Eigenlebens der Vorstellungen. So wird ein ganz neuer Vorstellungsbegriff in den Text eingebracht, ohne dass dies reflektiert oder auch nur kenntlich gemacht wird.

Ein weiterer interessanter Punkt dieses Zusatzes ist die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den drei Seelentätigkeiten. Schon oben wurde ja darauf hingewiesen, dass Steiner 1918 einerseits die Eigenständigkeit des Willens und andererseits dessen Verhältnis zum Denken stärker hervorgehoben hat. In diese Neubestimmung wird jetzt auch das Fühlen mit hineingenommen, bis hin zu einer völligen Integration in das Denken: »Wer nämlich zum wesenhaften Denken sich hinwendet«, heißt es da, »der findet in demselben sowohl Gefühl wie Willen, die letztern auch in den Tiefen ihrer Wirklichkeit« (PF, 148). Dabei bleibt offen, ob Steiner mit dieser Formulierung Fühlen und Wollen jetzt anders als noch 1894 als gleichursprünglich mit dem Denken versteht, oder doch wieder nur als modifizierte Abschattungen, als Modi oder Attribute des Denkwesens. Denn jene Passagen der Erstausgabe, welche das Wollen und Fühlen als bloße Phänomene der Eigenwahrnehmung darstellen, bleiben neben diesen Neubestimmungen unverändert und unvermittelt stehen.

Und noch eine weitere Neuerung lässt sich in diesem Zusatz nachweisen. Schon 1894 hatte Steiner den Begriff der Liebe ins Spiel gebracht und diese in Anlehnung an den platonischen Liebesbegriff in eine enge Beziehung zum Erkennen gesetzt: »Sie haben die Liebe nicht, weil ihnen die Vorstellung mangelt« (PF, 25). 1918 wird dieses platonische Motiv aufgegriffen und deutlich verstärkt, indem auch die Liebe, wie das Fühlen und Wollen, als wesenhafter Aspekt des Denkens in dasselbe mit hineingenommen wird. »Dieses Untertauchen [des Denkens in die Wahrnehmungswelt, C. C.]«, heißt es da, »geschieht mit einer in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft, welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist« (PF, 148). Diese Hervorhebung der Liebe als wesenhafter, im Denken wirksamer Kraft geht weit über das hinaus, was Steiner 1894 über dieses Thema geäußert hatte und erinnert außer an Plato auch an das Prinzip der amor dei intellectualis bei Spinoza sowie an die Liebesmetaphysik Fichtes in der Anweisung zum seligen Leben (vgl. PuA, 582 ff.). Sie zeigt sich auch in der 1918 vorgenommenen Neuformulierung der vielzitierten »Maxime des freien Geistes«, in welcher die Formel vom »Leben und Lebenlassen« jetzt erweitert wird zum »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens« (PF, 171).

 

Neubewertungen im Freiheitskapitel

Innerhalb des zentralen Freiheitskapitels im zweiten Teil der finden sich in der Neuauflage eine Reihe von Neubewertungen gegenüber dem früher Gesagten. Einige davon sind eher von geringerer Bedeutung, etwa die Rekalibrierung des Begriffs der Triebfeder (PF, 153) oder die Verknüpfung des Liebe-Motivs (PF, 167) mit den 1894 kaum verwendeten ethischen Kategorien von »gut« und »böse«. Oder auch die schärfere Unterscheidung der tatsächlichen Freiheit von einer nur empfundenen (PF, 169 f.). Gravierender gegenüber diesen begrifflichen Feinjustierungen erscheint die Tatsache, dass durch eine ganze Reihe von Änderungen den Erscheinungen der konventionellen bzw. hereronomen Moral, also der Tradition, der gesellschaftlichen Sitte, der Pflicht, des Gewissens usw., denen in der Erstausgabe jeglicher sittliche Wert abgesprochen worden war, jetzt deutlich rehabilitiert werden. Hatte etwa die »sittliche Etikette« 1894 vom Standpunkt des ethischen Individualismus keinerlei moralischen Wert, so ist sie 1918 »in ihrem Gebiete berechtigt« (PF, 164 f.). Wurden in der Erstausgabe dem Ausleben der moralischen Intuition gegenüber »alle anderen Moralprinzipien als untergeordnet« abgewertet, so heißt es in der Neuauflage, dass diese andern Moralprinzipien »sich letzten Endes in diesem Gehalte [der Intuition] vereinigen« (PF, 165). Zuvor hieß es: wenn der Mensch aus der Intuition heraus handelt, dann bewege ihn keine Sittlichkeitsmaxime, sondern ausschließlich die »Liebe zu dem Objekt«; nun aber meint Steiner, dass auch der intuitiv Handelnde durchaus durch konventionelle Sittlichkeitsmaximen bewegt werden kann, und zwar »insoferne sie intuitiv in mir leben« (PF, 166). 1894 war jede Handlung aufgrund einer vorgegebenen sittlichen Norm unfrei, aber 1918 sind es nur solche, die aufgrund einer solchen vollzogen werden (ebd.). In derselben Richtung liegen mehrere Änderungen, in denen Steiner die in der Erstauflage relativ stiefmütterlich behandelten Moralinstanzen der Pflicht und des Gewissens deutlich aufwertet.

Der Grund für diese Rehabilitierung mag darin liegen, dass Steiner in der Neuauflage dem Vorwurf begegnen wollte, dass seine Ethik elitär und der »freie Geist« eine Utopie oder ein Ideal für über der Wirklichkeit schwebende Anthroposophen sei. Derlei ist dem Buch ja in der Tat von Zeitgenossen vorgeworfen worden. Steiner begegnet solcher Kritik, indem er 1918 den Entwicklungsgedanken noch stärker hervorhebt als schon 1894. Zwar bleibt der völlig freie Geist weiterhin das Ideal des ethischen Individualismus, aber Steiner stellt noch deutlicher als zuvor heraus, dass jeder Mensch mehr oder weniger zu diesem Ziel hin unterwegs sei und dass andererseits die heteronomen und konventionellen Moralprinzipien, die einen Großteil der menschlichen Handlungen motivieren, durchaus sittlichen Wert haben, indem sie die Grundlage und das Material seien, von dem aus und durch das hindurch sich der Mensch mehr und mehr zur Freiheit durcharbeite (vgl. PF, 168 f.), so wie sich nach Darwin und Haeckel höhere Tierarten aus früheren, primitiveren entwicklungsbiologisch herausgearbeitet haben.

 

Zweckbegriff und höhere Teleologie

Im Kapitel »Weltzweck und Lebenszweck« hatte Steiner 1894 die Legitimation der Zweckbegriffs in der Wissenschaft insgesamt und in der Ethik im besonderen bestritten. Eine »Bestimmung des Menschengeschlechtes« (PF, 196) oder auch einen dem Individuum zugrundeliegenden Zweck seiner Existenz, die von außen gegeben oder festgelegt werde, so hieß es kategorisch in der Erstausgabe, gebe es nicht. Diese Positionsbestimmung wird 1918 durch eine Reihe von Änderungen zurückgenommen. Ging es in der Erstausgabe noch um die »Überwindung des Zweckbegriffes« schlechthin, so gilt dies nunmehr nur noch »auf Gebieten, in die er nicht gehört« (PF, 190). Und hieß es in der Erstausgabe, dass nur der Mensch selbst seinem Handeln Zwecke unterlegen könne, so wird jetzt eingeschränkt, dass »zunächst« (ebd.) nur der Mensch dies könne.

Was dieses »zunächst« genau bedeutet, wird dann im Zusatz zum Kapitel »Weltzweck und Lebenszweck« weiter ausgeführt. Dort führt Steiner eine Neuerung gegenüber dem strikt monistischen Text von 1894 ein, indem er postuliert, dass es eine »geistige außerhalb des menschlichen Handelns liegende Welt« (PF, 196) gebe. In Hinblick auf diese geistige Welt wird dann zwar weiter daran festgehalten, dass das menschliche Handeln sich nicht nach Zwecken gestalte, die aus dieser Welt stammen, aber mit der wichtigen Einschränkung, dass »in dieser Welt ein höheres als ein Zweck, der sich im Menschentum verwirklicht, zur Offenbarung kommt« (ebd.). Im Klartext: 1918 geht Steiner davon aus, dass es im individuellen Handeln und in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit eben doch bestimmte Vorgaben gibt – gewissermaßen eine »gebundene Marschroute«, wie Steiner sich auch gern ausdrückte (PF, 164 u. 192) –, die nicht der individuelle Mensch selbst seinen Handlungen vorschreibt, sondern die vorgegeben sind. Nur eben mit der Einschränkung, dass diese Vorgaben etwas »höheres« seien als jene Zwecke, die sich »im Menschtum verwirklichen«, und dass sie dem gewöhnlichen menschlichen Erkennen verborgen sind und daher einer »Offenbarung« bedürfen. – Ferner revidiert Steiner seine 1894 vorgetragene Ansicht, dass es Zwecke nur für den individuellen Menschen und nicht für die Menschheit insgesamt gebe. Es gebe nämlich, so heißt es nun, durchaus eine solche »Bestimmung des Menschengeschlechtes«, und zwar insofern, als sich aus der Summe der Zwecke, welche die einzelnen Individuen sich setzen, so etwas wie ein Menschheitszweck herausbilde. Das Ergebnis dieser »Gesamtwirksamkeit der Menschheit« sei dann wieder etwas »als seine Glieder, die [individuellen] Menschenzwecke« (PF, 196). Auf die sich daraus ergebende Frage, inwiefern dieses »höher als ein Zweck Wirkende« denn etwas anders sein könne als ein »höherer Zweck«, gibt die allerdings keine Antwort.

 

Von der natürlichen zur geistigen Entwicklungslehre

Im Kapitel »Die moralische Phantasie« geht Steiner noch einmal auf die in der Erstausgabe behauptete völlige Übereinstimmung von ethischem Individualismus und biologischer Entwicklungslehre ein. Durch die nunmehr postulierte Existenz einer »geistigen Welt« gegenüber der sinnlich-wahrnehmbaren stellt sich naturgemäß die Frage, ob der strikte ontologische Monismus der Erstausgabe damit nicht faktisch aufgegeben worden ist. Zumindest müsste ja wohl eine Antwort darauf gegeben werden, in welchem Verhältnis diese »geistige« Welt zur »natürlichen« und ihrer Entwicklung steht. Noch in der Mystik-Schrift von 1901 hatte Steiner betont, dass »Geist« nicht am Anfang oder hinter der natürlichen Evolution stehe, sondern als deren Endprodukt anzusehen sei. Dieses Problem sucht er nun zu lösen, indem er zum einen feststellt, dass der konsequent verfahrende Entwicklungstheoretiker die Welt eben nicht als eine nur natürliche betrachten könne, sondern so, dass er, indem er »die natürlichen Vorfahren des Menschen sucht, in der Natur schon den Geist« vorauszusetzen habe (PF, 206 f.). Ausgehend von dieser neuen Prämisse werden dann vor viele Aussagen von 1894 einfach die Adjektive »geistig« und »vergeistigt« gesetzt. Der ethische Individualismus ist nicht länger »Entwicklungslehre auf das sittliche Leben übertragen«, sondern »vergeistigte Entwicklungslehre«; und das ethische Leben nicht mehr bloß »Fortsetzung des organischen«, sondern »geistige Fortsetzung« usw.

 

Rückfall in den Dualismus?

Auch andere Aussagen in der Neuausgabe werfen die Frage auf, ob Steiners Freiheitsbegriff von 1918 nicht in mancher Hinsicht auf eben jenen Dualismus herausläuft, welcher in der Fassung von 1894 strikt abgelehnt worden war. So unterstreicht Steiner, dass »in der ideellen Intuition nichts als deren eigene auf sich gebaute Wesenheit« wirke. Diese auf sich gebaute Wesenheit hieß 1894 das »Denken«; 1918 taucht dafür der neue Begriff »Geist« auf. Doch wird dieser Geist nicht konsequent, wie in der Erstausgabe das Denken, als absolute, über allen Gegensätzen stehende Wesenheit geschildert. Sondern dieser Geist steht an manchen Stellen durchaus im Gegensatz zur natürlichen oder sinnlichen oder organischen Welt. So etwa wenn Steiner schreibt, die Verwirklichung der Freiheit ließe sich als »Verdrängung«, als »Zurückziehen« der organischen Tätigkeit beschreiben, um einer geistigen Tätigkeit »Platz zu machen« (PF, 210 f.). Diese Formulierung wirft die Frage auf, ob Steiner nicht in der Auflage von 1918 und überhaupt in seinen esoterischen Darstellungen v

ielleicht genau das tat, was er 1894 Hartmann, Schopenhauer und dem naturwissenschaftlichen Illusionismus vorgeworfen hatte: nämlich einen nur im und für das Subjekt bestehenden Gegensatz zum ontischen Seinsgegensatz zu machen und somit faktisch einen Dualismus zu vertreten. Bedauerlicherweise diskutiert Steiner an dieser Stelle nicht näher, in welchem ontologischen Verhältnis der nunmehr postulierte »Geist« denn nun zu anderen Seinsarten steht, etwa zum »Natürlichen«, zum »Seelischen« und vor allem zum »Ich« und beruft sich zur Begründung nur einmal mehr auf die Autorität eines höheren »schauenden Standpunktes«: Diese Wirksamkeit des Geistigen gegenüber dem Natürlichen werde »der nicht beobachten können, der nicht zu schauen vermag« (PF, 211).

 

Rechtfertigung der Konzeption des Buches

Im ersten Zusatz zum Kapitel »Die Konsequenzen des Monismus« versucht Steiner den Zusammenhang der im ersten Teil formulierten Erkenntnistheorie mit dem im zweiten Teil dargestellten ethischen Individualismus noch einmal ausdrücklich zu rechtfertigen. Er argumentiert, dass eine reine Betrachtung des menschlichen Wollens und Handelns als solchen, also eine Ethik im traditionellen Sinn, bestenfalls zu einer Empfindung der Freiheit führen könne, nicht aber zu einer wirklichen Einsicht in das Wesen derselben. (Dies deckt sich mit der allgemeinen Ansicht des Anthroposophen Steiner, dass der Mensch im Zustand des gewöhnlichen Bewusstseins nur sein Denken völlig könne, während ihm die wahre Natur des Wollens und Fühlens notwendig verborgen bleibe. Denn dazu bedürfe es jener höheren des Erkennens, die in der anthroposophischen Erkenntnislehre als Imagination, Inspiration und Intuition beschrieben werden.) Daher finde, so heißt es im Zusatz weiter, »der zweite Teil dieses Buches [...] seine naturgemäße Stütze in dem ersten«, da er »das intuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Menschen« aufweise (PF, 265). Während also Steiner in der ersten Auflage viel Mühe darauf verwendet hatte, argumentativ den inneren Zusammenhang von Bewusstseinsentwicklung und Freiheit aufzuzeigen, ja im Grunde das Buch insgesamt als Versuch eines theoretischen Aufweises dieses Zusammenhanges gesehen werden kann, stellt er 1918 lapidar fest, dass dieser innere Zusammenhang durch bloße Argumentation überhaupt nicht evident gemacht werden könne, sondern der »inneren Erfahrung« und der »Anschauung« des dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgenen Seelenlebens bedürfe. Wer diese nicht besitze, werde »wohl keinen irgendwie unanfechtbaren Weg zur Annahme der Freiheit finden können« (PF, 265).

 

Die Philosophie der Freiheit als

Rechtfertigung der Anthroposophie

Der zweite Zusatz zum Schlusskapitel formuliert Steiners Argumentation für eine innere Kontinuität des in der Philosophie der Freiheit Dargestellten mit seinem späteren anthroposophischen Werk. Wenn auch in dieser Schrift keine unmittelbaren Ergebnisse des geistigen Schauens dargestellt worden seien, heißt es da, so sei doch durch die Darlegung des Wesens der Intuition sowohl eine theoretische Begründung wie auch eine praktische Hinleitung zur Verwirklichung eines solchen Schauens gelegt worden. Die Wahrnehmung des Eigenwesens des Denkens in der Intuition sei bereits eine Form jenes geistigen Schauens bzw. jenes Hellsehens, welches die Grundlage seiner späteren theosophischen und anthroposophischen Schilderungen sei, auch wenn hier nichts anderes als das Wesen des Denkens bzw. das Wesen des denkenden »Ich« geistig angeschaut werde. Und so zieht Steiner das Fazit, die Philosophie der Freiheit sei »die philosophische Grundlegung für diese späteren [theosophischen und anthroposophischen] Schriften«. Denn es sei darin versucht worden zu zeigen, »daß richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist« (PF, 267). Zwar ließen sich die Inhalte der Anthroposophie nicht logisch aus den Darlegungen der Philosophie der Freiheit ableiten, doch ergebe sich durch das »lebendige Ergreifen« des darin dargestellten intuitiven Denkens »naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt« (ebd.).

 

Interpersonalität und ›unio mystica‹ –

Du-Erkenntnis durch Auslöschung des Ich

Im ersten »Anhang zur Neuausgabe« greift Steiner noch einmal das bereits in mehreren Zusätzen behandelte Thema der Interpersonalität auf und fügt diesem weitere Gesichtspunkte zu. So schärft er noch einmal den Gedanken aus, dass die geistige Wahrnehmung eines anderen »Ich« als »Auslöschung« des eigenen verstanden werden müsse, und zwar in einem zweifachen Sinn. Zum einen sei erforderlich, den anderen Menschen als Sinneserscheinung »auszulöschen«, um ihn in seiner Geistigkeit zu erfassen; zum anderen aber müsse man auch das eigene Denken (und somit gewissermaßen, nach dem früher Gesagten, auch das eigene »Ich«) für eine Weile auslöschen und an deren Stelle das Denken (bzw. das »Ich«) des anderen setzen. Dann nämlich könne das Paradoxe bzw. das Wunderbare geschehen – in dem dann noch einmal der mystikhafte Charakter des steinerschen Philosophierens zutage tritt –: dass der Erkennende das Wesen des Erkannten in sich in derselben Weise ergreife, wie sein eigenes und somit in gewisser Hinsicht dieses Wesen als sein eigenes erfasse. Und so schließt die Philosophie der Freiheit von 1918 mit demselben esoterischen Gestus, mit dem sie 1894 begonnen hatte: nämlich mit dem hermetischen Motiv der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos, gefasst in jene von Fichte entwickelte und dem modernen Bewusstsein entsprechende Frage nach dem Verhältnis von »Ich« und »Nicht-Ich«.

Was habe ich denn zunächst vor mir, wenn ich einer andern Persönlichkeit gegenüberstehe? Ich sehe auf das nächste. Es ist die mir als Wahrnehmung gegebene sinnliche Leibeserscheinung der andern Person; dann noch etwa die Gehörwahrnehmung dessen, was sie sagt usw. Alles dies starre ich nicht bloß an, sondern es setzt meine denkende Tätigkeit in Bewegung. Indem ich denkend vor der andern Persönlichkeit stehe, kennzeichnet sich mir die Wahrnehmung gewißermaßen als seelisch durchsichtig. Ich bin genötigt, im denkenden Ergreifen der Wahrnehmung mir zu sagen, daß sie dasjenige gar nicht ist, als was sie den äußeren Sinnen erscheint. Die Sinneserscheinung offenbart in dem, was sie unmittelbar ist, ein anderes, was sie mittelbar ist. Ihr Sich-vor-mich Hinstellen ist zugleich ihr Auslöschen als bloße Sinneserscheinung. Aber was sie in diesem Auslöschen zur Erscheinung bringt, das zwingt mich als denkendes Wesen, mein Denken für die Zeit ihres Wirkens auszulöschen und an dessen Stelle ihr Denken zu setzen. Dieses ihr Denken aber ergreife ich in meinem Denken als Erlebnis wie mein eigenes (PF, 270 f.).

Steiners Beschreibung der Begegnung des »Ich« mit dem »Du« fasst somit aus der Perspektive von 1918 noch einmal in äußerster Konzentration zusammen, was er bereits 1887 als gedankenmystische Auffassung von der »Kommunion des Menschen« mit der Wirklichkeit im Erkenntnisakt formuliert hatte. So schließt sich mit dem Schlusskapitel der Philosophie der Freiheit ein Kreis, der mit Steiners frühen Arbeiten über Goethe begonnen hatte; zugleich aber wird damit eingeleitet in die geisteswissenschaftliche Methodik und Thematik von Steiners Hauptschriften nach der Jahrhundertwende: der Theosophie von 1904 und der Geheimwissenschaft von 1910.

 

Rezeption und Wirkung

Innerhalb der bestehenden Gesamtausgabe (GA) mit ihren knapp 300 Bänden nimmt das sogenannte »philosophische Frühwerk« einen relativ geringen Raum ein. Selbst wenn man zu den beiden in diesem Band editierten Schriften, in denen Steiner sein eigenes philosophisches Denken entfaltet hat, noch seine Arbeiten über den wissenschaftstheoretischen Ansatz Goethes hinzunimmt sowie das umfangreiche Werk Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert (Erstfassung 1900/01, dann 1914 zu Die Rätsel der Philosophie erweitert) und eine Reihe weiterer philosophie- und ideengeschichtlicher Studien – selbst dann noch nimmt sich das allgemein als »philosophisch« zu charakterisierende Segment im steinerschen Textkorpus gering aus neben der Fülle an Schriften, Aufsätzen und öffentlichen Vorträgen nach 1900, die gewöhnlich als ›anthroposophisch‹ oder ›theosophisch‹ bzw. als ›esoterisch‹ charakterisiert werden. Und noch verschwindender nimmt es sich aus im Verhältnis zu den Tausenden von Vorträgen »an die Mitglieder«, zunächst die der theosophischen und später der anthroposophischen Gesellschaft.

In der anthroposophischen Binnenrezeption wurde Steiners philosophischem Werk trotz dieser quantitativen Randstellung von jeher ein bemerkenswert hoher Stellenwert zugewiesen. Besonders die Philosophie der Freiheit wurde, maßgeblich geleitet von Steiners eigener retrospektiver Deutung des Jahres 1918, als Einleitung in die Anthroposophie und als Anleitungsbuch für anthroposophische Erkenntnisschulung in den Kanon der anthroposophischen »Standardwerke« aufgenommen und hat seither als ›Pflichtlektüre‹ für Generationen von Anthroposophen, Waldorflehrern, Eurythmisten und sonstigen Mitarbeitern in anthroposophischen Institutionen gedient. Aufgrund dieser Hochschätzung und der damit verbundenen Funktionalisierung im binnenanthroposophischen Raum erlebte das Buch bis heute mehr als 24 Auflagen, und die Literatur von anthroposophisch ausgerichteten Interpreten zur Philosophie der Freiheit ist, wie der entsprechende Teil unseres Literaturverzeichnisses zeigt, immens.

Wahrheit und Wissenschaft hingegen wurde in der anthroposophischen Binnendiskussion deutlich seltener rezipiert und kaum je eingehend interpretiert. Im Archiv der 1921 gegründeten Wochenzeitschrift Das Goetheanum findet sich, neben Dutzenden von Aufsätzen zur Philosophie der Freiheit, nur ein einziger zu Steiners Dissertation. Und auch in die zwei bisher herausgegebenen Auswahlausgaben von Hauptwerken Steiners wurde das Werk nicht aufgenommen. Dies hat zum einen wohl damit zu tun, dass die Untersuchung nicht den relativ leicht verständlichen und populärwissenschaftlichen Stil ihrer größeren Schwesterschrift aufweist, sondern in Form und Inhalt weitgehend den Gepflogenheiten einer akademisch-fachphilosophischen Arbeit entspricht. Zum andern erklärt sich das verhältnismäßig geringe Interesse an dieser Schrift durch die Tatsache, dass Steiner selbst in späteren Äußerungen seine Dissertation nicht so massiv aufgewertet und mit Bedeutung belegt hat wie sein philosophisches Hauptwerk.

Außerhalb der anthroposophischen Bewegung verlief die Rezeption dieser Schriften hingegen völlig anders. Während die frühen Goethe-Deutungen Steiners noch recht positiv vom allgemeinen und vom akademischen Publikum aufgenommen worden waren, wurden seine philosophischen Schriften von der Philosophenzunft in der Regel entweder abgelehnt oder ignoriert. Wahrheit und Wissenschaft fand zwar hier und da Eingang in verschiedene Fichte-Bibliographien, aber eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihrer Deutung Kants und Fichtes lässt sich, abgesehen von zwei eher ablehnenden Rezensionen, nicht nachweisen. Und auch mit der Philosophie der Freiheit hat sich kaum ein maßgeblicher Denker des 19. oder des 20. Jahrhunderts öffentlich und in nennenswerter Weise auseinandergesetzt. Zwar haben sich einige von Steiners Freunden und Bekannten in Briefen über das Buch geäußert, auch erschienen einige Rezensionen in verschiedenen Tages- und Literaturzeitungen, doch im engeren Kreise der Philosophenschaft haben sich nur wenige Stimmen öffentlich geäußert, und dies zumeist kritisch bis ablehnend. Eduard von Hartmann hat das Buch trotz der Tatsache, dass er zu diesem Zeitpunkt einen langjährigen und respektvollen persönlichen Austausch mit Steiner gepflegt hatte, öffentlich nicht rezensiert. Stattdessen sandte Hartmann die Ergebnisse seiner ausführlichen kritischen Lektüre in Form von Anstreichungen und Randkommentaren an den Verfasser zurück, und sein Urteil darin war, wenn auch in wohlwollendem und jovialem Ton formuliert, in der Sache ausgesprochen kritisch.

Im Lichte dieser spärlichen und überwiegend negativen Erstrezeption der philosophischen Schriften überrascht es nicht, dass diese auch während der folgenden knapp 130-jährigen Rezeptionsgeschichte des steinerschen Werkes kaum zur Kenntnis genommen wurden. Wenn Steiner überhaupt wahrgenommen wurde, konzentrierte man sich auf seine Goethe-Deutung sowie auf sein theosophisches und anthroposophisches Werk. Symptomatisch erscheint es, dass in Helmut Zanders zweitausendseitiger Untersuchung Anthroposophie in Deutschland (2007) das philosophische Werk Steiners auf vier (Wahrheit und Wissenschaft) bzw. sieben (Philosophie der Freiheit) Seiten abgehandelt wird, während seiner Auseinandersetzung mit Goethe ein umfangreiches Kapitel von 66 Seiten gewidmet wird und die Ausführungen zur steinerschen Esoterik und den anthroposophischen Praxisfeldern Hunderte von Seiten füllen. Symptomatisch auch, dass die erste wirklich grundlegende Untersuchung zum philosophischen Werk Steiners von Seiten eines Fachphilosophen, Hartmut Traubs Studie Philosophie und Anthroposophie (2011), erst zum 150. Geburtsjubiläum Steiners vorgelegt worden ist. Wie in den zeitgenössischen Rezensionen wird auch in diesen neueren Arbeiten das inneranthroposophische Rezeptionsmuster auf den Kopf gestellt: sowohl Zander als auch Traub sehen in Wahrheit und Wissenschaft die konzeptionell solidere, formal sauberere und argumentativ überzeugendere Schrift, während die Philosophie der Freiheit, vor allem in der anthroposophisch überarbeiteten Form von 1918, von beiden als insgesamt misslungen eingeschätzt wird.

Die Rezeptionsgeschichte der philosophischen Schriften Steiners ließe sich somit in drei Phasen bzw. Bereiche aufteilen: 1. Die unmittelbare Rezeption zwischen 1892 und 1896, 2. das breite Spektrum der binnenanthroposophischen Rezeption von 1918 bis heute und 3. die Aufnahme in der akademischen Steinerforschung, die erst in den letzten Jahren voll eingesetzt hat. Eine ausführliche Darstellung dieser drei Phasen soll jedoch an dieser Stelle nicht geliefert werden. Eine Dokumentation der zeitgenössischen Rezeption beider Schriften findet man in RSD und DPF und muss daher hier nicht wiederholt werden. Ein Eingehen auf die verschiedenen Aspekte der binnenanthroposophischen Rezeption hingegen wäre an dieser Stelle zwar wünschenswert, besonders da in dieser Richtung bisher keine Vorarbeiten vorliegen, doch würde durch eine solche Darstellung, wollte man die verschiedenen von Anthroposophen entwickelten Ansätze zur Deutung der Philosophie der Freiheit wirklich würdigen wollen, die ohnehin schon sehr breite Einleitung ins Unzumutbare ausgeweitet. Die Aufgabe einer umfassenden Darstellung und kritischen Aufarbeitung der verschiedenen bisher systematisch nicht erfassten binnenanthroposophischen Deutungen muss somit als Desiderat an die künftige Steinerforschung delegiert werden. Einen ersten Eindruck von den verschiedenen Ansätzen, die in dieser Richtung unternommen worden sind, kann man sich anhand der Publikationen von Kracht (1996 und 2001) und Dietz (1994) verschaffen. Traub (2011) hat zumindest einige dieser Ansätze kritisch dargestellt.

Was die akademische Rezeption angeht, so fällt schon in den unmittelbaren Reaktionen, d. h. in den Rezensionen von Beck (1893), Drews (1894), Zimmermann (1894) und Gutberlet (1895) auf, dass sie den philosophischen Arbeiten Steiners überwiegend distanziert bis ablehnend gegenüberstanden. Nach Steiners Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft richteten sich Äußerungen aus dem akademischen Lager fast nur noch gegen den Esoteriker Steiner und waren fast durchweg negativ. Einige Persönlichkeiten wie Arthur Drews und Hans Leisegang starteten ganze Kampagnen gegen Steiners esoterische Tätigkeit; ablehnend oder zumindest skeptisch erwähnt wird diese zudem bei Ernst Bloch, Hermann Hesse und Kurt Tucholsky, aber so gut wie nie werden seine philosophischen Schriften in diesem Zusammenhang diskutiert oder nur erwähnt. Ansonsten lassen sich die wissenschaftlichen Beiträge zur steinerschen Philosophie an einer Hand abzählen: Zwischen 1921 und 2004 sind vier wissenschaftliche Dissertationen erschienen, die Steiners Philosophie zum zentralen Thema haben. Daneben sind in jüngerer Zeit zwei wissenschaftliche Monographien erschienen, welche sich besonders auf die Bedeutung Fichtes für das philosophische Denken Steiners konzentrierten. Dies sind die Arbeiten von Marcelo da Veiga Greuel: Wirklichkeit und Freiheit. Die Bedeutung Johann Gottlieb Fichtes für das philosophische Denken Rudolf Steiners (1990) und Hartmut Traub: Philosophie und Anthroposophie (2011). Auch die Arbeit Anthroposophie in Deutschland von Helmut Zander (2007) enthält Abschnitte zu Wahrheit und Wissenschaft und zur Philosophie der Freiheit. Neben diesen in traditionellen Verlagen erschienenen Arbeiten wären auch noch die vielfältigen Untersuchungen Michael Muschalles zur Philosophie der Freiheit zu nennen, die allerdings zum großen Teil nur im Internet und im Selbstverlag veröffentlicht sind und daher bisher noch nicht die akademische Aufmerksamkeit erlangt haben, die sie verdienen.

Als bedeutendste unter diesen Arbeiten hat sicherlich diejenige von Traub zu gelten, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Selbst die zahlreichen in dieser Einleitung gemachten Hinweise auf diese Untersuchung decken nur einen kleinen Bereich dessen ab, was Traub darin kritisch erarbeitet hat. Mittlerweile hat eine akademische Auseinandersetzung um Traubs Interpretation eingesetzt, welche die Steinerforschung sicher noch auf Jahre hin beschäftigen wird. Auch sehr aufschlussreich ist die vom phänomenologisch-methodischen Standpunkt herkommende Dissertation von Sijmons mit ihren vielen thematischen Einzeluntersuchungen. Allerdings ist Sijmons auch ein Beispiel dafür, wie negativ sich das Fehlen einer kritischen Textausgabe der steinerschen Schriften auf die bisherige Forschung ausgewirkt hat. Denn indem Sijmons bei seinen Steinerzitaten oft nicht angibt, auf welche Auflage er sich jeweils bezieht, werden immer wieder Äußerungen aus verschiedenen Werkphasen durcheinandergeworfen, ohne dass dies dem Leser deutlich wird. Die Arbeit von da Veiga Greuel ist in vieler Hinsicht durch die Arbeit Traubs überholt worden, doch ist die Studie immer noch relevant, vor allem weil dieser Autor in einigen wichtigen Punkten das Verhältnis zwischen Fichte und Steiner anders beurteilt als Traub. Die Darstellung Zanders hingegen wird in ihrer kursorischen Behandlung der zentralen Inhalte und der eher beiläufigen Sichtung der Textentwicklung den philosophischen Texten nicht wirklich gerecht und ist im Hinblick auf ein Verständnis und eine kritische Analyse des steinerschen Philosophierens wenig ergiebig.

 

[Die originalen Fußnoten wurden für diese HTML-Version weggelassen]

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